Die Sicherheit in Europa darf nicht länger geteilt bleiben in eine sichere und in eine unsichere Zone. Ein neues Sicherheitssystem in und für Europa wird benötigt. Die NATO hat deshalb die jungen Demokratien in Mittel-, Ost-und Südosteuropa sowie andere KSZE-Staaten zu einer „Partnerschaft für den Frieden“ eingeladen. Diese Staaten streben jedoch fast alle die Mitgliedschaft in der Allianz an. Die Führungsrolle der USA und die Sonderinteressen Rußlands erschweren die Bildung einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur im Rahmen der NATO. Die EU bietet zusätzlich einen Stabilitätspakt an, mit dem Krisen durch Präventivdiplomatie und regionale sowie Minderheitenprobleme besser geregelt werden sollen. NATO und EU müssen sich jedoch beeilen und ihre Hilfsangebote ausweiten, um als Stabilitätsanker glaubwürdig zu bleiben. Nur dann können sie dazu beitragen, den Ost-und den Westteil Europas ohne Schwierigkeiten zu integrieren. Die Staaten in Europa müssen darüber hinaus begreifen, daß sie im wesentlichen selbst verantwortlich sind für ein friedliches Zusammenleben und eine weltweit wirkungsvolle Rolle Europas.
I. Europas neues sicherheitspolitisches Dilemma
Die Sicherheit in Europa hat eine neue Qualität erhalten; sie ist nicht länger im herkömmlichen Sinn geteilt. Ost-und Westeuropa unterliegen nichtmehr unterschiedlichen und auf Konfrontation angelegten Sicherheitsdoktrinen. Der War-schauer Pakt ist aufgelöst; seine ehemaligen osteuropäischen Mitglieder sind jetzt Teilhaber am Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR). Viele von ihnen haben inzwischen die Einladung der NATO zur Teilnahme an der „Partnerschaft für den Frieden“ angenommen.
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Ein weiteres Merkmal der veränderten Sicherheit in Europa ist -im Gegensatz zur Kooperation -das Aufkommen und die Ausweitung von Kriegen und Bürgerkriegen im Osten und Südosten Europas. Ihre Folgen sind Armut, Unterdrükkung, Mord und Vertreibung. Überdies wirken die jungen Demokratien in den mittel-, ost-und südosteuropäischen Ländern (MOEL) noch längst nicht stabil. Nicht von ungefähr suchen sie deshalb die Nähe und Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis (NATO) und in der Europäischen Union (EU). Beide Gemeinschaften sind jedoch nur begrenzt willens und fähig, engere militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu ermöglichen. Endgültiger Mitgliedschaft werden darum zunächst sogenannte Kooperation-und Assoziierungsvereinbarungen vorgeschaltet.
Entsprechend dieser geänderten Sicherheitslage unterliegt die Sicherheitspolitik in Europa der Notwendigkeit zum Wandel. Die Ansprüche an sie haben zugenommen; gleichzeitig scheint sich der Schwerpunkt der Wirkungsmöglichkeiten und Nutzung ihrer Instrumente verschoben zu haben: Militärische Mittel treten hinter wirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen und gesellschaftlichen Reformbemühungen zurück. „Nach dem Ende der ideologischen Konfrontation werden Wirtschaft und Handel immer mehr zu bestimmenden Faktoren politischer Beziehungen. Wirtschaftliche Dynamik und technologische Innovation, der Wettbewerb um künftige Märkte und Ressourcen bestimmen den internationalen Einfluß eines Landes heute mehr als militärische Macht. Vor diesem Hintergrund kann sich kein Staat der wachsenden Dynamik und Interdependenz der Weltwirtschaft entziehen. Auch wirtschaftliche und soziale Krisen sowie Umweltkatastrophen können sicherheitspolitische Auswirkungen auf westliche Gesellschaften haben.“ Mit dieser Situationsbeschreibung, einseitig auf den Westen bezogen, werden gleichzeitig die gesamteuropäische Sicherheitslage und die daraus resultierende Anforderung an die Sicherheitspolitik charakterisiert. Das derzeitige europäische Sicherheitsdilemma bleibt bei dieser Abwägung der sicherheitspolitischen Instrumentarien aber weiterhin ohne unmittelbare Lösung. Die Fähigkeit, Kriege wie im ehemaligen Jugoslawien einzudämmen und zu beenden, sie präventiv zu ersticken oder zu verhindern, ist noch nicht vorhanden. Dadurch wird auch das Kernproblem der neuen europäischen Sicherheit und Sicherheitspolitik nach 1989 deutlich. Es findet seine widersprüchliche Charakterisierung in den beiden im folgenden und beispielhaft zitierten Texten.
In einer Resolution der Europäischen Volkspartei (EVP) des Europäischen Parlaments (EP) „... zeigen sich die Christdemokraten bestürzt über die Art und Weise, wie Gorazde von der UNO im Stich gelassen wurde... Die EVP-Fraktion ersucht... die UNO und NATO, den soge-nannten Sicherheitszonen mit allen wirksamen Mitteln zu Hilfe zu kommen... Die Europäische Union ihrerseits... dürfe nicht zu einem Faktor der Instabilität, der Unschlüssigkeit und der Enttäuschung werden“
Der Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, zweifelt dagegen an der Wirksamkeit militärischer Mittel im ehemaligen Jugoslawien: „... wenige tausend Peacekeeper haben... unter denkbar schlechtesten Bedingungen Hunderttausenden von Menschen durch ihr humanitäres Mandat das Überleben ermöglicht. Wären 10000 Blauhelme mit einem Kampfauftrag zur Friedens-erzwingung versehen worden, wäre ihr Scheitern bei der humanitären wie bei der militärischen Mission mit hoher Wahrscheinlichkeit vorgezeichnet gewesen.“
Die Stellungnahmen unterstreichen die Komplexität und die Gegensätze der sicherheitspolitischen Situation und Konstellation in Europa. Erkennbar wird zunächst, daß die Sicherheit in Europa sich aus mehreren Faktoren zusammensetzt. Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und militärische Ebenen sind die miteinander verbundenen Aktionsfelder der Sicherheitspolitik. Sie unterliegen allerdings nicht durchgängig in Ost-und Westeuropa den gleichen Einwirkungsmöglichkeiten. Unterschiedliche Bedürfnisse, Zwänge, Absichten, Interessen und Gegebenheiten bleiben die Merkmale nationaler und regionaler Besonderheiten. Sie sind grundsätzlich auf Konkurrenz angelegt, könnten aber mit demokratischen und friedlichen Steuersystemen geregelt werden -auf der jeweiligen Ebene und zwischen den Staaten.
Bei der Konfliktregelung können internationale Zusammenschlüsse hilfreich sein. Von dieser Einsicht sind die Staats-und Regierungschefs der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im November 1990 ausgegangen, als sie die „Charta von Paris für ein neues Europa“ verabschiedet haben. Die Staats-und Regierungschefs konstatierten: „Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“
Mit dieser Absichtserklärung wird auch die zweite Grundvoraussetzung europäischer Sicher heit herausgestellt: die Aufhebung der Teilung Europas. Aber zugleich wird dadurch der heute fast als Anachronismus zu bezeichnende Ansatz als der wesentliche Mangel der Sicherheitspolitik in Europa nach 1989 erkennbar: Die Unterschiede der Gegebenheiten und Möglichkeiten in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Westund Osteuropa wurden nicht wahrgenommen, und eine europäische Sicherheitspolitik mit den dazugehörigen Instrumenten wurde gleichfalls nicht entwickelt. Stabilität, Wohlstand und Integrationsstandard im Westteil Europas stehen Unsicherheit, Armut und Neo-Nationalismus im Ostteil gegenüber. Das Zusammenrücken ist schwierig, möglich scheint allenfalls eine Annäherung. Weitere Kriege und Bürgerkriege wegen Nationalitätenkonflikten können nicht ausgeschlossen werden.
In dieser wenig gefestigten Lage in Europa gelten zwei Gemeinschaften als Stabilitätsanker: das Nordatlantische Verteidigungsbündnis und die Europäische Union. Entsprechend ihrem Selbstverständnis und ihrer Funktion werden an sie von außen und von innen verteidigungspolitische und wirtschaftliche Ansprüche gestellt. Das hat wiederum dazu geführt, daß sie -wenn auch spät und zögernd -daran ausgerichtete Programme zur Überwindung des Sicherheits-und Wirtschaftsgefälles in Europa aufgelegt haben und entwickeln. Die NATO bietet die „Partnerschaft für den Frieden“ an, und die EU will einen Stabilitätspakt gründen.
II. Einladung der NATO zur „Partnerschaft für den Frieden“
Abbildung 2
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„Die Osterweiterung der NATO“ hat -abgesehen von der Diskussion über die Qualität des westeuropäischen Engagements im ehemaligen Jugoslawien -vitale Interessen wie Sicherheitsbedürfnis, Ausgleich, Stabilität und Gemeinsinn in West-und Osteuropa angesprochen Am 10. und 11. Januar 1994 haben in Brüssel die Staats-und Regierungschefs der NATO eine Einladung zur „Partnerschaft für den Frieden“ unterzeichnet
Das Rahmendokument dient als Grundlage für eine zukünftige Zusammenarbeit mit den östlichen europäischen Nachbarn der NATO. Im wesentlichen wird mit diesem Rahmendokument ein sogenanntes Sofortprogramm für die Beziehungen der NATO mit den beitrittswilligen Staaten auf den Weg gebracht. Dazu werden vor allem die Staaten, die im Nordatlantischen Kooperationsrat Mitglied sind, aber auch andere KSZE-Staaten eingeladen. Das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ sieht u. a. im einzelnen vor: -Beteiligung an politischen und militärischen Gremien im NATO-Hauptquartier, soweit sie sich mit Partnerschaftsaktivitäten befassen; -mögliche Konsultationen der NATO mit jedem aktiven Teilnehmer, der sich bedroht fühlt; -Hilfe bei militärischen Planungen sowie gesellschaftlichen und militärischen Umstrukturierungen; -gemeinsame militärische Übungen; -Austausch von Verbindungsoffizieren; -Aufbau von ständigen Einrichtungen im NATO-Hauptquartier für Personal aus den NAKR-Staaten; -Aufrechterhaltung der Fähigkeit und Bereitschaft zu Einsätzen unter dem Kommando der UNO und der KSZE (vorbehaltlich einzelstaatlicher verfassungsrechtlicher Erwägungen).
Das Programm bedeutet zusammengefaßt, daß die NATO mit den einzelnen kooperationswilligen Staaten im politischen Rahmen der Partnerschaft und im militärischen Bereich enger Zusammenarbeiten will und ihre Unterstützung bei der Reform der nationalen Streitkräfte anbietet. Eine spätere Mitgliedschaft in der NATO wird grundsätzlich nicht ausgeschlossen, aber die „Partnerschaft für den Frieden“ bietet keinen zeitlichen Rahmen dafür an und nennt keine Kriterien, die erfüllt werden müßten, um dadurch später ein vollwertiges Mitglied der NATO werden zu können. Das Konzept „Partnerschaft für den Frieden“ (im Englischen: „Partnership for Peace“ -PfP) ist das Produkt mehrerer gegensätzlicher Interessen in Europa sowie in der NATO -unter Berücksichtigung der schwankenden Vorstellungen der russischen Regierung und unter Beachtung des neuen Verständnisses der USA von ihrer außen-und sicherheitspolitischen Rolle. Die Bewertung der einzelnen Absichten der Beteiligten im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ ergeben demnach zwangsläufig ein widersprüchliches Bild:
Die osteuropäischen Staaten und hier vor allem die Visegräd-Staaten Ungarn, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik (als Nachfolgestaaten der ÜSFR) suchen aufgrund ihrer neugewonnenen Souveränität und hinsichtlich des derzeitigen Sicherheitsvakuums in Europa vor allem Unterschlupf bei der NATO. Nur im Bündnis können sie eine Schutzgarantie finden, um nicht erneut in das Einflußgebiet Rußlands, unter die russische Dominanz und die damit verbundenen Abhängigkeiten zu geraten. Außerdem könnte eine Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz auch dazu beitragen, schneller und umfassender innere Stabilität zu gewinnen, Wohlstand durch stärkere westliche Investitionen zu erreichen und bei möglichen Konflikten durch Minderheitenprobleme nicht allein zu stehen.
PfP bietet den MOEL dafür jedoch nur geringen Rückhalt. Hinzu kommt, daß der Zusammenhalt der Visegräd-Staaten untereinander nachläßt, weil vor allem die Tschechische Republik eine Politik verfolgt, im Alleingang und dadurch direkter den Weg in das Bündnis zu finden. Außerdem hat Polens Regierungschef am 2. Februar 1994 anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages für PfP keinen Zweifel daran gelassen, daß sein Land unabhängig von den Absichten seiner Nachbarn eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebt. Trotz aller Kritik haben aber inzwischen 18 Staaten sich dem Programm angeschlossen; zuletzt hat Kasachstan am 27. Mai 1994 diesen Schritt getan.
Bedeutsamer als die Politik der Staaten aus Mittel-, Ost-und Südosteuropa und beachtenswerter als der Beitritt anderer ehemaliger Sowjetrepubliken ist das Verhalten Rußlands gegenüber der PfP. Rußland sieht in der PfP der NATO zuallererst ein einseitiges und zu seinen Lasten gehendes Bestreben des Bündnisses, an seiner Westgrenzeneue sicherheitspolitische Verhältnisse zu schaffen. Stärker noch bemängelt die russische Regierung, daß sie entgegen ihrem unveränderten Selbstverständnis als Groß-und Atommacht gleichrangig mit den MOEL im Rahmen der PfP mit der NATO kooperieren solle. Vielmehr käme Rußland ein Sonderstatus zu mit ausschließlichen Konsultationsregeln zwischen der NATO und Rußland. Das entspräche seiner Stellung und militärischen Kapazität. Damit will Rußland Mitwirkung und Mitsprache bei der endgültigen Gestaltung der Sicherheitspolitik und des entsprechenden Konzeptes in Europa erreichen und seine unmittelbaren Einflußmöglichkeiten auch auf NATO-Entscheidungen erweitern. Die PfP hindert sie nicht daran, aber eine gleichwertige Mitgliedschaft der MOEL würde eine russische Sonderrolle deutlich beschränken und eine Gleichbehandlung Rußlands und der Supermacht USA erschweren. Entsprechend differenziert möchte sich Rußland von der NATO und von den USA behandelt und respektiert wissen.
Das Verhalten Rußlands erhält zudem Nahrung und Antrieb durch die innenpolitisch schwierigen Verhältnisse, die im wesentlichen von nur langsam voranschreitenden wirtschaftlichen Stabilitätsbemühungen, gesellschaftlichem Durcheinander und politischer Zerrissenheit gekennzeichnet sind. Die daraus resultierende Unberechenbarkeit soll durch außenpolitische Großmachtattitüde und sicherheitspolitische Stärke eingedämmt und überdeckt werden. Die inneren Differenzen sollen gleichzeitig durch den gemeinsamen Nenner einer militärischen Großmacht bemäntelt werden. Außerdem werden das Streben nach den alten Einflußmöglichkeiten und die innenpolitische Destabilität als Faktoren miteinander verbunden, um im Falle der Nichtberücksichtigung des gewünschten Status durch den Westen vor zusätzlicher Unkalkulierbarkeit zu warnen und dadurch neue Zugeständnisse zu erreichen. Entsprechend macht Rußland seinen Beitritt zur PfP
Anmerkung der Redaktion: Nach Redaktionsschluß erfolgte die Meldung, daß der russische Außenminister Kosyrew am 22. Juni in Brüssel das NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ unterzeichnet hat. von der Aufnahme von Vorschlägen abhängig, wie sie der Verteidigungsminister Gratschow der NATO am 26. Mai 1994 in Brüssel unterbreitete, die neben der Forderung nach besonderen Konsultationen zwischen Rußland und der NATO darauf zielten, daß die NATO nicht länger eine Sonderrolle beanspruchen dürfe, sondern sich vielmehr als Instrument der KSZE verstehen solle.
Die USA versuchen, durch vorsichtiges Entgegenkommen diesem Problem gerecht zu werden. Das Konzept der PfP ist eine der Antworten darauf. Ziel der USA war und ist es, Rußland durch die PfP nicht zu verprellen, sondern zum weiteren Dialog einzuladen und vor allem als gleichberechtigten Partner zu behandeln und zu bestätigen. Alles, was über die PfP hinausgegangen wäre, konnte nicht zugelassen werden. Notwendig war und ist in diesem Sinne ein unterhalb der Mitgliedschaft rangierendes Modell der Zusammenarbeit mit den MOEL, das deren Wünschen teilweise entgegenkommt und gleichzeitig Rußland nicht brüskiert -zumal die USA sich durch eine Erweiterung der NATO nach Osten keine wirklichen und unmittelbaren Änderungen im Verhältnis mit den MOEL versprechen, sondern vielmehr eine Minderung der Kapazitäten und Fähigkeiten der NATO durch die weniger qualifizierten Streitkräfte und nicht angepaßten Einsatz-grundsätze der MOEL-Armeen befürchten.
Die USA haben aber neben dem Sonderverhältnis zu Rußland vor allem ihre Vormachtstellung in der NATO im Auge gehabt, sie durchgesetzt und gefestigt. Es ist ihnen gegenüber ihren Partnern in Europa gelungen, die neuen Grundsätze des Bündnisses zu definieren und zu bestimmen, obwohl es vor allem der Regierung der Bundesrepublik Deutschland darum ging, in der NATO nicht länger ohne östliche Bündnisnachbarn zu bleiben. Die USA haben damit auch den Vorrang vor westeuropäisch bestimmter und umgesetzter Sicherheitspolitik behalten. Inwieweit dieser Ansatz durchzuhalten ist und die Rolle Rußlands weiterhin berücksichtigt werden soll, ist auch in den USA umstritten. Kritiker wie Brzezinski und Kissinger befürchten eine Aufgabe der NATO-Prinzipien bzw. eine zu starke Berücksichtigung russischer Interessen Zunächst bleibt jedoch an zuerkennen, daß die USA in diesem Prozeß eindeutig als Vormacht der NATO bestätigt worden sind.
Die westeuropäischen NATO-Partner haben dem Konzept der PfP zugestimmt, obwohl es ursprünglich durchaus Vorstellungen gab, die NATO für neue Mitglieder aus Osteuropa direkt zu öffnen oder zumindest eine zügige Aufnahme in absehbarer Zeit zu ermöglichen. Vor allem in der deutschen Bundesregierung wurden derartige Tendenzen auch offen geäußert. Jedoch schreckte die Vermutung einiger anderer westeuropäischer Regierungen, die Bundesrepublik Deutschland könne versucht sein, durch eine Ost-Ausdehnung Sonderwege zu wagen, von einer beharrlichen Verfolgung dieses Zieles ab. Unabhängig davon bleiben der Bundesregierung weiterhin drei wichtige Aufgaben im Rahmen einer deutschen Außen-und Sicherheitspolitik in und für Europa gestellt: -die Fortsetzung der Integrationsbemühungen der Bündnisse unter Berücksichtigung der veränderten Situation in Europa und des somit zu wandelnden Auftrags der NATO unter gleichzeitiger Beachtung der eingeschränkten Beteiligungsmöglichkeit der Bundesrepublik; -der Ausgleich mit den MOEL und die Eröffnung einer zumindest mittelfristigen Beitritts-perspektive (z. B. bis zum Ende des Jahrtausends), weil auch der Bundesrepublik an östlichen Nachbarn, die der NATO angehören, gelegen sein sollte, und -die gleichzeitige Berücksichtigung der Integration-und Erweiterungsbemühungen der EU und der Rolle und Absichten Frankreichs.
Abgesehen von Großbritannien, das vornehmlich den Standpunkt der USA teilt und auf eine spezielle Rolle bei der PfP verzichtet, und unabhängig von den übrigen NATO-Partnern in Europa, die einer NATO-Erweiterung hinhaltend, skeptisch oder gleichgültig gegenüberstehen, hat lediglich Frankreich gesonderte Interessen. Frankreich, das traditionell eine Abgrenzung von amerikanischer Dominanz in Westeuropas Sicherheitspolitik wünscht und gleichzeitig die Einhegung des durch die Vereinigung gewachsenen Deutschland als notwendig erachtet, sieht sich einer doppelten Herausforderung gegenüber: Es muß seine bisherige Sonderrolle in der NATO wahren und den eigenen Ansprüchen einer selbständigen Außen-und Sicherheitspolitik gerecht zu werden versuchen. Gleichzeitig darf es den Bemühungen der MOEL um Aufnahme nicht offen entgegentreten, weil diese -bedingt durch frühere und historisch gewachsene Gemeinsamkeiten -die Stellung Frankreichs in Europa, in der NATO und gegenüber Deutschland stärken könnten.
Frankreich könnte dementsprechend die Option erhalten und ausbauen, mehr als bisher Vorreiter und Gestalter einer im Vertrag der Europäischen Union verankerten und grob skizzierten Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) zu werden. Dadurch könnte es auch gelingen, westeuropäische Verteidigungspolitik direkter zu bestimmen und zu einem gesamteuropäischen Konzept auszubauen. Voraussetzung wäre allerdings eine Beteiligung und Einbindung der Bundesrepublik Deutschland, die als Partner zur Durchsetzung einer solchen Politik unerläßlich wäre.
Zusammengefaßt könnte ein Zwischenfazit für die „Partnerschaft für den Frieden“ lauten: Die NATO hat den MOEL und den KSZE-Staaten die Mitarbeit auf beschränktem militärischem Gebiet ermöglicht. Die Tür zur Mitgliedschaft ist dagegen noch längst nicht geöffnet; sie ist aber auch nicht verschlossen. Für Westeuropa werden darüber hinaus zusätzliche Möglichkeiten für eine enge Zusammenarbeit mit seinen mittel-, ost-und südosteuropäischen Nachbarn zu suchen und zu prüfen sein.
III. Der Stabilitätspakt -Angebot der Europäischen Union*
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Abbildung 3 Quelle: IAP-Dienst, (1994) 2-3, S.6
Abbildung 3 Quelle: IAP-Dienst, (1994) 2-3, S.6
Anders als die NATO kann die Europäische Union ihre Aktivitäten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den MOEL von der mit Rußland trennen. Während sie mit den Visegräd-Staaten seit 1991 und mit Bulgarien und Rumänien seit 1993 sogenannte Assoziierungsverträge (auch als Europa-Abkommen bezeichnet) abgeschlossen hat, ist eine enge Kooperation mit Ruß-land erst mit dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen eingeleitet worden -ohne die gleichen Perspektiven der Zusammenarbeit aufzuweisen, wie sie in den Europa-Abkommen vereinbart worden sind. Mehr noch: Den Staaten mit Assoziierungsstatus ist auf dem Gipfel in Kopenhagen auch die generelle Beitrittsmöglichkeit in die EU eröffnet worden, vorausgesetzt, sie erfüllen eine Reihe von Kriterien im wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich, die eine Aufnahme für die beitrittswilligen Staaten und die EU gleichermaßen vereinfachen und erleichtern sollen.
Während der Tagung der Staats-und Regierungschefs der EU im Juni 1993 stellte der Ministerpräsident Frankreichs, Edouard Balladur, eine Initiative vor, die darüber hinaus zu mehr Stabilität in den MOEL führen und durch engere Zusammenarbeit in den MOEL bei gleichzeitiger Unterstützung durch die EU Konflikte frühzeitig erkennen und beseitigen helfen soll. Im Dezember 1993 beschloß dann der Europäische Rat in Brüssel einen Plan für einen Stabilitätspakt im Rahmen der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik.
Als wesentliche Ziele des Stabilitätspaktes wurde festgelegt, die demokratischen Prozesse in den MOEL zu stärken, deren regionale Zusammenarbeit voranzubringen und dadurch zugleich die Stabilität zu fördern. Mit dem Stabilitätspakt sollen Spannungen in Europa verhütet und gutnachbarschaftliche Beziehungen aufgebaut werden. Zu diesem Zweck soll eine Präventivdiplomatie eingeleitet werden, in der die EU eine Art Katalysator spielen soll. Das Vorhaben zielt zunächst auf die MOEL, die Aussicht haben, Mitglieder in der EU zu werden. Ihnen soll damit auch geholfen werden, die Kriterien zur Aufnahme in die EU zu erfüllen.
Eine Konferenz über Stabilität in Europa soll einen Prozeß bis zu einem Abschluß eines Abkommens eröffnen, der im wesentlichen die folgenden Bestandteile haben könnte: -Fragen der nationalen Minderheiten, -Konsolidierung der Grenzen, -ergänzende Vereinbarungen (Formen der regionalen Zusammenarbeit, Beitrag der EU und der Drittländer, Rolle der Instrumente internationaler Organisationen).
Aus diesem Ansatz soll sich auch eine enge Kooperation mit den verschiedenen Bündnissen und Gemeinschaften (NATO, KSZE, WEU, UNO) ergeben. Die Europäische Union will die Ausarbeitung des Paktes aktiv begleiten und weist darauf hin, daß sie die regionale Zusammenarbeit fördern will.
Der Botschafter Frankreichs in der Bundesrepublik Deutschland, Frangois Scheer, hat in seinem Vortrag „Neue Sicherheitsstrukturen auf dem Weg in das 21. Jahrhundert -Der Pakt für Stabilität in Europa“ am 9. März 1994 in Bonn die Voraussetzungen für die künftige Stabilität kurz definiert: „Auf dem europäischen Kontinent gibt es sehr verschiedenartige Sicherheitszonen. Dieses Ungleichgewicht muß durch eine Stabilitätserweiterung korrigiert werden. Für Meinungsverschiedenheiten, die gleichsam Ursache für Spannungen sind, muß es wirkungsvolle Instrumente zur Beilegung und Verhütung geben. Der Umgang mit offenen und versteckten Krisen erfolgt immer mehr über friedenserhaltende Maßnahmen... Wenn wir Antworten auf diese Herausforderungen finden wollen, müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten. Frankreich und Deutschland haben hier Modellcharakter und wesentliche Impulse bei der Einsetzung der notwendigen Instrumente zu geben.“
Die einzelnen Aspekte des geplanten Stabilitätspaktes wie Vorhaben, Mittel und Rolle der EU und die Zusammenarbeit unter den schließlich mehr als 40 Staaten aus Mittel-, Ost-und Südosteuropa und der EU sind in der am 26. und 27. Mai 1994 durchgeführten Eröffnungskonferenz in Paris in einer ersten Runde beraten worden. Entsprechend der von Scheer angesprochenen deutsch-französischen Verantwortung haben Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Balladur in einem gemeinsamen Zeitungsbeitrag die westeuropäischen Partner am Vorabend der Konferenz auf die Ziele und Aufgaben des Stabilitätspaktes eingestimmt. Sie unterstrichen ihre Entschlossenheit, „diese erste Aktion im Rahmen der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik zum Erfolg zu führen“ Sie gaben als Ziel vor „eine Abschlußkonferenz zum Stabilitätspakt in einem Jahr oder später, zu der die mittel-, ost-und südosteuropäischen Länder ein Netzwerk bilateraler Vereinbarungen über gute Nachbarschaft einbringen“
Die zweitägigen Beratungen der Gründungskonferenz haben im wesentlichen ergeben, daß die Stabilität mit präventiven Maßnahmen zur Förderung von Beziehungen und guter Nachbarschaft erlangt werden solle. Grenz-und Minderheiten-fragen müßten berücksichtigt werden. In bilateralen Verhandlungen und Regionalkonferenzen -nach freier Vereinbarung der Beteiligten -sollen Einzelheiten beraten werden. Zwei Regionalkonferenzen stehen dabei im Mittelpunkt. Die eine hat die baltischen Staaten als Gesprächspartner, die andere Mittel-und Osteuropa zum Thema.
Ungeklärt ist noch der Umfang der Beteiligung Rußlands
Die Balladur-Initiative und auch der Ort der Eröffnungskonferenz zum Stabilitätspakt haben Frankreichs Interesse deutlich gemacht, in Europa Akzente für eine europäische Regelung der Sicherheitsfragen zu setzen. Darüber hinaus sollte damit unterstrichen werden, daß die EU und ihre Mitgliedstaaten durchaus in der Lage sind, Regelungen ohne die unmittelbare Beteiligung von Großmächten in Angriff zu nehmen. Schließlich ist erkennbar, daß Frankreich unter maßgeblicher Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland auch eine Führerschaft bei der Gestaltung der europäischen Sicherheit anstrebt. Offen muß jedoch noch bleiben, inwieweit die übrigen Mitgliedstaaten der EU an der Fortsetzung des Stabilitätspaktes unmittelbar Interesse entwickeln und ob die MOEL die Initiative zur Stabilisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen wirk-lieh umsetzen wollen und können. Danach ist im übrigen auch das kurz vor der Stabilitätskonferenz zwischen der Westeuropäischen Union (WEU) und neun Staaten aus Mittel-, Ost-und Südosteuropa (Ungarn, Polen, Tschechische und Slowakische Republik, Rumänien, Bulgarien, Litauen, Lettland und Estland) in Kirchberg (Luxemburg) abgeschlossene Assoziierungsabkommen vom 9. Mai 1994 zu beurteilen.
IV. Friedenssicherung in Europa
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„Partnerschaft für den Frieden“ und Stabilitätspakt sind zwei aktuelle Instrumente der NATO und der EU, um die Kooperation zwischen den Teilen Europas zu verbessern und zu erweitern. Für die Staaten Mittel-, Ost-und Südosteuropas können Beteiligung und Mitwirkungsmöglichkeiten lediglich erste Schritte auf einem Weg zu einer vollen Mitgliedschaft in beiden Gemeinschaften bedeuten. Es fehlen ihnen darüber hinausgehende präzise Angebote, wann und in welchem Umfang dieses geschehen könnte. Bündnis und Gemeinschaft scheuen sich noch vor einer rückhaltlosen Aufnahme. Ihnen fehlen bei den Beitrittswilligen vor allem die Voraussetzungen, die eine reibungslose Eingliederung ermöglichen; sie befürchten vielmehr, daß durch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch militärischen Strukturmängel die eigenen Kapazitäten und Fähigkeiten geschwächt werden und die eigenen Wirkungsmöglichkeiten im inneren und nach außen eingeschränkt oder wesentlich behindert oder gar in Einzelfällen unmöglich gemacht würden.
Dieser Interessenkonflikt zwischen West und Ost führt zweifellos zu einer Verlangsamung des europäischen Einigungsprozesses. Das Drängen der MOEL und die Zurückhaltung der Westeuropäer haben jedoch auf der einen Seite hauptsächlich nationale und auf der anderen Seite egoistische Motive, die ein kooperatives Vorgehen unter Vermeidung von Mißverständnissen auf beiden Seiten nur schwer möglich machen. Unabhängig von den jeweiligen Absichten, Vorbehalten und Auswirkungen drängen Probleme, Krisen und Konflikte grundsätzlich zu schnellerem Handeln. Sicherheit, Wohlstand und Stabilität sind in Europa nicht auf Dauer teilbar in eine minder-und in eine bessergefestigte Zone. Die Defizite und ihre Folgen in den MOEL werden über kurz oder lang nach Westeuropa übergreifen. Umgekehrt könnten westliche Modelle und Hilfen aber durchaus zu einer rascheren Angleichung der MOEL führen. „Partnerschaft für den Frieden“ und Stabilitätspakt dürfen demnach als Auftakt für weitere und umfassendere Kooperationsmodelle verstanden werden. „Es ist an der Zeit, über eine rein ökonomische Betrachtungsweise hinaus-zugehen und neue Ideen zu entwickeln, wie die neuen Demokratien in Europa so schnell wie möglich politisch integriert werden können. Ihre Stabilität wird ganz wesentlich von der Perspektive eines Beitritts zur Gemeinschaft mitbestimmt, und unsere eigene Stabilität hängt in zunehmendem Maße von der ihrigen ab. Ein Mehr an Sicherheit dort ist auch ein Mehr an Sicherheit für uns.“ Europa hat folglich mehr Verantwortung als bisher für sich selbst zu übernehmen. Europa und seine Staaten brauchen eine Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik über die EU hinaus, die die Herausforderungen annimmt, die die Chancen nutzt und die Risiken minimiert. Dabei sollte die Überlegung im Mittelpunkt stehen, daß es durchaus ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben kann, um den Annäherungsprozeß zu beschleunigen. Eine politische Kooperation ohne gleichrangige und gleichzeitige wirtschaftliche Zusammenarbeit scheint dafür der Schlüssel zu sein.
Franz H. U. Borkenhagen, geb. 1945; Referatsleiter in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Christian Bruns-Klöss/Gerd Memminger/Otti Stein) Die deutschen Länder in Europa, Baden-Baden 1992; Europa braucht GASP. Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik in und für Europa, Bonn-Berlin 1993; Regionen in Europa, in: Aussenpolitik, 45 (1994) 2.
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