I. Vorbemerkung
Im Januar 1990, nicht lange nach Öffnung der Mauer -zu einem Zeitpunkt also, als noch allgemein von einer fortdauernden Eigenstaatlichkeit der DDR ausgegangen wurde -, setzte der Wissenschaftsrat eine Arbeitsgruppe für „Deutsch-deutsche Wissenschaftsbeziehungen“ ein, die im März zum ersten Mal tagte. Das Besondere dieser Arbeitsgruppe bestand darin, daß ihr von Beginn an renommierte Wissenschaftler aus der DDR angehörten, daß man also bei ihrer Zusammensetzung den Grundsatz der Parität beherzigte Von diesen DDR-Professoren sind übrigens inzwischen die meisten nicht mehr in ihren Ämtern. Sie wurden -vermutlich wegen allzu großer Regimenähe, wie man gerne sagt -wenn schon nicht abberufen, so doch in den Vorruhestand geschickt.
Hier interessieren nicht diese bitteren Schicksale, die keine Einzelfälle sind, auch nicht die möglicherweise falschen Allianzen der ersten Stunde -man kannte im Westen vor allem die , Reisekaderund diese waren eben meist regimenah -, sondern das, was diese Arbeitsgruppe vor dem Hintergrund der Aufbruchstimmung des beginnenden Jahres 1990 sollte: Empfehlungen für eine „Zusammenfügung (!) der Wissenschaft aus Ost und West aus-(zu) arbeiten“, wie es Dieter Simon, der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats, im Rückblick formulierte Wie man sich diese Zusammenfügung -wohl keine zufällige Wortwahl -dachte, ist in zwölf Empfehlungen niedergelegt, durch die „Perspektiven für Wissenschaft und Forschung auf dem Wege zur deutschen Einheit“ eröffnet werden sollten: Empfehlungen, die die Vollversammlung des Wissenschaftsrats im Juli 1990 verabschiedete
Zusammenfügung setzt voraus, daß Teile zueinander passen oder daß sie, sofern dies nicht der Fall ist, passend gemacht werden. Dann stellt sich die Frage, ob man einen Teil an den änderen anpaßt oder ob man beide in neuer Form zu einem Neubau nutzt. Der Wissenschaftsrat wünschte sich das zweite, er antizipierte einen Prozeß, in dem sich die Teile so veränderten, daß daraus etwas Drittes, Neues würde. In den „Zwölf Empfehlungen“ heißt es: „Insgesamt gesehen kann es nicht einfach darum gehen, das bundesdeutsche Wissenschaftssystem auf die DDR zu übertragen. Vielmehr bietet der Prozeß der Vereinigung auch der Bundesrepublik Deutschland die Chance, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit Teile ihres Bildungs-und Forschungssystems der Neuordnung bedürfen.“
Die gute Absicht der ersten Stunde ging nicht nur hier nicht in Erfüllung. Wie in anderen Bereichen auch, vollzog sich im Wissenschafts-und Hochschulbereich die deutsche Einigung im wesentlichen als Übertragung der Institutionen des Westens auf den Osten und damit als strukturelle Anpassung von Ostdeutschland an Westdeutschland. Zu einer Neuordnung unseres nun „gemeinsamen’ Bildungs-und Forschungssystems ist es jedenfalls aufgrund der Einigung nicht gekommen. Vielmehr wurden selbst krisenbehaftete westdeutsche Institutionen wie die Hochschulen in Ostdeutschland eingeführt. Schon in Art. 38 des Einigungsvertrags, der die Umgestaltung von Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland regelt, ist nicht von
Zusammenfügung, sondern von Einpassung von Wissenschaft und Forschung des „Beitrittsgebiets“ in die Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland die Rede (Abs. 1), davon, „daß die in der Bundesrepublik Deutschland bewährten Methoden und Programme der Forschungsförderung so schnell wie möglich auf das gesamte Bundesgebiet“ anzuwenden seien (Abs. 2) Gewiß: Hier ging es nicht um die Hochschulen, sondern um die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, vor allem um die Akademien, in denen die DDR einen Teil ihrer Forschung konzentriert hatte (Akademie der Wissenschaften, Bauakademie, Akademie der Landwirtschaftswissenschaften und die bereits nicht mehr erwähnte, zum völligen Verschwinden ausersehene Akademie der pädagogischen Wissenschaften, mit insgesamt etwa 45 000 Mitarbeitern). Überhaupt schwieg sich der Einigungsvertrag über die Zukunft der ostdeutschen Hochschulen weitgehend aus Diese Zukunft war bereits bei seiner Formulierung in erster Linie Sache der Länder, da mit dem Beitritt auch das von der Volkskammer beschlossene Ländereinführungsgesetz wirksam werden sollte Ich komme auf diese interessante . Unterlassung'im Einigungsvertrag noch zurück. Dennoch kann man schon jetzt sagen, daß es der politischen Zielsetzung des Einigungsvertrages entsprach, auch die ostdeutschen Hochschulen in die nun gemeinsame Hochschulstruktur der Bundesrepublik Deutschland einzupassen. Nicht zuletzt der Wissenschaftsrat selbst trug dann entscheidend zur Verwirklichung dieses Zieles bei.
Man kann diesen Sachverhalt moralisierend beklagen. Wurde hier nicht eine große Chance zur Neuordnung des Gesamtsystems vertan? Nichts läge mir ferner, als diesen Eindruck zu erwecken. Die Chance zu dieser Neuordnung, von der viele zu Beginn des Jahres 1990 träumten und von der manche heute im Rückblick als einer vertanen sprechen, war nie sehr groß, ja sie bestand im Grunde nie. Das hängt erstens damit zusammen, daß die Vereinigung durch Beitritt des Ostens zum Westen erfolgte, die DDR ihre Eigenstaatlichkeit also selbst aufgab, indem sie sich dem Geltungsbereich des Grundgesetzes und der westdeutschen Rechtsordnung freiwillig unterstellte. Das hängt zweitens damit zusammen, daß die Wissenschaftsinstitutionen der DDR in einem Gefüge standen, das ihnen keine autonome Entwicklung ermöglichte Es hängt drittens damit zusammen, daß die friedliche Revolution nicht institutionenbildend wirkte, vor allem nicht, weil sie von einer spontanen und basisdemokratischen Bewegung ohne strategisch operierende Eliten bewirkt wurde und weil die Selbstanpassung an die Bundesrepublik Deutschland schon sehr früh einsetzte. Es hängt viertens damit zusammen, daß die Architekten der Einigung den Umbau im Osten unter extrem kurze Fristen stellten. Und schließlich hängt es fünftens damit zusammen, daß dann auch Abwicklungen im Westen hätten ernsthaft ins Auge gefaßt werden müssen -angesichts des Strukturkonservatismus der westdeutschen Gesellschaft nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Unter diesen Bedingungen hatten auch krisenbehaftete westdeutsche Institutionen gewissermaßen freie Bahn.
Ich möchte meine These von der strukturellen Anpassungder ostdeutschen Hochschulen an die des Westens, von ihrer Einpassung im Sinne des Einigungsvertrags, in zwei Schritten illustrieren und dabei zugleich differenzieren. Zunächst will ich zeigen, daß die beiden Hochschulsysteme zum Zeitpunkt der Einigung tatsächlich nicht zusammenpaßten, daß sie strukturell gesehen gleichsam Gegenpole bildeten, so daß ihre Zusammenfügung von vornherein gar nicht möglich war (struktureller Aspekt). Dann will ich zeigen, daß der Umbau des Ostens im außeruniversitären Bereich anders verlief als im universitären, hier in den abgewickelten Bereichen wiederum anders als in den nichtabgewickelten, daß diese unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken auch zu unterschiedlichen Resultaten führten (prozessualer Aspekt). Freilich: Die Variationen hielten sich innerhalb eines Intervalls, das durch die Reformdiskussion des Westens festgelegt war. So unterschiedlich die Umbauprozesse im einzelnen auch verliefen, das grundlegende Ergebnis blieb immer dasselbe: Der Prozeß der Vereinigung war ein Prozeß der Verwestlichung des Ostens, strukturell und teilweise auch personell. Wie der bereits zitierte Dieter Simon mit dem ihm eigenen Sarkasmus bemerkte: Aus dem öffentlich propagierten Gemeinschaftswerk wurde ein Westwerk -und ich füge hinzu: mitunter so erfolgreich, daß, wie etwa im Falle des Gesetzes über die Hochschulen im Freistaat Sachsen, der Osten heute manchmal schon fast der bessere Westen ist
Ich ziehe deshalb drei Vergleiche:
1.den Vergleich zwischen den strukturellen Merkmalen der beiden Hochschulsysteme;
2.den Vergleich zwischen der Wissenschafts-und Hochschulpolitik und 3.den Vergleich zwischen abgewickelten und nichtabgewickelten Bereichen.
Vergleiche erlauben es, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Auf beides kommt es mir an.
II. Die Hochschulen in Ost-und Westdeutschland vor der Einigung: Ein struktureller Vergleich.
Das Wissenschafts-und Hochschulsystem der DDR entwickelte sich in drei Etappen, wobei von Beginn an das sowjetische Modell als Vorbild diente Die erste Etappe kann man als die der antifaschistischen Reform bezeichnen, die durch die I. Hochschulreform eingeleitet wurde und von 1945 bis 1949, also bis zur Staatsgründung, dauerte. Hier koexistierten noch bürgerliche und sozialistische Kräfte, vor allem im Lehrkörper. Aber die Austreibung der bürgerlichen Wissenschaftler setzte bereits in voller Härte ein. Erinnert sei etwa an die Umstände, die zur Gründung der Freien Universität Berlin führten. Schon im Dezember 1946 hatte man sogenannte Gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten (, Gewifas‘) in Leipzig, Jena und Rostock als Speerspitzen gegründet, die die alte Struktur sprengen sollten. Am Ende dieser Etappe war das Ziel, die Universität als eine bürgerliche Institution zu zerschlagen, schon weitgehend erreicht
Die Zweite Etappe ist die des Aufbaus eines sozialistischen Wissenschafts-und Hochschulsystems unter der dogmatischen und totalitären Führung der SED. Sie setzte äußerlich mit der II. Hochschulreform ab 1951 ein. Eine fundamentale Umstrukturierung von Lehrkörper und Studentenschaft war das Ziel. Tatsächlich wuchs die Studierquote kontinuierlich bei Veränderung der Anteile der verschiedenen (auch der bisher benachteiligten) Schichten und der Frauen. Doch die Stalinisierung ging so weit, der Primat der Ideologie war so eindeutig, daß auch mancher „Begünstigte“ das Land verließ. Selbständiges Denken, gerade auch marxistisches, erschien der politischen Elite als herrschaftsgefährdend. Die Alternative für viele DDR-Bürger lautete zunehmend: bedingungslose Loyalität oder Abwanderung Abwanderung, die bald einem Exodus glich, wurde 1961 durch den Bau der Mauer unterbunden. Die DDR konsolidierte sich. Als Folge davon konnte die politische Elite die Handlungsspielräume auch an den Hochschulen erweitern, vor allem im Zusammenhang mit der Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL). Dies führte zu einer gewissen Entdogmatisierung der Natur-und Ingenieurwissenschaften und zur Zulassung „bürgerlicher" Wissenschaften wie Kybernetik und System-theorie, aber auch Psychologie und Soziologie. Freilich blieb es dabei: Der Marxismus-Leninismus war als Leitungswissenschaft anzuerkennen
Durch die III. Hochschulreform von 1967/68 wurde diese Entwicklung institutionalisiert. Allerdings versuchte man, die Studierquote wieder besser an die „gesellschaftlichen Bedürfnisse 4 anzupassen Der Beginn der dritten Etappe fällt in etwazusammen mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Mit diesen Personen wechselten auch die Parolen: Statt Neuen Ökonomischen Systems nun Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik. Die III. Hochschulreform sollte vor allem folgenden Zielen dienen: „... verstärkte Betonung der ideologischen Erziehungsaufgabe der Hochschullehrer, engere Verbindung zwischen Forschung und Praxis, Gliederung aller Studiengänge in Grundstudium, Fachstudium und Spezial-und Forschungsstudium sowie Ersetzung der Fakultäten-und Institutsgliederung durch Sektionen“ Es kam also auch zu einer organisatorischen Veränderung der Hochschulen. Aus dieser Reform ging jenes Hochschulsystem hervor, das zum Zeitpunkt des Falls der Mauer den strukturellen Gegenpol zum Hochschulsystem der Bundesrepublik bildete. Sechs Unterschiede zwischen den beiden Hochschulsystemen fallen ins Auge: 1. Das Hochschulsystem der DDR beruhte im Vergleich zu dem der Bundesrepublik aufeiner schärferen funktionalen und strukturellen Differenzierung von Forschung und Lehre. Trotz eines Netzes hochschulfreier Forschungseinrichtungen sind die Universitäten in der Bundesrepublik nach wie vor wichtige, vielleicht die wichtigsten Träger der Grundlagenforschung. Insbesondere in den Akademien haben sie keine institutioneilen Konkurrenten. Diese beteiligen sich zwar auch an der Grundlagenforschung, vor allem auf geisteswissenschaftlichen Gebieten. Aber sie sind in erster Linie Gelehrtengesellschaften, zudem noch regionalisiert. Im Unterschied dazu konzentrierte die DDR, orientiert am Sowjetmodell, einen Großteil der Forschung in den Akademien, die sie zu* extrem arbeitsteiligen Großforschungseinrichtungen ausbaute. Zwar verblieb Forschung durchaus auch an den Hochschulen, aber sie war, sieht man von Schreibtischforschung ab, häufig stark anwendungsorientiert, meist bezogen auf die Bedürfnisse der in der Nähe liegenden Kombinate. Forschung in ihrer ganzen Breite zu betreiben zählte zu den Aufgaben der Akademien. Diese waren, vielleicht mit Ausnahme der Leopoldina in Halle, also keine Gelehrtengesellschaften im eigentlichen Sinne. Die in der DDR vollzogene Fusion von Gelehrten-gesellschaft und Großforschungseinrichtung wieder rückgängig zu machen galt nicht zufällig als eine der wichtigsten Aufgaben beim Umbau der ostdeutschen Akademien (Art. 38, Abs. 2 Einigungsvertrag). Die Funktionsteilung zwischen Akademie und Hochschule verhinderte natürlich keinesfalls einen Austausch zwischen beiden Institutionen. Doch waren die Akademien dabei auf die Hochschulen nicht angewiesen. Ihre Verselbständigung zeigte sich auch daran, daß sie eigenes Promotions-und Habilitationsrecht hatten und die besten Nachwuchswissenschaftler jederzeit an sich ziehen konnten. Akademieangehörige waren gegenüber Hochschulangehörigen in vielfältiger Weise privilegiert. Dies schuf Ressentiments, und nicht zuletzt diese erklären, weshalb bis heute die ostdeutschen Hochschulen trotz finanzieller Anreize (Wissenschaftler-Integrationsprogramm [WIP]) kaum bereit waren, ehemalige Akademie-angehörige aufzunehmen. Man hatte zudem, angesichts des Stellenabbaus, mit dem eigenen Personal Probleme genug. Hinzu kam die für die Akademien charakteristische extreme Spezialisierung. Akademieforscher eignen sich selten als , Fachvertreter 4 im westlichen Sinn. 2. Die beiden Hochschulsysteme hatten bei ähnlichen Stellenbezeichnungen einen unterschiedlichenStellenaufbau. Während in den Hochschulen der Bundesrepublik ein intern differenziertes Segment von Professorenstellen auf einem etwa doppelt so breiten Segment von überwiegend befristeten Mittelbaustellen aufruht, waren DDR-Hochschulen durch einen ausgeprägten , Mittelbaubauch 4 gekennzeichnet. Wenigen Professoren-stellen standen viele überwiegend unbefristete Mittelbaustellen gegenüber, auf denen die Mehrzahl der B-Promovierten -sie entsprechen den westdeutschen Habilitierten -ihr Auskommen fand. Hinzu trat ein wichtiger Unterschied in den Rekrutierungsmechanismen: Während an den Universitäten der Bundesrepublik das gewöhnlich streng gehandhabte , Exogamiegebot’ die Karriere eines Nachwuchswissenschaftlers bestimmt, die Hausberufung also die besonders begründungsbedürftigeAusnahme von der Regel darstellt, stieg man in der DDR in der Regel an derselben Hochschule auf, oft vom Studenten bis zum auf Dauer beschäftigten Dozenten oder gar Professor. DDR-Hochschulen kennzeichnete eine weit geringere horizontale Mobilität als die Hochschulen der Bundesrepublik. Dies blieb nicht ohne Einfluß auf die vorherrschenden Orientierungen: Bei geringer Mobilität sind jedenfalls , lokalistische‘ wahrscheinlicher als , kosmopolitische* 3. Die Hochschulen der DDR waren im Unterschied zu denen der Bundesrepublik keine relativ autonomen Institutionen, orientiert am Professionsprinzip und an einer drei-und mehrstufigen akademischen Selbstverwaltung, in der die 'Willensbildung unter Beteiligung von Fächern und Gruppen von unten nach oben erfolgt. Sie beruhten vielmehr auf dem Modell einer zweistufigen bürokratischen Verwaltung, wobei jeder Leitungsebene der Hochschule eine solche der Partei , beigeordnet 4, in Wirklichkeit übergeordnet war (duales bürokratisches Prinzip). Rektor und Prorektoren sowie Sektionsdirektoren und deren Stellvertreter unterlagen der Parteikontrolle. Senat und Fakultäten fungierten als Erfüllungsgehilfen der Partei. Der 1. Sekretär hatte im Senat Sitz und Stimme Senat und Fakultäten fielen für die Selbstorganisation der DDR-Hochschulen weitgehend aus. Insbesondere die Fakultäten hatten praktisch keine
Mitspracherechte. Sie waren im Grunde auf Prüfungsausschüsse reduziert. 4. Das Hochschulsystem der DDR war im Unterschied zu dem der Bundesrepublik geschlossen.
Wie alles, plante die DDR auch ihren Bedarf an Akademikern, und zwar nach Zahl und Fachrichtung. Dies führte dazu, daß zum Zeitpunkt der Einigung nur etwa 12 Prozent eines Altersjahrgangs eine Hochschule besuchten und daß das Fach nicht frei gewählt werden konnte. Demgegenüber studierten in der Bundesrepublik 1990 etwa 25 Prozent eines Altersjahrgangs überwiegend in den Fächern ihrer Wahl. Im Vergleich zur westdeutschen Massenuniversität kann man die DDR-Hochschule geradezu als eine Eliteeinrichtung bezeichnen. Anders als die Bundesrepublik gründete die DDR für die zahlreicher werdenden Studenten auch keine neuen Universitäten. Sie förderte hauptsächlich ingenieur-und technikwissenschaftliche Bereiche, indem sie Spezialschulen einführte, die sie Schritt für Schritt in Technische Hochschulen umwandelte. Von diesen wurden nach der Einigung nicht zufällig einige wieder geschlossen oder in Fachhochschulen integriert. 5. Dieser Unterschied zwischen beiden Systemen wurde noch verstärkt durch die extrem voneinander abweichenden Betreuungsrelationen. So problematisch eine Interpretation des verfügbaren Zahlen-materials ist, es läßt sich doch feststellen: In der Bundesrepublik hatte ein Lehrender etwa dreimal mehr Studenten auszubilden als in der DDR Zulassungspolitik und Betreuungsrelationen hatten zur Folge, daß DDR-Studenten bei erheblich eingeschränkter Lehr-und Lernfreiheit und starker Verschulung des Studiums (bis hin zu , Klassenverbänden') schnell studierten und ihr Studium in der Regel auch nicht abbrachen, während für westdeutsche Studenten bei großer Lehr-und Lernfreiheit und geringer Verschulung des Studiums lange Studienzeiten und hohe Abbruchquoten charakteristisch sind. 6. Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR eine Zuordnung von Hochschul-und Beschäftigungssystem.Einem Abiturienten, dem es gelang, einen Studienplatz zu bekommen, war nach erfolgreichem Abschluß seines Studiums ein Arbeitsplatz sicher -wenn auch immer wenigereiner, der seiner Qualifikation entsprach. In der Bundesrepublik dagegen sind Hochschul-und Beschäftigungssystem weitgehend entkoppelt, jedenfalls dort, wo es keinen institutionell definierten Übergang in staatlich monopolisierte Berufe gibt (Staatsexamensfächer)
Gerade am Beispiel der Lehre wird deutlich, wie schwierig es ist, einzelne Institutionen aus einem bestehenden Institutionengefüge herauszubrechen und sie in ein anderes zu verpflanzen. Der , Lehrerfolg 4 von DDR-Hochschulen, den es zweifellos gab, hatte institutionelle Voraussetzungen, die in Westdeutschland seit den späten sechziger Jahren nicht mehr bestehen. Diese lassen sich auch nicht beliebig erzeugen. Denn im vereinten Deutschland können weder die Zulassungsquote noch die Betreuungsrelation auf DDR-Niveau gebracht werden, jedenfalls so lange nicht, wie das Gesamtsystem nicht strukturell reformiert wird
Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Strukturunterschiede der beiden Systeme werden die Leitlinien, die der Wissenschaftsrat nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik für den nun anstehenden Umbau der ostdeutschen Hochschulen formulierte, außerordentlich plausibel.
Sie hatten zum Ziel, 1. die Hochschulforschung durch Integration von Akademiewissenschaftlern in die Hochschulen zu stärken;
2. die Zusammenarbeit zwischen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen zu verbessern;
3. die Spezialhochschulen zu integrieren;
4. leistungsfähige Fachhochschulen zu gründen;
5. die Studiengänge zu entspezialisieren;
6. Vorhandenes zu erneuern und nicht, Neues zu gründen, sowie 7.den Ausbau in zwei Phasen durchzuführen
Diese Leitlinien wurden freilich nur sehr bedingt handlungsbestimmend. Insbesondere die Leitlinien 1, 6 und 7 gerieten während des nun einsetzenden Umbauprozesses schnell in Vergessenheit. Warum Leitlinie 1 kaum befolgt wurde, habe ich bereits angedeutet (rabiater Stellenabbau in den Hochschulen und Ressentiments in den Hochschulen gegen Akademiemitglieder). Interessanter ist, warum dies im Grunde auch für Leitlinie 6 und 7 gesagt werden muß. Tatsächlich wurden die teilweise sehr detaillierten Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Umbau von Einrichtungen und Fächern im Hochschulbereich von den nun zuständigen ostdeutschen Ländern zwar durchweg nahezu dogmatisch behandelt und beachtet, aber zugleich eher als eine Art Minimalprogramm verstanden. Man ging denn auch öfter darüber hinaus. Was waren die Ursachen dafür? Dies führt mich zu meinem zweiten Vergleich, bei dem auch etwas von der unterschiedlichen Eigendynamik beim Umbau des Wissenschafts-und des Hochschulbereichs sichtbar werden soll.
III. Wissenschafts-und Hochschulpolitik: Die Rolle korporativer Akteure
Obgleich Wissenschafts-und Hochschulwesen in der DDR streng zentralistisch organisiert waren, erfolgte der Umbau des Wissenschaftssystems -übrigens ähnlich wie der des Wirtschaftssystems (Treuhandanstalt!) -gleichsam , zentral 4, der des Hochschulsystems aber , dezentral Dieser Unterschied war nicht ohne Bedeutung für die verschiedenen Entwicklungsdynamiken im Wissenschafts-und im Hochschulbereich. Er läßt sich auch an der Rolle ablesen, die der Wissenschaftsrat in den beiden Umbauprozessen spielte: Dort war er Bewertungs-, hier nur Empfehlungsinstanz.
Wir verfügen inzwischen über Studien, die die Entstehung von Art. 38 Einigungsvertrag detailliert analysieren Danach war das treibende Motiv für seine Formulierung die Erhaltung des institutionellen Domänenkonsenses in der westdeutschen Wissenschaftspolitik. Grundlage dieses Konsenses sind der 1969 ins Grundgesetz eingefügte Art. 91b und die darauf bezogene, 1975 verabschiedete „Rahmenvereinbarung Forschungsförderung“. Sie regelt Finanzierung und Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und den großen Wissenschaftsorganisationen, vor allem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen. Um ein Zusammenbrechen dieses Domänenkonsenses nach der Vereinigung zu verhindern, entschied man sich für die Einpassung des ostdeutschen Wissenschaftssystems in das westdeutsche. So wurde vermieden, daß sich die DDR-Einrichtungen in Gestalt einer Leibniz-oder Helmholtz-Gesellschaft selbst organisierten. Dafür nahm man auch die Einschaltung des Wissenschaftsrats -selbst eine Institution westdeutscher Politikverflechtung -in den Umbauprozeß in Kauf Ihm wurde die Begutachtung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen übertragen. Dadurch stellte man immerhin sicher, daß „nicht administrative und fiskalische, sondern wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Aspekte“ beim Umbau ausschlaggebend wurden Der Einigungsvertrag brachte also den Wissenschaftsrat, sonst eher ein Beratungsgremium „einflußreicher Ohnmacht“ in eine strategisch zentrale Stellung. Er nutzte sie erstaunlich gut, wie man im Rückblick sagen muß.
Vom Wissenschaftsrat wurde schnell erkannt, daß man die außeruniversitäre Forschung nicht angemessen würde bewerten können, wenn man die universitäre nicht einbezöge. Dafür aber gab es, wie gesagt, keinen direkten Auftrag im Einigungsvertrag. Der Wissenschaftsrat entschloß sich dennoch, dieser Einsicht zu folgen. Er respektierte aber auch die Lage, die durch die Einführung der Länder eingetreten war. So setzte er drei Gremien ein, eines für die außeruniversitäre Forschung (Evaluationsausschuß), eines für die universitäre Forschung (Strukturausschuß) und eines, das die Arbeit beider Ausschüsse koordinieren sollte (Koordinierungskommission). Letzteres freilich mißlang Es fehlte sowohl an Verknüpfungskonzepten als auch an einer Akteurskonstellation, die dem Wissenschaftsrat im universitären Bereich zur gleichen Durchschlagskraft wie im außeruniversitären verhelfen hätte. Weder die Westdeutsche Rektorenkonferenz noch die Kultusministerkonferenz agierten im Hochschulbereich mit der gleichen Entschiedenheit wie Bund, Länder und die großen Wissenschaftsorganisationen im Wissenschaftsbereich. Statt zentraler Akteure übernahmen die ostdeutschen Länder die Führung. Sie nutzten ihre neugewonnene Kulturhoheit, um Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit zu demonstrieren. Sehr schnell kam es dabei auch zu ihrer , Entsolidarisierung‘, etwa bei grenzüberschreitenden Planungen oder in der Berufungspolitik. Die Ostländer schlossen sich nicht untereinander, sondern mit , wahlverwandten 4 Westländern zusammen. Zentrale Steuerung wurde durch biund trilaterale Absprachen zwischen Ost und West ersetzt. Zwar nicht an die Stelle des Wissenschaftsrats, wohl aber neben ihn traten die meist gemischt zusammengesetzten, aber von Westdeutschen dominierten Hochschulstrukturkommissionen der ostdeutschen Länder. Die Idee, solche Kommissionen einzurichten, ging übrigens vom Wissenschaftsrat selbst aus.
Dieses dezentrale, länderbezogene Steuerungsmodell ist nun aber eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß die Leitlinien 6 (Vorhandenes erneuern) und 7 (zweiphasiger Ausbau) des Wissenschaftsrats am Ende nur zum Teil befolgt wurden Jedes Land suchte aus seiner Erbmasse möglichst viele Hochschulen zu bauen, weitgehend ohne Rücksicht auf die Planungen der Nachbarlän-der, aber auch ohne Rücksicht darauf, ob für neu aufzubauende Bereiche wie etwa Rechts-und Wirtschaftswissenschaften überhaupt genug qualifiziertes Personal zur Verfügung stand. Schnell mußte bei solchem Länderpartikularismus die Hochschulpolitik auch in den Sog der Regionalpolitik geraten. Die einzige wirkungsvolle Schranke für Exzesse in dieser Richtung sind finanzielle Restriktionen, die aber nirgends scharf genug kalkuliert worden sind. Es ist deshalb kein Zufall, daß der Streit zwischen Finanz-und Wissenschaftsminister über die Zahl der Stellen im Hochschulbereich in manchen Ländern nach Abschluß der Erneuerungsphase nicht allein wegen der wirtschaftlichen Rezession wieder voll entbrannt ist. Von den ca. 11000 Stellen (ohne Medizin), die der Sächsische Finanzminister dem Sächsischen Minister für Wissenschaft und Kunst nach langem Ringen gewährt hatte -weniger als die Hälfte der vormals vorhandenen Stellen -, möchte er inzwischen wieder welche zurückhaben. Es scheint, als hätten die ostdeutschen Länder durchweg nicht nur ihre kurzfristige, sondern vor allem auch ihre mittel-und langfristige Leistungskraft überschätzt.
Dabei war der Umbauprozeß auf Landesebene in den meisten ostdeutschen Ländern mit einem rabiaten Stellenabbau verbunden. Wie alle Tätigkeitsbereiche in der DDR, waren auch die Hochschulen, gemessen an westdeutschen Standards, extrem überbesetzt. Dies äußerte sich besonders in einem überdimensionierten und weitgehend mit Dauerpositionen versorgten Mittelbau, der auch die Hauptlast der Lehre zu tragen hatte. Ostdeutsche Hochschulen waren, wie gezeigt, bei aller Verpflichtung zur Forschung lehr-und mittelbauzentriert. Diese Struktur wurde in allen ostdeutschen Ländern unter dem Einfluß der Finanzminister, aber auch aufgrund des Hochschulrahmengesetzes, von dem ja nur während einer Übergangszeit abgewichen werden durfte, radikal geändert Der große Verlierer des Einigungsprozesses im Hochschulbereich ist der im übrigen überalterte ostdeutsche Mittelbau.
Der Länderpartikularismus ging also trotz allem wiederum nicht so weit, daß sich ein Land dem vom Westen ausgehenden strukturellen Anpassungsdruck hätte gänzlich entziehen können. Auch der Wissenschaftsrat behielt trotz seiner , geschwächten'Rolle mit seinen „Empfehlungen zur künftigen Struktur der Hochschullandschaft in den neuen Ländern und im Ostteil von Berlin“, die er Zug um Zug veröffentlichte erheblichen Einfluß auf den Umbauprozeß im Hochschulbereich. Von seinen Leitlinien fiel insbesondere die vierte mit ihrer Forderung, es seien leistungsfähige Fachhochschulen aufzubauen, bei allen Hochschulstrukturkommissionen auf fruchtbaren Boden. Ostdeutschland besitzt heute ein Netz von Fachhochschulen, das von ostdeutschen Abiturienten bereits erstaunlich gut angenommen wird. Nach einer jüngsten Umfrage des Hochschul-Informations-Systems erstreben von den befragten Abiturienten 15 Prozent einen Fachhochschulabschluß (Westdeutsche Abiturienten: 12 Prozent) Das ist um so erstaunlicher, als es für diese westdeutschen Einrichtungen in Ostdeutschland keine direkten , Vorläufer'gibt. Freilich haben sie indirekte Vorläufer etwa in den Ingenieurhochschulen, und sie kommen überhaupt einer Lehrkultur entgegen, wie sie in der DDR existierte: Vorrang von Anwendung und Praxis bei der wissenschaftsbezogenen Ausbildung.
Der Umbau des Wissenschaftssystems folgte also anderen , Gesetzen'als der des Hochschulsystems. Im ersten Fall hatte der Wissenschaftsrat die zentrale Rolle, im zweiten mußte er sie sich mit lokalen Akteuren teilen, obgleich er natürlich über die Vergabe der Mittel nach dem Hochschulbauförderungsgesetz immer ein letztes Sanktionsmittel in der Hand behielt. Der erhöhte Einfluß lokaler Akteure, zu denen auch die jeweiligen westdeutschen Partnerländer zählten, bewirkte zwar eine gewisse Vielfalt, es blieb aber in allen Fällen das westdeutsche Modell bestimmend. Dafür sorgten schon Hochschulrahmengesetz und finanzielle Abhängigkeit. So wurden auch im Hochschulbereich die Strukturen verwestlicht. Vom DDR-Hochschulsystem blieb nicht viel.
Wie aber steht es mit den DDR-Hochschullehrern? Sie ließen sich ja nicht einfach verwestlichen, jedenfalls nicht über Nacht. Allerdings ließen sie sich ersetzen. Der Westen stellte ja nicht nur die Strukturen, sondern auch das dazugehörige Personal. Wer aus dem Osten durfte also bleiben? Das führt uns zur Frage nach der personellen Verwestlichung. Der Einigungsvertrag hatte die Übertragung des Bundesrechts, das die Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst regelt, für eine Übergangszeit mit bemerkenswerten Kautelen versehen. Sie erlaubten praktisch die Kündigung von jedermann im Einzelfall (ordentliche und außerordentliche Kündigung) Hinzu trat die Möglichkeit der Abwicklung, die eine Art kollektiver Kündigung bedeutete Wie also wirkte sich die Einpassung ins westliche Hochschulsystem auf die Zusammensetzung des Lehrkörpers aus? Der Wissenschaftsrat hatte auch hier wieder eine vernünftige Maxime formuliert, freilich weniger in der Wortwahl als in der Sache. Sie lautete: Durchmischung. Ist sie gelungen? Dies bringt mich zum letzten Vergleich.
IV. Abgewickelte und nichtabgewickelte Bereiche: Die Rolle verdeckter Quoten
Institutionen funktionieren bekanntlich nicht ohne Personen, obgleich diese, wie die Fahrgäste eines Omnibusses, ständig wechseln können. Immerhin wird von ihnen wie von Fahrgästen vermutet, daß sie auch die Richtung bejahen, in die die Reise geht. Jedenfalls funktionieren Institutionen nur dann, wenn zumindest ein Teil ihrer Mitglieder die Erwartungen auch erfüllt, die an sie gestellt werden. Auch ostdeutsche Hochschulen machten von dieser Regel keine Ausnahme.
Ostdeutsche Hochschulen entsprachen nicht unserer Vorstellung von freien Institutionen. Sie waren nicht auf eine grundrechtlich garantierte und institutionell gesicherte Freiheit von Forschung, Lehre und Studium gebaut. Vielmehr waren sie deformiert insofern, als sie inhaltlich dem Grundsatz der Parteilichkeit und institutionell dem Vorrang der Partei dienten. Jeder, der in einer DDR-Hochschule eine herausgehobene Position einnahm, war an dieser Deformation beteiligt.
Dennoch gewährte auch eine DDR-Hochschule Handlungsspielräume. Von Konformismus über Ritualismus, Innovation, Rückzug und Rebellion reichte auch hier das Spektrum der Situationsbewältigung Es gab zwar die eindeutigen Täter und die eindeutigen Opfer, aber vor allem die zweideutige Position dazwischen. In welche Kategorie man gehörte, hatte nicht in erster Linie mit dem Fach zu tun, in dem man arbeitete.
Allerdings gab es mehr oder weniger regimenahe Fächer. So waren zum Beispiel die Rechts-, Wirtschafts-und Erziehungswissenschaften inhaltlich sozialistisch, nicht aber Mathematik und Physik.
Der Wissenschaftsrat forderte deshalb zu Recht für die besonders regimenahen Fächer -für die Rechts-, Sozial-und Wirtschaftswissenschaften sowie für einen Teil der Geisteswissenschaften -eine grundlegende Erneuerung von Lehrinhalten und Studiengängen sowie die Einrichtung von Gründungsprofessuren, die von ausgewiesenen westdeutschen Fachvertretern übernommen werden sollten Um letzteres zu ermöglichen, beschlossen Bund und Länder später das Hochschulerneuerungsprogramm, wobei sich die westdeutschen Länder an seiner Finanzierung nicht beteiligten. Wie aber sollte diese inhaltliche und vor allem personelle Erneuerung im einzelnen erfolgen? Die abgestimmte Antwort der ostdeutschen Länder für die als besonders regimenah eingestuften Fächer lautete: Abwicklung! Art. 13 Einigungsvertrag, der den Übergang von Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und Rechtspflege auf den Bund und die ostdeutschen Länder regelt, bot dafür die rechtliche Handhabe. Denn zu diesen Einrichtungen gehörten laut Einigungsvertrag auch solche „der Kultur, der Bildung und Wissenschaft sowie des Sports“ (Abs. 3, 1).
Daß man Einrichtungen zugleich abwickeln und überführen könne, wollte nur den wenigsten einleuchten, zumal die Abwicklungsbeschlüsse, die die meisten Länder im Dezember 1990 erließen, mit der Zusage an die Studierenden verbunden waren, sie könnten ihr begonnenes Studium beenden, in reformierter Form zwar, aber eben doch auch noch teilweise beim alten Lehrpersonal. Wie immer man über die rechtliche Qualität der Abwicklungsbeschlüsse denkt sie setzten jedenfalls eine Entwicklungsdynamik in Gang, die eine schnelle und grundlegende strukturelle, inhaltliche und vor allem personelle Verwestlichung bewirkte. In den abgewickelten Bereichen gibt es heute kaum noch Ostprofessoren: die , Durchmischung 4 mißlang Die Abwicklung hatte also zur Folge, daß ganze Bereiche der ostdeutschen Hochschulen gleichsam auf einen Schlag personell verwestlicht und übrigens auch vermännlicht wurden. Was aber geschah in den Bereichen, denen die Abwicklung erspart blieb? Ist wenigstens hier die . Durchmischung" gelungen? Wir haben noch keine endgültigen Zahlen Doch meine Vermutung ist: Dies hing hauptsächlich von verdeckten Quoten für Ostdeutsche ab. Dies mag überraschend klingen, weiß doch jeder Kenner, daß kein ostdeutscher Hochschullehrer die Verwandlung von einem Hochschullehrer alten in einen neuen Rechts ohne Berufungsverfahren schaffte. Doch obgleich dies so ist, obgleich dabei persönliche Integrität und vor allem fachliche Eignung durchaus kritisch geprüft wurden, kam es entscheidend darauf an, ob dies in einem verkürzten Berufungsverfahren mit bloß interner Ausschreibung und einem Bewerber aus dem Hause oder in einem normalen Berufungsverfahren geschah. Nur über das verkürzte Berufungsverfahren und über die Zahl der Personen, die sich diesem . unterziehen durften", konnten die ostdeutschen Hochschulen den vorprogrammierten personellen Aderlaß stoppen und die personelle Verwestlichung begrenzen. Manchem westdeutschen Massenmedium ging auch dieser . Schutz" noch zu weit Manchem ist eben ein wissenschaftlich zweitklassiger Westdeutscher immer noch lieber als ein wissenschaftlich zwar erstklassiger, aber regimenaher Ostdeutscher -wobei merkwürdigerweise meist Mitgliedschaft in der SED als Indikator für Regimenähe, Mitgliedschaft in einer Blockpartei aber als Indikator für Regimeferne, wenn nicht gar für Opposition gilt!
Wie dem auch sei: Jedenfalls läßt sich ein Unterschied zwischen abgewickelten und nichtabgewikkelten Bereichen feststellen. In den abgewickelten Bereichen ist die , Durchmischung" mißlungen, in den nichtabgewickelten Bereichen hängt ihr Grad weitgehend von der Handhabung der verkürzten Berufungsverfahren ab. Man sieht, welche Bedeutung Verfahren für die Gestaltung sozialer Wirklichkeiten besitzen, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Legitimation, sondern auch unter dem der Effekte. Freilich: Ob . durchmischt" oder nicht, Einpassung erfolgte in beiden Fällen. Das ostdeutsche Hochschulsystem wurde an das westdeutsche strukturell angepaßt.
V. Schlußbemerkung
Ich hatte behauptet, diese strukturelle Anpassung sei nahezu unvermeidlich gewesen. Dies war selbstverständlich nicht im Sinne eines Struktur-determinismus, sondern im Sinne einer strukturel•len Beschränkung der Handlungschancen korporativer und individueller Akteure gemeint. Angesichts des allgemeinen West-Ost-Gefälles zum Zeitpunkt der Einigung, das der Einigungsvertrag gleichsam verrechtlichte, mußten auch im Hochschulbereich die Oststrukturen den Weststrukturen weichen. Dieser Institutionentransfer war sogar die Voraussetzung dafür, daß nun das Gesamtsystem reformiert werden kann.
Man darf freilich die Übertragung von Institutionen nicht als einen eindimensionalen und einseitigen Prozeß behandeln. Bei jeder Übertragung dieser Art stellt sich zunächst das Problem der Einbettung. Es hat zwei wichtige Komponenten: Eine Institution steht in einem Gefüge, braucht also andere Institutionen, die sie stützen, und eine Institution baut auf Mentalitäten, die gleichsam der geistig-seelische Unterbau sanktionsgestützter Erwartungsbefolgung sind. Bei jedem Institutionentransfer muß man aber nicht nur mit Änderungen der Wirkungsrichtung aufgrund mangelnder Einbettung, sondern auch mit Rückwirkungen aufgrund selektiver Verstärkungen durch das Rezeptionsmilieu rechnen. Beides blieb auch bei der Übertragung des westdeutschen Hochschulsystems auf Ostdeutschland nicht aus.
Mich interessieren nicht die Folgen mangelnder Einbettung, sondern die selektiven Verstärkungen, die aus dem Osten auf den Westen wirken. Sie finden ihren sichtbarsten Ausdruck in der ostdeutschen Hochschulgesetzgebung Ostdeutsche Hochschulen waren vor der Einigung trotz ihres erheblichen Beitrages zur Forschung lehrzentrierte Organisationen mit starken Leitungen und mit vorwiegend anwendungsorientierten, berufspraktischen Ausbildungsgängen. Ostdeutsche Hochschulpolitiker verstärken gegenwärtig genau diese Elemente der zuvor westdeutschen, jetzt gesamtdeutschen Reformdiskussion.
So wichtig eine Reform von Lehre und Studium sowie von innerorganisatorischen Entscheidungsprozessen auch ist, so wenig dürfte sich, ändern, wenn man nicht zu einer strukturellen Reform des gesamtdeutschen Hochschulwesens bereit ist. Diese freilich kostet Geld. Denn strukturelle Reform heißt erstens, daß die Institutionen des tertiären Bereichs nicht weiter einander angeglichen oder gar fusioniert, sondern schärfer funktional und strukturell differenziert werden (Stichwort: Ausbau der Fachhochschulen und verwandter Einrichtungen). Strukturelle Reform heißt zweitens, daß die Universitäten zu einer nicht bloß okkasionellen „Zwei-PhasenStruktur für die Lehre“ übergehen (Stichwort: Ausbau des Graduiertenstudiums) Die Konsequenzen aus den gestiegenen und vermutlich weiter steigenden Studentenzahlen und den überlangen Studien-zeiten sollten in meiner Sicht nicht sein, die Studentenzahlen zu drosseln oder die Zugänge zum tertiären Bereich durch allgemeine Eingangsprüfungen zu versperren, sondern die Studierfähigkeit durch eine Reform der gymnasialen Oberstufe zu erhöhen (Stichwort: Fächerkanon und die Ausbildungsangebote im tertiären Bereich durch eine Reihe verschiedenartiger Institutionen zu verbreitern. Dies schließt ein, daß die Universität ihr eigenes Angebot im Sinne des vom Wissenschaftsrat jüngst vorgeschlagenen Zwei-Phasen-Modells in ein erstes, berufsbezogenes und in ein zweites, forschungsbezogenes und zugleich zugangskontrolliertes Studium ausdifferenziert. Die Sonderstellung der Universität im. Konzert der Institutionen des tertiären Bereichs sollte sich in Zukunft nicht länger in erster Linie mit dem Angebot der ersten, sondern mit dem der zweiten Phase begründen. Zwar muß sich auch das Angebot der ersten Phase von dem anderer Institutionen, insbesondere von dem der Fachhochschulen, unterscheiden. Und die „differentia specifica" bleiben hier eine gewisse Entspezialisierung und der intensivere Wissenschaftsbezug des Universitätsstudiums. Aber die damit angestrebte Verbindung von Ausbildung und Bildung fordert auch ihre Opfer. Es gehört zu den Aufgaben der Bildungspolitik, daß man auch diese den Studierwilligen und der Öffentlichkeit deutlicher vor Augen stellt.
Der Wissenschaftsrat betont in seinen im Januar 1993 verabschiedeten 10 Thesen zur Hochschulpolitik meines Erachtens zu Recht, daß die erste Ausbildungsphase an der Universität eben nicht dazu diene, Berufsfertigkeiten zu vermitteln, sondern „eine nicht auf spezifische Berufe beschränkte Berufsfähigkeit (zu) erzielen“ Wer einen ersten Universitätsabschluß erwirbt, hat eben in der Regel noch keinen Beruf. Es muß aber auch klar sein, daß für die meisten Studierenden die Universitätsausbildung nach dieser ersten Phase endet Dann setzt ein Berufsfindungsprozeß ein, der Zeit braucht und unter Umständen auch den Erwerb von Zusatzqualifikationen außerhalb der Universität verlangt. Je früher der erste Abschluß also erfolgt, desto besser. Die langen Studienzeiten sind ja vor allem deshalb schädlich, weil sich dadurch die aufgrund der Entkoppelung von tertiärem Bereich und Beschäftigungssystem immer schwieriger gewordene Berufsfindung bei vielen ins vierte Lebensjahrzehnt verschiebt. Um aber die Studierwilligen auf die Institutionen des tertiären Bereichs besser zu verteilen, müßten die Zuordnungen von tertiärem Bereich und Berufsstruktur, insbesondere im öffentlichen Dienst, neu geregelt werden (Stichwort: Eingangsbesoldungen). All dies ist bekannt und wird seit Jahren, fast Jahrzehnten diskutiert. Neu ist die Verengung der Diskussion auf angeblich schlechte Lehre und dadurch bewirkte überlange Studienzeiten. In der neu entfachten Reformdebatte müssen die Universitäten deshalb aus meiner Sicht vor allem darauf dringen, daß sie endlich auch in den Stand gesetzt werden, ein vollwertiges Graduiertenstudium aufzubauen. Denn dies ist ihr eigentliches Feld: Es läßt sich nur mittels der Einheit von Forschung und Lehre und der Einheit von Lehrenden und Lernenden angemessen bestellen. Nur wenn mit der Zwei-Phasen-Struktur für die universitäre Lehre wirklich ernst gemacht wird, kehrt vielleicht dereinst der aus der westdeutschen Massenuniversität und aus der instrumentalisierten DDR-Universität vertriebene Geist Humboldts nicht nur als bloßes Gespenst in die nun gesamtdeutschen Universitäten zurück.