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„Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ Die Deutschen und der Widerstand | APuZ 28/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1994 „Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ Die Deutschen und der Widerstand Der 20. Juli 1944 -damals und heute Der Kreisauer Kreis und die deutsche Zukunft Das sozialistische Exil und der 20. Juli 1944. Die Wahrnehmung des Attentats auf Hitler durch die Sopade und die Gruppe Neu Beginnen

„Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ Die Deutschen und der Widerstand

Peter Steinbach

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist seit 1945 zu einem wichtigen Bereich zeithistorischer Forschung und geschichtspolitischer Kontroversen geworden. Diese Auseinandersetzung der Deutschen ist sowohl durch eigene Erfahrungen im „Dritten Reich“ als auch durch die Systemkonfrontation mit der zweiten deutschen Diktatur geprägt worden. Entscheidende Impulse einer intensiven Beschäftigung mit dem Widerstand und der Anerkennung seiner Motive gingen von öffentlichen Kontroversen, aber auch von Reden führender Politiker und grundlegenden Gerichtsentscheidungen aus, die einerseits das Widerstands-recht als Abwehrrecht anzuerkennen halfen, andererseits aber nicht verhindern konnten, daß sich oppositionelle Bestrebungen immer wieder auf das in einer bestimmten historischen Situation legitimierte Recht zum Widerstand beriefen. Diese Aktualisierung der Widerstandsgeschichte stellte nicht nur ein politisches Problem dar, sondern bot auch für die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Widerstandsrecht und für die wissenschaftliche Erforschung der Widerstandsgeschichte zusätzliche Perspektiven. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus blieb so stets umstritten, behielt aber eine Gegenwärtigkeit in der Erinnerung, die ihn bis heute zu einer wichtigen Herausforderung für jede zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit werden läßt.

I. Öffentliches Erinnern als Politikum

Die Berufung auf den Widerstand gehört in Deutschland heute zu den feststehenden Bestandteilen unseres historischen und politischen Erinnerns, und zwar ganz unabhängig von den grundlegenden politischen Richtungs-und Wert-entscheidungen, zu denen wir uns bekennen Im Gegensatz zu den fünfziger Jahren als die Mehrheit der Deutschen noch die Nennung einer Schule nach einem Widerstandskämpfer wie Claus Graf Schenk von Stauffenberg ablehnte und sich die meisten Deutschen dagegen aussprachen, einen Regimegegner mit einem politischen Amt zu betrauen -nur jeder zehnte Deutsche befürwortete damals die Berufung eines Emigranten in ein hohes politisches Amt -, ist die Gegnerschaft zum NS-Staat heute nicht mehr verfemt. Im Gegenteil: Selbst die heftigsten Kontroversen über den Widerstand zeigen, wie viele Menschen sich inzwischen nicht nur mit der Bewertung des Widerstands zu beschäftigen bereit sind, sondern in welchem Ausmaß der Widerstand gerade durch die Tatsache seiner Vielfältigkeit und auch Wider­ sprüchlichkeit anerkannt wird. Wir haben heute keine Probleme mehr mit der Tatsache seiner zeitlichen und politischen Differenzierung, und wir können innerlich auch damit fertig werden, ihn nicht nur als Gegensatz zum NS-Regime, sondern zugleich sowohl als Alternative wie als Produkt seiner Zeit zu nehmen Wir fragen heute in gleicher Weise nach dem Selbstverständnis der Regimegegner und der Verfolgungspraxis des NS-Staates und gehen in der Regel von einem dezidiert „integralen Widerstandsverständnis“ aus, das die Einbeziehung vieler unterschiedlicher Regimegegner und ihrer Motivation in das Gedenken gestattet. Nicht zuletzt deshalb können wir die Chance dieses „in-'tegralen Widerstandsverständnisses“ auch für die Wissenschaft nutzen.

Gerade wegen dieses offenen Verständnisses von Regimegegnerschaft ist der Widerstand in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit heute ein Teil des Selbstverständnisses der deutschen Gesellschaft geworden, die ihn trotz seiner Behaftung mit allen seinen Verengungen und auch Verirrungen, seiner Prägung durch die lange Geschichte des Obrigkeitsstaates, trotz seines außenpolitischen Hegemonialdenkens und seines spürbaren deutschen Sonderbewußtseins akzeptiert. Er wird deshalb aus den Horizonten seiner eigenen Gegenwart interpretiert und verliert wohl gerade dadurch kaum an Ausstrahlung. Gerade die Verstrickung in die zeitspezifischen Vorstellungen macht um so deutlicher, was es heißt, daß der Widerstand nicht selten Positionen überwinden mußte, die er zuweilen sogar mit den Nationalsozialisten teilte.

Aber nicht die Bewertung des Widerstands in unserer Gegenwart hat im Zentrum der folgenden Überlegungen zu stehen. Vielmehr sollen wichtige Stationen einer grundlegenden Annäherung an die Regimegegnerschaft in den fünfziger Jahren nach-gezeichnet werden. Denn wenn heute die Berufung auf den Widerstand zu den geschichtspolitischen Grundtatsachen unserer Gegenwart gehört, so ist die zwischen der weitgehenden Verfemung des Widerstands im öffentlichen Bewußtsein der fünfziger Jahre und der heutigen breiten Anerkennung liegende Entwicklung als ein Prozeß zu erklären, der den Politikwissenschaftler vor allem dann interessiert, wenn er die Funktion des historischen Arguments und des geschichtlichen Bezugs in der politischen Auseinandersetzung analysieren will. Als wichtige Station dieser Annäherung muß die erste Phase der Beschäftigung mit der Widerstandsgeschichte in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende gelten. Sie ging einher mit der Phase zunehmender Erklärung des Verhaltens der Menschen im „Dritten Reich“ und damit einer Deutung der „Anpassung“ im Zusammenhang mit der Entnazifizierungsdiskussion, die Anfang der fünfziger Jahre drohte die Erinnerung an den Widerstand verblassen zu lassen. Diese Tendenz des Verdrängens des Widerstands als eine Art „exemplarischer Beschwerde des Menschen“ wurde vor allem durch die höchste Rechtsprechung korrigiert Auch durch die Auseinandersetzungen über die Wiedergutmachung wurden wichtige Weichen einer Annäherung an die Lebenswirklichkeit des „Dritten Reiches“ gestellt.

Vor allem im Lichte der zweiten deutschen Diktaturerfahrung wurde die Auflehnung gegen die nationalsozialistische Herrschaft in großen politischen Reden gewürdigt. Dadurch erhielten die Deutschen die Möglichkeit, den Widerstand im Dritten Reich vor dem Hintergrund ihrer gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen mit dem SED-Staat zu deuten. Allerdings wurde dabei „Widerstand“ vor allem als „Abwehrrecht“ definiert -im Gegensatz zu den Ansprüchen oppositioneller Bewegungen und Bestrebungen, die sich in den fünfziger Jahren zunehmend auf das Recht zum Widerstand beriefen, um ihre eigenen Gestaltungsabsichten zu begründen. Sowohl in den fünfziger als auch in den sechziger Jahren wurde die Auseinandersetzung über den Widerstand somit zunehmend zum Politikum, das seine Wahrnehmung in der Forschung und in der Deutung weitgehend bestimmte. So gesehen ist es auch nicht erstaunlich, daß die Auseinandersetzung mit dem Widerstand immer stärker als politische Kontroverse geführt wurde.

Erinnerung -auch an den Widerstand -ist als öffentlicher, nicht selten bewußt inszenierter Akt immer von politischen Rahmenbedingungen abhängig. Diese werden nicht zuletzt durch Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Intellektuelle gestaltet. Erinnerung hat überdies immer politische Folgen und oftmals ebenso politische Voraussetzungen. Sie verweist deshalb auf ein außenpolitisches und auf ein innenpolitisches Umfeld -sie zeugt von Besinnung ebenso wie von Umkehr, Neuanfang, Vergewisserung von Ursprüngen, von Ausgangs-und Wendepunkten. Deshalb wird die Bereitschaft für Erinnerung, für Würdigung, für Annäherung als Ergebnis eines öffentlich inszenierten Nachdenkens nicht selten bewußt geschaffen und gestaltet.

Die jeweiligen Akteure gestalteter Erinnerungen spiegeln die vielfältige Struktur ihrer Gesellschaft. Innergesellschaftliche Kontroversen, die der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dienen, sind ein wichtiges Element der politischen Funktion von Geschichte. Problematisch wird allerdings die durch staatliche Einrichtungen bewußt gestaltete Erinnerung, denn diese durch staatliche Institutionen beeinflußte „Geschichtsarbeit“ kollidiert vielfach mit der Vielfältigkeit von Geschichtsbildern, über die eine pluralistisch organisierte Gesellschaft verfügt. Hingenommen werden jedoch Appelle, die ohne den Anspruch auf verbindliche Durchsetzung formuliert werden -dies macht die Bedeutung, die Faszination und auch das Gewicht der Ansprachen von Bundespräsidenten aus. Staatliche Einrichtungen, die sich gegen die Vielfältigkeit wenden, erliegen nicht selten der Gefahr, an die Stelle der Geschichtsbilder ein Geschichtsbild zu setzen, einen bestimmten Sinn der Geschichte anzunehmen und ihn in den Deutungen der Vergangenheit durchzusetzen.

Geschichtspolitik hat in dieser Ambivalenz der Erinnerung ihren Ursprung; sie läßt sich definieren als die Auseinandersetzung mit der und um die Geschichte als politisches Ereignis. Diese Auseinandersetzung berührt nicht selten legitimatorische Grundlagen unserer Gesellschaft und immer auch ihre Identität; sie stiftet augenscheinlich nicht nur Gemeinsamkeit, sondern begründet oftmals die Zuspitzung gegensätzlicher Positionen. Und sie verleitet Politiker immer wieder dazu, die Auseinandersetzung mit der Geschichte in ihrem Sinne zu gestalten. Damit wird Geschichtspolitik zu einem neuen Politikfeld: zu einem Bereich, in dem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gestaltet wird. Gerade die Durchsetzung des Erinnerns an den Widerstand in Deutschland stellt ein besonders eindrucksvolles Beispiel moderner Geschichtspolitik dar. Im folgenden wird deutlich, in welchem Umfang die entscheidenden Positionen der Widerstandsdeutung bereits in den fünfziger Jahren festgelegt worden sind. Dadurch wird es auch möglich, die fast regelmäßig aufbrechen-den geschichtspolitischen Kontroversen über den Widerstand einzuordnen. Nach wie vor stellt er offensichtlich eine Art „Stachel im Fleisch“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft dar, um einen Ausspruch von Theodor Heuss bei der Eröffnung der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu variieren.

II. Die Motivationen für den Widerstand in historisch-politischer Perspektive

Angesichts der -wie es heute scheint -von vornherein fast sicher anmutenden Aussichtslosigkeit der Lage hat sich seit dem Zeitpunkt des Attentats vom 20. Juli 1944 immer wieder die Frage nach der Motivation der Täter gestellt. Sie zielt auf das Verständnis ihrer inneren Beweggründe, fragt nach der moralischen Rechtfertigung, setzt sich mit Zielen der Auflehnung auseinander und unvermeidlich auch mit den Zukunftsvorstellungen der Widerstandskämpfer. Viele von ihnen spürten in der Phase ihres Scheiterns bereits die Fragen der Nachwelt. Immer wieder tauchen in Aufzeichnungen Zukunftsaspekte auf. So betonte etwa Dietrich Bonhoeffer, daß sich im Widerstehen ein Zukunftsoptimismus verkörpere, der dem Gegner die Zukunft nicht überlassen wolle. Auch Henning von Tresckow blickte weit über die damalige Gegenwart hinaus und beschwor die innere Gemeinschaft derjenigen Gerechten, die das Nessushemd angezogen und auf diese Weise ein Sodom und Gomorrha der Deutschen verhindert hätten. In den Verhören des Reichssicherheitshauptamtes, die in der kondensierten Form der „Kaltenbrunner-Berichte“ festgehalten wurden, sind die Zukunftsgewißheit, der moralische Rigorismus und der zivile Mut vieler Widerstandskämpfer zu spüren. Yorck, Moltke, Trott zu Solz, Rüdiger Schleicher und sehr viele andere traten den Verhörbeamten unerschrocken und ungebrochen gegenüber; auch die Selbstdistanz und Selbstge-wißheit der „Moabiter Sonette“ von Albrecht Haushofer rühren unmittelbar an. Haushofer wurde mit Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher, Justus Pereis und anderen noch am 23. April 1945 auf dem Gelände des Lehrter Bahnhofs hinterrücks ermordet -fast in Rufweite der anrückenden sowjetischen Truppen.

Die Frage nach den Motiven und Zielen, damit aber auch nach der inneren Rechtfertigung und dem Vermächtnis des Widerstands ist eine stetig herausfordernde Hinterlassenschaft des tausendfachen Opfers des deutschen Widerstands; es ist darüber hinaus eine unausweichliche Frage nach den Millionen Ermordeter und eine Frage an uns selbst über unser eigenes Verhältnis zur politischen Alternative, welche der Widerstand verkörperte.

Historisch mußte zunächst das Geröll der Schwäche, der Feigheit, auch der Furcht beiseite geräumt werden. Denn der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird nur verständlich vor jener mächtigen Folie der Anpassung, die den Widerstand zur Besonderheit werden läßt. Die Deutschen waren im „Dritten Reich“ kein Volk von Widerstandskämpfern, sondern erscheinen überwiegend bis heute als eine, wenngleich in sich schattierte, Masse von Angepaßten, Passiven, Zurückhaltenden, deren Resistenz sich allenfalls in Teilbereichen äußerte. Folglich war in den fünfziger Jahren der Widerstand als die Verkörperung einer besseren, mutigeren Möglichkeit in Deutschland denkbar unpopulär. Umfragen sprechen eine deutliche Sprache. Der Widerstand galt für viele Deutsche bis weit in die sechziger Jahre hinein als „Verrat“ Erst langsam akzeptierte man die Attentäter und Widerstandskämpfer in der breiteren Öffentlichkeit als Vertreter jenes „anderen Deutschland“.

Mit der Akzeptanz änderte sich die Frage nach der Motivation des Widerstands. Zentral war nicht mehr die Absicht, die Handlungsmotive der Widerstandskämpfer zu verstehen, sondern der Versuch, den eigenen Standort in der Konfrontation mit ihrer Tat zu präzisieren, ihre politischen Prinzipien zu vergegenwärtigen und im Rückgriff auf die vergangenen Widerstandserfahrungen sich den Herausforderungen der Gegenwart zu nähern. Die Auseinandersetzung mit der Tat der Verschwörer geriet dabei in ein vielfältiges Spannungsverhältnis: * S. -Indem der Widerstand für das andere, das bessere Deutschland stand, diente die Rückbesinnung auf ihn der politisch-moralischen Rechtfertigung all der Deutschen, die einen politischen Neuanfang beabsichtigten oder für die Rehabilitation des deutschen Namens in der Welt wirken wollten. -Auch die Angehörigen der Widerstandskämpfer mußten auf die öffentliche Diskussion Einfluß nehmen: um die Ehre der zumeist getöteten Widerstandskämpfer zu verteidigen, um ihrem selbstlosen Handeln einen gegenwartsbezogenen Sinn zu geben, aber häufig auch, um Schaden und Nachteile von sich als Hinterbliebenen abzuwenden. -Für die politisch-pädagogische Diskussion verkörperte der Widerstand Mut aus gesamtnationaler Verantwortung; er war eine zukunftswichtige Alternative im Blick auf eine durch Schuld, Verstrickung, Verbrechen und Kriegsabsicht, durch Weltmachtstreben und Totalitarismus geprägte Vergangenheit. Im Widerstand ließ sich die Chance greifen, die das Individuum auch in totalitären Lebensverhältnissen besitzt -wenngleich oft nur um den Preis einer hochgradigen Lebens-gefährdung. -Die von Politikern vorgetragene Deutung des Widerstands zielte bewußt auf Ordnungs-und Zielvorstellungen einer freiheitlichen Demokratie ab. Insofern schien der Widerstand gegen den Nationalsozialismus zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu gehören. Aber auch Politiker der DDR suchten die Legitimation ihrer Politik auf dem Hintergrund ihres Kampfes gegen den Nationalsozialismus -sei es im politischen Widerstand der KPD nach 1933, während der Unterdrückung in den Lagern oder schließlich auch aus dem Exil heraus.

Je bewußter zwischen dem Widerstand und der Gegenwart eine Verbindung hergestellt wurde, desto deutlicher verschob sich der Akzent der Fragestellungen: Weniger die Motive und Ziele, sondern vielmehr die exemplarische Haltung des Widerstehens standen im Vordergrund. Hinzu kamen die Einflüsse aktueller Politik: Die kontroverse Beurteilung des Widerstands wurde oft zum Mittel einer politischen Ortsbestimmung oder diente dazu, Konflikte auszutragen. Dies ist -wie eingangs dargelegt -nicht unproblematisch, bietet aber auch die Möglichkeit, die Kluft zwischen zeitgeschichtlicher Erfahrung und politischem Bewußtsein zu überwinden

III. Beginn der politischen Auseinandersetzung

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind mehrere Phasen der Auseinandersetzung mit dem Widerstand vor dem Hintergrund jeweils aktueller Herausforderungen festzustellen:

In der Zeit unmittelbar nach 1945 ging es vorerst darum, angesichts des offen zutageliegenden Grauens vor der Weltöffentlichkeit auf den Widerstand hinzuweisen und aus der Tatsache seiner Existenz Chancen einer demokratischen Entwicklung und politischen Selbsterziehung abzuleiten. Bereits zu den Dokumenten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesses gehörte das Protokoll einer zentralen Sitzung des Volksgerichtshofes: Es belegte die Demagogie und Infamie seines Präsidenten Freisler gegenüber den Regime-gegnern des 20. Juli 1944, damit aber auch die Standhaftigkeit und Würde der ihm ausgelieferten Angeklagten In der neutralen Schweiz erschienen bald verschiedene Arbeiten, die auf die zeitliche Entwicklung und Breite der deutschen Oppositionsbewegung verwiesen und zu einem guten Teil das Selbstverständnis der Widerstandskämpfer vermitteln wollten. Versuche von Ricarda Huch, Menschenbilder des Widerstands zu erfassen, endeten mit ihrem Tod 1947 allzu früh; Ernst Weisenborn überlieferte einige der Materialien Den Durchbruch erreichte Hans Rothfels mit seiner bis heute unverzichtbaren Arbeit über die deutsche Opposition

In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre erschien das zweibändige Sammelwerk „Das Gewissen steht auf“ und „Das Gewissen entscheidet“ Es führte Hinterbliebene des Widerstands mit der bewußten Selbstbesinnung einer jüngeren Generation zusammen: Die Namen von Annedore Leber, Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher als Herausgeber stehen für den frühen Anspruch, den Widerstand in seiner sozialen, kulturellen, konfes-sionellen, politischen und auch generationsspezifischen Breite vor das Auge einer Nachwelt zu stellen, deren Einstellung zum Widerstand gegen Hitler sich allmählich wandelte.

Für den Publizisten Rudolf Pechei, der von 1942 an in KZ-Haft war, bedeutete der Kampf gegen Hitler eine „Menschheitsangelegenheit“; sie richtete sich gegen das „böse Prinzip“ schlechthin, blieb aber dennoch charakterisiert durch Isolation und die extreme Wirklichkeit des Lebens im Untergrund: „Das Wort Hoch-und Landesverrat klang häßlich in den eigenen Ohren -erst später wurde es zu einem auszeichnenden Begriff. Hier gab es nur einen Ausweg: sich klar zu werden, daß der Krieg ein Verbrechen und ein Sieg Hitlers ein viel schlimmeres Unglück als selbst die schwerste Niederlage bedeutet hätte ... Wer sich bewußt geworden war, daß ein Mensch zu sein eine höhere Ordnung bedeutete, als ein Deutscher zu sein, dessen Weg war klar.“

Pechei wollte durch seine Handlungsprinzipien den Widerstand rechtfertigen und ihn zugleich als Alternative zu weitgehender Anpassung deutlich machen. Dies diente der Rechtfertigung eines Widerstands, der schon bald nach der Befreiung -in einem Klima allgemeiner Selbstentlastung in den Entnazifizierungsverfahren -auf Ablehnung oder zumindest auf abschätzige Ressentiments stieß. Für Hans Rothfels stellte Widerstand vor allem „Umkehr“ dar, um die Rangordnung von Werten wieder „zurechtzurücken“ und um „ethisch-religiöse Postulate an Stelle politisch-säkularisierter wieder an die oberste Stelle“ treten zu lassen. Er lehnte es ab, die Handlungsgründe und politischen Ziele der Widerstandskämpfer nach Klassen-und Standesmotiven zu beurteilen. Jede derartig verengte „Würdigung“ könne sich nur innerhalb „begrenzter Sphären politischer Betrachtungen und Möglichkeiten“ bewegen. Rothfels skizzierte, wie natürlich auch der antinationalsozialistische Widerstand seiner Zeit verhaftet war, ohne bei dieser Betrachtungsweise allerdings die prinzipiellen Dimensionen und Möglichkeiten zu vernachlässigen: „... um auf den Grund zu sehen, muß man zum Prinzipiellen vorzustoßen suchen, zu den Kräften moralischer Selbstbehauptung, die über die Erwägung des bloß politisch Notwendigen weit hinausgehen“

Zentrum des Widerstands blieb für Hans Rothfels die -wie er es nannte -„entscheidende Aktion“ des 20. Juli 1944; denn sie hatte den Widerstand seinem letzten Ziele denkbar nahe kommen lassen. Dennoch bewahrte sich Rothfels das Bewußtsein, Verfolgung und Widerstand niemals in völlige Deckung bringen zu können und Leiden und Tat deshalb stets unterscheiden zu müssen. Verfolgung erschien ihm als Kollektivschicksal, Widerstand aber als eine mutige Verhaltensweise einzelner.

Einen weiteren Schritt in der Akzeptanz des antinazistischen Widerstands stellten anfangs der fünfziger Jahre der Remer-Prozeß und das Engagement von Fritz Bauer dar. Damals versuchte die später verbotene Sozialistische Reichspartei (SRP) Elemente nationalsozialistischer Weltanschauung zu aktivieren und zu propagieren. Weil die Ordnung des Grundgesetzes sich als freiheitlich und demokratisch begriff und zugleich die politische Lehre aus der deutschen Zeitgeschichte ziehen wollte, mußte ein derart öffentlichkeitswirksamer Versuch, den demokratischen Neubeginn in Frage zu stellen oder die Vergangenheit zu verfälschen, auf Widerspruch stoßen. Einer der führenden Parteifunktionäre der SRP war der ehemalige Major Remer. Remer war für das Scheitern der Operation „Walküre“ hauptverantwortlich, hatte er doch am Nachmittag des 20. Juli 1944 Goebbels gewarnt und gegen die -wie es propagandistisch hieß -„eidbrüchig“ gewordenen Verschwörer den Kampf aufgenommen. Unter dem NS-Regime wurde er deshalb befördert, nach 1945 degradiert, aber nicht entscheidend in seiner politischen Wirksamkeit beschränkt.

Im Remer-Prozeß ging es jedoch nicht allein um die Person dieses ehemaligen Wehrmachtsmajors und sein Wirken als unverbesserlicher Nationalsozialist, der sich jetzt als Gegner von sogenannten Landes-und Hochverrätern der öffentlichen Meinung anzubiedern versuchte. Es ging dem damaligen Braunschweiger Oberstaatsanwalt Fritz Bauer vielmehr um eine Klärung des Verhältnisses zwischen Nachkriegsdemokratie und Widerstand; Bauer sagte im Prozeßverlauf: „Was am 20. Juli 1944 vielen noch dunkel vorgekommen sein mag, ist heute unbelehrbarer Trotz, böser Wille und bewußte Sabotage unserer Demokratie.“

In einer klaren Rechtfertigung des Widerstands gegen das NS-Regime drücke sich eine Verbindung zwischen Moral und Recht aus, denn moralisch Einwandfreies müsse auch juristisch einwandfrei sein. Bauer kehrte den Hinweis auf den Straftatbestand des Landesverrats um und argumentierte gegen jede Diffamierung der Widerstandskämpfer: „Am 20. Juli 1944 war das deutsche Volk total verraten, verraten von seiner Regierung, und ein total verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats sein. Genausowenig, wie man einen toten Mann durch einen Dolchstoß töten kann.“

Die NS-Verbrechen verlangten Nothilfe, und insofern waren Widerstandshandlungen rechtlich sanktioniert. Weiterführende Argumente des Oberstaatsanwaltes bezogen sich auf die Nachwirkung des Widerstands in der aktuellen Situation zu Beginn der frühen fünfziger Jahre. Bauer überdachte den Vorwurf des Hochverrats und betonte, lediglich der erfolglose Hochverrat habe bisher als strafbar gegolten. Der Widerstand des 20. Juli sei aber trotz seines ersten Scheiterns letztlich erfolgreich gewesen: „Die Menschen in den Konzentrationslagern und Menschen außerhab der Konzentrationslager haben den Samen der neuen Demokratie gelegt. Die Alliierten haben den Stein entfernt, der verhinderte, daß dieser Samen zum Licht empor-kam. Als aber die Alliierten den Stein entfernten, da wuchs dieser Samen. Dieser Samen war nicht gesät von Alliierten, dieser Samen war von deutschen Widerstandskämpfern gesät. Deshalb war der »Hochverrat 4 des 20. Juli 1944 erfolgreich; deswegen ist er in juristischem Sinne nicht Hochverrat.“

Rudolf Wassermann hat die juristische Überzeugungskraft dieser Argumentation angezweifelt; diese aber war auch nicht Ziel von Fritz Bauer. Ihm ging es um ein politisches Gefühl und ein Meinungsklima, welches 1952 durch zunehmende Offenheit gegenüber der Vergangenheit charakterisiert schien: „Jeder Bürgerkrieg ist, wie auch jeder Krieg nach außen, zusammengesetzt aus einer Fülle von Schlappen und Niederlagen. Entscheidend ist, wer die letzte Schlacht gewinnt. Die letzte Schlacht wurde ein Jahr nach dem 20. Juli von der deutschen Demokratie gewonnen und hat damit dem 20. Juli auch ihren staatsrechtlichen Sinn gegeben.“

Keineswegs wollte Bauer die Befreiung vom Nationalsozialismus als eine „Sache der Alliierten“ einschätzen: „Ich glaube, im Namen des deutschen Volkes sollten wir dagegen protestieren und uns klar und deutlich und mit Stolz zu unseren Widerstandskämpfern bekennen, die seit dem Jahre 1933 durch die Konzentrationslager gingen und mit eisernem Willen und heißem Herzen für die Wiederherstellung der Freiheitsrechte, für die Grundrechte und Menschenrechte in Deutschland gekämpft haben.“

Deutlicher war vor einer denkbar breiten Öffentlichkeit noch niemals ein Bekenntnis zum Widerstand abgelegt worden, und natürlich auch nicht vor den Angehörigen des Widerstands, die durch Nebenkläger im Braunschweiger Prozeß vertreten waren. Dabei befand sich Bauer im Einklang mit exzellenten Gutachtern, die die weitere theologische, philosophische, historische und juristische Diskussion prägen sollten. Entscheidend blieb da-• bei freilich, ob und wie schlüssig die Nachfolge der Verfassungsordnung des Grundgesetzes aus dem Geist des Widerstandes begründet werden konnte. Diese Schlüssigkeit bezog Bauer nicht allein auf abstrakte Ziele des Staates oder auf das Menschenbild des Grundgesetzes, sondern auf die konkreten Artikulations-und Handlungsmöglichkeiten für oppositionelle Strömungen. Das Widerstandsrecht sei stets vorhanden; allerdings könne es ruhen, wenn die Rechte des Volkes von Institutionen gehegt und geschützt würden: „Es gibt kein Widerstandsrecht im Rechtsstaat, solange die Menschenrechte gewahrt werden, solange eine Möglichkeit zur Opposition besteht und einem Parlament Gelegenheit zur Gesetzgebung gegeben ist, solange unabhängige Gerichte walten und die Gewalten geteilt sind.“

Das Braunschweiger Oberlandesgericht folgte in seiner Urteilsbegründung dem Plädoyer von Fritz Bauer insofern, als es vielen Widerstandskämpfern zuerkannte -so wörtlich -, „aus heißer Vaterlandsliebe und selbstlosem, bis zur bedenkenlosen Selbstaufopferung gehendem Verantwortungsbewußtsein gegenüber ihrem Volk“ gehandelt zu haben. Die Absicht von Fritz Bauer war also erfolgreich: Er wollte eine klare Grenze gegenüber einer Verklärung des NS-Regimes markieren. Deshalb ist auch Rudolf Wassermann zuzustimmen, wenn er den Remer-Prozeß als „bedeutendsten Prozeß mit politischem Hintergrund“ in den fünfziger Jahren bezeichnet. Bauer zwang die Rechtsprechung, eine klare Haltung zugunsten des Widerstands gegen den Nationalsozialismus einzunehmen, und konnte so dem NS-Regime nachträglich den Pro­ zeß machen, um es als Unrechtsregime zu verwerfen. Dies geschah zu einer Zeit, als die erste Welle der Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen im Abklingen war und ein wahres Gnadenfieber die deutsche Öffentlichkeit erfaßte. Bauer wollte die Öffentlichkeit mit dem verbrecherischen Charakter des NS-Regimes konfrontieren, damit endlich eine schonungslose Auseinandersetzung mit jener Zeit und letztlich auch eine angemessene Würdigung des Widerstands beginnen könne.

IV. Anerkennung des Widerstands -eine Folge der Teilung

Die Teilung Deutschlands konfrontierte die deutsche Öffentlichkeit nicht nur mit dem Verlust der nationalstaatlichen Einheit, sondern stellte ihr abermals die Realität des Totalitarismus als politischer Ordnung vor Augen -einer Ordnung, die im offenen Gegensatz zum Menschenbild des Grundgesetzes stand. Dieses Bewußtsein war seit der Entstehung des deutschen Doppelstaates immer stärker geworden; so kam es nicht von ungefähr, daß die Aufstände in der DDR am 17. Juni 1953 sich auch auf die Einschätzung des Widerstands auswirkten und ihm zu neuer Anerkennung verhalten. Einerseits machte die Auflehnung gegen Ulbricht und -wie es schien -die Aufbäumung der einzelnen gegen das Unrecht und die Zerstückelung der deutschen Nation ein überindividuelles Widerstandsziel plausibel; andererseits lenkte der Blick auf das totalitäre Regime in der DDR den Blick der Zeitgenossen auf die Lebensverhältnisse von 1933 bis 1945 sowie auf die in dieser Zeit bewiesenen oder versäumten Widersetzlichkeiten gegen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen.

Dies wurde auch in einem Brief deutlich, den Bundespräsident Theodor Heuss an die Witwe eines Widerstandskämpfers richtete; darin fand sich ein klares Bekenntnis zum Widerstand als exemplarischer Handlung von „innerer Rechtfertigung“. In der Auflehnung gegen die „bewußte und zynische Rechtlosigkeit“ erblickte Heuss die entscheidende Voraussetzung für die Ehrenhaftigkeit des Widerstandes, die allzu häufig von Demagogen oder an Stammtischen bezweifelt werde. Dem Bundespräsidenten schien die Kategorie der „Ehre“ sogar unangemessen zu sein, um das Handeln der Widerstandskämpfer zu rechtfertigen: „Es gibt wohl ständische Konventionen und Gebote, aber es gibt keine sonderliche , Ehre‘, sondern nur eine unmittelbare Verantwortung vor Gott und vor dem Volk, in das man hineingeboren wurde, dem man nach Einsicht und Gewissen dient.“

Damit wird der Umschlag der Argumentation in den frühen fünfziger Jahren sichtbar: Sie richtete sich nicht länger nach außen, an die „Fremden“ und Siegermächte. Der Widerstand erscheint jetzt als eine nach innen wirkende Anfrage an die Bestimmung historisch gewachsener Identität. Heuss drückt diese Zieländerung aus, als er in jenem Brief an seine erste Rede zum Gedenken an den Widerstand im Jahre 1945 erinnert: „Damals sagte ich von den Opfern; , Sie möchten mit ihrem Sterben über den Tod hinaus Deutschland einen politischen Dienst leisten, daß das andere Deutschland in seinen Blutzeugen sichtbar bleibe/Dies Wort richtete sich damals an die Fremden -es hat, glaube ich, heute seine Gültigkeit noch nicht verloren, sucht aber jetzt vor allem die Nachdenklichkeit, den Anstand, die sittliche Selbstbesinnung von Deutschen.“

Auch der Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, richtete 1952 die Gedanken auf den Zustand und die Grundbedingungen der Nation. Während der Grundsteinlegung für das Mahnmal, das im Innenhof des Bendlerblocks errichtet werden sollte, erinnerte Reuter an die Gemeinsamkeit politischer Ziele, die im Attentat zum Ausdruck komme, und an die Bedeutung des Tages für die historische Orientierung des politischen und sozialen Handelns in Deutschland. „Uns geziemt es nur, uns in Ehrfurcht vor diesen Männern zu verneigen; uns geziemt es nur, in Ehrfurcht den Angehörigen, die hier sind, unsere tiefe Sympathie zum Ausdruck zu bringen; und uns geziemt nur das eine: zu arbeiten, wie sie gearbeitet haben; zu leben, wie sie gelebt haben; und zu handeln, wie sie gehandelt haben, in dem festen Willen, unsere ganze Existenz und unser Leben einzusetzen für die Ziele, die uns allen gemeinsam sind ... Wir begreifen aber auch, daß man die geschichtliche Vergangenheit des eigenen Volkes nur verstehen kann, wenn man den gegenwärtigen Tag begreift und in ihm lebt.“

Reuter beschwor die individuelle Macht des Gewissens, die jeder äußeren Macht eine Schranke weise, und bezog sie auf die Gespaltenheit des Landes. Einheit und Freiheit wären leichter zu verwirklichen, hätten die Widerstandskämpfer überlebt und wären ihre Ziele verwirklicht worden: „Wenn diese Männer heute leben würden, wäre vielleicht die grauenvolle Spaltung unseres Vater-landes vermieden; unsere Stadt würde sicher nur halb so zerstört sein, wie sie zerstört ist; und wir würden uns nicht nach rechts und links umschauen müssen nach Menschen, die uns helfen.“

Reuter wies auch auf die konsensstiftende Kraft der Auflehnung hin: Die Attentäter des 20. Juli 1944 hätten begriffen, daß es über alle politischen „Schranken“ hinweg eine Gemeinsamkeit gebe, die überkommene Unterschiede überwinde. Das Attentat sei eine Herausforderung, „daß wir unsere gegenwärtige Arbeit leisten wollen und leisten möchten“; es gebe eine „Verbundenheit zwischen der Vergangenheit, zwischen der Gegenwart und zwischen der Zukunft“, welche die historische Tat und die politischen Gegenwartsverhältnisse miteinander verbinde. Der historische Ort der Gedenkstätte finde deshalb einen Rückhalt in der besonderen politischen Gefährdung der Stadt Berlin und in der exemplarischen Bedeutung, die sie für die Verwirklichung „sozialer Gemeinsamkeit, Gerechtigkeit und Freiheit“ habe. Mit Blick auf die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus sagte Emst Reuter dann am 20. Juli 1952: „Ihnen reichen wir die Hände und wir reichen die Hände der zukünftigen Generation, die schon unter uns ist und die unser und ihr Werk vollenden möge.“

Mit der Anerkennung des Vermächtnisses des deutschen Widerstandes begann die Auseinandersetzung um den Inhalt dieses Vermächtnisses. Zeichnet sich die Gegenwart jeweils durch ihre wandelbaren Herausforderungen und Deutungsversuche aus, so strebt die Annäherung an den historischen Augenblick danach, die zeitliche Distanz zu überwinden und den Kern von vergangenen Intentionen zu erfassen. So sehr man dabei bestrebt ist, der Singularität historischer Erscheinungen gerecht zu werden, so wenig entkommt man der geübten Praxis, die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftserwartung herzustellen. Damit wächst aber auch die Versuchung, das historisch Abgeschlossene im Sinne einer nicht mehr offenen Geschichte zu deuten, obwohl diese sich als Herausforderung für die Gegenwartsbewältigung und Zukunftsgestaltung darstellt.

In vielen Reflexionen zum 20. Juli wurden insbesondere seit 1953 Vergleiche angestellt, die der fortdauernde stalinistische Terror immer wieder beflügelte. Die Ereignisse in Polen und Ungarn 1956 wurden so als Auflehnung einzelner gegen den ungehemmten Anspruch eines Staates interpretiert, der Selbstbestimmung und Menschenrechte verachtet. Solche Vergleiche wurden dann indirekt auf den Mut der Auflehnung bezogen, welchen der Widerstand in Deutschland bewiesen hatte.

V. Rechtsprechung und Anerkennung des Widerstands

Ab Mitte der fünfziger Jahre beeinflußte dann die Absicht der Bundesregierung, sich an den westeuropäischen Verteidigungsinstitutionen zu beteiligen, die deutsche Widerstandsdiskussion. Gleichzeitig begann eine erste Welle der Diskussionen über die Verstrickung einzelner deutscher Politiker und Wissenschaftler in die Politik des Nationalsozialismus. In Göttingen fand 1956 ein Boykott gegen einen belasteten Universitäts-Rektor statt, ein Boykott, der öffentlich als Widerstand gerechtfertigt wurde. Die Rechtsprechung der Bundesrepublik präzisierte zudem wiederholt das Widerstandsrecht und setzte sich dabei in einem kaum zu lösenden Maße der Spannung zwischen Normativität der Verfassung und staatlichem Integration-und Friedensanspruch aus. So bestimmte das Bundesverwaltungsgericht 1962 als „politischen Widerstand“ ein „der politischen Überzeugung des Täters entspringendes Verhalten, welches dazu bestimmt ist und, wenigstens in der Vorstellung des Täters, auch dazu geeignet war, das abgelehnte Regime als solches über den Rahmen des Einzelfalls hinaus zu beeinträchtigen“ Andererseits stellte der Bundesgerichtshof ein Jahr zuvor den „Erfolg“ als ein wesentliches Kriterium des Widerstands heraus Das Gericht hatte zu beurteilen, ob Wehrdienstverweigerung eines einzelnen zur Zeit des „Dritten Reiches“ als Widerstand eingeschätzt werden könne. Der Kräfteausfall einer Wehrdienstverweigerung -meinte der Bundesgerichtshof in seinem Urteil -bedeutete für die Wehrmacht nur einen geringen Verlust, und über-dies zielte die Tat nicht auf Publizität. Insoweit sei sie ungeeignet gewesen, „zur Erschütterung der NS-Gewaltherrschaft oder zur Abmilderung ihrer schlimmen Folgen in beachtenswertem Maße beizutragen“.

Die gegen ein Widerstandshandeln gerichteten staatlichen Maßnahmen seien nur dann als „Unrecht im Rechtssinne“ einzuschätzen, heißt es in der Urteilsbegründung, „wenn Widerstandshandlung nach ihrer Art und ihrem Gewicht wenigstens eine gewisse Aussicht bietet, in bezug auf die Übel der bestehenden Unrechtsherrschaft eine wirkliche Wende zum Besseren herbeizuführen. Zwar kann es nicht von ihrem tatsächlichen unmittelbaren Erfolg oder Mißerfolg abhängen, ob ihr der Charakter der Rechtmäßigkeit im Sinne einer Offenbarmachung und Verwirklichung des wahren Rechts durch die Beseitigung oder Entmächtigung der seine Geltung tatsächlich verneinenden und gewaltsam unterdrückenden Kräfte zukommt. Sie muß aber in jedem Falle nach den Beweggründen, Zielsetzungen und Erfolgsaussichten als ein ernsthafter und sinnvoller Versuch zur Beseitigung des bestehenden Unrechtszustandes gewertet werden können, der einen lebens-und entwicklungsfähigen Keim des Erfolges in sich trägt, durch den er selbst bei seinem etwaigen äußeren Scheitern als ein gültiges und wirksames Zeugnis für das Recht und für den in dem unterdrückten Volk noch lebendigen Willen zum Recht in die Zukunft hinaus wirkt und so jedenfalls zur Vorbereitung der schließlichen Überwindung des allgemeinen Unrechtszustandes einen entscheidenden Beitrag leistet.“

Der Bundesgerichtshof gestand dem Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 zwar ausdrücklich zu, diesen Anforderungen zu genügen; das Gericht verneinte aber für den einzelnen, der im Alltag Widerständigkeit gegen den Nationalsozialismus bewiesen hatte, die für eine Anerkennung als Wiedergutmachungsfall folgenschwere Anerkennung der Rechtmäßigkeit seines Widerstandes, ohne die moralischen Rechtfertigungsgründe für Verweigerung und Widersetzlichkeit im einzelnen zu würdigen. Eine „Einzelaktion, die an den bestehenden Verhältnissen nichts zu ändern vermochte“, sondern den Gegner selbst und seine Familie schwerster Gefahr aussetzte, konnte nach damaliger Ansicht des BGH kein Widerstand sein.

Einen anderen Bezugspunkt hatte das Bundesverfassungsgericht etwa zehn Jahre früher gewählt, als es im Falle eines Menschen zu urteilen hatte, der seine Mitwirkung an Deportationen mit dem Hinweis auf das zum Zeitpunkt der Tat bestehende Recht entschuldigen zu können glaubte. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß ein Kernbereich des Rechts nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner staatlichen Maßnahme verletzt werde dürfe; dieser Kernbereich müsse als „unantastbar“ gelten und als „Grundsatz menschlichen Verhaltens“ respektiert und praktiziert werden. Die Beschränkung der staatlichen Rechtsetzungsgewalt ergebe sich mithin nicht allein aus der Rechtsordnung, sondern ebenso aus den „jeden Gesetzgeber und Machthaber“ gleichermaßen verpflichtenden „Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie er im Bewußtsein der Allgemeinheit lebt“ Alle staatlichen Anordnungen, die sich vom Grundgedanken der Rechtsgleichheit und Gerechtigkeit entfernen und den Bezugspunkt der menschlichen Würde aufgeben, seien deshalb nicht als Recht einzuschätzen. Insofern sei es auch unerheblich, ob ein Angeklagter sich durch ein Unrechtsbewußtsein auszeichne; denn bei „Anspannung des Gewissens“ müsse der einzelne, wenn er vor der Frage nach Recht und Unrecht einer Verletzung von Menschenrecht und Menschenwürde stehe, sich richtig entscheiden.

In den Auseinandersetzungen der fünfziger und frühen sechziger Jahre waren also ganz unterschiedliche Deutungen und Rechtfertigungen des Widerstandsrechts möglich; sie kennzeichnen das nicht aufzulösende Dilemma jedes Versuchs, das Recht auf Widerstand begrifflich zu präzisieren und einzuhegen: Demjenigen, der sich mit der Unrechtswirklichkeit in der DDR konfrontiert fühlte, wurde ein Widerstandsrecht zugestanden. Dem einzelnen, der im nationalsozialistischen Alltag widerstand und damit einer Gewissenspflicht folgte, wurde aber unter Hinweis auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel, Abwägung der Güter und die gesamtsystematische Bedeutung der Widerstands-haltung eine Grenze gezogen. Jene war wenige Jahre zuvor noch unter Hinweis auf naturrechtlich zu begründende Gewissensnormen gegen den Gehorsamsanspruch des Staates zugunsten des einzelnen Individuums beschworen und präzisiert worden.

Generell wurde in der Rechtsprechung jetzt also das Widerstandsrecht von organisierten Versuchen der politischen Gestaltung getrennt. Es sei ein Individualrecht, deshalb eigne es sich nach Meinung der Gerichte nicht, politische Gruppenauseinan­ dersetzungen -etwa um die Wiederbewaffnung oder um die Ausrüstung der in Deutschland stationierten Truppen mit Atomwaffen -moralisch zu rechtfertigen. Die Gestaltung der politischen Ordnung sollte im Widerstandsrecht keinen Anknüpfungspunkt erhalten.

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1956 wurde überdies festgestellt, daß jedes Widerstandsrecht ein Abwehrrecht sei, also nicht im Vorgriff auf erwartetes oder unterstelltes Unrecht reklamiert werden könne. Auch diese Position weist auf das grundsätzliche Problem hin, das Widerstandsrecht als tagespolitischen Kampfbegriff zu verwenden. Das Bundesverfassungsgericht erblickte in der Verfassungsstruktur und im Regierungssystem der Bundesrepublik eine Voraussetzung für die Zähmung staatlichen Unrechts und damit ein Instrument für die Domestizierung des Widerstandes. Andererseits mochte das Gericht die Notwendigkeit einer Abwehr von Verfassungsverletzungen nicht ausschließen.

Als konservierendes Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung wurde das Widerstandsrecht, unbeschadet seiner Nicht-erwähnung im Grundgesetz, definiert, als sich die KPD gegen Parteienverbot und Strafverfolgung einzelner Parteimitglieder wandte: Wer angesichts durchaus möglichen Unrechts auf dem Widerstandsrecht beharre, so stellte das Bundesverfassungsgericht fest, der „übersähe den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer intakten Ordnung, in der im Einzelfalle auch Verfassungswidrigkeiten Vorkommen mögen, und einer Ordnung, in der die Staatsorgane aus Nichtachtung vor Gesetz und Recht die Verfassung, das Volk und den Staat im ganzen verderben, so daß auch die etwa in solcher Ordnung noch bestehenden Rechtsbehelfe nichts mehr nützen“

Entscheidend für das Verfassungsgericht war, daß der kommunistische Anspruch, Widerstand zu leisten, nicht mehr konservierend-abwehrender, sondern zukunftsgestaltender Natur sei. Das Widerstandsrecht könne dem Aufbau eines besseren Staates aber nur dienen, wenn es ein offensichtliches Unrechtsregime beseitigen wolle. Als ein derartiges System könne die Bundesrepublik aber nicht gelten, denn die „bestehende Ordnung“ beruhe -laut höchstrichterlicher Begründung -auf den „ungebrochenen Traditionen“ der Aufklärung, der bürgerlichen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, des liberalen Rechtsstaates und schließlich der Sozialstaatsidee mit seinem Grundsatz sozialer Verpflichtung. Diese Traditionen würden von den meisten Deutschen geteilt, die mit ihrer inneren Zustimmung dieser Ordnung eine „innere Verbindlichkeit“, mithin eine unbestreitbare Legitimität zuerkennen würden. „Nur wer seinen Widerstand gegen eine Störung dieser Ordnung richtet, um sie selbst zu verteidigen oder wiederherzustellen, dürfte für diesen Widerstand selbst Legitimität in Anspruch nehmen.“

In den folgenden Jahren tauchten die hier entfalteten Argumentationen immer wieder dann auf, wenn sie für unterschiedliche Herausforderungen jeweils geeignet erschienen: Nach der Diskussion über das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands forderten etwa Demonstrationen und Proteste gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr die Politiker heraus. Immerhin gehörten zu den Anhängern oder Vermittlern der Protestziele Menschen wie der Basler Theologe Karl Barth oder anerkannte Göttinger Naturwissenschaftler, die zum Widerstand aufriefen.

VI. Auseinandersetzungen um den Widerstandsbegriff seit den sechziger Jahren

Nach 1961 rückte mit dem Bau der Berliner Mauer wieder stärker die Betonung totalitärer Lebensverhältnisse und das Spannungsfeld von Befehl und Gehorsam in den Mittelpunkt des Interesses. Zugleich machten großq, NS-Strafprozesse deutlich, welche Folgen aus der Anpassung entstehen konnten: Spätestens mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozeß, den Eichmann-und Auschwitz-Prozessen, aber auch infolge der vor vielen Landgerichten in der gesamten Bundesrepublik stattfindenden NS-Verfahren wurde das schier grenzenlose Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen in schrecklicher Konkretion sichtbar.

Verjährungsdebatten rüttelten die Öffentlichkeit immer wieder auf und zwangen Politiker, Parteien und die öffentliche Meinung zu Stellungnahmen. Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewalt-taten ging also über die Rechtsprechung hinaus und forderte stets erneut Auseinandersetzung, Zustimmung, innere Beteiligung. Und dabei wurden Fehlentwicklungen konstatiert, die teilweise selbst dort als reinigender Skandal wirkten, wo dem rechtlichen Zugriff -etwa in Sachen Volksgerichtshof -eine Grenze gesetzt war. Eine weitere Konsequenz der NS-Strafverfahren lag in der Deutlichkeit, mit der der verbrecherische Grundcharakter des NS-Regimes und der Bezugspunkt für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus sichtbar wurden.

Die späten sechziger Jahre waren durch eine deutlich politisierte Widerstandsdiskussion geprägt: Studentenbewegung und Kritik am deutschen Obrigkeitsstaat oder zumindest an seinem Sonder-weg, wie sie etwa von Ralf Dahrendorf vorgetragen worden war mündeten in die Notstandsdiskussion, die schließlich dazu führte, daß das Widerstandsrecht in die Verfassung aufgenommen wurde. Widerstandstheorektiker und Verfassungsrechtler hielten den verfassungsgebenden Akt zwar für unerheblich, weil auch ohne diese Bekräftigung des Willens zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung im Falle einer Verfassungs-und Grundrechtsverletzung Widerstand geboten war Dennoch diente das Mißtrauen, das sich in der Notstandsdiskussion artikulierte und sich vor allem gegen staatliche Institutionen und Absichten richtete, auch einer Verdeutlichung gesellschaftlicher Fehlhaltungen. Denn das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Grundgesetz soll die „Schere“ bewältigen, die sich zwischen staatlichem Druck und gesellschaftlich manifest werdenden Übergriffen öffnet; das Widerstands-recht zieht insofern Konsequenzen aus einer weitgehenden Angleichung von Staat und Gesellschaft und der daraus resultierenden Gefährdung der Freiheit, die nach Böckenförde nicht zuletzt durch die Differenz von Gesellschaft und Staat bedingt ist.

Das Widerstandsrecht des Grundgesetzartikels 20 bezeichnet nicht nur die Grenze staatlichen Zugriffs; in ihm artikuliert sich auch die Entfremdung zwischen staatlichen Institutionen und Bürgern und das daraus erwachsende Mißtrauen, das vor allem in Teilgruppen der Gesellschaft gepflegt wird. Die Auseinandersetzung um die deutsche Ostpolitik, die nach 1968/69 einsetzte, zeigte dies deutlich. Die Ablehnung dieser Politik mochte insofern legitim sein, als stets um Grundfragen politischer Ordnung und Gestaltung gestritten wird. Der Kampf gegen die Aussöhnungs-und Friedenspolitik aber wurde von rechtsextremistischen Gruppen unter Rückgriff auf die Kategorie des Widerstandes geführt. Vor allem die Anhänger der NPD und die Parteigänger der „National-und Soldatenzeitung“ stellten ihre Ablehnung der Ostverträge als „Widerstand“ dar und agierten im Straßenbild mit der Widerstands-Rune.

Um die gleiche Zeit entwickelte sich in Teilen der politischen Linken eine neue Widerstands-ideologie, die sich schließlich in terroristischen Übergriffen Bahn brach. Was vielfach als Auseinandersetzung mit Bedingungen sogenannter struktureller Gewalt erschien, wurde rasch Ausdruck von Menschenverachtung, Menschengefährdung und Mord. Hier kann nicht der Zusammenhang zwischen gewaltsamer Demonstration, Kaufhaus-brandstiftung, Isolierung von der Gesellschaft und aktivem Kampf gegen die Träger der Politik bis hin zu Mordanschlägen geschildert werden. Was hier im Vordergrund steht, ist die Ta^ache, daß sich in durchaus beachtenswert großen Gruppen in jenen Jahren die Widerstandsvorstellung wandelte: bereits Zumutungen des Alltags und der alltäglichen Politik sollten abgewehrt werden; „Widerstand der kleinen Münze“ mündete in eine Auflehnung, die sich als Widerstand bezeichnete, aber Rechtsbindung und Verhältnismäßigkeit der Widersetzlichkeit außer acht ließ.

Dennoch hatte diese Inflationierung des Widerstandsbegriffs wissenschaftlich durchaus positive Folgen. Die zunächst eng gezogenen Bereiche der Widerstandsforschung weiteten sich aus: Jugend-widerstand, Resistenz von Milieus, Teil-und Teilgruppenwiderstand zur Zeit des Nationalsozialismus wurden nun zu Themen wissenschaftlicher Forschung. Weiteste Dimensionen der Resistenz -wie etwa die Bemühungen des Exils, die unbeirrbare Behauptung des Anstands im täglichen Leben, die moralische Fundierung des Widerstands im Kleinen -rückten in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und der historischen Forschung. Die engen Barrieren eines in den fünfziger Jahren entwickelten und vor allem juristisch präzisierten Widerstandsbegriffs wurden fraglich; jene Urteile von Gerichtshöfen und Verwaltungsgerichten wurden zunehmend als Maßstab in Zweifel gezogen und bestimmten deshalb kaum mehr die Widerstandsvorstellungen.

Die späteren Diskussionen um den Widerstand kehrten einesteils zu dem Mißtrauen zurück, das sich in der Notstandsdiskussion der sechziger Jahre gegenüber dem Staat artikulierte; anderenteils wurden zukunftsorientierte Fragestellungen aufgenommen. In den Widerstandsdebatten der Kernkraftgegner, der Gegner einer Nach-oder Aufrüstung, der Verteidiger von „Bürgerrechten“ ging es nicht nur um Gerechtigkeitsvorstellungen und die Verantwortung der heute Lebenden für die Lebensverhältnisse der unmittelbaren Nachkommen und die Überlebensvoraussetzungen der Menschheit: Es ging immer auch um die Auseinandersetzung um gegenwärtige Politik, um Gegnerschaften und politische Mobilisierung, schließlich auch um Bündnis-und Mehrheitsfragen.

Der politische Konflikt entfaltete sich nicht zuletzt in unerbittlich geführten Friedensdiskussionen, in denen nicht mehr bloß um den Sinn und die Struktur des Friedens gestritten wurde, sondern prinzipiell um die Rolle der Macht im zwischenstaatlichen Beziehungsgeflecht. Diese Diskussionen erstreckten sich auch auf das Zwillingsrecht des Widerstandsrechts -auf das Recht zur Demonstration, zur Vereinigung und Versammlung. Schließlich stand im weiteren Bereich das Ordnungsprinzip der parlamentarischen Demokratie selbst in Frage: das Recht der mehrheitlichen Willensbildung.

Bei allem Widerstreit der Nachgeborenen um Deutung und Bedeutung des Widerstands darf jedoch die Realität des „Aufstands des Gewissens“ keinen Schaden nehmen. Dieser Aufstand beinhaltet und benennt eine Einsamkeit der Entscheidung, die Konsequenz der langjährigen, erbarmungslosen staatlichen Verfolgung des Widerstands und seiner Träger aus vielen gesellschaftlichen Gruppierungen war, aber auch die Konsequenz einer gebrochenen und lädierten Moralität vieler Deutscher, die aus ihrer Feigheit resultierte und schließlich nur neue Feigheit hervorbrachte.

VII. Ausblick

Die Geschichte der Auseinandersetzungen mit dem Widerstand spiegelt nicht nur die Schwierigkeiten vieler Deutscher mit ihrer Zeitgeschichte, sondern ebenso die Probleme, die eine Deutung des 20. Juli 1944 seit dem Ende des NS-Staates mit sich bringt. Lebensgeschichte und System-geschichte verbinden sich dabei auf eine denkbar enge und fast unauflösbare Weise. Sie zeigt auch, in welchem Maße in der Regel erst nach langer Zeit heftig umkämpfte und umstrittene geschichtliche Begründungen zum gesicherten Bestand einer politisch verfaßten Gesellschaft werden.

Die Deutschen mußten sich nach dem Ende des NS-Staates, das für Regimegegner „an der doppelten Front von Bomben und Gestapo“ (Ursula von Kardorff) nicht nur den staatlichen Zusammenbruch, sondern vor allem eine Befreiung aus höchstem politischen Zwang und größter Lebensgefahr bedeutet hatte, erst ihr Bild des Widerstands erarbeiten. Dies geschah in engster Verbindung mit den Diskussionen über die individuelle und kollektive Verantwortung der Deutschen für die nationalsozialistische Zeit: Die Einsicht in den verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Rassenstaates rechtfertigte so fast jeden Versuch, nicht nur den Opfern des Staates zu Hilfe zu kommen, sondern, in den Worten des protestantischen Regimegegners Dietrich Bonhoeffer, dem „Rad des Staates“ selbst in die Speichen zu greifen.

Daneben gab es andere Tendenzen: Die Erinnerung an den Widerstand war nämlich nicht nur ein Akt der Pietät, der Würdigung der Opfer eines Kampfes gegen den Nationalsozialismus, sondern sie blieb geprägt durch die vielfältigen politischen Interessen der nach ihnen Lebenden, ihrer Regierungen und ihrer Ziele. Und sie blieb auch abhängig von den politischen Kräften, die seit 1945 nach Macht und Einfluß strebten und deshalb versuchten, sich in die Traditionen jener zu stellen, die gegen den Nationalsozialismus gewirkt hatten, oder die als Vertreter gesellschaftlicher Interessen die Zielvorstellungen der Deutschen beeinflussen wollten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Überarbeiteter Text meiner Berliner Antrittsvorlesung, die am 7. 6. 1994 im Fachbereich Politische Wissenschaft an der Freien Universität gehalten worden ist. Ich danke herzlich Bernd J. Stappertfür viele Anregungen, insbesondere aber Johannes Tuchei für eine langjährige und gute gemeinsame Arbeit. Vgl. Regina Holler, 20. Juli 1944 -Vermächtnis oder Alibi? Wie Historiker, Politiker und Journalisten mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus umgehen. Eine Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur, der offiziellen Reden und der Zeitungsberichterstattung in Nordrhein-Westfalen von 1945-1986, München u. a. 1994. Diese Arbeit ist mir erst in diesen Tagen bekannt geworden. Sie stellt den umfassendsten und geglückten Versuch einer interdisziplinären Analyse der Diskussion über den Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland dar.

  2. Vgl. allgemein Manfred Kittel, Die Legende von der „Zweiten Schuld“: Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Frankfurt/M. u. a. 1993, S. 187ff.

  3. Ich verwende hier Begriffe, die insbesondere durch das abgewogene Urteil von Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, München 1987, S. 209ff., in die Diskussion eingeführt worden sind.

  4. Erst in jüngster Zeit nehmen Versuche zu, dieses „integrale Widerstandsverständnis“ aus geschichtspolitischen Gründen zurückzuweisen. Vgl. Ch. M. (=Christian Müller), Wirbel um das Gedenken an den 20. Juli, in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 6. 1994, Fernausgabe, S. 3. Vgl. weiterhin Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit, Paderborn 1994.

  5. Vgl. Fritz Bauer, Widerstandsrecht und Widerstands-pflicht des Staatsbürgers, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, Darmstadt 1972, hier: S. 482ff.

  6. Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, „Spiegelbild einer Verschwörung“: Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung, 2 Bde., Stuttgart 1984.

  7. Vgl. die Übersicht bei Jürgen Weber (Hrsg.), Die Bundesrepublik wird souverän 1950-1955, München 19922, S. 338 ff.

  8. Vgl. Bernd Hey u. a. (Hrsg.), Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein, Köln 1986.

  9. Vgl. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 33, Nürnberg 1949, S. 299ff.

  10. Vgl. Günther Weisenborn, Der lautlose Aufstand, Hamburg 1952.

  11. Die Arbeit von Hans Rothfels, Deutsche Opposition gegen Hitler, erschien 1949 erstmals in deutscher Sprache (in englisch bereits 1948) und liegt inzwischen nicht nur in vielen Auflagen als Taschenbuchausgabe, sondern jetzt auch in einer besonders sorgfältig ausgestatteten Ausgabe in der Manesse-Bücherei vor (Zürich 1994).

  12. Eine Neuausgabe in einem Band erschien auf Initiative der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944, Mainz 1984.

  13. Rudolf Pechei, Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich 1947, S. 39.

  14. H. Rothfels (Anm. 11), Neuausgabe 1977, S. 24.

  15. Vgl. R. Holler (Anm. 1), S. 121 ff., ferner Rudolf Wassermann, Der 20. Juli 1944 aus der Sicht des Braunschweiger Remerprozesses, Braunschweig 1984.

  16. Zit. nach Herbert Kraus (Bearb.), Die im Braunschweiger Remer-Prozeß erstatteten moraltheologischen und historischen Gutachten nebst Urteil, Hamburg 1953, S. 106f.

  17. Zit. nach Rudolf Wassermann, Zur juristischen Bewertung des 20. Juli 1944: Der Remer-Prozeß in Braunschweig als Markstein der Justizgeschichte, in: Recht und Politik, (1984) 2, 5. 68ff., hier 5. 73.

  18. Ebd. 5. 73t.

  19. Ebd., S. 73.

  20. Ebd.

  21. Ebd., S. 74.

  22. Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. 7. 1952, S. 927.

  23. Ebd.; der Nachweis dieser ersten Rede ist mir bisher noch nicht gelungen. Jürgen C. Heß bereitet eine Untersuchung der Beziehungen von Heuss zum Widerstand vor.

  24. Ernst Reuter, Rede zur Grundsteinlegung des Ehren-hofes im Bendlerblock, 1952, Archiv der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

  25. Ebd.

  26. Ebd.

  27. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. 1. 1962, zit. nach Fritz Bauer (Hrsg.), Widerstand gegen die Staatsgewalt: Dokumente der Jahrtausende, Frankfurt/M. 1965, 8. 261.

  28. Urteil des Bundesgerichtshofes vom 14. 7. 1961, zit. nach: ebd., S. 59f.

  29. Ebd., S. 260.

  30. Vgl. Urteil des Bundesgerichtshofes vom 19. 12. 1952, zit. nach F. Bauer (Anm. 5), S. 257f.

  31. Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 17. 8. 1956, in Auszügen zitiert bei F. Bauer, ebd., S. 256f.

  32. Ebd., S. 257.

  33. Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 442ff.

  34. Vgl. Arthur Kaufmann (Hrsg.) (Anm. 5).

Weitere Inhalte

Peter Steinbach, geb. 1948, Dr. phil.; von 1982 bis 1992 Professor für Historische und Theoretische Grundlagen der Politik an der Universität Passau; seit 1992 Professor für Historische Grundlagen der Politik (18. -20. Jhdt.) an der FU Berlin und Leiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte an der FU Berlin sowie an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand; seit 1983 Wissenschaftlicher Leiter der ständigen Ausstellung „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Zähmung des politischen Massenmarktes, Passau 1991; Widerstand im Widerstreit: Der Widerstand in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn 1994; (zus. mit J. Tuchei) Lexikon des Widerstandes 1933-1945, München 1994; (zus. mit J. Tuchei) Widerstand in Deutschland 1933-1945: Ein historisches Lesebuch, München 1994; (Hrsg. zus. mit J. Tuchei) Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn-Berlin 1994.