I. Einleitung
Dieser Beitrag handelt von einem afrikanischen Land, das es seit März 1994 nicht mehr zu geben scheint, zumindest nicht in der Berichterstattung der Medien. So spektakulär und kontinuierlich diese Berichterstattung in den Jahren zuvor war, so abrupt brach sie ab, als die amerikanischen Truppen mit anderen westlichen Kontingenten einschließlich des deutschen das Land wieder verließen, in das sie im Dezember 1992 im gleißenden Scheinwerferlicht der internationalen Medienöffentlichkeit gekommen waren. Die Medienkarawane zog mittlerweile nach Ruanda weiter, wo spektakulärere Dinge geschehen als in Somalia. Dort gibt es allerdings auch weiterhin keinen verläßlichen Frieden, doch ist die UNO in Somalia immer noch präsent, wenn auch mit weniger Truppen und reduziertem Mandat, vertreten vor allem durch Kontingente aus Asien und Afrika, die dort gleichsam die Stellung der internationalen Gemeinschaft halten, vorläufig bis September 1994.
Unter der Bezeichnung „Operation Neue Hoffnung“ (Operation Restore Hope) begann am 9. Dezember 1992 in Somalia eine spektakuläre Militärintervention, die manche Beobachter an die „Operation Wüstensturm“ erinnerte. Die Weltgemeinschaft schickte sich im Auftrag der UNO und unter Führung der USA an, dem bürgerkriegs-geschüttelten afrikanischen Land und seiner hungernden Bevölkerung Hilfe und Frieden zu bringen. Somalia galt als der erste Fall einer genuinen „humanitären Intervention“, also einer kollektiven Aktion mit militärischen Mitteln zur Linderung menschlichen Leids. Die nachfolgende UNO-Operation in Somalia galt auch als Musterbeispiel eines ersten „robusten“ Blauhelmeinsatzes auf der Basis von Kapitel VII der UN-Charta, das bekanntlich bei Feststellung einer Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit Zwangsmaßnahmen vorsieht. Für Deutschland und die Bundeswehr war die Beteiligung an der Somalia-Operation der erste größere Militäreinsatz „out-of-area“. Für die Vereinten Nationen geriet das Engagement in Somalia neben dem in Kambodscha zu einem der aufwendigsten, teuersten und ambitioniertesten Unternehmen ihrer bisherigen Geschichte. Zugleich war es die größte und spektakulärste UNO-Operation in Afrika seit der Kongo-Mission in den sechziger Jahren.
War die Somalia-Aktion mithin Ausdruck einer weltgeschichtlichen Weichenstellung, in der die militärische Intervention, die bislang nur eigennützigen, machtpolitischen Interessen diente, nunmehr „als Dienerin von Humanität und Menschenrechten“ zu den Grundpfeilern einer sich neu etablierenden Weltordnung nach dem fride des Kalten Krieges gehört Handelte es sich om einen Schritt in Richtung einer neuartigen „Weltinnenpolitik“ mit einer „Kultur legitimer Intervention“ Offenkundig wurde Somalia zum Experimentierfeld der internationalen Gemeinschaft, die hier neuartige Ansätze und Möglichkeiten der humanitären Hilfe, der Friedensschaffung und Friedenssicherung sowie der Friedenskonsolidierung erprobte Unverkennbar ist jedoch mittlerweile, daß dieses Experiment in seinem politischen Kern gescheitert ist. Weder ist eine umfassende Entwaffnung somalischer Bürgerkriegsparteien noch die Wiederherstellung funktionaler Staatlichkeit gelungen. Ein sich wieder selbst tragendes somalisches Staatswesen und eine rezivilisierte somalische Gesellschaft sind nicht erkennbar. Inzwischen ist es zu einer „Somalisierung“ der Konfliktregelungsbemühungen gekommen, wenngleich noch immer unter der formellen Schirmherrschaft der Vereinten Nationen. Möglicherweise gelingt es den Bürgerkriegsparteien und traditionellen Autoritäten in eigener Regie, einem flächendeckenden Wiederaufleben von Kampfhandlungen vorzubeugen und einen den besonderen Verhältnissen der somalischen Gesellschaft angepaßten Modus vivendi zu finden, der einen relativen Frieden und einen wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes ermöglicht.
II. Die Agonie Somalias
In dem seit den achtziger Jahren anhaltenden somalischen Bürgerkrieg offenbarte sich das Scheitern des Versuchs einer modernen Staaten-und Nationenbildung Weder gelang es, das segmentäre, dezentrale Clan-System der somalischen Gesellschaft mit einem zentralistischen Staatswesen in Einklang zu bringen und clanübergreifende Loyalitätsstrukturen aufzubauen, noch konnte eine wirkliche Integration des ehemaligen Britisch-Somalilands mit dem früheren Italienisch-Somalia bewerkstelligt, also das kolonial induzierte Nord-Süd-Gefälle überwunden werden. Politik in Somalia ist bis heute wesentlich ein Prozeß der Bildung und des Zerfalls fluktuierender Clan-Allianzen. Das Ausmaß an zentralstaatlicher Repression durch das zunächst vom Osten, dann vom Westen mit Geld und Waffen gepäppelte Regime des langjährigen Präsidenten Siad Barre trug in hohem Maße zu der Zerrüttung des Gemeinwesens und zum Niedergang der Wirtschaft bei.
Die vernichtende Niederlage Somalias im Ogadenkrieg gegen Äthiopien 1978 war der Anfang vom Ende der Barre-Herrschaft. Autorität und Legitimität des Regimes waren erschüttert, bewaffnete Oppositionskräfte formierten sich. Im Gegenzug degenerierte Somalia vollends zu einem Polizei-und Überwachungsstaat. Die Regierungstruppen verletzten systematisch die Menschenrechte und terrorisierten große Teile der eigenen Bevölkerung. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich ebenfalls. Die Sowjetunion fiel als Bündnispartner aus und wechselte auf die Seite Äthiopiens. Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Ogaden strömten nach Somalia, wo sie schließlich mit internationaler Flüchtlingshilfe am Leben gehalten wurden, an der sich jedoch auch das korrupte Barre-Regime schadlos hielt. Infolge zunehmender ökologischer Degradation durch Bodenerosion, Überweidung und Abholzung spitzten sich in verschiedenen Regionen des Landes auch die Konflikte über natürliche Ressourcen, namentlich Akkerland und Weideflächen, zwischen rivalisierenden Clan-Gruppen zu. Insbesondere die in dem fruchtbaren Gebiet zwischen den Flüssen Juba und Shebelle im Südwesten Somalias ansässige Bevölkerung wurde vielfach von Bodenspekulanten und landhungrigen Angehörigen der somalischen Staatsklasse verdrängt und ihrer Ländereien beraubt. Zugleich verschärften sich landesweit soziale Differenzierungsprozesse und Unterschiede. Eine kleine Schicht politisch und kommerziell einflußreicher Personen und Familien bereicherte sich auf Kosten der Mehrheit der ärmeren Bevölkerung. Der Flüchtlingszustrom aus dem Ogaden, eine verstärkte Land-Stadt-Wanderung und Slum-bildung im Einzugsbereich der großen Städte, namentlich Mogadischus, sowie die Anfang der achtziger Jahre einsetzenden Bürgerkriegswirren mit ihren Binnenfluchtbewegungen taten ein übriges, um zur Durchmischung und Entwurzelung großer Teile der Somali-Bevölkerung beizutragen. 1988 brach der Bürgerkrieg im Nordwesten des Landes offen aus. Die somalische Nationalbewegung (SNM) und die Ishaq-Somali erhoben sich gegen die Zentralregierung. Deren Truppen legten als Vergeltung die Städte des Nordens in Schutt und Asche und trieben Hunderttausende zur Flucht nach Äthiopien. Seither weiteten sich die Bürgerkriegskämpfe vom Norden des Landes auf dessen mittlere und südliche Teile einschließlich der Hauptstadt Mogadischu aus. Nach der Vertreibung Barres um die Jahreswende 1990/91 brachen Diadochenkämpfe aus und spaltete sich der Nordwesten, das ehemalige Britisch-Somaliland, als unabhängige, freilich von niemandem anerkannte „Republik Somaliland“ ab. Die Streitlinien verliefen zwischen der Fraktion des Vereinigten Somalischen Kongresses (USC), die den selbsternannten Interimspräsidenten Mohammed Mahdi stützte, und den Gefolgsleuten von General Mohamed Farah Hassan Aidid, dem Befreier Mogadishus von der Barre-Herrschaft. Beide Streitparteien gehörten der Clan-Familie der Hawiye an, repräsentierten jedoch die Subclans der Abgal und der Habr Gedir. Entlang dieser Streitlinien formierten sich nachfolgend auch die Clan-Allianzen und Parteiungen außerhalb der Hauptstadt. Seit November 1991 verschärften sich die bewaffneten Ausein-andersetzungen zwischen den Streitparteien und forderten zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung. Viele Städte und Dörfer wurden zerstört, Infrastruktur und soziale Einrichtungen verfielen, die Wirtschaft war zerrüttet, Staat und Verwaltung lösten sich auf. Somalia war ohne legitime intern wie extern anerkannte Regierung. Im Zuge der sich ausweitenden Kampfhandlungen wurden Zehntausende getötet, Hunderttausende im Lande entwurzelt oder zur Flucht ins Ausland getrieben. Mindestens 300000 Menschen, meist Kinder, starben 1992 kriegsbedingt den Hungertod. In dieser Situation weitgehender Rechtlosigkeit und Privatisierung von Gewalt zählte nur derjenige etwas, der über Waffen verfügte. Marodierende Ex-Soldaten der regulären somalischen Armee, Banden entwurzelter Jugendlicher, Clan-Milizen und verschiedene Kriegsherren (Warlords) stritten miteinander um Macht, Ressourcen, Beute und die Kontrolle wichtiger und einträglicher Landstriche, Ortschaften, See-und Flughäfen. Dabei drangsalierten sie die einheimische Bevölkerung ebenso wie die ausländischen Hilfsorganisationen, die sich um das Überleben und das Wohl der vom Krieg heimgesuchten Zivilbevölkerung zu kümmern versuchten. Es bildete sich eine „mörderische Kriegsökonomie“ bzw. eine „Subsistenzwirtschaft des Verbrechens“ heraus die vor allem auf dem Handel mit Waffen, der Khat-Droge, Nahrungsmitteln und der Erpressung von Schutz-geldern von denen, die humanitäre Hilfe» leisteten, beruhte.
Dennoch ist das Bild flächendeckender, vollständiger Gesetzlosigkeit und chaotischer Verhältnisse, das vielerorts in den Medien von der Situation in Somalia gezeichnet wurde, falsch. Es gab regional durchaus erhebliche Unterschiede der Betroffenheit durch die Bürgerkriegswirren. Am schlimmsten war es zweifelsohne im Südwesten Somalias, im „Todesdreieck“ der Städte Mogadischu, Baidoa und Kismayu. Hier liegen die fruchtbarsten und reichsten Regionen des Landes im Zwischenstromgebiet, hier war am meisten zu rauben und zu plündern, hier gerieten ortsansässige und geflüchtete Bevölkerungsgruppen am intensivsten in das Kreuzfeuer diverser bewaffneter Banden und rivalisierender Kriegsherren. Demgegenüber blieben weite Teile des Nordostens Somalias vom Krieg und seinen Folgen weithin verschont; auch im abgespaltenen Nordwesten war die Lage ruhiger und stabiler.
III. UN-Diplomatie, erste Blauhelmoperation (UNOSOMI) und humanitäre Hilfe
Mit dem Aufruf an die Bürgerkriegsparteien, die Kämpfe einzustellen, und der Verhängung eines bindenden Waffenembargos schaltete sich der Sicherheitsrat der UN am 23. Januar 1992 erstmals in das Konfliktgeschehen ein. Im Jahre zuvor waren die Vereinten Nationen in Somalia kaum präsent gewesen. Dies gilt für die humanitären Aktivitäten etlicher Spezialorgane ebenso wie für die Bemühungen des Generalsekretärs und des Sicherheitsrats um eine diplomatisch-politische Entschärfung der Konfliktsituation. Harsch fällt daher das Urteil von Kritikern aus Die UNO habe zu wenig, zu spät, zu inkonsequent und unentschlossen gehandelt. Gerügt wird vor allem die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, zur rechten Zeit effektive Hilfe zu mobilisieren, obwohl das Ausmaß der Hungersnot in Somalia schon spätestens seit Ende 1991 bekannt war. Ferner wird die Inkompetenz ihrer anfänglichen Vermittlungsversuche gegeißelt. Namentlich ins Kreuzfeuer der Kritik geriet der vom Generalsekretär entsandte James Jonah, der zwischen Januar und März 1992 eine diplomatische Initiative startete, die nach Einschätzung zahlreicher Beobachter durch Ignoranz und taktische Fehler gekennzeichnet war und dem Ansehen der UN in Somalia schadete. Durch seine Stigmatisierung der Aidid-Fraktion trug Jonah eher zur Polarisierung des Konflikts als zu dessen Entschärfung bei. Immerhin kam dennoch ein Waffenstillstand zustande, der von den Hauptkontrahenten in Mogadischu auch weitgehend eingehalten wurde. Leider bauten die UN jedoch nicht sofort konstruktiv auf dieser vereinbarten Waffenruhe auf, um effektivere humanitäre Hilfe zu leisten und tragfähige politische Regelungen herbeizuführen.
Erst durch den neuen UN-Sonderbeauftragten Mohamed Sahnoun wurde das Vertrauen der Somali in die Vereinten Nationen einigermaßen wiederhergestellt. Sahnoun erreichte durch seine subtile Sachkenntnis und sein großes Verhandlungsgeschick zielstrebig und zäh weitere Fortschritte, vor allem hinsichtlich der Akzeptanz einer größeren Zahl von Blauhelmen durch Aidid. Er agierte von Beginn an zweigleisig. Neben den Kon-takten mit den Warlords pflegte er auch Beziehungen zu nichtbewaffneten Repräsentanten der somalischen Bevölkerung, um auf diese Weise zivil-gesellschaftliche Kräfte als Gegengewicht zu den Kriegsherren zu stärken. Zum Verhängnis wurde Sahnoun schließlich nicht die schwierige Situation in Somalia, sondern seine öffentliche Kritik am bisherigen Versagen der UN, die im Oktober 1992 zu seinem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Amt führte
Hauptbremser einer weiteren Aufstockung der am 24. April 1992 vom Sicherheitsrat beschlossenen „Operation der Vereinten Nationen in Somalia“ (UNOSOM) waren die USA, die offensichtlich aus Budget-und Kapazitätsgründen sowie auf Grund anderer Prioritätensetzung -im Vordergrund des amerikanischen Interesses standen der Irak sowie die Krisen im Gebiet der früheren Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawien -eine zögernde Haltung gegenüber einer Intensivierung des UN-Engagements in Somalia einnahmen. Demgegenüber drängte der neugewählte, aus Ägypten stammende UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, der einem wachsenden Druck afrikanischer Staaten ausgesetzt war, seit Sommer 1992 den Sicherheitsrat und die USA zu mehr Handlungsbereitschaft. Doch auch weitere Resolutionen und die Entsendung von 500 pakistanischen Blauhelmen, die jedoch erst im September 1992 vor Ort eintrafen, konnten die Situation in Somalia nicht mehr positiv verändern. Zugleich verstärkte sich seit Sommer 1992 durch eine dichtere Medienberichterstattung der öffentliche Druck auf die UN und die USA sowie andere Länder, einen größeren Beitrag zur Linderung der menschlichen Not in Somalia zu leisten. Durch die Einrichtung von Luftbrücken wurden immer größere Mengen Nahrungsmittel ins Land gebracht, die jedoch in starkem Maße von Bewaffneten in Beschlag genommen wurden und somit nur einen Teil der Bedürftigen unter großen Schwierigkeiten erreichten. Im Spätherbst 1992 reifte daher die Entscheidung heran, den Mittel-einsatz der Vereinten Nationen und der Vereinigten Staaten von Amerika in Somalia massiv zu erhöhen und eine großangelegte Militäroperation durchzuführen. Beide Seiten führten als zentrales Argument die dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage und humanitären Situation an:
Mindestens 300000 Menschen seien bereits verhungert, weitere eineinhalb bis zwei Millionen akut vom Hungertod bedroht, die „Plünderungsrate“ der internationalen Nahrungsmittelhilfe habe sich vom Sommer bis zum Herbst von 40 auf bis zu 80 Prozent erhöht. Bis heute ist die Notwendigkeit der Militärintervention strittig Seit Ende 1991 hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mehrfach eindringlich vor einer sich anbahnenden Hungersnot gewarnt. Eine frühzeitige Aufstockung der Nahrungsmittel-hilfe, eine Eindämmung der Kampfhandlungen sowie günstige Regenfälle hätten womöglich die Situation entspannt. Auch die Hungersnot selbst und das mit ihr verbundene Plünderungsunwesen gaben nach Ansicht von Kritikern keinen hinreichenden Grund für eine massive Militärintervention ab. Im Oktober 1992, also einen Monat vor der Intervention, hatte die Hungersnot ihren Höhepunkt bereits überschritten. Vertreter des IKRK und unabhängiger Hilfsorganisationen bestritten die allgemeine Gültigkeit der von den Vereinten Nationen zur Begründung der Intervention herangezogenen Zahlen über das Ausmaß der Plünderungen und die Zahl der akut vom Hungertod bedrohten Menschen. Die genannten „Plünderungsraten“ wollten sie allenfalls für die Hilfslieferungen der UNO selbst gelten lassen; ihre eigenen Lieferungen würden in weit geringerem Maße und in durchaus tolerablen Größenordnungen geplündert. Vielleicht hätte das „Konzept der Zweigleisigkeit“ und der „weichen“ Verhandlungs-und Vermittlungsbemühungen, das Mohammed Sahnoun vertrat, im Verein mit frühzeitigerer Nahrungsmittelhilfe und einem rascheren Einsatz und Aufstocken von Blauhelmen ausgereicht, um die Hungersnot einzudämmen. Da dies jedoch nicht geschah und Sahnoun seine Arbeit nicht weiterführen konnte, schien der Griff zu „harten“ Mitteln unausweichlich zu sein. Nur vor diesem Hintergrund nicht genutzter Präventionschancen hat Sahnoun später selbst den massiven Einsatz militärischer Kräfte als politisch nachvollziehbar und plausibel erachtet. Somit haben die Vereinten Nationen und die USA letztlich selber maßgeblich zur Herbeiführung einer Problemsituation beigetragen, in der eine Militärintervention angemessen und alternativlos erschien.
IV. Humanitäre Intervention und „robustes“ Peacekeeping (UNITAF/UNOSOMII)
Die am 3. Dezember 1992 einstimmig vom Sicherheitsrat beschlossene Resolution 794 nennt als Grund für das Eingreifen in Somalia „das Ausmaß der durch den Konflikt verursachten menschlichen Tragödie, die noch weiter verschärft wird durch die Hindernisse, die der Verteilung der humanitären Hilfsgüter in den Weg gelegt werden“, und damit „eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ darstellt. In Kapitel VII der UN-Charta werden der Generalsekretär und die Mitgliedsstaaten autorisiert, „alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um so bald wie möglich ein sicheres Umfeld für die humanitären Hilfsmaßnahmen in Somalia zu schaffen“. Des weiteren wird auf die „Einmaligkeit“ der Situation in Somalia verwiesen, auf den Zusammenbruch staatlicher Strukturen und des staatlichen Gewaltmonopols sowie auf das Fehlen einer anerkannten, legitimen Regierung. Mit dieser Entscheidung des Sicherheitsrats und der am Dezember 1992 beginnenden Militäroperation „Neue Hoffnung“ (Operation Restore Hope) war die vom UN-Generalsekretär und der US-Regierung gewollte qualitative Transformation des UN-Engagements in Somalia erreicht: der Übergang von dem begrenzten Mandat des traditionellen Blauhelmeinsatzes, der sich als inadäquat und ineffektiv erwiesen hatte, zu einem „robusten“ Einsatz mit Elementen der Friedenserzwingung.
Die Motive und Interessen hinter der Interventionsentscheidung waren bei den USA wesentlich innenpolitischer Art 4. Unter anderem sind der Druck der Öffentlichkeit infolge der Medienberichterstattung und die Machbarkeitserwägungen der US-Militärs zu nennen, aber auch der Wunsch nach Profilierung als Führungsmacht in einer neuen Weltordnung, die auch allein aus humanitärem Antrieb tätig wird. Bei der UNO dominierte das Interesse, die unhaltbare Situation der Ver-einten Nationen in Somalia zu verbessern, die angeschlagene Autorität der UN wiederherzustellen und durch ein entschlosseneres Auftreten die erlittene, allerdings mitverschuldete Demütigung wieder wettzumachen. Zugleich bot sich Somalia als Exempel an, die grundsätzliche Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft der Weltorganisation zu demonstrieren, nicht zuletzt auch im Kontext weiterreichender Vorstellungen des Generalsekretärs über eine Reform und einen Ausbau der UN (Agenda für den Frieden).
Mit regionalem Schwerpunkt in den von Krieg und Hunger besonders heimgesuchten Gebieten Südwestsomalias einschließlich der Städte Mogadischu, Baidoa, Bardera und Kismayu gelang es dem vereinten Eingreifverband unter Führung der USA (UNITAF), an dem sich über 30000 Soldaten aus mehr als 20 Ländern beteiligten (darunter allein 22000 US-Amerikaner), in den nachfolgenden Monaten, wichtige Landstriche, Ortschaften, See-und Flughäfen unter seine Kontrolle zu bekommen und die Sicherheitslage soweit zu verbessern, daß die Hungersnot eingedämmt werden konnte Dennoch fanden auch weiterhin Über-fälle statt, gab es Zwischenfälle mit UNITAF-Kräften und Kämpfe zwischen somalischen Bürgerkriegsparteien.
Im Hinblick auf das Mandat von UNITAF zur Entwaffnung von Bürgerkriegsparteien gab es anfänglich erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA einerseits (die eine enge Auslegung vernahmen) und den UN sowie Frankreich andererseits (die eine weite Auslegung des Mandats, ein „sicheres Umfeld“ zu schaffen, favorisierten). Schließlich erfolgten dennoch selektive, unsystematische Entwaffnungsmaßnahmen. Hierdurch und durch die regional unterschiedliche Dislozierung und Verhaltensweise von UNITAF-Kräften kam es schon bald zu beträchtlichen Verschiebungen in der machtpolitischen Balance zwischen den somalischen Streitparteien. In Reaktion hierauf mobilisierte der bedrängte General Aidid mehrfach seine Anhänger gegen die UNI-TAF, der er einseitige Parteinahme für seine Gegner vorwarf.Nach der Übernahme der UNITAF-Aktion im Mai 1993 durch UNOSOM II, deren Mandat weiterhin Erzwingungselemente einschloß und in der auch eine starke Kontinuität US-amerikanischer Präsenz und Mitsprache erhalten blieb, verschärfte sich der Streit zwischen Aidid und den Vereinten Nationen. Am 5. Juni 1993 töteten Aidid-Kräfte mehr als 20 pakistanische Blauhelme. Seit diesem Vorfall artete die friedensstiftende Operation der UN zu einer Art neokolonialer Strafexpedition gegen einen unbotmäßigen somalischen Kriegsfürsten aus, die allerdings letztlich an der gegnerischen Stadtguerilla in Mogadischu scheiterte. Die unselige Kopfgeld-Jagd auf Aidid offenbarte ein Stück „Arroganz der Macht“ von UNO und USA, verstieß gegen das Gebot politischer Klugheit (keine eindeutige Partei in offenen Bürgerkriegs-situationen zu ergreifen), gegen die Lehren klassischer Guerillakriege (die auch mit überlegener Waffentechnologie nicht zu gewinnen sind) und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel (zahlreiche unschuldige Tote unter der somalischen Zivilbevölkerung). Erst nach größeren Verlusten unter den amerikanischen Soldaten im Oktober 1993 schlug in der Innenpolitik der USA die Stimmung um und wurde eine Neuorientierung der UNOSOM-Politik eingeleitet. Die Jagd auf Aidid wurde abgeblasen und der General als politischer Kooperationspartner rehabilitiert. Am 4. Februar 1994 strich der Sicherheitsrat aus dem verlängerten Mandat von UNOSOM II (Res. 897) die Aufgabe der (Zwangs-) Entwaffnung der somalischen Bürgerkriegsparteien. Ende März 1994 verließen die US-Amerikaner und andere westliche Kontingente Somalia, so daß es zu einer massiven Reduzierung der Truppenpräsenz von UNOSOM II kam. Unter der Schirmherrschaft der UN trafen sich im März 1994 in Nairobi die Hauptkontrahenten des somalischen Bürgerkrieges zu Konsultationen, die zu einem verabredeten Zeitplan für eine nationale Versöhnungskonferenz führten, der aber bisher nicht eingehalten wurde.
V. Die Bundeswehr in Somalia
Die Bundesregierung griff den Fall Somalia aus politischen Motiven und Interessen auf, die mit den eigentlichen Problemen dieses Landes kaum etwas zu tun hatten. Somalia diente als Vehikel für die Verfolgung ganz anders gelagerter Absichten. Es ging der Regierung um die Beeinflussung und Beförderung der Grundgesetz-und Parteien-debatte über eine Ausweitung des Auftrages der Bundeswehr, um die Untermauerung des Anspruchs auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und um die Demonstration von Bündnis-fähigkeit. Der politische Eiertanz und das Hickhack zwischen Bonn und der UNO um die Konditionen („rein humanitärer“ Einsatz in einer „befriedeten, sicheren Region“) und den Einsatzort (erst Bosaso im Nordosten, dann Belet Uen in Zentralsomalia) des deutschen Kontingents spiegelten diese Interessen-und Motivlage wider Von Beginn an war Kundigen -entgegen den Verschleierungsbemühungen der Bundesregierung -klar, daß der Einsatz der Bundeswehr kein „humanitärer“, sondern ein genuin militärischer war, da er als integraler Bestandteil des operativen Gesamtkonzeptes von UNOSOM II, basierend auf dem Erzwingungsmandat nach Kapitel VII der UN-Charta, ausgelegt war und der logistischen Unterstützung von UNOSOM-Kampfverbänden dienen sollte. Der Fall Somalia war ein weiteres Beispiel der schon seit längerem beobachtbaren „Salamitaktik“ der Regierung, die Opposition vor vollendete Tatsachen zu stellen und die deutsche Öffentlichkeit an Bundeswehreinsätze „out-ofarea“ zu gewöhnen. Somalia bot sich hierfür als ein besonders gut geeigneter Fall an, da das UN-Engagement in diesem Land zu humanitären Zwecken nicht nur international, sondern auch in der deutschen Gesellschaft und Politik weithin akzeptiert war.
Auch der Bundeswehrführung kam das zunächst positive Image der UN-Operation in Somalia sehr gelegen. Die Beteiligung der Bundeswehr an dieser Operation diente der Legitimationsbeschaffung und Sinnstiftung für eine Armee, deren Auftrag nach Ende des Kalten Krieges umstritten und deren Bestand durch Haushaltseinschnitte bedroht war. Der Somalia-Einsatz konnte die Nützlichkeit der Bundeswehr für die außenpolitischen Ambitionen der Regierung unter Beweis stellen und zudem noch das Ansehen der deutschen Soldaten bei den westlichen Verbündeten wieder aufbessern, das seit der Nichtbeteiligung deutscher Streitkräfte am zweiten Golfkrieg arg beschädigt war.
Auf diesem Hintergrund wurde durch Kabinettsbeschluß vom 21. April 1993 ein verstärktes Nachschub-und Transportbatallion im Umfang von 1700 Soldaten mit bewaffneter Selbstschutzkomponente nach Belet Uen verlegt, einem Ort in Zentralsomalia, dem in der operativen Planung von UNOSOM II zunächst eine strategische Bedeutung zukam. Nachdem jedoch klar war, daß der erwartete indische Kampfverband nicht nach Belet Uen kam, sondern im unruhigen Süden stationiert wurde, widmete sich die Bundeswehr nach Entfallen ihrer eigentlichen militärischen Aufgabe verstärkt der Nebenaufgabe humanitärer Hilfe, beispielsweise in den Bereichen der Instandsetzung beschädigter Gebäude, Straßen und Brükken, der medizinischen Betreuung und der Wasserversorgung. Vorzeigeprojekt des deutschen Kontingents wurde der Dammbau in Nurfanax. In gewisser Weise machte die Bundeswehr also aus ihrer Not eine Tugend. Der entwicklungspolitische Sinn und Nutzen dieser Hilfsprojekte ist allerdings unter Fachleuten umstritten. Als problematisch gelten unter anderem die Kurzfristigkeit der Bundeswehrengagements, die kaum eine Chance auf Fortsetzung durch einheimische Trägerorganisationen hätten, der massive Einsatz modernster Technik und eigener Arbeitskraft ohne Einbeziehung somalischer Ressourcen sowie die mangelnde Absprache und Kooperation mit deutschen Hilfsorganisationen. Besonders kritisiert wurde auch die Unwirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes, die krasse Relation zwischen den immensen Aufwendungen für die Militäroperation der Bundeswehr einerseits (bis Ende 1993 ca. 330 Mio. DM) und den weit geringeren Ausgaben für humanitäre Zwecke andererseits (34 Mio. DM zuzüglich 146000 DM aus dem Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit für Kleinstprojekte).
Aus der Sicht der Bundeswehr geriet das Somalia-Unternehmen, das am 31. März 1994 zu Ende ging, jedoch zum Erfolg. Militärisch war das Unternehmen ein zwar teures, aber willkommenes Groß-manöver unter kriegsmäßigen Bedingungen zur Erprobung von Personal und Material sowie des Zusammenwirkens der drei Teilstreitkräfte. Trotz mancher Schönheitsfehler (u. a. Zusammenwürfelung des Einsatzverbandes aus etwa 200 Einheiten, partieller „Gruppenzwang“ bei der Rekrutierung von Freiwilligen, logistische Probleme) hat die Bundeswehr bewiesen, daß sie zur transkontinentalen Verlegung größerer Verbände fähig ist. Darüber hinaus ist es ihr mit einer geschickten PR-Strategie und „Schaufensteroperation“ weithin gelungen, unter dem Motto „Retten -Helfen-Schützen“ und „Menschlichkeit“ die deutschen Streitkräfte in der Rolle des barmherzigen Samariters darzustellen. Umsicht, Disziplin und kluges Verhalten mögen neben einer Portion Glück mit dazu beigetragen haben, daß es zu keinen größeren Zwischenfällen kam.
VI. Enttäuschte Hoffnungen und unsichere Aussicht auf Frieden
Weithin unstrittig ist, daß UNITAF gewisse Teilerfolge erzielt hat, namentlich bei der Eindämmung der bereits abklingenden Hungersnot, bei der Zerschlagung des Systems der Schutzgelderpressung, bei der Zurückdrängung des Banditentums und Plünderungsunwesens, bei der selektiven Entwaffnung von Bürgerkriegsparteien sowie bei der Einleitung eines politischen Konfliktregelungsprozesses. UNOSOM II versuchte später diese Erfolgselemente auszubauen und zu konsolidieren sowie parallel zur weiteren Verbesserung im Ernährungs-und Gesundheitsbereich die Entwaffnung der Konfliktparteien voranzutreiben, die Infrastruktur wiederherzustellen und schrittweise ein funktionierendes Politik-, Verwaltungs-und Rechtssystem aufzubauen. Dabei gab es durchaus Teilerfolge, unter anderem beim Aufbau von lokalen und regionalen Selbstverwaltungskörperschaften (Distrikt-und Regionalräte) und bei der Aufstellung somalischer Polizeieinheiten. Dennoch können gravierende Defizite und Probleme nicht übersehen werden Das Mandat von UNOSOM II war offensichtlich zu komplex angelegt und mit zu vielen Aufgaben überfrachtet, ohne zugleich klare Prioritäten zu setzen und die Relation von politischen Zielen und militärischen Mitteln präzise zu definieren. Das UNITAF-Mandat zur Schaffung eines „sicheren Umfeldes“ für humanitäre Hilfslieferungen fiel insbesondere im Hinblick auf die Entwaffnungsfrage äußerst unbestimmt aus, so daß dieses Problem weithin ungelöst an UNOSOM II weitergegeben wurde. Die UN-Operation fand auch keine strukturelle Verankerung in der somalischen Gesellschaft und keine tragfähige Unterstützung in der somalischen Bevölkerung, daes weder eine Infrastruktur oder eine einigermaßen funktionierende einheimische Verwaltung noch eine verläßliche Kooperationsbereitschaft der diversen militärischen und politischen Autoritäten gab und zudem vernachlässigt wurde, systematisch eine zivilgesellschaftliche somalische Basisstruktur zu schaffen. Vielmehr übte UNOSOM II faktisch treuhänderisch und transitorisch zentrale Verwaltungs-und Regierungsfunktionen selber aus, überschätzte dabei jedoch ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Steuerung und Kontrolle somalischer Akteure und ließ sich in einen sehr wechselhaften und widersprüchlichen Dialog-und Kooperationsprozeß mit den Vertretern diverser bewaffneter Gruppen ein.
Vor allem aber litt das politische Konfliktregelungskonzept der UN daran, daß es die von Mohammed Sahnoun verfolgte Strategie der Zweigleisigkeit nicht wirklich systematisch und konsequent weiterführte. Dies zeigte sich schon anläßlich der Friedenskonferenz von Addis Abeba im Januar 1993. Somalia-Kenner kritisierten diese Konferenz und die ihr zugrundeliegende Konfliktregelungsphilosophie als den Erfordernissen des Landes nicht angemessen und friedenspolitisch bedenklich. Vertreten -und durch die internationale Konferenzdiplomatie politisch aufgewertet -war allein die Prominenz der Warlords, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung repräsentierten und zudem in keiner Weise demokratisch legitimiert waren, über die Reichweite ihrer Waffen hinaus zu verhandeln. Einem solchen Friedensprozeß „von oben“ mußte ein Friedensprozeß „von unten“ entgegengestellt werden, um eine wirklich tragfähige und glaubwürdige Rekonstruktion der tief in ihren Strukturen und Werten erschütterten somalischen (Zivil-) Gesellschaft betreiben zu können. Hierzu bedurfte es jedoch der verstärkten Einbeziehung nichtbewaffneter, repräsentativer somalischer Bevölkerungsgruppen, etwa in Gestalt der über traditionelle Autorität verfügenden Clan-Ältesten und religiösen Führer, aber auch von Frauen, Händlern, Intellektuellen sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen, wie es Mohammed Sahnoun versucht hatte. Nur solche sozialen Träger waren nicht diskreditiert und daher fähig, Gesellschaft und Staat von der lokalen und regionalen Ebene her langsam wieder aufzubauen und einen clanübergreifenden Prozeß der Aussöhnung und Verständigung einzuleiten und abzustützen. Auch der Versuch einer friedlichen Streitschlichtung nach Maßgabe westlich-demokratischer Verfahren und Prozesse wie Parteienbildung und allgemeine Wahlen schien auf kurze Sicht kaum eine Chance zu haben. Dies sind vermutlich keine geeigneten Mittel, „um das formale politische System mit der realen Gesellschaftsstruktur in Übereinstimmung zu bringen. Weder das parlamentarische Mehrparteiensystem der sechziger Jahre noch der zentralistische, bürokratische und repressive Staat der Ära Barre haben sich als vereinbar mit dem somalischen Clansystem erwiesen“; mithin ist das Clan-System mit seinem komplizierten Geflecht von Gruppenbeziehungen „die einzige vorhandene Grundlage, auf der eine halbwegs stabile politische Struktur in Somalia aufgebaut werden kann“
Das positive Beispiel einer relativ friedlichen Rekonstruktion von Staat und Gesellschaft in der seit Mai 1991 abgespaltenen und faktisch unabhängigen „Republik Somaliland“ unter Rückgriff auf traditionelle Strukturen und Verfahren des Interessenausgleichs und der Streitschlichtung wurde von UNOSOM II weithin ignoriert. Nach dem Abzug der westlichen Kontingente aus Somalia ist es zu einer verstärkten „Somalisierung“ der Konfliktregelungsversuche gekommen, wenn auch bislang ohne größere Aussicht auf baldigen Erfolg. Der auf der Nairobi-Konferenz vom März 1994 verabredete Fahrplan politischer Schritte ist nicht eingehalten worden. Gleichwohl kam es auch nicht zu einem flächendeckenden Wiederaufleben von Kampfhandlungen. Vielmehr war eine Mischung aus aufflackernden bewaffneten Auseinandersetzungen und lokalen Befriedungs-und Stabilisierungsbemühungen zu beobachten. Zu Kämpfen kam es namentlich in Mogadischu, Kismayu und Belet Uen. In Mogadischu tauchten wieder die berüchtigten „technicals“ auf, die mobilen Kampfeinheiten von schwer bewaffneten jungen Männern und aufgerüsteten Geländewagen.
Ohne wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Stärkung produktiver ökonomischer Kräfte wird es kaum einen dauerhaften Frieden in Somalia geben. Verschärfte Verteilungskämpfe um knapper werdende Ressourcen waren ein wichtiger Antrieb des Bürgerkrieges; dieser selbst hat dann zur Zerstörung landwirtschaftlicher Strukturen im Zwischenstromgebiet und im modernen, formellen Sektor der Volkswirtschaft geführt. Schon seit geraumer Zeit funktioniert die somalische Ökonomie im wesentlichen nur noch als informelle Schatten-wirtschaft unter Kriegsbedingungen, basierend auf der traditionellen agrarischen Subsistenzökonomie und nomadischen Viehwirtschaft, dem Handel mit der Khat-Droge, den Zuwendungen somalischerGastarbeiter aus.dem Ausland sowie den internationalen Hilfslieferungen. Diese Ökonomie ermöglicht zwar wirtschaftliche Überlebensstrategien, doch werden ungeklärte Ressourcenkonflikte und Streitigkeiten über die Inwertsetzung von Ortschaften, See-und Flughäfen, um Farmland, Weideflächen und Wasserstellen sowie über Besitzansprüche und Rechtstitel weiter fortbestehen. Fragen der Restitution von Grundbesitz und Weide-sowie Wasserrechten gilt es ebenso zu klären wie Fragen der Wiedereingliederung von Vertriebenen und Flüchtlingen, deren Besitz und Rechte sich mittlerweile andere angeeignet haben.
Namentlich im städtischen Bereich und im formellen Sektor sind Arbeitsplätze und Einkommens-möglichkeiten äußerst knapp, also gerade dort, wo eine große Zahl von entwurzelten, arbeitslosen jungen Männern ein ständiges Unruhepotential darstellt. UNOSOM und internationale Hilfsorganisationen haben hier ein künstliches Wirtschaftssystem etabliert, von dem etwa 100000 Arbeitsplätze (u. a. Dolmetscher, Hilfspersonal, Food-for-work-Programme) abhängen und das durch Gehaltszahlungen, Haus-und Fahrzeuganmietung auch finanzielle Mittel in die somalische Ökonomie einspeist. Dennoch dient dieses Wirtschaftssystem überwiegend der eigenen Logistik und dem Unterhalt der UN-Operation, weniger der Stärkung produktiver ökonomischer Kräfte in Somalia. Hier offenbart sich auch deutlich das grandiose Mißverhältnis zwischen den immensen Aufwendungen für den Militärapparat und die Militäraktionen einerseits und den weit bescheideneren Mitteln für humanitäre und sonstige Aufgaben andererseits. Die ca. 1, 6 Mrd. US-Dollar Gesamtkosten für die UN-Operation dienten zu 90 Prozent der militärischen Komponente und kamen zum Großteil westlichen Kontraktfirmen zugute, die mit der Logistik und Nahrungsmittelversorgung des UN-Personals beauftragt waren. Nur etwa 4, 5 Prozent der Gesamtsumme (ca. 70 Mio. US-Dollar) flössen -wie oben dargelegt -direkt in die somalische Ökonomie
Vor diesem Hintergrund läßt sich auch das Problem der Entwaffnung und Demobilisierung von Bürgerkriegsparteien, Clan-Milizen und Banden nochmals verdeutlichen. Dies war und ist eine hochpolitische, insbesondere sicherheitspolitische Herausforderung, aber auch ein zentrales soziales und ökonomisches Problem. Entwaffnung bedeutet nämlich viel mehr als die schlichte Wegnahme und Kontrolle von Waffen, es bedeutet letztlich die Demilitarisierung der mörderischen Kriegs-Ökonomie und eine friedenspolitische Konversion der Gewaltstrukturen, um die Subsistenzwirtschaft der Kalaschnikow wieder durch eine Gewährleistung des Lebensunterhalts durch Arbeit unter zivilen Verhältnissen zu ersetzen. Zu geschehen hat dies unter anderem durch Programme alternativer Beschäftigung für entwurzelte ehemalige Kämpfer, Banditen und Milizionäre, durch Trainings-und Ausbildungsprogramme und einkommens-schaffende Projekte, die in bezug zum Wiederaufbau der Wirtschaft und zur Infrastruktur stehen sollten. Nur so könnten die tieferen Gründe für das Waffentragen außer Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus bedarf es des Aufbaus somalischer Polizeieinheiten, der ja durchaus von UNOSOM betrieben wurde. Doch bislang sind diese Polizisten weder an Zahl noch an Bewaffnung den irregulären Verbänden gewachsen. Dem UN-Büro für Entwaffnung, Demobilisierung und Minenräumung stehen nur zirka sieben Mio. US-Dollar zur Verfügung, die fast ausschließlich für die letztere Aufgabe ausgegeben werden. Entwaffnung durch die UN-Truppen hat bekanntlich nur unsystematisch, selektiv und partiell stattgefunden und zudem zur Gewalteskalation beigetragen. Eine offene Frage ist, ob eine frühzeitige, entschlossenere Entwaffnungspolitik durch die UNITAF-Truppen Schlimmeres hätte verhüten können. Angesichts des Vorteils der Offensive und des günstigen psychologischen Klimas in der somalischen Bevölkerung erscheint eine solche Annahme durchaus plausibel. Doch war dies insbesondere von den USA politisch nicht gewollt, um möglichen amerikanischen Verlusten vorzubeugen und sich nicht in Kämpfe zu verstricken, was später dann doch geschah. Vermutlich wäre auch eine energischere zwangsweise Entwaffnungspolitik ohne soziale und ökonomische Unterfütterung im Sinne eines umfassenden Demobilisierungs-und Reintegrationskonzeptes bald an ihre Grenzen gestoßen. Zudem hätte sie eng mit einem tragfähigen Konzept politischer Konfliktregelung verbunden sein müssen, um die heikle und prekäre Machtbalance zwischen den Streitparteien trotz massiver Einschnitte in deren Rüstungspotentiale berücksichtigen zu können.
Das Somalia-Unternehmen warf auch Grundsatz-probleme der zivil-militärischen Beziehungen im Rahmen von Operationen mit humanitärer Zielsetzung auf. Während der Einsatz militärischer Mittel einerseits humanitäre Hilfe zum Teil überhaupt erst ermöglichte, wurde diese andererseits immer stärker „militarisiert“ und in das Konflikt-geschehen verwickelt, wodurch sie ihre strikte politische Unparteilichkeit zunehmend verlor. Im weiteren Verlauf der Operation wurden dann jedoch der militärische Selbstschutz und die Sicherung der eigenen Truppen vielfach zum Selbstzweck und traten gegenüber dem Schutz humanitärer Hilfe immer mehr in den Vordergrund.
Der Fall Somalia hat auch drastisch die Problematik von UNO-Zwangsmaßnahmen zur Friedens-stiftung in Bürgerkriegssituationen vor Augen geführt, oder -mit anderen Worten -die Fragwürdigkeit „robuster“ Blauhelmoperationen. Selbst begrenzte Militäraktionen -so sinnvoll und notwendig sie auch erscheinen mögen (z. B. Schutz von Hilfskonvois, Vorgehen gegen Banditen, zwangsweise Entwaffnung von Bürgerkriegsparteien) -bergen immer das Risiko ungewollter Eskalationsdynamik in sich, bis hin zur parteilichen Kriegsführung durch die UNO selbst, ohne eindeutige Aggressoren, bei unklaren Fronten und irregulärer Kampfesweise. Spätestens mit der Rücknahme des Erzwingungsauftrages für die UN-Truppen durch den Sicherheitsrat im Februar 1994 hat die UNO offen eingestanden, daß ihr erster „robuster“ Blauhelmeinsatz gescheitert ist. Ein lange Zeit unter Verschluß gehaltener interner Untersuchungsbericht über den Ablauf von UNOSOMII machte für die „aggressive Strategie“ der UN-Truppen und die Gewalteskalation vor allem die UN selbst und die USA verantwortlich
Namentlich kann UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali persönlich und seinem Sonderbeauftragten in Somalia, dem amerikanischen Ex-Admiral Howe, die Hauptschuld für die unselige, tragikomische Aidid-Jagd zugewiesen werden. Eine weitere Untersuchungskommission der UN gelangte zu der Erkenntnis, daß die Hauptgründe für den Tod zahlreicher UN-Soldaten (Pakistaner und Amerikaner) am 5. Juni und am 3. Oktober 1993 die unzureichende Vorbereitung von Aktionen, schlechte Ausrüstung (u. a. Mangel an Schützenpanzern und Funkgeräten für die Sicherheit), eine inkompetente politische Beratung und die Unterschätzung der militärischen Fähigkeiten somalischer Milizen waren Die theoretische Konzipierung einer neuen Generation von Blauhelmeinsätzen in Gestalt militarisierter internationaler Polizeieinsätze ist eben einfacher als deren praktisch-politische, operative Umsetzung vor Ort Die Militärmaschine von UNOSOM II gewann ihre Eigendynamik und dominierte die humanitäre und politische Komponente der Operation; Militärlogik setzte sich gegen Zivillogik durch.
Der Tatsache, daß die UN-Truppen zahlreichen Somali das Leben retteten, steht die Behauptung gegenüber, daß sie Hunderte bis Tausende Somali getötet haben, darunter viele unschuldige Zivilisten, namentlich im Verlauf der Kämpfe seit Mai 1993. Einem internen Bericht zufolge bezweifelte die Rechtsabteilung der UN selbst die Rechtmäßigkeit von Überraschungsangriffen auf Wohngebiete und mutmaßliche Stützpunkte der Aidid-Kämpfer ohne vorherige Warnung der Bewohner Menschenrechtsorganisationen warfen den Vereinten Nationen in Somalia Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und Menschenrechtsverletzungen vor und kritisierten willkürliche Verhaftungen somalischer Zivilisten. Des weiteren monierten sie das Fehlen einer Rechenschaftspflichtigkeit der UN und einer Kontroll-sowie Beschwerdeinstanz gegenüber UNOSOM
Unverkennbar war auch das Fehlen einer kohärenten Kommandostruktur, eines effizienten Kommando-und Kontrollsystems der Operation und einer befriedigenden Kommunikation zwischen der UN-Zentrale in New York und den Verantwortlichen vor Ort. Die UNOSOM-Kommandostruktur war von den USA dominiert, die zudem noch ein eigenes Kommando unterhalten und sich mit den Offizieren anderer Kontingente kaum abgestimmt haben sollen. UNOSOM offenbarte auch schwerwiegende Defizite bei der Koordinierung ihrer verschiedenen Abteilungen sowie den mangelnden politischen Konsens und die nationalen Widersprüchlichkeiten der an der Operation beteiligten Staaten und Kontingente.
VII. Von der Arroganz der Macht zur Friedensstiftung mit Augenmaß?
Der Fall Somalia wirft die im nachhinein zugegebenermaßen etwas spekulative Frage nach verpaß-ten Präventionschancen auf, denn keine Militär-intervention folgt gleichsam zwangsläufig aus einem unvermeidlichen Gang der Ereignisse. Ein Fehlverhalten der UN und der USA sowie anderer Staaten und Staatengruppen kann durchaus zu Recht konstatiert werden. Womöglich hätte eine frühzeitig erfolgende, weniger massive, auch nicht-militärische Einmischung der Weltgemeinschaft noch Schlimmeres verhüten können, vielleicht schon nach Ausbruch des offenen Bürgerkrieges 1988 im Nordwesten, zu Zeiten der zu Ende gehenden Barre-Diktatur, unmittelbar nach der Vertreibung Barres um die Jahreswende 1990/91, nach dem Waffenstillstand in Mogadischu vom März 1992 oder noch im Sommer 1992, als das Ausmaß der humanitären Katastrophe in Somalia immer deutlicher wurde. Offensichtlich wird in diesem Zusammenhang auch das Fehlen eines adäquaten, effizienten, zur Früherkennung und schnellen Reaktion fähigen Systems international koordinierter humanitärer Hilfe für Menschen in Kriegs-und Krisensituationen. Militärische Operationen sind in gewisser Weise auch eine Art Notbehelf für das Nichtvorhandensein eines solchen Systems und eine Kompensation für das vorherige Ausbleiben oder Versagen einer politischen Konfliktregelung. Zusammenfassend stellt sich das Somalia-Unternehmen der Vereinten Nationen als ein massiver, militärisch gestützter externer Eingriff in relativ eigendynamische und weithin unverstandene Konfliktprozesse einer fremden Gesellschaft dar, der sich vor allem mit dem kurzfristigen Kurieren humanitärer Symptome begnügt, jedoch kaum die tiefer liegenden strukturellen Probleme von Gewalt und Not tangiert und nicht bereit ist, sich auf ein längerfristiges Engagement geduldiger Friedensarbeit einzulassen. Der Versuch eines politischen Diktats der Friedensregelung scheiterte ebenso wie der Versuch einer Friedenserzwingung durch UN-Blauhelme. Das krasse Mißverhältnis zwischen dem immensen finanziellen, materiellen und personellen Aufwand der Operation und ihrem eher bescheidenen Ertrag ist eklatant. In erheblichen Teilen geriet das Somalia-Unternehmen so zur „Schaufensteroperation“, zur symbolischen Aktion und zur Erprobung neuartiger Konzepte von Einmischungspolitik. Die Erfahrungen in Somalia werden vermutlich zur Ernüchterung und Versachlichung der Debatte über humanitäre Interventionen und „robustes Peacekeeping“ beitragen. Die UNO ist in ihrer Autorität, Kompetenz und Glaubwürdigkeit als designierter Weltpolizist schwer erschüttert. Bestenfalls hat sie in Somalia teures Lehrgeld bezahlt.
Doch sowohl für die UN als auch für die USA ist das „Somalia-Trauma“ offenbar „nicht bloß die Feuertaufe, sondern hat auch eine äußerst unglückliche paradigmenbildende Wirkung“ die den Willen zu entschlossenem Handeln in ähnlichen Situationen zu lähmen scheint. Namentlich die USA werden ihre nationalen Interessen präziser definieren und sich restriktiver verhalten, wenn es darum geht, sich in fremden Ländern zur Rettung bedrohter Menschenleben einzumischen Dies ließ sich beispielsweise schon deutlich an der Zurückhaltung der USA gegenüber einer größeren und raschen UN-Operation im Falle Ruandas erkennen. In gewissem Sinne sind die getöteten und geschundenen Menschen Ruandas daher auch Opfer der unseligen Geschehnisse in Somalia. Angesichts großer Nachfrage und begrenzter Mittel geht es um den politischen Willen und die materielle Fähigkeit der Weltgemeinschaft, möglichst tragfähige und konstruktive Hilfs-und Stützungsoperationen durchzuführen und sich auf Engagements einzulassen, die Geld, Ressourcen, Zeit und Energien beanspruchen, ohne eine sichere Aussicht auf durchgreifenden Erfolg zu bieten. Zumindest müssen realistische Chancen eingeräumt und genutzt werden. Doch letztlich gilt es, über präventive Konfliktbearbeitung die strukturellen Hintergründe schwerer Menschenrechtsverletzungen und die tiefer liegenden Ursachen von Kriegen aufzudecken und anzupacken.