Drei Jahre nach der Neugestaltung der Forschungs-und Hochschullandschaft in den neuen Ländern wird eine erste Bestandsaufnahme versucht. Er werden zwei Forschungssektoren unterschieden, erkenntnis-orientierte und aufgabenorientierte Forschung. Erkenntnisorientierte Forschung ist in erster Linie an den Universitäten angesiedelt. Man wird beim Ausbau der Universitäten sorgsam darauf achten müssen, daß nicht aus regionalpolitischen Gründen mehr Dispersion als erwünschte Konzentration und Differenzierung für die universitäre Grundlagenforschung entsteht. An vielen Universitäten der neuen Länder wird die Umstrukturierung genutzt, um fachlich-inhaltlich neue Akzente zu setzen. Es besteht jedoch die große Gefahr, daß diese Dynamik unter der gegenwärtigen Finanzmisere im Wissenschafts-und Hochschulbereich zusammenbricht und kaum zu reparierende Strukturschäden hinterläßt. Die neu gegründeten Fachhochschulen konnten erstaunlich rasch einen attraktiven Lehrbetrieb aufnehmen, obwohl ihnen zur Zeit die Kooperation mit einer produzierenden Industrie fehlt. Die Veränderungen in Ostdeutschland werden im Kontext einer gesamtdeutschen Hochschulreform diskutiert, die nicht nur eine Universitäts-, sondern eine Strukturreform des tertiären Bildungssystems umfassen muß. Die aufgabenorientierte Forschung von nationaler und internationaler Bedeutung wurde in außeruniversitären Forschungseinrichtungen institutionalisiert. Diese Institute bieten nahezu 12000 Wissenschaftlern gute und moderne Arbeitsmöglichkeiten. Bei dem langfristig wachsenden gesellschaftspolitischen Bedarf an aufgabenorientierter Forschung bilden sie ein zukunftsorientiertes Forschungspotential, das es im gesamtdeutschen Interesse zu unterhalten und zu festigen gilt. In einer beeindruckenden Anstrengung haben Bund und Länder in den neuen Ländern eine tragfähige Wissenschaftsstruktur geschaffen, die jetzt durch interne Reformen für zukunftsorientierte Forschung und Lehre auszurüsten ist.
Die Umstrukturierung der Forschungs-und Hochschullandschaft in Ostdeutschland im Kontext einengesamtdeutschen Hochschulreform
I. Vorbemerkungen
Ende der achtziger Jahre trieb den Wissenschaftsrat eine Sorge um, die aus heutiger Sicht weltfremd anmutet. Alle Auguren, von den Kultusministern über die Bund-Länder-Kommission bis zur Westdeutschen Hochschulrektorenkonferenz, sprachen davon, daß in den neunziger Jahren die Studenten-zahlen in Westdeutschland rasch sinken würden. Der Wissenschaftsrat hat daher zur Zukunft der Hochschulen in der damaligen Bundesrepublik mit der Empfehlung Stellung genommen, bei dem erwarteten demographisch bedingten Ausbleiben der Studentenströme den Bestand an Hochschullehrern für intensivere Forschung und verbesserte Lehre zu halten. Schon bei ihrem Erscheinen im Jahr 1988 wurde klar, daß die Prognosen falsch waren und wir mit einem langfristig steigenden Anteil eines Altersjahrgangs zu rechnen haben, der eine wissenschaftliche Ausbildung anstrebt.
Im Anschluß an diese wichtige, aber wirkungslos gebliebene Empfehlung begannen in der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats Diskussionen über eine längst überfällige Hochschulreform -zur gleichen Zeit, als ihn im Sommer 1990 der Auftrag der beiden deutschen Regierungen ereilte, Empfehlungen für die Eingliederung der DDR-Forschungs-und Hochschulstrukturen in ein gemeinsames System zu erarbeiten: Die Wiedervereinigung überraschte den Wissenschaftsrat mitten in seinen Überlegungen, wie das Hochschulsystem der alten Bundesrepublik im Kontext außeruniversitärer Forschungseinrichtungen an den bleibenden, „massenhaften“ Ausbildungsbedarf anzupassen sei. Hierzu gehören die Empfehlungen zum qualitativen und quantitativen Ausbau der Fachhochschulen von 1990 und zur Zusammenarbeit zwischen Großforschung und Hochschulen von 1991, die alle vor der Wiedervereinigung erarbeitet wurden.
Nichts lag daher für die Wissenschaftler im Wissenschaftsrat näher, als diese historisch einmalige Aufgabe zu einer gesamtdeutschen Umstrukturierung der Forschungs-und Hochschullandschaft zu nutzen. Doch schon die ersten Planungen zeigten, daß diese Absicht zum Scheitern verurteilt war, denn sie käme dem Versuch gleich, einen Super-tanker in schwerster See bei voller Beladung zu einem Luxusliner umbauen zu wollen. Außerdem sprachen politische Gründe und die von den Betroffenen kaum zu ertragende Unsicherheit über ihre Zukunft für eine rasche Eingliederung
Der Wissenschaftsrat hat deshalb für die Umstrukturierung des Forschungs-und Hochschulsystems der ehemaligen DDR die Organistionsformen der alten Bundesrepublik übernommen und somit strukturell nichts Neues geschaffen. Wo immer er versucht hat, vom altbundesrepublikanischen Pfad der Tugend abzuweichen, mußte er das bitter bereuen (nur mit Mühe entstand ein Institut für angewandte Chemie in Berlin-Adlershof, und für die geisteswissenschaftlichen Zentren wird noch immer nach einer Lösung gesucht). Zur Erleichterung des Integrationsprozesses und des Übergangs von einer zentralistischen in eine föderale Struktur hat der Wissenschaftsrat allerdings ein umfangreiches Hochschulerneuerungsprogramm (HEP) und das Wissenschaftlerintegrationsprogramm (WIP) vorgeschlagen. Letzteres sollte ausgewiesene Wissenschaftlergruppen aus den Akademien in die Hochschulen der neuen Länder eingliedern. Das noch laufende HEP wird von den Universitätskanzlern als besonders hilfreich empfunden, weil es ohne große bürokratische Hürden dringend notwendige Gebäudesanierungen und Aufbauarbeiten rasch auszuführen erlaubt. Die Verlängerung dieses Programms um weitere drei Jahre wäre für die Konsolidierung der Hochschulen in Ostdeutschland dringend geboten.
Die Entscheidung, die bestehenden Strukturen auch auf die neuen Länder zu übertragen, erweist sich aus heutiger Sicht als die einzig richtige und mögliche. Nur so konnten noch größere menschliche Härten vermieden und die Empfehlungen in wenig mehr als einem Jahr erarbeitet werden, was den Bund und die Länder in die Lage versetzte, aus Papier Institute und Arbeitsplätze werden zu lassen: Es ist eine denkwürdige Gemeinschaftsleistung der beteiligten Wissenschaftler und der Beamten des Bundes und der Länder, daß mit den Neujahrsglocken des Jahres 1992 nach einer „Konzeptionszeit“ von nur 15 Monaten die meisten neuen Forschungsinstitute -ca. 130 -das Licht der Welt erblickten. Diese „Gnade der frühen Geburt“ wird besonders augenfällig, wenn man heute die staatlich unterhaltene Forschung mit der in der Industrie oder mit anderen Arbeitsbereichen in den neuen Ländern vergleicht. Im Eingliederungsprozeß der Wissenschaften hat die Exekutive gezeigt, zu welchen Kraftanstrengungen sie in der Lage ist, wenn sie ein starker politischer Wille beflügelt.
Forschung wird mit zwei unterschiedlichen Zielsetzungen betrieben, denen zufolge die Art des Forschens und der Arbeitsabläufe unterschiedlich gestaltet werden. Wir kennen 1. die aufgabenbezogene (zweckorientierte) Forschung, die nutzbare Lösungen in überschaubarer Zeit für Probleme sucht, die ihr aus der Gesellschaft und Wirtschaft vorgegeben werden. Das Finden praktikabler Lösungen für solche Aufgaben verlangt von den Forschern hohe Denkflexibilität, Improvisationsfähigkeit, die Bereitschaft, immer wieder neue Ansätze auszuprobieren und die Fähigkeit, verschiedene Aspekte aus unterschiedlichen Disziplinen zu einem Gebrauchswert zusammenzuführen. 2. die erkenntnisorientierte Forschung, die wissenschaftsimmanente Fragen zu beantworten sucht. Diese Art von Forschung verlangt das zähe, manchmal jahrzehntelange Durchtesten einer Hypothese oder Theorie, die unermüdliche Attacke auf die unbeantwortete Frage mit immer wieder anderen, neuen Methoden.
Bewußt sind die Begriffe Grundlagen-und angewandte Forschung vermieden worden, weil beide zieldefinierte Forschungsarten in wechselnden Proportionen und Phasen einmal Grundlagen-, ein andermal angewandte Forschung betreiben. Im folgenden geht es zuerst um die erkenntnisorientierte Forschung.
II. Organisation erkenntnisorientierter Forschung
In der Bundesrepublik findet erkenntnisorientierte Forschung in einer von der Wissenschaft selbst bestimmten Breite an Disziplinen und Themen in den Hochschulen und bei der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) statt. Die Universitäten besitzen ein nationales Ausbildungsmonopol; nur sie haben mit der Promotion das Recht, Forscher für alle Sparten, von der Industrie-bis zur Universitätsforschung, auszubilden. Dieses Monopol und die Tatsache, daß nur der Erkenntnisfortschritt Schlüsselinnovationen erzeugt, machen die Hochschulen zur Schlagader unseres Wissenschaftsorganismus. 1. Die Hochschulen in den neuen Ländern Entgegen der öffentlichen Meinung hat der Wissenschaftsrat die Hochschulen der DDR nicht evaluiert. Er hat sich allerdings differenziert zu deren künftiger Struktur geäußert und für große Fächer-gruppen inhaltliche und lehr-und forschungsgestalterische Perspektiven entwickelt, die gesamtdeutsche Geltung beanspruchen können.
Universitäten Der Grundtenor zum Universitätsausbau lautete beim Wissenschaftsrat: lieber wenige schöne Schwäne, als viele halbverhungerte Vögel. Anstelle der ursprünglich vorgeschlagenen zehn gibt es in den neuen Ländern jetzt fünfzehn Universitäten. Beim quantitativen Ausbau der Universitäten hat sich die Planungshoheit der Länder eindeutig gegen die wissenschaftspolitische Argumentation des Wissenschaftsrats durchgesetzt, der oft genug vor vollendete Tatsachen gestellt wurde und letztlich allen Neugründungen zugestimmt hat, weil eine Verweigerung bereits vollzogene Investitionen sinnlos gemacht und schon berufene Wissenschaftler in eine unhaltbare Situation gebracht hätte.
Dieses -in der Menge -erstaunliche Bekenntnis zur Wissenschaft und zu hochqualifizierter Ausbildung war also eher regional-als wissenschaftspolitisch motiviert und hat mehr Dispersion als erwünschte Konzentration und Differenzierung erzeugt. Die Sorge, daß aus diesem stürmischen Wissenschaftsdrang letztlich nur Magerrasen sprieße, ist noch längst nicht verflogen. So machen sich z. B. die Verantwortlichen des Universitätsdreiecks Halle, Leipzig, Jena Gedanken darüber, wie durch differenzierte Kooperation die Kosten geB senkt werden können. Der Wissenschaftsrat bemüht sich um eine inhaltliche Differenzierung der Medizinischen Fakultäten von Magdeburg, Halle, Leipzig und Jena. Andererseits wurden Vorschläge zu kostensparender Differenzierung in den Wind geschlagen: Die Universitäten Greifswald und Rostock verfügen jetzt jeweils über eine eigene juristische Fakultät, und beide sollen künftig auch eine eigene Zahnmedizin haben. Der Wissenschaftsrat hat der Universität Potsdam empfohlen, keine Informatik und keine Wirtschaftswissenschaften aufzubauen, weil dies in Cottbus bzw. in Frankfurt/Oder bereits geschieht. Wie man hört, werden in Potsdam dennoch Informatik und Wirtschaftswissenschaften etabliert. Es paßt ins Bild, daß die neuen Länder jährlich für den Hochschulbau 1, 9 Milliarden D-Mark benötigen, eine Summe, von der niemand sagen kann, wann sie von wem wie finanziert wird.
Dabei wäre es dringlicher denn je, daß innerhalb und über Ländergrenzen hinweg regional kooperiert und geldsparend differenziert würde. Durch die Schaffung von Wissenschaftsregionen unter Einbeziehung der Fachhochschulen und außeruniversitären Forschung bis hinein in die regionale Industrie könnten beachtliche dynamische Forschungsschwerpunkte entstehen, was bei einer entsprechenden Durchlässigkeit auch eine Belebung des Bildungssystems -auf sparsame Weise -zur Folge hätte. Leider ist die anfängliche Solidarität zwischen den neuen Ländern rasch der sattsam bekannten Konkurrenz gewichen. Dadurch werden Absprachen und die gegenseitige Stützung selbst nahegelegener Universitäten erschwert, wenn zwischen ihnen eine Ländergrenze liegt. So haben z. B. ergänzende Differenzierungen und Absprachen zwischen Potsdam und Berlin Seltenheitswert.
Der Wissenschaftsrat hat für den quantitativen Ausbau und die inhaltliche Ausgestaltung der Hochschulen fachgruppenspezifische Rahmen abgesteckt und Empfehlungen ausgesprochen, die in ihrem allgemeinen Teil bundesweite Geltung beanspruchen können. Im übrigen hat er die konkreten Konzeptionen und Umsetzungen den von ihm empfohlenen Hochschulstrukturkommissionen der Länder überlassen. Diese Kommissionen haben rasch und vom Wissenschaftsrat unabhängig gearbeitet, wobei sie die Rahmenempfehlungen des Wissenschaftsrates in unterschiedlichem Grade umsetzten. Es gab ausgesprochen wissenschaftsorientierte Kommissionen, wie z. B. die des Landes Berlin, deren Vorschläge weitgehend kongruent mit denen des Wissenschaftsrates sind. Andere Kommissionen berücksichtigten in stärkerem Maße politische und regionale Wünsche oder zeigten die
Handschrift eines westdeutschen „Patenlandes“ -bis hinein in die Berufungslisten. Trotz mancher Unzulänglichkeiten haben aber die Hochschulstrukturkommissionen in den einzelnen Bundesländern eine lebendige Hochschullandschaft entstehen lassen, die günstige Entwicklungsmöglichkeiten böte, wenn diese denn von den Ländern auch langfristig finanziert werden könnten. Hier ist die Richtlinienkompetenz der Ministerpräsidenten gefordert, die ihren Finanzministern den Weg weisen müssen von den mageren vier Prozent des Hochschuletats am Landeshaushalt (z. B. Mecklenburg-Vorpommern) zu den immer noch schlanken 8, 5 Prozent des Landes Bayern.
Die Umstrukturierung wird von vielen Unversitäten der neuen Länder genutzt, um fachlich-inhaltlich neue Akzente zu setzen. So baut z. B. Greifswald nach anfänglichen Widerständen in seiner Medizinischen Fakultät den Schwerpunkt Gesundheitsfürsorge (community medicine) auf. An der neuen TU Cottbus wird versucht, unter ökologischen Gesichtspunkten zwischen den klassischen technischen Disziplinen mehr Interdisziplinarität aufzubauen, und in Frankfurt/Oder sollen juristisch-wirtschaftswissenschaftliche Inhalte mit kulturwissenschaftlichen verknüpft werden. Man wird sehen, wie sich diese Ansätze weiterentwickeln.
In weit stärkerem Maße als in den alten entstehen in den neuen Ländern universitäre Binnenstrukturen, die für moderne Forschung geeignet sind. Dies wirkt sich besonders erfreulich in der Medizin aus, wo die Erfahrung aus DDR-Zeiten mit der Einbindung naturwissenschaftlicher Forschung in die Kliniken genutzt wird, um im Westen seit langem angestrebte und bisher nur zögerlich durchgesetzte Forschungsstrukturen für klinische Forschung aufzubauen. So haben z. B. Naturwissenschaftler und Mediziner der Charite ein Modell interdisziplinärer Forschung erdacht, das auf der Basis externer und interner Evaluierung Forschungsmittel nach Leistungsfähigkeit an Projektgruppen vergibt. Jedes Forschungsprojekt muß nach einem Jahr Drittmittel eingeworben haben, wenn es weiterhin aus dem Universitätshaushalt unterstützt werden will. Durch ein Bonussystem werden Drittmitteleinwerbung und international beachtete Erfolge belohnt. Durch Freistellungen und Rotationen erhalten junge Ärzte endlich zusammenhängende Zeitabschnitte für Forschung und Naturwissenschaftler einen Einblick in die Probleme der Klinik. Mit solchen Konzepten wird nicht nur Grundlagenforschung in die Klinik zurückgeholt, sondern generell universitäre Forschung dem nationalen und internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Solche neuartigen Formen der Forschungsorganisation in den Universitäten, die Forschung vor dem Sog kollegialer Mittelverteilungen in den Fakultäten schützen und sich nach außen dem Wettbewerb und der Kooperation öffnen, werden entscheiden, ob die Universitäten in Ost-und Westdeutschland ihre Forschungskompetenz wahren können. Es wäre daher ein im wahrsten Sinne des Wortes „billiger“ Sieg der Vernunft, wenn die in den Universitäten der neuen Länder erkennbaren Ansätze zu neuartigen Forschungsstrukturen sich zu einer Flutwelle entwickelten, die überkommene Formen einer versinkenden Gelehrtenwelt über-spülte. Durch solche Strukturreformen können die neuen Länder trotz des enormen Nachholbedarfs bei den Investitionen und der gegenwärtigen, historisch bedingten Immobilität im Personalbereich für moderne, interdisziplinäre Forschung attraktiv werden.
Die Hochschulleitungen in den neuen Ländern sind nicht zu beneiden. Sie sitzen in einer Schraubzwinge unzureichender Finanzausstattung für die Sanierung der Bausubstanz und fiskalisch bedingter Entlassungswellen. Zur menschlichen Belastung kommen noch kafkaeske Auswüchse bürokratischer Bevormundung hinzu, die den Aufbau-willen zu vergiften drohen. Wenn sich jedoch Kraft mit Phantasie paart, können aus solchen Notlagen Strukturveränderungen entstehen, die Pilotfunktion für die ganze Bundesrepublik haben. Trotz aller Schwierigkeiten herrscht Aufbruchstimmung in vielen Fakultäten. So hat alleine Halle fünf Forschungszentren gegründet. Von einer Auswanderung der Forschung aus den Universitäten der neuen Länder oder von einem spezifischen Mangel an universitärer Forschung, wie das in der Öffentlichkeit immer wieder dargestellt wird, kann überhaupt keine Rede sein. Das beweisen schon die eindrucksvollen Zahlen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): 1993 wurden 44Prozent (im Westen 45 Prozent) der Anträge von Forschern aus den neuen Ländern bewilligt, und es gibt heute schon sieben Sonderforschungsbereiche und 16 Graduiertenkollegs.
Die DDR-Universitäten zeichneten sich durch gute Formen der Lehre, eine intensive Betreuung der Studenten bis hin zur Promotion und durch Möglichkeiten des Fernstudiums aus. Es war daher falsch, die guten Lehrstrukturen noch nicht einmal im Ansatz zu erhalten. Initiativen zur Konzeption und Einrichtung moderner und forschungsadäquater Lehrformen bedürften, ähnlich wie dies in der Forschung selbstverständlich ist, der Anreize durch Drittmittelförderung. Leider konnten sich die Länder aus föderalistischen Erwägungen heraus nicht dazu verstehen, ein vom Bund befürwortetes Förderinstrument für Hochschullehre aufzubauen. Im übrigen wird sich in wenigen Jahren auch in den neuen Ländern die verhängnisvolle, Lehrqualität vernichtende Wirkung der Kapazitätsverordnung (die Studentenzahl wird strikt an die Zahl des wissenschaftlichen Personals gekoppelt) wie Mehltau auf die Hörsäle, Seminare und Labors legen.
Dennoch läßt sich ein durchaus vorhandener Spielraum im Rahmen des Hochschulrahmengesetzes (HRG) in Forschung und Lehre nutzen, um die interne Umstrukturierung der Fakultäten und Universitäten voranzutreiben. Das Land Sachsen hat die 10 Thesen des Wissenschaftsrats ernst genommen und ein bemerkenswertes Hochschulgesetz verabschiedet und jetzt sogar den Entwurf für ein Gesetz zum Graduiertenstudium vorgelegt, in dem zum erstenmal der Graduiertenstatus -der Doktorand als juristische Person -eingeführt wird und die Rechte und Pflichten eines solchen Doktoranden verankert werden.
Fachhochschulen Die Fachhochschulen, für die neuen Länder ein vergleichsweise neuer Hochschultyp, haben sich am problemlosesten und erfreulichsten entwickelt, auch dort, wo sich zunächst Enttäuschung über eine ausbleibende Empfehlung für einen Universitätsstatus breitgemacht hatte. Die neuen Länder haben das Konzept des Wissenschaftsrats für einen raschen, regionalbezogenen Aufbau der Fachhochschulen zu ihrem eigenen gemacht und in kürzester Zeit insgesamt 25 Fachhochschulen gegründet.
Fachhochschulen haben sich im Auf-und Einbau internationaler Aspekte, bei der Entwicklung neuer Studiengänge und bei der Einbeziehung des Fernstudiums für Fort-und Weiterbildung flexibler und dynamischer verhalten als die Universitäten. Allerdings entwickelten sich neue Studiengänge weitgehend innerhalb klassischer Disziplinen. Die neuen Länder haben den Neuaufbau und ihre Gesetzgebung genutzt und die Fachhochschulen so konzipiert, daß an ihnen auch Forschungsund Entwicklungsarbeiten möglich sind, was im Westen erst noch durchgesetzt werden muß. Sachsen erwägt sogar die Einführung des wissenschaftlichen Mitarbeiters an den Fachhochschulen.
Manche zentralen Aspekte einer Bildungsreform bleiben allerdings vor den dicken Mauern der Innenministerien liegen. Mehrere Jahre wurde z. B.der wiederholt vorgetragene Vorschlag des Wissenschaftsrates geprüft, für Universitäts-und Fachhochschulabsolventen im öffentlichen Dienst eine einheitliche Besoldungseingangsstufe einzurichten. Vor einigen Wochen teilte der Innenminister mit, daß er keine Möglichkeiten für eine solche Regelung sehe. Damit ist der anhaltende Ausbildungsdruck auf die Universität, als dem alleinigen Eingang in den höheren Dienst, wider alle Vernunft und trotz veränderter Qualifikationsprofile weiterhin festgeschrieben. So ersticken Besitzstandswahrung und Verwaltungskategorien aufkeimende Bildungsreformen schon im Ansatz. Die Aktivitäten der Max-Planck-Gesellschaft in den neuen Ländern Die Max-Planck-Gesellschaft ist nicht nur eine der international bedeutendsten Organisationen für erkenntnisorientierte Forschung, sondern in wachsendem Maße auch eine erstklassige Ausbildungsstätte für Diplomanden und Doktoranden. Die Kooperation der Max-Planck-Institute mit den Universitäten erhält dadurch ein besonderes Gewicht. Die Universitäten sollten darauf drängen, daß Direktoren und Abteilungsleiter von Max-Planck-Instituten als Mitglieder ihrer Fakultäten mit einer Lehrbelastung von ca. zwei Semesterwochenstunden belegt werden. Sie würden damit qualitativ hochstehendes Forschungspotential und zusätzliche Ideenvielfalt an ihre Hochschule binden und damit ihre eigene Attraktivität für den guten Nachwuchs erhöhen. Eine entsprechende Rahmenvereinbarung zwischen Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und MPG könnte die Kooperationsbereitschaft erhöhen.
Die Max-Planck-Gesellschaft wird mit den 29 Max-Planck-Arbeitsgruppen einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Universitätsforschung in den neuen Ländern geleistet haben, wenn deren Integration in die Hochschulen nicht an den Finanzministern scheitert. Die MPG ist in der Vergangenheit immer wieder wegen ihres vorsichtigen Aufbaus von Instituten in den neuen Ländern kritisiert worden. Es gibt inzwischen acht Max-Planck-Institute in den neuen Ländern. Die Spitzenstellung der MPG in der deutschen Forschungslandschaft basiert auf der Regel, ein wünschenswertes Forschungsgebiet nur dann einzurichten, wenn hierfür eine herausragende Forscherpersönlichkeit gewonnen werden kann. Aus diesem „Harnack-Prinzip“ 2 leitet sich die zurückhaltende Gründungspolitik der MPG ab. Sie ist letztlich auch im wohlverstandenen Interesse der neuen Länder, die am allerwe-nigsten an hurtig gegründeten Max-Planck-Instituten zweiter Klasse interessiert sein können. 3. Die gesamtdeutsche Hochschulreform Die Landesgesetze sind in den neuen Ländern erlassen worden, die Forschungs-und Hochschulstrukturen gleichen sich inzwischen in Ost-und Westdeutschland. Damit konnte der Wissenschaftsrat die Beschäftigung mit der Hochschulreform an der Stelle wieder aufnehmen, wo er sie 1990 hatte liegenlassen müssen. Schon im Januar 1993 hat er mit seinen 10 Thesen zur Hochschulpolitik die Debatte wieder angestoßen, die vor allem von der Hochschulrektorenkonferenz weitergeführt und mit Leben erfüllt wurde. Gefordert wird von allen Beteiligten eine Hochschulstrukturund eine Universitätsreform.
Da der Bedarf an praxisorientierter wissenschaftlicher Ausbildung in einem hochindustrialisierten Land notwendigerweise wächst, müssen die Fachhochschulen so ausgebaut werden, daß sie in naher Zukunft 40 bis 50 Prozent der Studenten aufnehmen können. Die Fachhochschul-Studiengänge sollen um neue Berufsfelder in der Rechts-, Gesundheits-und Naturpflege erweitert werden. Durch berufsbegleitende Studiengänge, wie sie die Fachhochschulen vor kurzem mit Industrieverbänden vereinbart haben, und durch Berufsakademien kann die berufliche mit wissenschaftlicher Ausbildung enger verzahnt und das tertiäre für das duale Bildungssystem durchlässig gemacht werden.
Obwohl dieser Umbau von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft einmütig und energisch gefordert wird, vollzieht er sich zur Zeit so langsam, daß frühestens unsere Urenkel in den Genuß dieser bildungspolitischen Einsichten kommen werden.
Die Universitäten sollten in vier Bereichen -in der Forschungs-und der Personalstruktur, der Lehre sowie in der Führungsstruktur -gleichzeitig reformiert werden.
Reform der Forschungsstrukturen Wie schon ausgeführt, brauchen wir Universitätsstrukturen, die Forschung im Wettbewerb um Raum, Geld und Personal ermöglichen und vergleichend evaluierte Forschungsprojekte gegen das Abfließen ihrer Ressourcen für die Bedürfnisse der weniger erfolgreichen Fakultätskollegen abdichten. Die Hochschulrektorenkonferenz hat hierfür die Einrichtung von Forschungskollegs vorgeschlagen, die sich u. a. nach außen dem Wettbewerb öffnen und gegenüber den Fakultäten eine zeitlich begrenzte finanzielle Autonomie genießen sollen. Mehr und mehr Universitäten beginnen, Forschungszentren mit ähnlichen Strukturmerkmalen einzurichten, die gleichzeitig das interdisziplinäre Arbeiten und die Konzentration der Mittel auf besonders erfolgversprechende Projekte erleichtern.
Reform der Personalstruktur Die Situation der Doktoranden, wissenschaftlichen Mitarbeiter, Assistenten und Habilitanden entspricht seit langem nicht mehr den Erfordernissen heutiger Forschung. Die Studenten kommen zu spät in die Forschungslabors und promovieren heute in einem Alter, in dem ihre Väter sich habilitierten. Die Doktoranden sind wirtschaftlich unzureichend abgesichert, obwohl sie einen beachtlichen Teil der Forschungsleistung erbringen. Das Tor zur Bewerbung um eine Professur öffnet sich mit der Habilitation im Alter von heute durchschnittlich 40 Jahren, wenn sich also die produktivste Lebensphase dem Ende zuneigt. Dieser späte Einstieg in die Wissenschaft -das zu späte „Nachwachsendürfen“ -ist nicht nur für die Lebenspla•nung der Betroffenen katastrophal, sondern auch eine volkswirtschaftliche Verschwendung von Kreativität und „human Capital“, wie die in der Wissenschaft tätigen Menschen bezeichnenderweise genannt werden.
Der Wissenschaftsrat beschäftigt sich zur Zeit mit der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Zwei Ziele muß eine Personalstrukturreform wenigstens erreichen: Erstens geht es darum, den Doktorandenstatus an den Universitäten rechtlich abzusichern und für ein erträgliches Auskommen der Doktoranden zu sorgen. Zweitens muß den an den Universitäten forschenden und in beachtlichem Umfang lehrenden Postdoktoranden möglichst frühzeitig Selbständigkeit gewährt und dadurch deren Eigeninitiative gefördert werden. Das formale Habilitationsverfahren ist hierfür weder hilfreich noch notwendig.
Reform der Lehre Die Studienreform wird in der Öffentlichkeit als Verkürzung der 1'Studienzeit wahrgenommen. Diese Verkürzung bietet jedoch nur den äußeren Rahmen für eine seit Jahrzehnten überfällige Reform der Studieninhalte und Lehrformen.
Obwohl der Wissenskanon in den meisten Disziplinen längst jede Lernkapazität hinter sich gelassen hat, bestehen die Grundstudien wie zu Beginn dieses Jahrhunderts hauptsächlich aus Wissensvermittlung und passiver Rezeption. Am Ende unseres Jahrhunderts fordert wissenschaftliche Ausbildung jedoch etwas Anspruchsvolleres: Die Studenten müssen vom ersten Tag an lernen, sich aus Druckwerken und elektronischen Medien das Wissen herauszufiltern, das zur Klärung einer wissenschaftlichen Frage taugt, sie müssen lernen, wie man Daten auf ihre Gültigkeit prüft, an bestehenden Hypothesen spiegelt und neue entwickelt und wie man Experimente entwirft, die auf Hypothesen eindeutige Antworten geben -kurz: wie man professionell und selbständig wissenschaftlich arbeitet. Das Lehren wissenschaftlicher Prozesse und Erziehen zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit verlangt die aktive Teilnahme der Studenten. Projektstudien oder interaktive Computersimulationen bieten z. B. günstige Möglichkeiten für das Üben und Überprüfen eigener Fähigkeiten. Aber wie auch immer eine solche Lehre gestaltet wird, sie hat die persönliche, intensive Betreuung zur Voraussetzung.
Da es in absehbarer Zeit keine Stellenzuwächse geben wird und Lehrtätigkeit einer Karriere als Hochschullehrer eher schadet als nützt, ist auf lange Zeit niemand in Sicht, der diese überfällige und zudem aufwendige Lehrreform bewältigen könnte. Im beharrlichen Verdrängen dieser Tatsache liegt der schwerwiegendste Mangel der Reformbemühungen des Wissenschaftsrates, der Hochschulrektorenkonferenz und der Kultusminister. Die Lehre ist aber das Herzstück jeder Universitätsreform. Die frühe Selbständigkeit des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Möglichkeiten, in seiner Hochschulkarriere den Schwerpunkt auf die forschende Lehre zu legen, würden erstaunliche Lehrkreativität freisetzen und in der wissenschaftlichen Ausbildung einen Qualitätssprung zur Folge haben.
Reform der Leitungsstrukturen Die Führungsstrukturen müssen es einer Universität erlauben, ihre materiellen und personellen Ressourcen selbständig so einzusetzen, daß sie ein eigenes Forschungs-und Lehrprofil entwickeln kann Drei Veränderungen, die nur zusammen Wirkung entfalten können, ermöglichen eine leistungsfördernde Steuerung: -entscheidungsfähige Präsidialorgane und Dekane, d. h. Beschränkung der Zuständigkeiten von Kollegialorganen auf Grundsätzliches;
-Globalhaushalte, die es den Universitäten erlauben, eigenverantwortlich ihre Finanzkraft dort einzusetzen, wo sie sich für die Erfüllung ihrer Aufgaben den größten Nutzen versprechen;
-die Erstellung von Forschungs-und Lehrberichten mit externer Begutachtung, um Qualitätsprofile und -defizite identifizieren zu können.
Die Wirkung solcher Steuerinstrumente hängt freilich auch vom Leistungsbewußtsein der „Gesteuerten“ ab. Dies ließe sich sprunghaft steigern, wenn sich in der persönlichen Vergütung nicht das Dienstalter, sondern erbrachte Leistung in Lehre und Forschung widerspiegelten. Diese nicht gerade neue Erkenntnis prallt bislang spurlos an der Schildermauer dogmatischer Unfehlbarkeit einer geschlossenen Beamtenphalanx der Innenministerien ab. Dieses starre Verharren in behäbigen Privilegien schädigt den „Standort Deutschland“ weit mehr und nachhaltiger, als dies selbst die heftigsten Lohnkämpfe und die sicherheitsbesessensten Kreditinstitute je vermöchten.
In der Evolution der Organismen zogen oft kleine, unscheinbare Mutationen eine Kette anderer nach sich und schufen so eine neue, höhere Lebensform. Die oben dargestellten, weitgehend kostenneutralen Änderungen des Steuerungssystems für Lehre und Forschung sind solche Schlüsselveränderungen, die die Universitäten in eine neue Dynamik und Lebendigkeit führen würden.
III. Aufgabenorientierte Forschung
Was ist aus den rund 31000 Arbeitsplätzen (davon 12000 Wissenschaftler) geworden, die der Wissenschaftsrat bei der Evaluierung der Institute der Bau-, Landwirtschafts-und Wissenschaftsakademie vorfand?
Die DDR-Regierung hatte, getreu den Zielsetzungen des Marxismus-Leninismus, in ihren Akademien u. a. große naturwissenschaftlich-technische Forschungskapazitäten vorgehalten, die in erster Linie dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft dienen sollten. Deshalb betrieben die Akademieinstitute aufgabenorientierte (mission oriented) Forschung. Charakteristisch für diese „gesellschaftsrelevante“ Forschungsplanung war die Einrichtung einer eigenen Akademie für Landwirtschaft mit riesigen Forschungszentren.
Den Evaluierungsteams des Wissenschaftsrates wurde rasch klar, daß diese aufgabenbezogene Forschung einerseits aufgrund der besonderen Infrastruktur, Interdisziplinarität und Größe unmöglich in Universitäten zu integrieren war, andererseits aber Desiderate abdeckte und Defizite in der staatlich erwünschten Forschung ausglich. So bezeichnet heute das Bundesministerium für Forschung und Technologie das Umweltzentrum in Halle/Leipzig zu Recht als einen gesamtdeutschen Gewinn. Oder in Berlin-Buch konnte mit dem Max-Delbrück-Zentrum endlich der Molekular-biologie ein ungehinderter Zugang zur Klinik für Tumor-und Herz-Kreislaufforschung eröffnet werden, und in der Landwirtschaft enstanden quasi über Nacht Forschungsinstitute, die sich einer umweltverträglichen Land-und Landschaftsnutzung verschrieben.
Der Wissenschaftsrat hat daher empfohlen, die beachtliche Zahl guter Forschungsaktivitäten in die in Westdeutschland bewährten Formen außeruniversitärer Forschung aufzunehmen, also in die Großforschung (Finanzierung: zu 90 Prozent durch den Bund, zu 10 Prozent durch das Land), „Blaue Liste“ (häufig 50 Prozent Bund, 50 Prozent Land), in die Fraunhofergesellschaft (industrieorientiert), in die Ressortforschung des Bundes und in die regionale Landesforschung.
Durch die nahezu vollständige Umsetzung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates erhielt die aufgabenorientierte Forschung der Bundesrepublik den erwünschten und notwendigen Schub und ergänzte sich um viele aktuelle Forschungsaspekte, vor allem in der Umweltforschung.
In der außeruniversitären Forschung der neuen Länder sind zur Zeit in 138 Einrichtungen ca. 13500 Personen (einschließlich aus Drittmitteln finanzierte) beschäftigt; das sind 43 Prozent der Arbeitsplätze, die 1991 an den Akademien existierten. Die Zahl belegt, warum das Gerede von der Abwicklung der DDR-Forschung verstummt ist. 1993 wurden insgesamt 1, 6 Milliarden DM für die außeruniversitäre Forschung in den neuen Ländern aufgebracht, was einem Anteil von 27 Prozent entspricht. Die Zahl der Einrichtungen und Stellen verteilt sich auf die Forschungsorganisationen in den neuen Ländern wie in der Tabelle aufgeführt: Die Bund-Länder-Kommission stellte bei ihrem 9. Forschungspolitischen Gespräch am 13. Dezember 1993 anhand des Zahlenmaterials fest, daß das Verhältnis der außeruniversitären Forschung zwischen alten und neuen Ländern ausgewogen ist. Von einem Mißverhältnis zugunsten der neuen Länder, wie dies öffentlich immer wieder behauptet wird, kann also keine Rede sein. Da der Bedarf an solcher aufgabenorientierter und thematisch langfristig oder gar auf Dauer festgelegter Forschung immer drängender wird, erwächst der Hochschulforschung neben der Grundlagenforschung der MPG eine weitere Konkurrenz um kluge Köpfe und Forschungsressourcen. Diese aufgabenorientierte Forschung beschäftigt sich vorwiegend mit überregionalen Problemen und wird daher zum größten Teil aus Bundesmitteln finanziert. Auf der anderen Seite entstehen Innovationen -und damit künftige Arbeitsplätze -letztlich nur aus einer erkenntnis-orientierten Forschung, die zur wichtigsten Basis-investition unserer Gesellschaft geworden ist. Die Grundausstattung für die Universitäten -sie sind der einzige Ort, an dem Grundlagenforschung in ausreichender Themenbreite betrieben w ird -stellen die Länder zur Verfügung. Aufgrund dieser föderalen Zuständigkeit kommt es beim Unterhalt der erkenntnisorientierten Hochschulforschung zu einer Schieflage, die man gar nicht erst zu einem Problem werden lassen sollte. Mehrere gleichzeitig begehbare Wege können zu einer produktiven Hochschulforschung führen:
Erstens: Das von der HRK vorgeschlagene Modell der Forschungskollegs würde nicht nur eine notwendige, neue Forschungsstruktur in den Universitäten etablieren, sondern gleichzeitig Bundesmittel für die „gesellschaftliche Basisinvestition“ Grundlagenforschung sichern.
Zweitens: Wie vom Wissenschaftsrat beharrlich gefordert, sollten die Hochschulen mit den Einrichtungen der außeruniversitären Forschung intensiv Zusammenarbeiten. Da dort auch Grundlagenforschung betrieben wird, ergibt sich ein interessantes Forschungs-und Ausbildungspotential, das die Universitäten nutzen und so eng wie möglich an sich binden sollten. Gemeinsame Berufungen bleiben dabei freilich nur formale Akte, wenn sie nicht durch gemeinsame Forschungsprojekte und Studiengänge ergänzt werden.
Drittens: Besonders enge Bindungen zwischen Hochschule und außeruniversitärer Forschung entstehen durch Personalaustausch. Die Forschungs-und Bildungsminister sollten daher Gastforscherstellen in den Fakultäten und den Forschungseinrichtungen der „Blauen Liste“ und der Großforschung nicht mehr als Luxus betrachten, sondern als Regelausstattung geradezu einfordern -in Zeiten knappster Kassen notfalls durch Umwidmungen.
Viertens: Die naturwüchsigen Tendenzen zur Abschottung der verschiedenen Forschungsorganisationen voneinander lassen sich mit relativ geringen Anreizen aufbrechen. Mit Forschungsverbünden können die Länder die regional in verschiedenen Institutionen vorhandene Kompetenz zu einem Wissenschaftsgegenstand bündeln (regionale Verbundforschung). Bayern hat mit solchen Verbund-organisationen nicht nur, aber auch ausgezeichnete Ergebnisse in der Entwicklung von Technologien erzielt.
IV. Ungelöste Probleme
Zwei spezifische Probleme des Vereinigungsprozesses in den Wissenschaften dürfen nicht unerwähnt bleiben:
Erstens: Gegenstand heftiger Diskussionen ist immer wieder die unausgewogene Regionalverteilung der Forschungs-und Hochschuleinrichtungen. Im Berliner Raum drängen sich Hochschulen und Forschungsinstitute zusammen. Mit seinen drei großen Universitäten, drei Kunsthochschulen und einer Unzahl von Forschungseinrichtungen, vom Institut für angewandte Chemie über das Wissenschaftskolleg bis zu den Max-Planck-Instituten bietet der Berliner Raum glänzende Chancen für ein effektives Zusammenwirken und damit eine besondere Qualität von Wissenschaft und Bildung, solange Berlin und Brandenburg bereit sind, weiterhin einen gewichtigen Teil ihrer Finanzen für diesen Sektor des öffentlichen Lebens zu verwenden. Eine solche Konzentration von Forschungsund Bildungsmöglichkeiten, wie sie in Berlin historisch zufällig entstand, ist von höchstem wissenschaftlichen Nutzen und von hohem internationalen, ja europäischen Rang.
Zweitens: Die Geisteswissenschaften stellen das andere spezifische Problem dar. In den außeruniversitären Einrichtungen der neuen Länder sind die Geistes-, Sozial und Wirtschaftswissenschaften nur mit 5, 5 Prozent der Ausgaben vertreten. Die Gründe hierfür sind einerseits historisch bedingt und liegen in der Wissenschaftspolitik sowie ideologischen Ausrichtung der früheren DDR, zum anderen sind sie aber auch struktureller Natur, weil diese diskursiven Fächer die enge Bindung zur Universität brauchen. Der Wissenschaftsrat bemüht sich zur Zeit um ein Förderinstrument mit besonders enger Verknüpfung zur Universität, um den Geisteswissenschaften neben dem Studierzimmer für den einzelnen Gelehrten auch andere Forschungsmöglichkeiten zu bieten, die den zunehmenden kulturwissenschaftlichen Fragestellungen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen gerecht werden können.
V. Ausblick
Beim oben erwähnten Forschungspolitischen Gespräch haben Wissenschaftsrat, Bund und Länder übereinstimmend zum Ausdruck gebracht, daß sie den Aufbau der Forschungs-und Hochschulstrukturen in den neuen Ländern für geglückt halten. Angesichts der tiefen Strukturkrise unserer Wirtschaft und der damit verbundenen finanziellen Engpässe ist allerdings die Versuchung groß, das Gebäude, dessen Fassade man mit berechtigtem Stolz vorzeigt, vom Hinterhof aus wieder einzureißen. Dies wäre nicht nur ein Vertrauensbruch gegenüber den Kollegen, denen Wissenschaft und Politik mit der Evaluierung und deren Umsetzung eine Zukunft versprochen haben, sondern auch ein wissenschaftspolitischer Schildbürgerstreich, weil wir für den Bau einer sozial verträglichen und wirtschaftlich gesunden Gesellschaft in einer uns tragenden Umwelt sehr viel mehr Bildung und Forschung brauchen werden.
In einer beeindruckenden Anstrengung haben Bund und Länder in kürzester Zeit in den neuen Ländern eine tragfähige Wissenschaftsstruktur aufgebaut. Mutig und zukunftsweisend sind der Bund und die Länder langfristige Verpflichtungen für Bildung und Wissenschaft eingegangen. Wenn wir diesen Neubau nun auch möblieren und mit Leben erfüllen und mit einer gesamtdeutschen Hochschulreform krönen, dann könnten wir beruhigt ins nächste Jahrhundert schreiten. Humboldt müßte sich nicht im Grabe umdrehen, weil wir aus Kurzsichtigkeit und in satter Trägheit auf seiner epochalen Hochschulreform ausruhen und sie nicht in das neue, ohne Wissenschaft dem Untergang geweihte Jahrhundert weiterentwickelt haben.
Gerhard Neuweiler, Dr. Dr. hc. geb. 1935; Studium der Biologie, Chemie, Physik und Biochemie an den Universitäten München und Tübingen; 1972 bis 1980 Lehrstuhl für Zoologie an der Universität Frankfurt am Main; seit 1980 Lehrstuhl für Zoologie und vergleichende Anatomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1988 bis 1993 Mitglied des Wissenschaftsrates, 1993 Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Veröffentlichungen u. a.: Wer hindert uns an einer Hochschulreform?, in: Gewerkschaftliche Monats-hefte, 44 (1993); Den Weg der Vernunft gehen. Über die gewandelte Rolle des Menschen in der Schöpfung, in: Der Staatsbürger, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, BLZ Report, (1986) 2; Evolution and accountability, in: Biology Education, 3 (1986) 4; What the bats ears and brain still don’t teil the human brain, in: Fortschritte der Zoologie, 39 (1993); Biologie der Fledermäuse, Stuttgart 1993.
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