Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Israel zwischen Krieg und Frieden. Zur Stimmung in Israel nach dem Gaza-Jericho-Abkommen | APuZ 21-22/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 21-22/1994 Das Gaza-Jericho-Abkommen Wegmarke im Friedensprozeß Ökonomische Aspekte des Nahost-Friedensprozesses Syrien, der Libanon und Jordanien im Nahost-Friedensprozeß Israel zwischen Krieg und Frieden. Zur Stimmung in Israel nach dem Gaza-Jericho-Abkommen

Israel zwischen Krieg und Frieden. Zur Stimmung in Israel nach dem Gaza-Jericho-Abkommen

Thomas Krapf

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz des Massakers in der Hebroner Ibrahim-Moschee hat Israel aufgrund des am 13. September 1993 unterzeichneten Gaza-Jericho-Abkommens noch nie so gute Aussichten gehabt, mit seinen arabischen Nachbarn Frieden zu schließen. Konkret wurde der erste Schritt dazu mit der Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens am 4. Mai 1994 in Kairo getan. Nichtsdestoweniger lauert im Nahen Osten nach wie vor die Gefahr eines apokalyptischen Infernos mit Massenvernichtungswaffen; der Weg zu Friedensverträgen zwischen den Konfliktparteien ist weiterhin mit vielen Hindernissen übersät. Unter diesen Voraussetzungen steht linken wie rechten Israeli die Wiederholung der Schoa (Katastrophe) vor Augen: Die Friedensbereiten befürchten die Wiederholung der Schoa als historischen Prozeß, nämlich als Kriege, die Israel über kurz oder lang vernichten werden, falls es Israel nicht gelingen sollte, mit seinen Nachbarn einen Kompromißfrieden zu schließen. Dagegen meinen Nationalisten, das Aufgeben der besetzten Gebiete und der Golanhöhen sei der Auftakt zur Wiederholung .der Schoa, weil sich Israel durch eine solche Politik selbst ans Messer liefere. Indem die Stimmung nach der Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens skizziert wird, wird auf die starke Überlebenskraft von Motiven aus der jüdischen Tradition hingewiesen, da diese sich im politischen Alltag Israels als maßgeblicher psychologischer Faktor erweisen.

I. Attentat auf den Friedensprozeß

Seit dem 13. September 1993, als Israels Premierminister Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat auf dem Rasen des Weißen Hauses einen historischen Händedruck austauschten, hat sich die israelisch-arabische Annäherung trotz wiederholten Stockens kontinuierlich vorwärts bewegt und am 4. Mai 1994 zur Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens in Kairo geführt. Tatsächlich hat jene historische Momentaufnahme eine neue Ära eingeläutet: Konventionalisierte Feindbilder und Tabus haben ihren dogmatischen Charakter eingebüßt. Neue Hoffnungen auf ein Ende des nunmehr hundert Jahre dauernden jüdisch-arabischen Konflikts sind erwacht. Mochte diese Entwicklung an ein Wunder erinnern, so kam deren Eigendynamik fast zum Stehen, als im Morgen-grauen des 25. Februar 1994 die Gebete in der Hebroner Ibrahim-Moschee von den tödlichen Schüssen eines israelischen Extremisten erstickt wurden und 37 Palästinenser ihr Leben lassen mußten. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß dieses Verbrechen historische Dimensionen annimmt, insofern es in der kollektiven Erinnerung beider Völker wach bleiben dürfte. Unter diesem psychologischen Aspekt weist es eine Parallele zu dem Pogrom auf, der vor zwei Generationen im gleichen Stadtteil stattfand: Von ihrer politischen Führung angestachelt und von blindem Haß getrieben, drangen damals, am 24. August 1929, arabische Fanatiker in jüdische Häuser ein und ermordeten wehrlose Kinder, Frauen und Männer. Es wurden fünfzig Tote und sechzig Verletzte gezählt. Dieser Auftakt der Vertreibung der Juden aus Hebron ist im kollektiven Bewußtsein der Israeli stets lebendig gewesen. Durch das jüngste Massaker am gleichen Ort wird die israelisch-palästinensische Annäherung zu Beginn der neuen Friedensära einer harten Belastungsprobe ausgesetzt: auf palästinensischer Seite, weil der ohnehin schwere Stand der Pragmatiker in der PLO weiter unterhöhlt wird; auf israelischer Seite, weil die in der Öffentlichkeit seit den achtziger Jahren umstrittene Präsenz von derzeit vierhundertfünfzehn Siedlern im Zentrum von Hebron nun innenpolitisch höchst explosiven Konfliktstoff liefert: Hatte der Pogrom vor fünfundsechzig Jahren fast zwei Jahrtausenden ununterbrochenen jüdischen Lebens -mit Ausnahme der Kreuzfahrerherrschaft (1100-1260) -in Hebron ein traumatisches Ende bereitet, so ist die psychologische Wirkung der assoziativen Verbindung mit diesem Tatort nicht zu ignorieren. Derzeit erweist sie sich innenpolitisch als Hindernis, die Ausweisung der jüdischen Siedler aus Hebron durchzusetzen, obgleich eine breite Öffentlichkeit in Israel -einschließlich der Mehrheit im Kabinett -diese Maßnahme für das Gebot der Stunde hält.

Die Opfer des von Baruch Goldstein verübten Massakers waren noch nicht bestattet, als das Verbrechen bereits in reißerischen Schlagzeilen als „letzter Sargnagel des Friedensprozesses“ vermarktet wurde. Hat dieses voreilige Urteil einen Monat später zwar nicht an Überzeugungskraft gewonnen, so ist es auch jetzt noch zu früh, die historische Tragweite von Goldsteins Attentat auf den Friedensprozeß zu beurteilen. Nach wie vor ist der Ausgangspunkt der Gegenwart, in der es um die Zukunft des israelisch-palästinensischen Grundsatzabkommens geht, ein ganz anderer: Noch vor knapp zwei Jahren hatte der damals in Israel amtierende Premierminister Yitzhak Shamir sein nachträglich in aller Öffentlichkeit erklärtes Ziel verfolgt, bei den Verhandlungen mit den arabischen Gesprächspartnern durch Hinhaltetaktiken zehn Jahre Zeit zu gewinnen, um mit einer halben bis ganzen Million neuer Siedler Cisjordanien ein für allemal demographisch zu annektieren. Daß solche Strategien nun nicht mehr weiter verfolgt werden, motiviert Extremisten wie Gold-stein zu Wahnsinnstaten.

Unterdessen stehen die dramatischen Sitzungen der von der Regierung bestellten Untersuchungskommission, die den Hergang des Hebroner Massakers klären soll, im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Es gilt derzeit als wahrscheinlich, daß die Verantwortung für schwerwiegende Fehler der militärischen und politischen Führung Israels zugeschrieben werden wird. Vor allem illustrieren die meist direkt übertragenen Sitzungen des Untersuchungsausschusses erneut, daß das Problem der besetzten Gebiete allein unter realpolitischen Gesichtspunkten die Zukunft Israels zumindest belastet oder -je nach politischer Anschauung -zerstört. Unter diesem Aspekt geht es im folgenden um die seit dem 13. September 1993 ambivalente Stimmung in der israelischen Öffentlichkeit.

II. Frieden im „absurden Theater“ des Nahen Ostens

Aus einer israelischen Gegenwartsperspektive betrachtet, bildet eine Szene „absurden Theaters“, die zu einem Jahrhundertereignis erklärt worden ist, den Auftakt der am 13. September 1993 heraufgedämmerten Umbruchssituation im Nahen Osten mit ihrer Umwertung herkömmlicher Werte: nämlich der nobelpreisverdächtige Handschlag eines Arafat und eines Rabin -des gestern noch von Israel am meisten gesuchten Terroristenchefs und jenes bereits zu Lebzeiten legendären Generalstabschefs des Sechstagekriegs; letzterer hatte erst ein Vierteljahrhundert zuvor die gefährdeten Grenzen Israels wehrhaft gemacht, indem er die syrischen Golanhöhen, die ägyptische Sinaihalbinsel (einschließlich des Gazastreifens) sowie das jordanische Westjordanland erobert hatte. Gewiß, jene Taten stehen nun in der Chronik eines anderen Zeitalters mit einer, so hoffen zumindest die kompromißbereiten Israeli, ungültig gewordenen politischen Doktrin. Am 13. September 1993 begann eine neue Ära; dieses historische Datum liegt noch nicht einmal ein Jahr zurück.

Ein Jahr ist es indessen her, daß Rabin sich geweigert hat, dem Gesellschaftskritiker Yeshayahu Leibowitz den Israelpreis zu überreichen. Der alte Militär in Rabin hätte sich seinerzeit untreu werden müssen, um anläßlich der Verleihung der höchsten Auszeichnung des Staates Israel jenem provozierenden greisen prophetischen Nörgler die Hand zu reichen: Bereits unmittelbar nach dem Sechstagekrieg hatte Leibowitz -zusammen mit keinem geringeren als David Ben Gurion, Premierminister i. R. -die nationale Euphorie gestört, indem er für die Preisgabe der besetzten Gebiete plädiert hatte. Seitdem hat Leibowitz ein Vierteljahrhun-dert lang unermüdlich die Okkupation wegen ihrer korrumpierenden Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft in Israel gegeißelt. Wegen seiner öffentlichen Aufforderung, den Militärdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, empfand es Premier-und Verteidigungsminister Rabin Anfang 1993 als Zumutung, diesem Advocatus Diaboli die Hand zu geben.

Genießen Politiker den Ruf, die Kunst des Möglichen zu beherrschen, so beweist Rabin ein halbes Jahr später sowohl seine staatsmännische Kreativität als auch seine persönlichen Grenzen. Indem der israelische Regierungschef mit dem Teufel höchstpersönlich einen Händedruck austauscht, wird ein Ausweg aus jener Sackgasse wahrnehmbar, in die sich Israeli und Palästinenser je auf ihre Art hineinmanövriert haben: die Palästinenser, als sie 1947 den UN-Teilungsplan ablehnten und Israel angriffen, was zum israelischen Unabhängigkeitskrieg und der Vertreibung von zirka einer halben Million Palästinensern führte; die Israeli, indem sie seit 1967 die inzwischen auf rund zwei Millionen angewachsene palästinensische Bevölkerung in Cisjordanien und im Gazastreifen ohne bürgerliche Rechte unter Militärbesatzung halten. Als es dann auf dem Rasen des Weißen Hauses -in Bill Clintons Worten -zu dem „historischen Händedruck der Versöhnung“ kommt, ist die Körpersprache des ganzen Yitzhak Rabin verräterisch: Ein verlegenes Lächeln, als Arafat seinen Arm ergreift. Hatte man in Israel guten Grund, angesichts dieser grotesken Szene den eigenen Augen nicht zu trauen, so wirken die folgenden Monate erst recht wie die surrealistische Romanidee eines Mikhail Bulgakow: Im neuen Zeitalter muß Israel im eigenen Interesse versuchen, Arafat politisch zu retten -denselben Arafat, der theatralisch mit Ölzweig und Pistole gestikulierend Jahrzehnte lang in aller Öffentlichkeit die Vernichtung Israels betrieb, bevor er in jüngster Vergangenheit mit Saddam Hussein gegen den Rest der Welt Waffenbrüderschaft schloß.

III. Motive der religiösen Tradition als psychologischer Faktor

Ist der Zionismus eine säkulare politische Ideologie, so mag paradox anmuten, daß seine psychologischen Wurzeln tief in das Erbe der religiösen Tradition des Judentums zurückreichen sollen. Ebenso mag als historische Ironie gelten, daß einTheodor Herzl, der Vater der zionistischen Bewegung in Westeuropa, noch nicht einmal Hebräisch konnte, die Traditionssprache des jüdischen Volks. Herzls Distanz zur religiösen Tradition des Judentums ist freilich auch heute unter einer breiten Schicht von Israeli anzutreffen, die wie Herzl nicht die von der Thora gebotene tägliche Gebets-routine einhält. So mag es wiederum paradox erscheinen, daß der Zionismus -die Heimkehr in ein wirtschaftlich vernachlässigtes, unwirtliches Gebiet -psychologisch durch die Gebete von etwa sechzig Generationen vorbereitet sein soll.

Indessen dürfte es während eines Jahrtausende andauernden Exils vielleicht keine stärkere Verbundenheit mit dem Boden der Vorfahren geben, als die dreimal täglich verrichteten Gebete um die Rückführung in „unser Land“, für welches in Wilna oder London während der naßkalten Wintermonate Regen erfleht wird. In der politischen Geschichte kommt es zur lang ersehnten Rückkehr, während die nach fast zwei Jahrtausenden wiederbelebte Traditionssprache zum geistigen Medium von Menschen mit unterschiedlichsten Weltanschauungen wird. Soziopsychologisch ist bemerkenswert, daß beim täglichen Umgang mit dieser neuen, aus der Antike überlieferten Sprache Motive aus der biblischen und postbiblischen Tradition im Bewußtsein von säkularen und traditionellen Israeli eine starke Überlebenskraft beweisen. Dieses Phänomen, daß an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert in der politischen Kultur eines modernen, demokratischen Staats Motiven einer religiösen Tradition eine bedeutende psychologische Funktion zukommt, mag auf säkulare Zeitgenossen außerhalb des jüdischen Staates exotisch oder gar befremdend wirken. Gleichwohl soll im folgenden versucht werden, diesen psychologischen Aspekt im politischen Alltag Israels im Blickfeld zu behalten.

IV. Status quo als Fortsetzung der Schoa

Liegt der Beginn des mit dem 13. Sepember 1993 einsetzenden neuen Kapitels jüdisch-arabischer Beziehungen noch nicht einmal ein Jahr zurück, so ist das psychologische Klima in Israel nach wie vor von der Erfahrung der Schoa (Katastrophe) bestimmt. Bei aller Erleichterung über Yassir Arafats Kursänderung hat diese mitnichten zu ändern vermocht, daß die Zukunftsperspektiven der Befürworter und Gegner politischer Kompromisse in Israel von apokalyptischen Aussichten bestimmt sind. Diese hängen je auf ihre Weise mit jüngsten, ernüchternden Erfahrungen des vernichtenden Potentials des Judenhasses zusammen: Ist dieser so alt wie das Abendland selbst, so konnte im zwanzigsten Jahrhundert ein Drittel des jüdischen Volkes ermordet werden, ohne daß den Mördern in den Arm gefallen wurde.

Rechnerisch hat der Staat Israel seit seiner Gründung im Jahr 1948 keine fünf Jahre ohne kriegerische Auseinandersetzung mit äußeren Feinden erlebt In der israelischen Öffentlichkeit besteht von rechts bis links ein Konsens, daß es sich bei den bisherigen militärischen Auseinandersetzungen überwiegend um Verteidigungskriege gehandelt hat. Lediglich der Libanonkrieg (1982-1985) wird von der israelischen Linken als israelischer Aggressionskrieg gesehen. Analog gilt die 1987 ausgebrochene Intifada -welche in der genannten Statistik von Waffengängen mit äußeren Feinden freilich unberücksichtigt bleibt -in der israelischen Friedensbewegung als von Israel verschuldet. Nach ihrer Auffassung hat die Entrechtung der palästinensischen Zivilbevölkerung durch die israelischen Militärbesatzungsorgane sowie die in erster Linie von Likud-Koalitionen der Jahre 1977-1992 forcierte Siedlungspolitik zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten unnötigen Konfliktstoff geschaffen, der zwangsläufig zu einem gewalttätigen Volksaufstand führen mußte. So sind aus der Sicht der israelischen Friedensbewegung der Libanonkrieg und die Intifada das Ergebnis schwerwiegender, um nicht zu sagen unverzeihlicher politischer Fehler, die von Israel begangen wurden, als der Staat von Rechtsparteien regiert wurde.

Bei aller Kritik an den genannten Todsünden der Regierungen Begin und Shamir wird von den zu einem Kompromißfrieden bereiten Israeli jedoch nicht bestritten, daß der jüdische Staat bislang nur hat überleben können, weil dessen Existenz durch militärische Stärke gesichert gewesen ist. Unter diesen Umständen ist in der israelischen Friedensbewegung das Bewußtsein anzutreffen, daß bei einem Kompromißfrieden das Fortbestehen des Staates zur Disposition gestellt wird. Daß dennoch die Risikobereitschaft besteht, selbst um den höch-sten Einsatz, nämlich um die eigene staatliche Existenz, zu pokern, hängt mit der apokalyptischen Zukunftsperspektive zusammen, die den Befürwortern eines Kompromißfriedens vor Augen steht: Sollte es weiterhin alle paar Jahre Krieg geben, so steht über kurz oder lang ein durch Massenvernichtungswaffen angerichtetes Inferno bevor, das zumindest Israel und die Region zerstören würde.

Ging der kalte Krieg vorüber, ohne daß Ost und West von einem Flächenbrand endzeitlichen Ausmaßes erfaßt wurden, so enthält die Chronik des Nahostkonflikts einen Vorgeschmack auf militärische Konflikte mit strategischen Waffen: den Golfkrieg, Anfang 1991. In jenen sechs Wochen gehörte Raketenalarm zum Abendprogramm der israelischen Zivilbevölkerung. Inzwischen weiß jedermann, daß die angelegten Gasmasken in luftdicht versiegelten Wohnräumen keinen Schutz boten -abgesehen vom subjektiven Beruhigungseffekt angesichts der Lebensgefahr und der totalen Hilflosigkeit. Diesen hatte man ja auch der beruhigenden, paternalen Radiostimme des Militärsprechers nicht absprechen können, die mit dem Aufheulen der Sirenen unbeirrbar einschärfte: „Trinken Sie Wasser!“

Durch die neununddreißig auf Israel abgeschossenen Scud-Raketen wurden 14 Israeli getötet und 235 verletzt. Daß diese Opferstatistik nicht verheerender aussieht, ist lediglich dem Umstand zu verdanken, daß die damals dem Irak verfügbaren Geschosse waffentechnisch geradezu primitiv waren. Nichtsdestoweniger hatten die Scuds eine psychologische Wirkung. Als Erstprodukt einer neuen Waffengeneration, die den Angegriffenen einen nur in Sekunden meßbaren Zeitraum läßt, um sich in Sicherheit zu bringen, waren die Scuds Vorboten eines neuen Kriegszeitalters. Im Golfkrieg konnten sich Tausende von Tel Avivern noch für die Flucht in die von den Scuds unerreichbaren südlichen Landesteile entscheiden. Angesichts der inzwischen technisch perfektionierten, mit mathematischer Präzision einschlagenden ballistischen Waffen sind jedoch keine Zweifel mehr möglich, daß es künftig für eine millionenstarke Zivilbevölkerung in keinem Dorf und in keiner Höhle Sicherheit mehr geben wird.

Das Gefühl der Nacktheit des Landes in künftigen Kriegen, daß nämlich die Zivilbevölkerung ohne jeden Schutz die hilflose Zielscheibe von erbarmungslos treffsicheren, konventionell oder unkonventionell bestückten Raketen sein wird, veranlaßt Befürworter und Gegner eines Kompromißfriedens in Israel, unterschiedliche Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Friedensbewegten halten die Akzeptanz des chronischen Kriegszustandes für politischen Selbstmord. Gewiß, bislang konnten die israelischen Kriegsopfer von Technokraten als schmerzlicher, demographisch aber verkraftbarer Aderlaß verbucht werden. Hingegen ist angesichts der Waffen, die in den Arsenalen der Region angehäuft werden, bei einem weiteren Waffengang mit einem apokalyptischen Drama zu rechnen. In der unmittelbaren Nachbarschaft hat Syrien nach Ende des Golfkriegs in Nordkorea mehrere Dutzend verbesserte (treffsichere) Scud-C-Raketen sowie eine Produktionsanlage für Scud-Cs eingekauft. Zwar steht zu hoffen, daß diese Bedrohung ausgeschaltet oder zumindest entschärft werden wird, sei es durch die neuerlich möglich erscheinende israelisch-syrische Annäherung, sei es durch die Impotenz der nach dem Verschwinden der bisher zuliefernden Sowjetunion morsch werdenden syrischen Militärmaschinerie des altersschwachen Assadschen Regimes. Wie immer dem auch sei, auf absehbare Zeit hat Israel mit den in Syrien vorhandenen Massenvernichungswaffen zu rechnen.

Ferner versprechen die Entwicklungen in der weiteren Nachbarschaft nichts Gutes: Politische und militärische Kreise in Israel sehen Grund zu der Befürchtung, daß der Iran und der Irak in nicht allzu ferner Zukunft in der Lage sein könnten, mit atomaren Sprengköpfen bestückte Raketen auf Israel abzufeuern. Nach israelischen Schätzungen könnte die Technologie, die zur Zeit aus Deutschland und den GUS-Staaten in den Iran geht, Teheran in acht bis zehn Jahren solchen Irrsinn ermöglichen. Noch früher erscheint Entsprechendes im Irak möglich -nämlich zwei bis drei Jahre nach Aufhebung der Kontrolle durch die internationale Staatengemeinschaft, die gegenwärtig ohnehin nur partiell funktioniert. Diese Entwicklungen finden in einem geopolitischen und geosoziologischen Kontext statt, in dem zumindest aus der israelischen Perspektive das Erstarken der „Islamischen Internationale“ bedrohliche Formen annimmt: von Afghanistan und Pakistan über den Iran, den Libanon, die von Israel besetzten Gebiete, Jordanien, Ägypten bis hin nach Algerien und nach dem Sudan. Sehen islamische Fanatiker im jüdischen Staat einen Fremdkörper im Nahen Osten, so ist die israelische Reaktion, mit der Bedrohung durch eine islamische Atomwaffe -etwa aus Iran oder Pakistan -zu rechnen, kaum paranoid. Um so mehr, da das in sämtlichen Nachbarstaaten anzutreffende autokratische Staatssystem chronische politische Instabilität gewährleistet. Angesichts dieser geopolitischen Situation sowie der immer raffinierter werdenden Waffentechnikzeichnet sich für die israelische Linke die Wiederholung der Schoa als ein verheerender historischer Prozeß ab: nämlich als Kriege, die Israel über kurz oder lang vernichten werden. Die Vorkämpfer eines Kompromißfriedens verfechten deshalb seit Jahren, daß militärische Sicherheit keine Bürgschaft für den Frieden ist, sondern daß allein der Frieden Israels Sicherheit garantieren wird. Jedoch ist es über Jahrzehnte realpolitisch nicht möglich gewesen, diese Maxime in die Wirklichkeit umzusetzen. Erst seitdem sich die Kraftfelder des kalten Krieges auch im Nahen Osten aufgelöst haben und im Juni 1992 die nationalistische Regierung Shamir in Israel abgewählt worden ist, steht Israel vor der politischen Alternative, sich auf das Experiment eines Kompromißfriedens entweder einzulassen oder davon Abstand zu nehmen. Dieser Versuch, so die Hoffnung der Friedensbewegten, wird nicht erst am Ende der Menschheitsgeschichte das von den biblischen Propheten angeregte Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen ermöglichen

V. Das Erbe biblischer Propheten

Linksorientierte Israeli neigen vielfach dazu, die jahrtausendelange jüdische Leidensgeschichte, deren letzter tragischer Höhepunkt die Schoa war, als Auftrag zu verstehen, auf eine ganz andere, bessere Zukunft hinzuarbeiten Ein Interview mit Außenminister Shimon Peres dokumentiert, inwiefern dieses humanistische Ziel den antiken Quellen des Judentums verpflichtet sein kann: Für Peres, der sich als Sozialist versteht und der von 1977 bis 1992 Vorsitzender und Spitzenkandidat der Arbeiterpartei gewesen ist, sind nicht die Denker der Arbeiterbewegung richtungweisend, sondern biblische Propheten Peres -wie auch andere Befürworter des Friedensprozesses -lassen sich sowohl von der sozialen Botschaft biblischer Propheten inspirieren als auch von deren Friedensvision, in der der Homo faber die Urbarmachung von Wüsten dem Kriegshandwerk vorzieht

Ist das Denken und Handeln politisch engagierter Zeitgenossen in Israel von prophetischen Traditionen inspiriert, so soll dies nicht romantisch idealisiert werden. Gilt doch die grundsätzliche Bereitschaft, durch territorialen Verzicht Frieden zu machen, auch in linken Kreisen außerhalb Israels als Desiderat -jedenfalls dürfte es sich um ein universales Phänomen handeln, wenn Linksliberale die Betonung nationaler Souveränität u. ä. als chauvinistischen Nationalstolz und Engstirnigkeit ablehnen. Nichtsdestoweniger scheinen biblische Propheten Pate zu stehen, wenn Frieden und soziale Gerechtigkeit an oberster Stelle auf der Prioritätenskala der Friedensbewegten in Israel stehen. Zwar manifestiert sich dies niemals durch bedingungslose Kriegsdienstverweigerung -nach neuzeitlichen Rechtsbegriffen zwar ein Grundrecht, jedoch in der Praxis mitunter ein Privileg, das zumindest in der Realpolitik des von Feinden umzingelten jüdischen Staats Selbstmord wäre. Aber auch ohne die Option pazifistisch motivierter Kriegsdienstverweigerung ist die Priorität, die soziale Gerechtigkeit und Frieden für die linksorientierten Friedensbewegten in Israel haben, durch den Kontrast zur Werteskala der Nationalisten deutlich: Letzteren ist nichts wichtiger als der Besitz von Gebieten, die dem jüdischen Volk laut jahrtausendealter göttlicher Verheißungen zugesagt sind, weswegen in der Gegenwart Eigentum an enteignetem Boden ein sankrosankter Rechtsanspruch sein soll.

Indem Befürworter eines politischen Kompromißfriedens mit den arabischen Nachbarn für Gerechtigkeit und Frieden kämpfen, scheint auch auf einer existentiellen Ebene eine Parallele zu biblischen Propheten erkennbar, obgleich dies nicht bewußt reflektiert wird: Im politischen Kräftespiel ihrer Zeit machten sich Propheten immer wieder Todfeinde mit ihrer Forderung, daß die Außenpolitik ihres Staatswesens unter Ignorierung der kalkulierbaren politischen Faktoren zu gestalten sei. Im ersten Jahrtausend vor der Zeitrechnung lautete ihr alternatives Konzept: bedingungsloses Vertrauen in den Gott Israels, weil dieser sein Volk auch in der Vergangenheit nicht im Stich gelassen hatte. Diese geschichtstheologische Begrifflichkeit dürfte auf die linksliberale, überwiegend säkular orientierte Friedensbewegung in Israel befremdlich wirken. Insofern scheint eine Ironie darin zu liegen, daß sich israelische Befürworter des Kompromißfriedens -meist ohne dies zu ahnen -jene Maxime der Propheten zu eigen machen: daß nämlich die Gefährlichkeit absehbarer Risikofaktoren, konkret ein möglicher Vernichtungskrieg mit modernster Massenmordtechnik, die Außenpolitik nicht bestimmen darf.

VI. Status quo als Überlebensrezept

Nationalistische Kreise in Israel bringen ihre Ablehnung der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung durch den Vergleich mit dem Münchner Abkommen von 1938 zum Ausdruck. Daß die politische Rechte Verzicht auf Territorium oder auf geopolitische Interessensphären als Ausverkauf und Verrat an der Nation empfindet, kann freilich auch außerhalb Israels beobachtet werden. Gleichwohl dürfte die Assoziation mit dem politischen Fehler Chamberlainscher Appeasement-Politik einen psychologischen Aspekt beleuchten, der spezifisch israelisch ist: nämlich, daß territoriale Verzichte für israelische Nationalisten mit einer Wiederholung der Schoa gleichbedeutend sind.

An eine alte biblische Tradition aus der Mosezeit anknüpfend, ist Amalek. die Verkörperung von Israels Todfeind, welcher das Ziel verfolgt, das Volk Israel zu vernichten. In den späteren Epochen der zweitausendjährigen Diaspora-und Leidensgeschichte des jüdischen Volks ist keiner Generation die Begegnung mit Amalek erspart geblieben, bis dann in diesem Jahrhundert ein Drittel des jüdischen Volks im nazistischen Amalekreich zu Asche gemacht wurde. Damit nicht genug: Die wenigen, denen es gelang, sich aus den Vernichtungslagern in das Land ihrer Väter zu retten, stießen im fruchtbaren Halbmond wie eh und je auf Amalek -in Gestalt der arabischen Nachbarn, die sich die Vernichtung des jüdischen Staats auf die Fahnen geschrieben hatten. Einer der prominentesten Amalek-Gestalten der Gegenwart ist der PLO-Vorsitzende Yassir Arafat, der mit einer angeblichen, jedoch niemals nachgewiesenen Blutsverwandtschaft mit Haj Amin al-Husseini prahlt, jenem Mufti von Jerusalem, der Hitlers Völkermord an den Juden tatkräftig unterstützt hatte. Lassen diese historischen Querverbindungen ganz frische und doch so uralte Traumata lebendig werden, so eignet der Assoziation mit Chamberlains politischem Verzicht eine existentielle Note, die spezifisch jüdisch ist: die Kapitulation vor Amalek, vor jener Macht, die in jeder Generation aufs neue versucht, das jüdische Volk vom Erdboden zu vertilgen.

Trotz der geographischen Nähe zu Hochburgen des Islam ist die Unkenntnis über die moslemische Kultur in Israel weit verbreitet. Ist dies schon Vorurteilen förderlich, so werden solche außerdem durch den Umstand begünstigt, daß die übelsten Verirrungen religiöser Ideologie im Bewußtsein einer breiten israelischen Öffentlichkeit den Islam repräsentieren. Anknüpfungspunkt sind Mordanschläge, die seit einigen Jahren immer wieder von islamisch-fundamentalistischen Selbstmordkommandos auf israelische Zivilisten verübt werden -

mit charakteristisch blutrünstiger Note, indem sprichwörtlich mittelalterliche Mordwaffen wie Schwerter, Äxte, Messer u. ä. verwendet werden.

Unter diesen Voraussetzungen legt die israelische Rechte gegenüber allem Arabischen eine tiefe Verachtung an den Tag. So, als erschöpften sich die Charakteristika arabischer Kultur in außenpolitischem Expansionismus, pathologischer Grausamkeit, Tyrannei, Heuchelei etc., wird alles Arabische und Islamische abgetan, als entstamme es einem Zeitalter vor der Magna Charta. In der Gegenwart wird diese Wahrnehmung etwa durch das palästinensische Nationalabkommen bestätigt, die Verfassung, die die PLO sich 1964 gegeben hat. Sie sieht u. a. die Vernichtung des zionistischen Staates vor und ist somit für israelische Nationalisten ein klares Signal: An der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert, da sich Demokratie und Kapitalismus behauptet haben, redet man in der arabischen Welt wie in antiken Legenden davon, daß man uns vernichten will! Das hat sich noch nicht einmal in der neuen Ära geändert, die mit dem weltweit bejubelten Arafat-Rabin-Handschlag heraufgedämmert sein soll. Denn nachdem Arafat in der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung die Außerkraftsetzung der für Israel unannehmbaren Artikel des palästinensischen National-abkommens akzeptiert hatte, ist nichts derartiges geschehen. Redet die Regierung Rabin dennoch mit diesen Palästinensern, so verfolgt sie die Politik der Judenräte in der Schoa. Diese hatten gemeint, sie könnten ihr Volk retten, indem sie mit den Mördern verhandelten. Auf diese Weise assoziieren israelische Nationalisten die diplomatischen Kontakte mit der PLO mit dem Verhalten von Schafen, die widerspruchslos in die Krematorien laufen. Letztere, historisch höchst problematische Bewertung der Schoa ist ein Eckpfeiler rechter politischer Ideologie in Israel: Nach der historischen Sicht der Rechten wird sich die Wiederholung der Schoa nur vermeiden lassen, wenn der jüdische Staat wehrhaft ist. Da die Welt damals tatenlos zugesehen hatte, darf sich das jüdische Volk seitdem nur auf sich selbst verlassen. In die Realpolitik des Nahen Ostens übersetzt heißt das, daß Israel mit konventionellen und unkonventionellen Waffen bis an die Zähne bewaffnet sein muß. Nur so wird es sich im Vorderen Orient, in einer der gefährlichsten Welt-gegenden, gegen die feindlichen Amalekmächte behaupten können. Zwar nicht öffentlich, jedoch bei privaten Anlässen wird mitunter von prominenten Politikern der rechten politischen Szene geäußert, die Arbeitspartei gehe mit dem Einsatz von Israels „atomarer Muskulatur“ viel zu zimperlich um. So sei Premierministerin Golda Meir im Yom-Kippur-Krieg ein gravierender Fehler unterlaufen. Als syrische Truppen fast die Front im Norden durchbrochen hatten, wodurch die Großstadt Haifa in Gefahr gewesen wäre, und als ägyptische Truppen auf die Sinaihalbinsel übergesetzt hatten, hätten klare Verhältnisse geschaffen werden müssen. Anstatt mit konventioneller Kriegsführung zu antworten, hätte Golda Meir Syrien und Ägypten unmißver -ständliche Ultimaten stellen müssen: „Wir werden in Damaskus und in Kairo ein zweites Hiroshima und Nagasaki anrichten, wenn ihr euch nicht zurückzieht!“

Was eine solche Strategie zu Zeiten des Kalten Kriegs für die Nahost-und Weltpolitik bedeutet hätte, bedarf keiner Erläuterungen. Davon abgesehen ist ohnehin nicht vorstellbar, wie Israel entsprechende radioaktive Strahlendosen hätte überleben sollen Psychologisch ist festzuhalten, daß die unter israelischen Nationalisten anzutreffende verzweifelte Entschlossenheit, mit dem Feind sich selbst zu zerstören, als Reaktion auf die Erfahrung der Schoa zu verstehen sein dürfte -eine Erfahrung, die seitdem noch einmal gemacht worden ist, freilich unter anderen politischen Voraussetzungen als in den vierziger Jahren in Europa, nämlich vor dem Sechstagekrieg: In jenen kritischen Monaten des Sommers 1967 wurden britische und französische Sicherheitsgarantien aus politischem Kalkül nicht eingehalten. Die ganze Welt war untätiger Zaungast, als Israel allein den Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens, Iraks, Saudi-Arabiens sowie Algeriens gegenüberstand. Kaum zwei Jahrzehnte nach der Schoa, als die Alliierten sich geweigert hatten, einige Bomben für die Stillegung der Todesindustrie in Auschwitz bereitzustellen, wurde in jenen kritischen Wochen vor dem Sechstagekrieg das noch frische Trauma lebendig: Die Welt schaut zu, während das jüdische Volk vom Erdboden getilgt wird.

Die verzweifelte Entschlossenheit, mit dem Feind sich selbst zu zerstören, ist ebenfalls ein Motiv, das uns in der biblischen Tradition begegnet: Von seinen Kerkermeistern geblendet, hat Simson, eine legendäre Gestalt mit übermenschlichen physischen Kräften keinerlei Zukunftsperspektive mehr. Durch seinen Selbstmord reißt er auch seine Feinde und Peiniger mit in den Tod. Bezeichnenderweise sind Simons letzte Worte -„Sei’s denn, daß ich mit den Philistern sterbe!“ -im politischen Lexikon der öffentlichen Diskussion in Israel geradezu sprichwörtlich geworden.

VII. Bürgerkrieg -mörderischer Messianismus -eine suizidale „Nie Massada!" Variante des wieder

Seit der Staatsgründung Israels ist das Massada-Motiv im kollektiven Bewußtsein der israelischen Öffentlichkeit lebendig: Umgeben von Amalekmächten, die Israel von der Landkarte radieren wollen, können sich Israeli mit jenen Zeloten identifizieren, die sich vor zwei Jahrtausenden über dem Toten Meer in der Massada-Festung verschanzten: Als die römischen Truppen die Festung nach über einem Jahr Belagerung schließlich stürmten, hatten die Insassen bereits kollektiven Selbstmord begangen. Hatte die Diaspora mit der Massada-Erfahrung eingesetzt, so sollte mit der Gründung Israels ein Schlußstrich unter die zweitausendjährige Leidensgeschichte des jüdischen Volks gezogen werden. Im kollektiven Bewußtsein des modernen jüdischen Staates, der sich von bis an die Zähne bewaffneten Amalekmächten umzingelt sah, wurde der Schwur „Nie wieder Massada!“ zum beherrschenden Motiv: Für die meisten Israeli ist dieses Motto Ausdruck für die Entschlossenheit, es nicht zur Vernichtung des Staates Israel und zu einer weiteren Vertreibung kommen zu lassen

Zwar können suizidale Neigungen dem konservativen Lager nicht pauschal nachgesagt werden. Indessen kristallisiert sich seit der Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung innerhalb des nationalistischen Lagers eine solche Variante des „Nie wieder Massada!“ heraus: Dahinter steht die Überzeugung, daß die Räumung israelischer Siedlungen in Cisjordanien, die als ein Bestandteil des biblischen Landes Israel gelten, einen Verrat an der zionistischen Idee darstellt -nämlich das Überleben des jüdischen Volks durch einen eigenen Staat zu gewährleisten. Von den etwa 110000 Siedlern sind zirka siebzig Prozent Wirtschaftssiedler. Dabei handelt es sich um einen Personenkreis, der nicht aufgrund einer säkularen oder religiösen Großisrael-Ideologie nach Cisjordanien gezogen war. Als die Miet-und Kaufpreise in Israel sehr hoch waren, hatten staatliche Subventionen einen attraktiven Wohnungsmarkt in den besetzten Gebieten geschaffen: eine halbe bis dreiviertel Stunde Fahrtzeit zum Arbeitsplatz in Tel Aviv oder Jerusalem, Wohnungen zu Billigstpreisen, gut organisierte (staatlich subventionierte) Dienstleistungen in den Schlafstädten, diese meist in pastoraler Berglandschaft gelegen -warum sollte man da widerstehen? Offenbar dachte die Mehrheit der Bevölkerung anders, insofern die zirka 80000 Wirtschaftssiedler kaum zwei Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen. Denn trotz schwindelerregender Preise auf dem Immobilienmarkt ist doch ein Mindestmaß politischer Indifferenz nötig, um sich auf derartige Geschäfte einzulassen. Wer tatsächlich außerstande gewesen war, über den Stacheldraht der eigenen Siedlung hinaus zu erkennen, daß die politische Zukunft der besetzten Gebiete mittel-oder langfristig ungewiß sein würde, konnte zumindest nicht in der eigenen Privatsphäre die physische Gefahr auf dem täglichen Weg zum Arbeitsplatz verkennen. Waren doch diese Fahrten spätestens in den Jahren der Intifada lebensgefährlich geworden.

Die tatkräftige finanzielle und politische Förderung der Siedlungen durch die Regierung Shamir hatte Anfang der neunziger Jahre nicht allein für Traumpreise auf dem Immobilienmarkt gesorgt, die empirische Gesetzmäßigkeiten der Volkswirtschaft Lügen straften. Politisch explosiver als die investierten Milliardenbeträge ist das damals entstandene psychologische Klima, dessen Auswirkungen nach dem Massaker in der Ibrahim-Moschee mehr denn je spürbar sind. Unter militantem Gebahren verschanzen sich nun extremistische Siedler in ihren meist luxuriösen Siedlungen, nachdem sie über viele Jahre vom Staat als Fackelträger der zionistischen Idee verhätschelt worden sind. „Hebron ist Israel“ heißt ihr Slogan, wenn über die Ausweisung von 415 Siedlern aus dem Stadtzentrum diskutiert wird.

Trotz ihrer geographischen Nähe liegen die Siedlungen für eine breite Öffentlichkeit in Israel auf einem anderen Planeten. Das zeigen beispielsweise die Schockwellen, die im Lauf des letzten Jahres periodisch von Bildern ausgelöst worden sind, die in der Gegend des nur knapp vierzig Kilometer von Jerusalem entfernten Hebron enstanden waren: Reportagen von randalierenden Siedler-milizen oder Wildwestszenen, in denen Siedler am 3. Dezember 1993 im Zentrum von Hebron mit automatischen Schußwaffen auf Palästinenser wie auf Freiwild schossen. Kaum ein Vierteljahr später hat das Massaker in der Ibrahim-Moschee erneut bewiesen, wie verschieden die Welten von Israeli innerhalb und außerhalb der besetzten Gebiete sind: Trotz der erwähnten Bilder dürfte auf viele Israeli zutreffen, was ausgerechnet Generalstabschef Ehud Barak meinte vor dem Untersuchungsausschuß zu Protokoll geben zu sollen: „Das Massaker fiel auf uns (die militärische Führung; T. K.) wie der Blitz aus heiterem Himmel.“

Wurde die politische Gefährlichkeit der Siedler jahrelang unterschätzt, so geht es nach dem Massaker in der öffentlichen Diskussion um jenes höchst explosive Gemisch von Pionierromantik, Kriminalität, religiösem Fanatismus und suizidalem Messianismus. Zu diesem Phänomen sei exemplarisch ein Hebroner Siedler zitiert: „Wir sind bereit, gegen die Ausweisung aus Hebron zu kämpfen. Niemand in der Regierung soll sich Illusionen machen, daß das in Ruhe geschehen kann... Es wird hier Blut vergossen werden. 1929 mußten sie Juden umbringen, um die jüdischen Einwohner aus Hebron zu vertreiben. Dieses Mal werden wir kämpfen... Wenn sie (die Soldaten) den Befehl nicht verweigern, werden sie auf Juden schießen müssen. Auch auf unserer Seite werden sich die Leute nicht zurückhalten.“ „Nie wieder Massada!“ ist für die Mehrheit in Israel Ausdruck des Willens, als jüdischer Staat zu überleben. In realpolitischer Praxis schließt das Verzicht und Kompromisse ein. Nicht so der Kern der Hartgesottenen unter den Siedlern: Sie identifizieren Massada mit ihrem jeweiligen Stacheldrahtverhau, wobei sie sich in der Rolle jener Vorfahren sehen, die furchtlos Selbstmord begingen und als tragische Helden in die kollektive Erinnerung eingingen. Wie gefährlich dieser militante Messianismus sein kann, beweist der am 27. April 1984 gerade noch rechtzeitig vereitelte Versuch nationalreligiöser Extremisten, die al Aksa-Moschee in Jerusalem in die Luft zu sprengen. Sollte sich die militärische Führung veranlaßt sehen, Siedlungen zu räumen, muß sie mit Befehlsverweigerung und Bürgerkriegsszenen rechnen.

VIII. „Ein Volk, das abseits wohnt, das sich nicht sieht wie die anderen Völker“

Auch nach dem 13. September 1993 und dem 4. Mai 1994 lauert im Nahen Osten nach wie vor die Gefahr eines Krieges mit Massenvemichtungswaffen. In dieser Situation zeichnen sich für Israel die neuerlichen Friedensmöglichkeiten wie eine in der Ferne liegende Oase ab, von der keiner sagen kann, ob sie sich als Fata Morgana erweisen wird. Zunächst ist der Weg dorthin voller Ungewißheit: Zwar ist neu, daß durch die Schaffung der Autonomie möglicherweise die Gründung eines Palästinenserstaates folgen könnte. Gleichwohl gilt als offen, ob Arafat in der Lage sein wird, die palästinensischen militanten Friedensgegner unter Kontrolle zu halten. Ebenso ist keine praktikable, d. h. für beide Seiten annehmbare Lösung des Problems der israelischen Siedlungen in Sicht. Was die Annäherung mit Syrien betrifft, scheint sich die Öffentlichkeit in Israel auf die Preisgabe der Golanhöhen einzustellen. Allerdings ist ein Friedensschluß und eine befriedete Grenze mit Syrien keineswegs eine abgemachte Sache, da sich Syrien bisher nicht bereit zeigt, Israels Sicherheitsinteressen anzuerkennen. Trotz dieser Ungewißheiten und Sorgen hat es in Israel wohl noch nie bessere Aussichten auf eine umfassende Entschärfung des israelisch-arabischen Konflikts gegeben. In dieser Situation ist in der öffentlichen Diskussion der gegenseitige Vorwurf zu hören, der politische Gegner ergötze sich an talmudischer Logik, die vielleicht in der Theorie funktioniert, aber niemals in der Wirklichkeit. Auf Außenstehende mag das Weltbild von Befürwortern und Gegnern eines politischen Ausgleichs je auf seine Weise wie Irrsinn wirken, insofern beiden Lagern ein apokalyptisches Inferno durch Massenvernichtungswaffen vor Augen steht. Tatsächlich scheint auf das Weltbild linker und rechter Israeli in gleicher Weise zuzutreffen, was bereits Hamlet zugute gehalten wurde: „Though this be madness, yet there is method in’t.“

Mancher jüdische Witz über talmudische Kasuistik thematisiert eine alte Gepflogenheit, die Wirklichkeit theologisch zu historisieren und zugleich zu ironisieren. In dieser Weise wird denn auch im politischen Alltag der Gegenwart mit einem von der Tradition ins zweite Jahrtausend vor der Zeitrechnung datierten Orakel umgegangen: Bileam, ein im ganzen Orient bekannter Zauberer, hatte von Israels Feind den Auftrag erhalten, das Volk Israel zu verfluchen. Nach der in Numeri 23, 9 festgehaltenen Überlieferung brachte der Seher jedoch lediglich kryptische Worte über die Lippen: „Ein Volk, das abseits wohnt, das sich nicht sieht wie die anderen Völker.“ Indem Nationalisten dieses Wort zu ihrem Programm umfunktionieren, wollen sie es als Segen verstanden wissen. Nicht so die israelische Linke: An der Schwelle zum 21. Jahrhundert, da die Menschheit in ein globales Dorf zusammenrückt, wird das Ergebnis dieser politischen Funktionalisierung des Bileamspruchs als Fluch erlebt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 1948: Unabhängigkeitskrieg; 1956: Sinaikrieg; 1967; Sechstagekrieg; 1968-1971: Zermürbungskrieg an der ägyptischen Grenze; 1973: Yom Kippur-Krieg; 1982-1985: Libanonkrieg; 1991: Golfkrieg.

  2. Durch die bis 1977 von Regierungen der Arbeiterpartei verantwortete Siedlungspolitik waren 20000 israelische Siedler in die besetzten Gebiete gezogen.

  3. Jesaja 2, 2-4; Micha 4, 1-4.

  4. Vgl. Shimon Peres, The New Middle East, New York 1993, S. ff. 183

  5. Vgl. Le Monde vom 28. 12. 1993, S. 2.

  6. Vgl. S. Peres (Anm. 4), S. 69, 132.

  7. Exodus 17, 8-16; Deuteronomium 25, 17-19.

  8. Luftlinie Damaskus-Haifa: 160 km; Kairo-Tel Aviv/Jerusalem: ca. 400 km.

  9. Richter 13, 2-16, 31.

  10. Richter 16, 30.

  11. Vgl. Thomas Krapf, „Nie wieder Massada!'Das Erbe des Staates Israel als psychologischer Faktor im Nahost-Konflikt“, in: Tribüne, 31 (1992) 121, S. 101-116.

  12. Seit Antritt der ersten Likudregierung 1977 bis 1992 sind zirka 15 Milliarden US-Dollar für die Siedlungspolitik ausgegeben worden.

  13. Zit. in: Ha’aretz vom 21. 3. 1994, S. 4 A.

Weitere Inhalte

Thomas Krapf, Dr. theol., geb. 1955 in Großbritannien; lebt als freier Journalist und Publizist in Jerusalem; Studium der evangelischen Theologie und der Judaistik in Tübingen, Straßburg, Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Veröffentlichungen u. a.: Yehezkel Kaufmann. Ein Lebens-und Erkenntnisweg zur Theologie der Hebräischen Bibel. Studien zu Kirche und Israel, Bd. 11, Berlin 1990; Die Priesterschrift und die vorexilische Zeit. Yehezkel Kaufmanns vernachlässigter Beitrag zur Geschichte der biblischen Religion. Orbis Biblicus et Orientalis, Bd. 119, Fribourg-Göttingen 1992.