1954: Das Wunder von Bern
Die politische Geschichte des bundesdeutschen Fußballs beginnt in Bern. In den braven Kämpen Seppel Herbergers um Fritz Walter oder Max Morlock sah sich eine ganze Nation idealisiert. Das gespaltene Deutschland schien sich 1954 im Erfolg jener grundanständigen und politisch eher unauffälligen Kicker zu sonnen, Spieler, die nur ihr Bestes geben wollten, wie es immer hieß, und darauf getrimmt waren, daß der Bessere gewinnen möge und Fehlentscheidungen des Schiedsrichters unwidersprochen hinzunehmen seien. So schreibt Fritz Walter in seiner Eloge auf den „Chef“: „Von Eitelkeit oder ähnlichen Anfechtungen waren wir völlig frei.“
Bern wurde zum Symbol schier unzerstörbarer deutscher Tugenden. In der gedankenleeren Nachkriegsgesellschaft galt der Erfolg des krassen deutschen Außenseiters als Heroismus an sich, der -so Hermann Glaser -„als Ideal richtigen Menschentums“ idealisiert wurde. Das schlichte Motiv eines klaren und einfachen Lebens schien jenem schnörkellosen Direktspiel wie konsequenten Abwehr-verhalten der Herberger-Elf zu entsprechen. 1954 wurde die hohe deutsche Politik vom erfolgreichen Proletensport noch kalt erwischt. Bis dahin hatte sich die Politik beim Fußball meist blamiert und einige Pannen verursacht. So 1953, als Fritz Walter vor dem Länderspiel gegen Österreich in Köln dem Bundespräsidenten die Mannschaft vorstellte und „Papa Heuss“ den Halbstürmer Max Morlock mit den Worten ansprach: „Und Sie sind sicher der Torwart.“ Devot verhalf Morlock dem völlig ahnungslosen Staatsoberhaupt aus der peinlichen Situation: „Ja, Herr Bundespräsident, ich bin der Torwart.“
Wie unbeholfen sich die ansonsten eher stilsicheren Honoratioren der Adenauerzeit im Umgang mit den Helden des einstigen Proletensports taten, offenbarte 1954 ein protokollarischer Patzer, der zur Verärgerung des Bundesinnenministers Gerhard Schröder führen sollte. Denn nicht nur er -der für die Sportfragen zuständige Ressortchef -, sondern auch der freidemokratische Kabinettskollege Blücher, Vizekanzler und Marshallplanminister, hatte dem deutschen Team nach dem Vordringen ins Finale seine Glückwünsche übermittelt. „Seit wann gehören denn nationale Siege ins Ressort des Marshallplans?“ reagierte Schröder daraufhin leicht pikiert. Erst als der Titel errungen war, drängten sich auch das Staatsoberhaupt und der Regierungschef an die Spitze der Gratulantenschar. Als erster Glückwunsch erreichte die deutschen Weltmeister die Botschaft von Bundeskanzler Adenauer. „An Ihrem größten Erfolg nimmt das ganze deutsche Volk mit größter Freude Anteil. Ich spreche der deutschen Mannschaft meine herzlichsten Glückwünsche aus und übermittele die besten Grüße!“ Bundespräsident Heuss gratulierte mit folgenden Worten: „Mit dem heutigen Sieg in der Fußballweltmeisterschaft, dessen sich Millionen Deutsche freuen, werden die großartigen Leistungen gekrönt, die Sie in der Schweiz gezeigt haben. Ich spreche Ihnen zu Ihrem Erfolg meine herzlichsten Glückwünsche aus und freue mich, Ihnen das Silberne Lorbeerblatt verleihen zu können.“
Als Theodor Heuss auf jener Großveranstaltung im Berliner Olympiastadion vor 85 000 begeisterten Zuschauern den Akteuren der Berner Elf das Silberne Lorbeerblatt überreichte, wies er gleichzeitig mit freundlichen Worten jede Grenzverwischung zwischen dem Fußball und der Politik zurück, wie sie zuvor in seinem nationalen Über-schwang DFB-Präsident Peco Bauwens mehrfach unterlaufen war. Heuss stellte sich gleichsam an die Spitze eines überschwappenden Fußball-Nationalismus, um der Bewegung die Spitze abzubrechen: „Der gute Bauwens, er meint offenbar, gutes Kicken sei schon gute Politik“, wies Heuss den über das Ziel hinausschießenden DFB-Chef in die Schranken.
Von 1954 an veränderte sich das Verhältnis zwischen Fußball und Politik sprunghaft. Die Politik instrumentalisierte den Fußball zusehends, und der Fußball ließ sich instrumentalisieren. Der deutsche Fußball entwickelte sich, gewappnet durch den großen Erfolg, zur Trutzburg gegen das europäische Profitum. Der Kicksport wurde gleichsam zur Nische eines antiwestlichen Vorbehalts, ein Terrain, wo sich Ewigdeutsches gegen die oktroyierte Verwestlichung noch Geltung verschaffen konnte. Fußball als ruhender Pol in Zeiten des Kalten Krieges. Der deutsche Fußball-erfolg wurde deshalb gern als Anachronismus beargwöhnt. Für viele auswärtige Betrachter war jener Fußball meist nicht von dieser Welt. Rätselhaft blieb er auch dem unvergessenen Ernst Happel, der als Spieler im legendären Baseler Halbfinale • beim 1: 6 seines Austria-Teams einen rabenschwarzen Tag gegen Fritz Walter & Co. erwischt hatte: „Die deutschen Sensations-Weltmeister sind bis auf Tormann Turek und Verteidiger Kohlmeier am Leben. Bei den Ungarn haben Herzschläge die halbe Mannschaft hinweggerafft... , Das 2: 3 von Bern 4, gesteht mir Torwart Grosics fast 40 Jahre danach, , tut immer noch weh. Oft wach ich deswegen in der Nacht auf. 444
Sinn für politische Fußballsymbolik bewies in jenen Tagen vor allem die französische Presse. Scharfsinnig stellte etwa die Fußballzeitschrift „L’Equipe“ fest: „Die deutsche Wiedergeburt auf wirtschaftlichem Gebiet wirkt sich nun auch im Fußballerischen aus.“ Und in „Le Monde“ wurde erstmals auch der legendäre Vergleich zwischen Adenauer und Herberger gezogen. Dort hieß es am 8. Juli 1954 -vier Tage nach dem legendären Finale -: „In Bern hat einer meiner braven Nachbarn gesagt: Papa Herberger stellte zu Beginn eine Mannschaft der zweiten Linie auf, aber für die Entscheidung wechselte er aus. Wie Adenauer und die EVG... wird die EVG vielleicht nicht die wahre Mannschaft sein, wird am Ende nicht wie im deutschen Fußball die wirkliche Mannschaft antreten: die neue Wehrmacht.“ In der Tat sollten sechs Wochen nach dem WM-Sieg von Bern die EVG-Beratungen in der französischen Nationalversammlung scheitern, die Bundesrepublik trat der NATO bei.
1958: Die Affäre Juskowiak
Als „Hammer“ Juskowiak beim Gemetzel von Göteborg nach einer Affekthandlung gehen und Herbergers ausgelaugte Truppe im Heja-Heja-Taumel das Feld räumen mußte, hatte für viele Deutsche ein von vornherein aussichtsloses WM-Unterfangen sein logisches Ende gefunden. Der Titelverteidiger fühlte sich verfolgt, gejagt, und das übrige Teilnehmerfeld wurde nur als Alliierte zur Tilgung der weltweiten Schmach von 1954 empfunden. In dieser Position der Wehleidigkeit, des Selbstmitleids gefielen sich die Nachkriegsdeutschen immer wieder gerne: Auf dem Rasen wie in der Politik! Sie wollten Musterknaben in Sachen Demokratie und die einzig wehrhaften Idealisten gegen das grassierende Fußballprofitum sein. So sehr sich die Politik um die Westbindung bemüht hatte, im Fußball lieferten sich nach deutscher Lesart deutsche Helden ein letztes Gefecht: Kämpfer gegen Krämer, ehrlicher Reckengeist gegen welsche Raffinesse. Für letzteres lieferte das provokative Verhalten des in Italien tätigen Schwedenprofis Kurre Hamrin gegenüber dem völlig entnervten Juskowiak gehörigen Zündstoff. Für viele deutsche Beobachter war das Schwedenteam nämlich längst keine nordische Elf mehr -immerhin operierten in ihm fünf in Italien spielende Profis. Als „Jus“, der Hammer, fassungslos abgeführt werden mußte, brach denn auch ein Teil der Presse in offenen Chauvinismus aus. Die sportlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden gerieten gehörig ins Wanken.
Nur Helmut Rahn, der große Individualist auf dem rechten Flügel, fiel auch mit seinem Kommentar aus dem Rahmen der allgemeinen Empörung: „Mir persönlich machte der Zirkus nichts aus. Mich ließ alles, was um mich herum geschah, eiskalt. Ich dachte nur an das Spiel... Die Schweden spielten hervorragend, vor allem Hamrin, der glänzende Rechtsaußen, stellte Juskowiak an diesem Tag vor ein unlösbares Problem, und weil Jus'das selbst spürte, wurde er wütend und ließ sich zu seiner berühmt gewordenen Affekthandlung hinreißen... Aber auch wenn „Jus'auf dem Platz geblieben wäre, Hamrin hätte immer einen Weg an ihm vorbei gefunden.“
Und wie verhielt sich die offizielle Politik während der WM in Schweden? Hatte sie sich in Spiez 1954 im deutschen Quartier erst reichlich spät gemeldet, so wurden die Bonner Größen zur WM 1958 schon vorzeitig aufdringlich. Fritz Walter registrierte nach dem Sieg im ersten Spiel gegen Argentinien in Malmö ein frühzeitiges Interesse: „Bundeskanzler Adenauer und zahlreiche Politiker schicken jetzt schon Glückwunschtelegramme.“
Als erster jedoch hatte Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß ins deutsche Trainingscamp nach Bjärred gekabelt. Im Namen der Bundeswehr wünschte er zu Beginn des Turniers „Glück und Erfolg“. Damit war Strauß dem Kanzler, seinem Ministerkollegen Seebohm und Oppositionschef Ollenhauer zuvorgekommen, die erst nach dem Sieg von Malmö über Argentinien telegrafierten.Solche offiziellen Gesten, die heute völlig unsensationell sind, wurden seinerzeit noch sorgsam registriert und bisweilen neidvoll, eifersüchtig oder hämisch von Konkurrenten der eigenen Partei oder vom politischen Gegner kommentiert. 1954 hat das Hofieren der Kicker durch die Politik begonnen. Als sich der Berner Glanz allmählich verflüchtigte und dem WM-Sieg die berühmte Gelbsucht-Niederlagenserie folgte, bestrafte die Politik den Fußball hie und da mit der alten Arroganz. So berichtete Helmut Rahn von einer Begegnung mit CDU-Ministern 1955 anläßlich eines Länderspiels gegen Italien in Rom: „Am Montag gewährte Papst Pius XII.der deutschen Nationalmannschaft eine Audienz. Vor uns hatte er Bundesarbeitsminister Storch und Außenminister von Brentano empfangen. Storch hatte, als er uns im Vorzimmer des Audienzsaals erblickte, ein paar herzliche Worte für uns übrig, Brentano hingegen geruhte, uns zu übersehen.“
Natürlich hatten die vielen Ergebenheitsadressen im Juni 1958 auch einen politischen Hintergrund, befand man sich doch zur gleichen Zeit in der Endphase des Landtagswahlkampfs von Nordrhein-Westfalen -Adenauer sollte nach der Bundestagswahl 1957 auch im größten deutschen Bundesland die absolute Mehrheit erringen. Die hohe Politik hatte erneut keine Chance gegen Herbergers tapfere Elf. So schrieb der „Spiegel“ am 18. Juni 1958: „Der Sturz des armen Fritz erregte die Bundesbürger mehr, als der Sturz der 4. Republik (in Frankreich, der Verf.). Eine Rahn-Bombe ließ alle A-Bomben vergessen.“
1962: Chile und die Bundesliga
Beleidigt verließ der entthronte Weltmeister die Arena und konnte fortan nicht verhindern, daß seine Spitzenkicker durch italienische Locksummen dem bundesdeutschen Nesthockeridyll entkommen sollten. Nur der vielumworbene Uwe Seeler, der neue deutsche Fußballstar, blieb eisern im Lande, nährte sich redlich und schlug eine Millionenofferte von Inter Mailands Helenio Herrera aus. Dies half aber wenig bei Herbergers letzter WM in Chile 1962, die sich zum unattraktiven Festival aller Defensivspielarten entwickeln sollte. Nach der Wandlung vom forschen Angriffs-fußball der späten fünfziger zum taktischen Defensivspiel der frühen sechziger Jahre -der italienische Catenaccio! -stand sture Sicherung im Vordergrund, und Herbergers Elf schien Adenauers einfallslose Wahlkampfformel „Keine Experimente“ noch nachträglich auf das Spiel übertragen zu wollen. Erstmals traten die Deutschen nur mit einem Zwei-Mann-Sturm an, woraufhin die Presse stöhnte: „Herberger hat uns eingemauert“; dieser rechtfertigte sich jedoch mit dem Hinweis: „Wir mußten durch ein besonders ausgefeiltes und auf Sicherheit aufgebautes Mannschaftsspiel die technische Überlegenheit der Einzelspieler in anderen Teams ausgleichen.“
Das frühe Ausscheiden der Deutschen in Santiago hatte bahnbrechende Folgen. So wurde am 28. Juli 1962 vom DFB die neue Spielklasse der Bundesliga beschlossen. Sie bedeutete die Zentralisierung des Spielbetriebs unter wenigstens halb-professionellen Bedingungen. Damit wurde das regionalistisehe Oberligatum abgeschafft. Hatten sich die Deutschen mit ihrem Sensationserfolg von Bern 1954 vorgestellt, sie könnten der allseitigen Professionalisierung des Fußballs widerstehen, so gaben der Aderlaß durch die Abwanderung vieler Stars ins Ausland und das schwache Abschneiden von Chile der Neueinführung der Eliteliga den letzten Kick.
Auch wenn der Durchbruch zum Profifußball noch immer an der Mauertaktik etlicher Vereinsmeier und bornierter Funktionäre scheitern sollte, so veränderte doch der neue Spielbetrieb den Fußballstil wie den Spielertyp. Der sprichwörtliche Kampf-und Panzerfußball wurde abgelöst. Es begann der Aufstieg der jungen, intelligenten Ball-techniker, das einst nur kraftvoll dominierte Spiel der Deutschen erhielt mitunter sogar eine ästhetische Dimension.
1966: Das ominöse dritte Tor
Aber noch bei der ersten Fußballweltmeisterschaft nach Einführung der Bundesliga -1966 in England -wurde der alte Nimbus von den tapferen Kämpfern und guten deutschen Verlierern gefördert, die sogar die grobe Fehlentscheidung des ominösen dritten Tores von Wembley mit großer Selbstdisziplin hinnahmen: „Denn wichtiger als zu siegen ist es, sauber gekämpft zu haben.“
Obwohl die Deutschen gerade in der Vorrunde mit ihren technisch versierten Stars Beckenbauer und Haller selten gesehene spielerische Akzente setzten, wurde in der britischen und deutschen „Kampfpresse“ immer noch der kalte Fußballkrieg beschworen. Als die Elf von Helmut Schön imSemifinalspiel von Liverpool mit Pfiffen und die Russen mit lautem Beifall empfangen wurden, hielten dies manche für eine Sympathiekundgebung der „Arbeiterstadt zugunsten des sozialistischen Kollektivs“. Und „Bild“ stachelte in Stahlhelmmanier die deutsche Mannschaft an: „Stürmt, stürmt, dann wackeln auch die Iwans!“ Ähnlich martialisch urteilte man auch in der englischen Presse. Selbst die ansonsten eher nüchterne Londoner „Times“ verstieg sich zu bellizistischen Tönen: „Es wurde weder frohen Mutes, noch leichten Fußes gespielt, eher handelte es sich um eine Seeschlacht mit schwerstem Geschütz... Sie trafen keineswegs auf Fußballer von sehr hohem Standard, eher auf etwas wie den Geist von Stalingrad ...!“ Auch der „Daily Telegraph“ grollte über eine „grausame Schlacht, die bittere Erinnerung aus den 40er Jahren wieder aufleben ließ...“
Zwölf Jahre nach Bern konnten sich die britischen Ehrentribünen vor zugereisten deutschen Politikern kaum retten. Über das erstmals ausufernde Interesse von Politikern am Fußball mokierte sich denn auch ein Leser des „SPIEGEL“ (Nr. 32/66). „Mit welchem Recht halten sich Tausende von klugen Leuten, angefangen beim Bundeskanzler über die Bundesminister, eigentlich über die Beatles, Provos und andere offensichtlich überdrehte Jugendliche auf, wenn sie wichtige politische Besprechungen vorzeitig absagen, geschäftliche Verhandlungen zurückstellen, mit Linienmaschinen nach England fliegen, tragbare Fernsehgeräte im Auto oder Büro aufbauen, nur um den bezahlten Zirkus der Fußballweltmeisterschaften zu sehen.“
Oberste deutsche Repräsentanten beim Finale von Wembley waren Bundesinnenminister Paul Lücke und sein Kabinettskollege Richard Stücklen. Und Bundespräsident Heinrich Lübke übermittelte die Glückwünsche: „Das Erringen dieses (zweiten, der Verf.) Platzes ist ein großer Erfolg, der viel Mut und Ausdauer erforderte. In allen Begegnungen zeichnete sich Ihr Spiel durch sportliches Können und Kameradschaftsgeist aus.“
Zur Ehrung leistete sich Bundespräsident Lübke den fast schon obligatorischen Patzer und erklärte den untröstlichen deutschen Endspielverlierern, daß er das dritte Tor der Engländer „drin“ gesehen habe. Bundeskanzler Erhard gab der deutschen Mannschaft im Palais Schaumburg einen Empfang und fühlte sich ebenfalls bestätigt durch seine frühe Warnung vor einem WM-Einsatz des Dortmunder Torjägers Lothar Emmerich. In der Tat war „Emma“ im Finale von Wembley der Total-versager im deutschen Team. Innenminister Lücke kommentierte den Ausgang der WM in England wie folgt: „Die Spieler haben uns einen großen Dienst erwiesen, der über das rein Sportliche herausgeht. Ich glaube, wir haben durch ihre Haltung viele Freunde gewonnen.“
1970: Deutscher Traumfußball
Die Epoche westdeutscher Fußballbrillanz begann 1970 bei der WM in Mexiko. Das Jahrhundertspiel zwischen Deutschen und Italienern im Azteca-Stadion wurde zum „mythologischen Ereignis“. In Mexiko gewann der deutsche Fußball erstmalig eine ausgewogene Mischung aus Kampf und Technik, aus Tugenden wie Tapferkeit und Intelligenz, Zähigkeit und Spielwitz. Selbst die englische Presse würdigte den neudeutschen Fußball, nachdem man noch bei der WM 1966 im eigenen Lande vor dem Finale von Wembley Helmut Schön und Alf Ramsey mit den Weltkriegsgeneralen Rommel und Montgomery verglichen hatte. Nach der unglücklichen 3: 4 Niederlage in der Verlängerung hieß es dagegen: „Wo immer die deutschen Fußballer auftreten, da geben sie dem Spiel eine fast metaphysische Note. Wir müssen uns verbeugen, wir müssen ihnen danken. Schnellingers Ausgleichstor wenige Minuten vor dem Schlußpfiff war einer der Augenblicke, wo das glückliche Herz für immer stehenbleiben will.“
Obgleich am Ende das Glück auf Seiten der Azzurris stand, galt dem deutschen Spiel unter Becken-bauer und Overath der ungeteilte Beifall der internationalen Presse. Vom traumhaften „Fußball aus dem Jahr 2000“, voller Poesie und Leidenschaft, Euphorie und Ohnmacht war die Rede. Die deutsche Fußballnationalmannschaft erlebte von da an ihre kreativste Zeit. Die Akteure der jungen Himmelsstürmer von Bayern München und Borussia Mönchengladbach ergänzten sich zu einer nie dagewesenen und später auch nicht mehr gesehenen Mischung aus Improvisation und Kalkül, Esprit und Ökonomie.
Doch die Beziehungen zwischen dem neudeutschen Fußball und der sozialliberalen Reform-koalition waren empfindlich gestört. Wo andere davon schwärmten, endlich „mehr Demokratie zu wagen“, bezeichnete der junge Beckenbauer den Protagonisten dieser Formel, Willy Brandt, als „nationales Unglück“. Und später parlierte Franz über Franz Josef und dessen ersehnte Kanzlerschaft wie über die Vergabe eines vierten UEFA-Cup-Platzes: „Er hätte es auch einmal verdient.“
1974: Der Routinetitel
Als am 22. Juni 1974 in Hamburg während der Fußballweltmeisterschaft Jürgen Sparwasser vom 1. FC Magdeburg das einzige innerdeutsche Fußballduell für die DDR entscheiden sollte, waren gerade sieben Wochen nach dem Rücktritt Willy Brandts infolge der Guillaume-Affäre vergangen. Das DFB-Team hatte bis zur Hamburger Pleite weniger durch großartige Erfolge auf dem Rasen, als durch einen Kampf mit dem DFB um die Höhe der Titelprämie auf sich aufmerksam gemacht. Das Feilschen habe bis vier Uhr in der Frühe gedauert -so Sepp Maier. Die deutschen Fußballer waren längst nicht mehr artig, selbstlos und puritanisch, wie es noch das Ideal von 1954 insinuierte. Jene Elf, die 1974 den zweiten Weltmeistertitel errang, hatte im Münchener Finale gegen die besseren Holländer zwar auch eine starke Brise jener sprichwörtlichen fußballdeutschen Kämpfertugenden nötig, ansonsten trennten die beiden deutschen Weltmeistermannschaften mehr als eine Fußballwelt. Durch mehrere Kraftakte gelangte sie ins Finale, wo dem 2: 1-Erfolg längst keine überragende Leistung mehr entsprach. Aber das neue professionelle Fußballdeutschland hatte sich inzwischen vom ewigen Pechvogel zum raffinierten Glückspilz entwickelt. Bei der WM 1974 in Deutschland durfte das Team Helmut Schöns mehr Glück auf einmal einheimsen, als allen deutschen WM-Mannschaften bislang zusammengenommen beschieden war -von der grandiosen Schwalbe Hölzenbeins vor dem Elfmeter im Finale nicht zu reden! Unterschiedlich wurde in der Fußballpresse die Anteilnahme der sozialliberalen Staatsspitzen bewertet, wobei die Sozialdemokraten Heinemann und Schmidt schlechter abschnitten als die Liberalen Scheel und Genscher. Da wurde Heinemanns „nüchtern gesprochene Eröffnungsformel“ genauso sorgsam registriert wie des neuen Kanzlers beschwichtigende Einlassung am Vorabend des Finales, die sogar als „mißraten“ bezeichnet wurde. Dabei hatte Helmut Schmidt bei der „Reduzierung des Ereignisses auf das Normalmaß“ nur seiner Hoffnung Ausdruck geben wollen, daß fair gespielt werden möge. „Denn es ist ja kein Krieg“, so der damals neue Kanzler. Vizekanzler Genscher vermochte sich dagegen lieb Kind bei Deutschlands Fußballfans zu machen. Am 6. Juli 1974 hieß es in einer PR-Meldung: „Bei seiner Ankunft in München äußerte sich Bundes-außenminister Hans-Dietrich Genscher zuversichtlich über den Ausgang des Endspiels: , Ich denke, daß wir gewinnen 4, sagte Genscher.“
Höchst symbolträchtig fand während der WM auch der in der Öffentlichkeit fast untergegangene Wechsel in der Villa Hammerschmidt statt. Gustav Heinemann, der nüchterne Moralist, machte der rheinischen Frohnatur Walter Scheel Platz. In einer seiner letzten großen Amtshandlungen hatte der scheidende sozialdemokratische Hoffnungsträger die WM in Frankfurt eröffnet; dem Nachfolger Scheel blieb zu Beginn seiner Amtszeit die feucht-fröhliche Siegesfeier im Münchener Olympiastadion. Als ob es der geheimen Regie des liberalen Bonvivant entsprochen hätte! Scheel paßte sehr gut ins Bild des jubilierenden Beckenbauer mit seiner etwas glanzlosen Siegerelf, die schon den Beginn einer neuen Stilepoche repräsentieren sollte. An der Seite des jubilierenden Franz strahlte denn auch der liberale Sonnenkönig, als hätte nicht Gerd Müller, sondern er das Siegestor geschossen.
Nach dem Münchener Finale fanden aber auch wahre Verbrüderungen zwischen den obersten Repräsentanten der CSU und den sechs Weltmeistern des FC Bayern München statt. Franz Josef Strauß ließ sogleich den Sieg für den Freistaat verbuchen, als er mit Stolz auf die bajuwarische Herkunft der beiden WM-Torschützen, Paul Breitner und Gerd Müller, verwies. Freilich konnte das konservative Politidol sich nur kurze Zeit mit dem linken Individualisten Breitner schmücken, gab dieser doch nur wenige Tage nach dem WM-Sieg seinen Wechsel zu Real Madrid bekanntgeben. Als Sepp Maier Landesvater Alfons Goppel rotzfrech zu duzen begann, erhielt er einen Rüffel vom DFB-Funktionär Joch.
Und wie sehr die Guillaume-Affäre damals auch die Herzen von Fußballfunktionären bewegte, sollte im Oktober 1974 das Aufeinandertreffen des 1. FC Magdeburg und des FC Bayern München im Europapokal der Landesmeister beweisen. Aus Angst vor DDR-Spionen fand die Spielerbesprechung nicht etwa im Hotel oder Bus, sondern im Freien statt. Außerdem war der Starclub mit zwei Bussen nach Magdeburg angereist. „Wir werden uns doch nichts ins Essen tun lassen“, hatte Manager Robert Schwan getobt. „Wenn sie uns nicht gestatten, selber zu kochen, dann reisen wir einfach mit einem extra Speisebus.“ Gesagt, getan. Sepp Maier schämte sich für diesen Vorfall: „Die Ober taten uns wirklich leid. Die haben beinahe geweint, als wir im Bus blieben. Sie hatten sich so darauf gefreut, uns bedienen zu können, mit uns zu sprechen und zu diskutieren. War das eine merkwürdige Situation: Hunderte von Leutenstanden um die Busse herum, sahen uns beim Essen zu.“
1978: Späte Revanche in Cordoba
„Jeder Satz ein Säbelhieb, jede Freundschaftsphrase eine Drohung“, so kommentierte Walter Jens die Eröffnung der Weltmeisterschaft in Argentinien 1978 durch den schnauzbärtigen Junta-General Jorge Videla. Doch DFB-Präsident Hermann Neuberger wollte im Rückblick keine politischen Zweifel aufkommen lassen: „Wenn ich zurückblicke, dann war das eine Sache des ganzen Volkes.“ Und Stürmerstar Karl-Heinz Rummenigge betonte: „In keinem Land der Welt sind wir vorher so herzlich begrüßt worden. Das ging nahe, wir waren überwältigt.“
Als würdige Leibwächter für die deutschen Titelverteidiger heuerte der DFB-Chef die in Mogadischu im Jahr zuvor so erfolgreichen GSG-9-Leute an. Die Meinungen unter den Spielern waren durchaus geteilt. Sepp Maier empfand sie als lästig: „Überall die Aufpasser! Mich macht so was fertig. Ich brauche Luft, meinen freien Raum.“ Nicht so Kalle Rummenigge: „Nicht einmal wir haben gemerkt, daß sie Waffen dabei hatten, wir wußten nur, daß es nette Leute waren, die unser Leben schützten.“
Täglich wurden die Nationalspieler mit moralischen Fragen bombardiert -vor allem von Amnesty International. Nur zwei deutsche Spitzen-kicker äußerten moralische Bedenken, im Juntaland Argentinien zu spielen: Ewald Lienen und Manni Burgsmüller, die freilich ohnehin nicht nominiert worden wären. Auf eine der vielen moralischen Fragen bestach der Kölner Meister-spieler Herbert Zimmermann mit besonderer Intelligenz: Ob es ihm etwas ausmache, wenn er wüßte, daß in einem Nebengebäude Menschen gefoltert würden: „Nein, wir haben ja die GSG 9 dabei!“
Zum wahren Politikum wurde freilich eine andere Begegnung, das Ausscheiden der deutschen Elf gegen Österreich in Cordoba. „I werd’ närrisch“, schrie Reporter Edi Finger unentwegt ins Mikrophon, während es in Wien siebenundvierzig Jahre nach dem letzten Erfolg der Österreicher über die Deutschen Freibier gab. „Macht’s gnädig mit uns“ sollen -so Sepp Maier -die österreichischen Spieler bei der Platzbesichtigung scheinheilig gebeten haben: „Wir haben es geglaubt, uns einseifen lassen, leichtsinnig und un-konzentriert unsere Endspielchance vertan.“
Anders sah es Konkurrent „Schneckeri“ Prohaska, der Spiritus rector des Austria-Teams. Die Österreicher litten unter der Geringschätzung der Deutschen und legten sich noch mal richtig ins Zeug: „Die BILD-Zeitung degradierte uns gar zu einem 0: 11 Außenseiter. In allen elf Positionen wurden die deutschen Spieler mit den Österreichern verglichen, und heraus kam, daß wir allesamt arme Hascherln waren. Fußball-anfänger, die durch Zufall nach Argentinien gekommen waren...“ So machten Krankls Traumtore und das Eigentor des jämmerlich versagenden Beckenbauer-Nachfolgers mit der Kapitänsbinde, Berti Vogts, Fußballgeschichte.
Negativschlagzeilen heimste vor allem der DFB ein. Zum einen hatte er Beckenbauer und Uli Stielike wegen ihrer Engagements bei Cosmos New York und Real Madrid aus dem WM-Team hinauskomplementiert, so daß sich FAZ-Herausgeber Joachim Fest zu jener unvergessenen Philippika veranlaßt sah: „Mit hemdsärmliger Robustheit hat Neuberger den Verband seinem autoritären Stil unterworfen, ein Provinzkönig, dessen Gängelungsgelüste den Spielern noch vorschreibt, welche Socken oder Pullover sie außerhalb des Spielfelds zu tragen haben...“
Doch schlimmer noch: der DFB ließ gar im Camp in Asconchinga den ewiggestrigen Welt-kriegsflieger Hans-Ulrich Rudel die Spieler besuchen, während dem ehemaligen Fußballstar Günter Netzer in seiner Eigenschaft als Kolumnist der Zugang verwehrt wurde. Zwei Jahre zuvor, 1976, hatte Verteidigungsminister Georg Leber noch jene Generale aus dem Dienst entfernt, die Rudel in eine Bundeswehrkaserne zu einem Traditionstreffen eingeladen hatten und dies auch noch nachträglich rechtfertigten. Selten hatte sich der DFB politisch mehr blamiert als in jenen Tagen in Argentinien.
1982: Die häßlichen Deutschen
Es sollte aber noch ärger kommen, 1982 im nordspanischen Gijon in der Vorrunde. Die friedliche Kungelei auf dem Rasen beim Skandalmatch Bundesrepublik gegen Österreich erregte die Fußballwelt. Nach der Generation der „Helden von Bern“ und der Traumfußballer von Mexiko war jetzt offenbar eine Elf zynisch kickender Abzocker am Werk. Eine Ära ging jäh zu Ende. So Torwart Toni Schumacher nach dem Skandalmatch: „Ich weiß nicht, was die wollen, für uns ging es heute schließlich um viel Geld.“ Der Kölner Keeper setzte während des Turniers noch eins drauf. Im Stile eines Amokläufers foulte er beim Herauslaufen den Franzosen Patrick Battiston. So geschehen während des Semifinalspiels von Sevilla, nach dem der Täter unbekümmert sein fehlendes „Unrechtsbewußtsein“ zur Schau stellen sollte: „Unter Profis gibt es kein Mitgefühl. Sag ihm, ich zahl ihm die Jacketkronen.“ Sofort geriet auch die Deutsch-Französische Freundschaft in Mitleidenschaft. So stellte Brigitte Sauzay noch Jahre danach in einem ZEIT-Aufsatz fest: „Namentlich bei der älteren Generation wirkt immer noch das Trauma der Kriegs-und Hungerjahre fort. Es genügt, daß während einer Fußballweltmeisterschaft der Deutsche Schumacher dem Franzosen Battiston hart zusetzt, und schon kommen alte Ressentiments hoch.“
Die alte Begründung Jupp Derwalls aus dem Jahre 1974 galt nicht mehr: „Wir legen auch Wert darauf, daß sie charakterlich einwandfreie Kerle sind... und nicht zuletzt auch ihr Land würdig vertreten.“ Zu Herbergers Zeiten schien dies noch selbstverständlich gewesen zu sein. Wie belehrte der Chef immer altfränkisch seine Spieler: „Denkt daran, daß ihr eine Art Botschafter eures Landes seid. Eine Fußballelf kann durch ihr einwandfreies Auftreten manchmal mehr Freunde für ihr Land gewinnen als ein Diplomat in vielen Jahren.“
In Spanien erreichte eine allseits verhaßte deutsche Mannschaft das Finale. Dennoch ließ sich Kanzler Schmidt nur wenige Monate vor seiner Abwahl die Teilnahme am Endspiel nicht nehmen. Hinterher mußte er sich noch in der Fußballpresse dafür kritisieren lassen, daß er nach dem Finale Bundesrepublik-Italien die ausgelassene Freude des rührenden italienischen Staatspräsidenten Sandro Pertini mit seinem berühmten „Cheeselächeln" quittierte: „Bundeskanzler Helmut Schmidt scheint die Freude des italienischen Staatspräsidenten zu teilen.“ CDU-Politiker Kurt Biedenkopf hielt freilich dagegen und versuchte, die spielentscheidende Hereinnahme Karl-Heinz Rummenigges während des Frankreich-Spiels in Sevilla auf das neokonservative Konto zu buchen: „Die sozialistische Politik hat unsere Leistungsträger entmutigt. Fallen die Leistungsträger wegen Verletzung, Überlastung oder Miesmacherei aus, läuft das Spiel nicht mehr. Wenn es mehr Rummenigges gäbe, sähe es im Land anders aus.“
Auch Schmidt-Nachfolger Kohl sollte sich alsbald auf die Seite der übel beleumundeten deutschen Nationalmannschaft stellen. So im Quartier der Derwall-Equipe vor der Europameisterschaft in Frankreich 1984: „Bei uns wird immer gegen etwas demonstriert. Ich bin hier, um für die Nationalmannschaft zu demonstrieren.“ Und Jupp Derwall fügte hinzu: „Der Bundeskanzler hat mich vor ein paar Wochen telefonisch erreicht und mir Mut zugesprochen. Eine Geste, die mich richtig glücklich machte.“ Vor allem habe Kohl Derwall zum unbeirrten Durchhalten geraten: „In der Politik ist es wie im Sport: Immer wieder Höhen und Tiefen, da muß man durch.“ Doch Derwall sollte des Kanzlers Segen nicht viel nutzen. Das deutsche Team schied vorzeitig aus, und Derwall mußte gehen. Währenddessen übernahm die französische Zeitung „Liberation“ die Exekution des neudeutschen Fußballs: „Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdiente... im eigenen Urin ertränkt zu werden. ... nein, das deutsche Monster hat zu lange überlebt ... sie hatten schon die peinliche Einbildung, daß die Geschichte nach ihrem Sinn laufen wird, daß es ein Schicksal gibt, daß es immer gut für den deutschen Fußball ausgeht“.
1986: Kohls Bruderküsse
Fortan bastelte der neue Teamchef Franz Becken-bauer an der Nationalelf wie an einer Keimzelle der Nation. Autorität war angesagt und nicht mehr Derwalls kumpelhaftes „Prost, ich bin der Jupp!“ Länderspiele wurden zu Charakterproben und Einstellungstests, auch in nationaler Hinsicht. Vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden im Oktober 1984 bekamen die Elitespieler die dritte Strophe des Deutschlandliedes zugestellt, denn mitsingen ist seitdem erwünscht. Auch wenn sie es am Spielwitz der außergewöhnlichen siebziger Jahre vermissen ließen, bestand die DFB-Elf unter den Fittichen Franz Beckenbauers jeden „Charaktertest“ und stolperte erneut mehr schlecht als recht ins WM-Finale 1986. Als Maradona, der argentinische Superstar, nach dem Sieg seines Teams gegen Beckenbauers Rumpfelf den güldenen Weltpokal zu küssen begann, war auch der Bonner Kanzler mit von der Partie. Er hatte eilends einen Jet nach Mexiko starten lassen, mit fußballbegeisterten Kabinettskollegen wie Blüm und Lieblingssozis wie Wischnewski an Bord. Kohl herzte jeden unterlegenen deutschen Endspielkicker und mußte für diese populistische Aktion viel Prügel hinterher ein-stecken. Stilistische Vergleiche zwischen der Mediokrität von Fußball und Politik schossen ins Kraut.
Inzwischen waren Politiker längst nicht mehr gern gesehene Gäste in Fußballstadien. Ihr Besuch geriet leicht in den Ruch der Anbiederung oder Instrumentalisierung. Von Ludwig Erhard, Richard Stücklen und Wolfgang Mischnick wußte man wenigstens noch, daß sie kundige Fußballfans waren. Und über Herbert Wehner, den früheren Anhänger des legendären Dresdner SC, wurde stets eine persönliche Freundschaft zu Sepp Herberger kolportiert. Der Zuchtmeister der SPD liebte das typisch deutsche Kampfspiel der fünfziger Jahre sehr. Franz Josef Strauß verstand dagegen im Münchener Olympiastadion so wenig von Fußball wie in Bayreuth von Wagners Musik. Willy Brandt wurde in der Rehhagel-Ära Mitglied der Bremer Werderaner. Einem Ondit zufolge soll er sogar mit dem Gedanken geliebäugelt haben, 1991 Werder-Manager Willi Lemke, den früheren SPD-Landesgeschäftsführer, anstelle von Eng-holms Karlheinz Blessing zum Bundesgeschäftsführer im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus zu küren. Eines der letzten Fotos zeigt Willy Brandt in Unkel im August 1992 an der Seite des erfolgreichen Werder-Coachs Otto Rehhagel. Der aufstrebende Liberale Jürgen Möllemann, obwohl aus Münster, brachte es beim permanent krisengeschüttelten FC Schalke 04 sogar zum Strippen ziehenden Vorstandsmitglied.
1990: Weltmeisterschaft und Wiedervereinigung
Tennisfan Richard von Weizsäcker fuhr am Mittag des 8. Juli 1990 nicht nach Wimbledon, wo Boris Becker gegen den Schweden Stefan Edberg im Finale der All England Lawn Tennis Championships stand, sondern nach Rom zum entscheidenden WM-Titelkampf zwischen Beckenbauers DFB-Team und den dezimierten Argentiniern. Spötter höhnten, daß Weizsäcker dem Kanzler dieses Mal nicht den Vortritt lassen wollte, wie 1986 beim Finale im Azteca-Stadion, wo die populistischen Bruderküsse des Regierungschefs für die abgekämpften Nationalrecken eher als Peinlichkeit empfunden worden waren. Weltmeisterschaften sind nun mal Präsidial-und nicht Kanzler-sache: Das war bei Heuss 1954 nicht anders als bei Scheel 1974. 1990 teilte sich Richard von Weizsäcker die Siegerehrung wortkarg mit dem italienischen Staatsoberhaupt Cossiga, wohl wissend, daß sich der dritte deutsche WM-Sieg einer Dominanz von italienisierten Profis deutscher Bundesliga-Herkunft verdankte. Die Zeiten hatten sich geändert, denn in der einstigen Feindesarena -im Mailänder Meazza-Stadion -schienen die bei Inter Mailand agierenden Profis Matthäus, Brehme oder Klinsmann vor heimischer Kulisse zu spielen. Kurz vor der Vereinigung ließ die siegreiche DFB-Elf in Ansätzen nochmals alle Tugenden Revue passieren, die spielerischen wie die kämpferischen, die über vier Jahrzehnte zum Erfolgsensemble bundesdeutscher Fußballkunst gezählt hatten.
Doch der Kanzler ließ sich nicht lumpen, kam nach Rom, durchbrach sogar einen Polizeikordon, weil er den siegreichen Kickern unbedingt persönlich gratulieren wollte. In der Kabine soll es zu einer Begegnung gekommen sein. Reservist Uwe Bein von der Frankfurter Eintracht war hinterher nicht imstande, die Worte des Kanzlers wiederzugeben.
Kohls damaliger sozialdemokratischer Gegenspieler, Oskar Lafontaine, hatte sich bereits beim Semifinalspiel in Turin gegen England TV-gerecht im Fußballstadion präsentiert. Er kommentierte verhalten, ohne in eine nationale Tonlage zu geraten. Dies sollte zu einem Ausgewogenheitsgefecht im ZDF und zur bösen Notiz in der WELT führen, man habe wenigstens gehört „daß es ihn wirklich noch gibt. Das stellt die Ausgewogenheit mit dem Kanzler wieder her.“ Lafontaine hatte sich nach seinem Attentat Ende April einen Monat nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen können.
Erstmals kopierten deutsche Fußballfans während der WM Autocorsi und Fahnenmeer von italienischen Tifosi. Dies führte zu einer Debatte in der alternativen „Tageszeitung“. Alt-Spontis ergötzten sich daran, daß auf deutschen Straßen „endlich wieder was los sei“; man begrüßte es, daß sich wieder hierzulande „kollektiv im öffentlichen Raum“ und nicht mit einem vereinsamten Besäufnis hinter der Glotze gefreut würde.
Auch Walter Jens, „Deutschlands gescheitester Fußballfan“, nahm die jubelnden Fans ausdrück-'lieh in Schutz: „Schlimmer wäre es, wenn sie für Jagdflugzeuge oder Panzer wären. Die Fans freuen sich über Fußball und denken nicht über die deutsche Einheit nach.“ Ebenso nannte Daniel Cohn-Bendit die fahnenschwenkende Fußballoffensive etwas Wunderbares, „viel schöner als Kohl, die Wiedervereinigung und die Nürnberger Reichsparteitage“. „So normal sind wir“, kommentierte denn auch die „Frankfurter Rundschau“. Die grüne Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer hatte während des WM-Turniers zur Ratifizierung des Staatsvertrages erklärt: „Wer den deutschenFußballern in diesen Tagen zuschaut, der verliert -wie auch ich -die Angst vor den Deutschen. Sie spielen nicht nur gut und erfolgreich; sie spielen auch irgendwie schön und irgendwie richtig emanzipatorisch.“ Freilich vergaß sie nicht hinzuzufügen: „Wir Deutschen müssen nicht immer Weltmeister sein.“ Woraufhin die SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier dazwischenrief: „Aber ab und zu doch!“
Als der Kanzler aus dem Kaukasus kam, wurde Deutschland Weltmeister. Und , Kaiser Franz* proklamierte den vorläufigen »Endsieg*: „Zusammen mit den Ostdeutschen werden wir auf Jahre hinaus nicht mehr zu besiegen sein. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so.“ Doch daraus wurde fei nix: Weder entstanden auf Anhieb „blühende Landschaften“, noch konnte sich das mächtige Deutschland 1992 zur Europameisterschaft gegen die dänischen EG-Reservisten durchsetzen.
Am 19. Juli 1990 verkündete DFB-Präsident Neuberger die deutsche Fußball-Union. Zuvor war es noch zu großen Auseinandersetzungen gekommen, weil Neuberger es wegen bestehender Bandenwerbungsverträge nicht verhindern konnte, daß in der Vorrunde zur Europameisterschaft 1992 die DFB-Equipe gegen die Kickerkonkursmasse der damals gerade noch existierenden DDR antreten sollte. „Wir gegen uns“ höhnte daraufhin „Bild“, während die „FAZ“ dem erfahrenen Fußballfunktionär für seine nationale Verzögerungstaktik die rote Karte zeigen wollte. „Der Vereinigungszug ist nicht zu bremsen, nicht einmal durch Hermann Neuberger.“ Bereits 1988 zur Europa-meisterschaft hatte sich der eher konservative Neuberger dem Vorwurf fehlender nationaler Einstellung ausgesetzt, als er die Zustimmung der osteuropäischen UEFA-Funktionäre für einen Austragungsort Bundesrepublik nur auf der Basis eines Berlin-Verzichts bekommen konnte. Zum Ausgleich dafür machte Neuberger das Berliner Olympiastadion zur festen Austragungsstätte des deutschen Pokalendspiels.
1994: WM in den USA
Herbergers „Der Ball ist rund“ wurde zur eingängigen Spiel-Philosophie. Wenn in Amerika gejubelt wird wie in Europa beim Fußball, ist der Ball aber oval -so beim Football! Und Franz Becken-bauer, einst bei Cosmos New York Aushängeschild in der kurzlebigen US-Operettenliga, fügt lächelnd hinzu, daß in den USA Schüsse über die Torlatte -gemäß der Football-Regel -bejubelt würden, während in Europa dabei ein Raunen durch die Menge geht. Eine Fußball-WM in den USA ist sportlich so zwingend wie eine alpine Ski-weltmeisterschaft an der Elfenbeinküste. Schon tarnen sich skrupellose Geschäftsleute als fortschrittliche Deregulatoren der allzu bürokratischen Fußballregeln: Nicht mehr 2x 45 Minuten, sondern 3x 30 Minuten soll das Spiel dauern, um der Werbung in den Pausen ihren gebührenden Platz zu verschaffen.
Daß in den USA die Fußball-Weltmeisterschaft endgültig begraben werden könnte, befürchten deshalb nicht nur europäische Fans, sondern auch einheimische, die trotz aller gigantischen PR-und Vermarktungsanstrengungen die US-amerikanische Begeisterung am Fußball für nur wenig ausbaufähig halten. Doch den DFB, reichster Fußballverband der Welt, schien dies wenig zu schrekken. Im Vorfeld der WM hatte er ohnehin andere gravierende Probleme -etwa die Annullierung und Neuansetzung eines alles, sowohl Meisterschaft als auch Abstieg entscheidenden Bundesligamatches.
Zuvor hatte der DFB eine schwere politische Niederlage erlitten, als er eisern darauf bestand, trotz aller Bedenken politischer Ratgeber ein Länder-spiel gegen England an Hitlers Geburtstag, dem 20. April, anzuberaumen. Vor dem zu erwartenden Zusammenstoß von deutschen Neonazis und britischen Hooligans schreckte zunächst die Hamburger Innenbehörde zurück. Doch der DFB verhielt sich störrisch wie eh und je und verlegte das Länderspiel von der Hanse-in die Hauptstadt. Berlin freute sich, bis der englische Fußballverband dem DFB mit seiner späten Absage einen schweren Korb verpaßte -man befürchtete, daß die Austragung der Europameisterschaft 1996 auf der Insel durch Ausschreitungen von Hooligans gefährdet werden könnte. Hitler habe noch nach fünfzig Jahren ein Länderspiel verhindert, empörten sich hinterher einige Hardliner unter den deutschen Fußball-Funktionären, die das Länderspiel offenbar auch als Polizeieinsatz wie in Wackersdorf hingenommen hätten. Währenddessen ließ die „Times“ keinen Zweifel daran, „jede Kritik in Deutschland, daß die Absage des Spiels Extremisten in die Hände“ spiele, sei „fehl am Platz“. Schließlich müsse „Deutschland mit seiner brutalen und wachsenden Unterklasse von Neonazis aufpassen, nicht eine Plattform zu bieten für eine gewaltgeladene Demonstration extremistischer Stärke“.Auf die englische Länderspielabsage hin ließ der Bundestrainer ein Ersatzspiel in den Vereinigten Emiraten ansetzen, was auf Seiten der Münchener Titelaspiranten in der Bundesliga-Endphase zu schweren Verstimmungen führen sollte. Erstmals wurde das Verhältnis zwischen Berti Vogts und seinem glorreichen Vorgänger Beckenbauer ernsthaft beschädigt. Doch der DFB stand eisern zu seinem Trainer.
Als Weltmeister Deutschland 1990 auch noch wiedervereinigt wurde, war die Mannschaftsführung damals folgerichtig an einen wie Berti Vogts übergegangen, der als Spieler stets als eine kämpferische Mischung aus Terrier, Jasager und Stehaufmännchen gegolten hatte. Sekundärtugenden waren mit der deutschen Einheit angesagt. Berti statt Franz. 1976 wurde Vogts, damals im Team der göttlichen Borussia aus dem niederrheinischen Mönchengladbach, von Fans als „schwarzes Schaf“ veräppelt, weil er sich im Bundestagswahlkampf für den jungen Helmut Kohl stark gemacht hatte. Daraus sollte eine wahre Männer-freundschaft entstehen, auch wenn der politische Vogts heute nicht nur für mehr „Law and order“, sondern in moderateren Tönen für ein bislang noch nicht ausprobiertes schwarz-grünes Bündnis plädiert. „Wir haben einen Draht zueinander. Auch er bemüht sich, das Beste für unser Vaterland zu erreichen.“ So erscheint Vogts denn auch das Verhältnis Bundestrainer -Bundeskanzler wie eine vorbildliche Schicksalsgemeinschaft im WM-Superwahljahr: „Wir freuen uns immer, wenn wir uns treffen... Er hat ein schweres Jahr vor sich, ich auch. Für beide kann es schlecht enden. Das verbindet.“