Das Gaza-Jericho-Abkommen Wegmarke im Friedensprozeß
Udo Steinbach
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Zusammenfassung
Der Abschluß der „Declaration of Principles" (Gaza-Jericho-Abkommen) zwischen Israel und der PLO am 13. September 1993 in Washington bedeutete eine weitere Etappe auf dem Weg zu einem Frieden im Nahen Osten, dessen Kern in einer bindenden Verpflichtung Israels und der palästinensischen Nationalbewegung zur Koexistenz auf dem Boden Palästinas liegt. Wichtige Vorstufen dahin waren die Abkommen von Camp David am 17. September 1978 und der in Madrid am 30. Oktober 1991 begonnene Verhandlungsprozeß zwischen Israel und den arabischen Konfliktparteien. Die arabischen Kritiker des Abkommens verweisen darauf, daß keines der grundlegenden Ziele, für die die palästinensische Nationalbewegung seit dem Ende der sechziger Jahre kämpft, darin aufgenommen sei. Tatsächlich konnte Israel alle Vorgaben aus dem Abkommen heraushalten, die den endgültigen Status der Westbank, der nach fünfjähriger Übergangsperiode in Kraft treten soll, präjudiziert hätten. Auf der anderen Seite aber bedeuten die Herstellung eines weitreichenden Autonomiestatus von Gaza und Jericho und der israelische Truppenrückzug aus diesen Gebieten den Einstieg in einen politischen Prozeß, in dem beide Seiten die Aufrichtigkeit ihrer politischen Intentionen mit Bezug auf Koexistenz in Frieden und Gerechtigkeit unter Beweis stellen können. Für die Befürworter auf palästinensischer Seite ist das Abkommen somit ein „stepping stone“, von dem aus das letzte Ziel der palästinensischen Bewegung, der palästinensische Staat, erreichbar ist. Daß ein so gearteter endgültiger Status auch von israelischer Seite wenigstens nicht ausgeschlossen wird (auch wenn er in dem Dokument nicht anklingt), kommt darin zum Ausdruck, daß der Vertrag eben mit der PLO abgeschlossen wurde, die an diesem Ziel weiterhin festhält. Die langwierigen Verhandlungen über die Umsetzung des Abkommens seit September 1993 haben radikalen Ablehnungskräften auf beiden Seiten Ansatzpunkte zu gewaltsamen Aktionen gegeben. Daß der Prozeß gleichwohl fortgesetzt wurde, zeigt die Entschlossenheit der Führungen Israels und der PLO, auf dem begonnenen Weg voranzuschreiten. Daß mit der Eskalation der Gewalt die Frage nach der Zukunft der israelischen Siedlungen auf die Agenda kam, spricht eher dafür, daß sich das Tempo der komplizierten Verhandlungen in den nächsten Jahren noch beschleunigen könnte.
Der Abschluß der „Declaration of Principles" (DOP) oder -plastischer -des Gaza-Jericho-Abkommens, das am 13. September 1993 in Washington unterschrieben wurde, kam nicht von ungefähr. Nicht, daß jemand den Zeitpunkt hätte voraussehen können, an dem ein solches Dokument hätte zustande kommen müssen. Gleichwohl steht das Ereignis im Zusammenhang einer Logik der Entwicklungen, die seine Einordnung erleichtert. Von daher auch der Optimismus, daß es eine wichtige Etappe im Prozeß einer friedlichen Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts darstellt. Denn die zentrale Botschaft ist die grundsätzliche und unzweideutige Anerkennung der Teilung Palästinas zwischen Juden und Palästinensern. Es ist zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat neben Israel als der Verkörperung legitimer nationaler Rechte der Palästinenser -auch wenn der Text des Abkommens selbst so weitreichende Perspektiven nicht hergibt.
I. Ein langer Weg
Es ist hier nicht der Ort, den langen Weg nachzuzeichnen, den Israelis und Palästinenser gegangen sind, um -in ihrer Mehrheit -zu der Einsicht zu gelangen, daß es zu gleichberechtigter Koexistenz keine wirkliche Alternative gibt. Daß diese Einsicht auf beiden Seiten auch heute noch vielen schwerfällt, beweist die Eskalation der Gewalt, die nach dem Abschluß des Abkommens einsetzte. Sie war Ausdruck einer ablehnenden Minderheit auf beiden Seiten, die hoffte, durch Gewalt und Gegengewalt könnte der Ansatz zur Koexistenz ad absurdum geführt werden. Hervorgehoben werden müssen aber als wichtiger Meilenstein die ägyptisch-israelischen Rahmenvereinbarungen von Camp David Mit dem Zustandekommen des „Rahmens für den Abschluß eines Friedensvertrages zwischen Ägypten und Israel“, d. h. mit der Anerkennung der Existenz Israels durch Ägypten im Gegenzug zu der Rückgabe der 1967 besetzten Sinai-Halbinsel, war die grundsätz-liehe Perspektive einer arabisch-israelischen Koexistenz als einer Alternative zur Ablehnung Israels durch die Araber seit dem UNO-Teilungsbeschluß vom November 1947 eröffnet worden Für die Westbank und den Gaza-Streifen sah das „Rahmenabkommen für den Frieden im Nahen Osten“ volle Autonomie vor, über die zwischen Israel und der arabischen Seite -freilich noch nicht mit der PLO -verhandelt werden sollte. Die Abmachungen sind in hohem Maße, inhaltlich und prozedural, mit denen des Gaza-Jericho-Abkommens identisch. Da das Abkommen von allen arabischen Parteien abgelehnt wurde, führte Ägypten die Verhandlungen stellvertretend für alle anderen, bis sie wegen des Libanonkrieges 1982 abgebrochen wurden. Immerhin hatte auch die Likud-Regierung unter Menachem Begin im Camp David die „legitimen Rechte des palästinensischen Volkes und seine rechtmäßigen Bedürfnisse“ anerkannt. Die Frage war seither, wie die PLO als die einzige Vertreterin des palästinensischen Volkes (seit 1974) zur Anerkennung Israels und seines Existenzrechts gebracht und wie sie selbst in einen Verhandlungsprozeß würde einbezogen werden können.
Mit den sich in den kommenden Jahren intensivierenden Siedlungsaktivitäten in der Westbank trugen die Likud-Regierungen das ihre dazu bei, daß sich die Aussichten auf eine Verwirklichung der Camp-David-Abmachungen verringerten; eine Entwicklung, die durch die Ideologie eines Groß-Israel, die zentrale legitimatorische Grundlage der Likud-Regierungen in den achtziger Jahren, genährt wurde.
Mit ihrer militärischen und politischen Schwächung, die mit der Vertreibung aus Beirut und der durch Syrien seit 1982 betriebenen Spaltung der Organisation einherging, begann die PLO, namentlich die nationalistische Fatah-Organisation, die stärkste Gruppierung in ihr, mit Formulierungen zu experimentieren, die die Möglichkeit einer langfristigen Koexistenz mit Israel anzudeuten schienen. Die Entwicklung verlief zäh und nicht ohne Zweideutigkeiten und Rückschläge.Ein Durchbruch aber trat im Herbst 1988 ein. Mitte November verabschiedete der Palästinensische Nationalrat in Algier einstimmig die „Unabhängigkeitserklärung des Palästinensischen Volkes“. Ausgehend von historischen Rechten und in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensisch-arabischen Volkes wird zugleich das „Vertrauen auf die Vollmachten des Völkerrechts, ausgedrückt in den Resolutionen der Vereinten Nationen seit 1947“ zum Ausdruck gebracht. Das bedeutete, wenn auch in verklausulierter Form, die Anerkennung der Resolution 242 des UNO-Sicherheitsrates und damit des Existenzrechtes Israels. In einer begleitenden „Politischen Erklärung“ wird dann auf diese Resolution expressis verbis Bezug genommen. Unter Druck gesetzt, sich unzweideutig zum Existenzrecht Israels zu äußern, anerkannte der PLO-Vorsitzende Yassir Arafat am 14. Dezember 1988 nach intensiven diplomatischen Bemühungen hinter den Kulissen in einer Pressekonferenz in Genf das Recht aller Parteien im Nahostkonflikt, „in Frieden und Sicherheit zu existieren, einschließlich Palästinas, Israels und ihrer Nachbarn“ Die israelische Regierung, eine Koalition aus Likud-Block, der mit Itzhak Shamir den Ministerpräsidenten stellte, und Arbeiterpartei, deren Vorsitzender Shimon Peres Außenminister war, blieb mißtrauisch und verweigerte weiterhin direkte Kontakte mit der PLO. Diese aber verfügte damit ein Jahr nach dem Ausbruch der von ihr gesteuerten Intifada über eine doppelte Strategie: einerseits Druck auf Israel auszuüben, ohne selbst weiter den bewaffneten Kampf (mit terroristischen Methoden) führen zu müssen, und andererseits eine Option auf Verhandlungen auf der Grundlage international anerkannter Prinzipien. Mit dem Ende des Krieges der internationalen Allianz gegen Saddam Husain (28. Februar 1991) und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Verlaufe des Jahres 1991 waren neue Rahmenbedingungen für Verhandlungen geschaffen. Der amerikanische Präsident George Bush und sein Außenminister James Baker waren sich darüber im klaren, daß der Krieg gegen den irakischen Diktator zur Beendigung der Besetzung Kuwaits in arabischen Augen nur gerechtfertigt sein würde, wenn danach glaubhafte Anstrengungen unternommen würden, auch die Besetzung der Westbank und Gazas durch Israel zu beenden. Entsprechend intensiv war der Druck, den die amerikanische Regierung in den kommenden Monaten auf die Konfliktparteien und möglichen Verhandlungspartner ausübte. Zwar zeigten sich diese wie gewohnt zurückhaltend, doch befanden sie sich letztlich in einer relativ schwachen Position. Die nach dem Krieg am Golf nicht mehr zu übersehende Veränderung der internationalen Großwetterlage bot einen Rahmen, innerhalb dessen die regionalen Akteure ihre Positionen neu zu bestimmen haben würden. Amerikas Stellung war deutlich gestärkt; die politische Restmasse der Sowjetunion, einer noch bis vor kurzer Zeit durch ihre Unterstützung arabischer Positionen gewichtigen Großmacht im Nahen Osten, hatte in der Krise an der Seite Washingtons gestanden.
Diese Veränderung der Dinge mußte Damaskus, das jahrzehntelang die Unterstützung Moskaus erfahren hatte, ebenso wie Riad, das auch in Zukunft auf die politische und gegebenenfalls militärische Unterstützung Washingtons angewiesen sein würde, bereit machen, amerikanischem Ansinnen entgegenzukommen. Und Jerusalem konnte nicht länger die Augen vor der Tatsache verschließen, daß sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch im Nahen Osten der Stellenwert Israels für die westliche Politik, insbesondere die Sicherheitspolitik, verändert hatte. Die Palästinenser schließlich waren angesichts des forcierten israelischen Siedlungsprogramms und der politischen Isolierung, in die die PLO durch die offen demonstrierte Nähe zu Saddam Husain geraten war, zu weitgehenden Kompromissen bereit. Dies um so mehr, als die Palästinenser der Westbank aufgrund der Ereignisse gegenüber der PLO einen erweiterten Spielraum erlangt hatten, ihre politischen Interessen selbst zu artikulieren.
Die Verhandlungen, die mit der Eröffnungskonferenz am 30. Oktober 1991 in Madrid begannen, waren ein komplizierter Kompromiß zwischen unterschiedlichen Standpunkten der Beteiligten. Israel war immer für bilaterale Verhandlungen mit arabischen Regierungen eingetreten; die arabische Seite hatte auf multilateralen Gesprächen bestanden. Im Kompromiß wurde mit der Eröffnungskonferenz von Madrid ein multilateraler Einstieg in anschließende bilaterale Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien gemacht. Und da Israel es nicht nur kategorisch ablehnte, mit der PLO zu verhandeln, sondern auch zunächst bei seiner Ablehnung blieb, mit einer eigenen palästinensischen Delegation zu verhandeln, traten die Palästinenser im Rahmen einer gemischten jordanisch-palästinensischen Delegation auf. Aber auch der palästinensischen Gruppe in der jordanisch-palästinensischen Delegation machte die israelische Regierung Auflagen. So durften ihr weder Mitglieder der PLO noch Bewohner Ost-Jerusa- lems angehören. Begleitet waren die bilateralen Verhandlungen von multilateralen Gesprächen zu den Themen regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit, Umwelt, Wasserressourcen, Rüstungskontrolle und Flüchtlingsproblem.
Nach zehn Runden bilateraler und drei Runden multilateraler Verhandlungen innerhalb von zwei Jahren blieb das Ergebnis mager, wenn auch die Tatsache nicht unterschätzt werden sollte, daß man überhaupt miteinander sprach -und dies trotz immer wieder auftretender Störungen, wie etwa der Ausweisung von über 400 Palästinensern durch Israel im Dezember 1992 oder einer israelischen Militäroperation im südlichen Libanon im Juli/August 1993.
II. Die Wende: Das Gaza-Jericho-Abkommen
Abbildung 2
Autonomie für Jericho
Autonomie für Jericho
Als am 27. August 1993 der israelische Außenminister Shimon Peres den Abschluß eines Abkommens über „Gaza and Jericho first“ verkündete, war die Verblüffung unter nahezu allen Beobachtern des Friedensprozesses perfekt. Dies um so mehr, als der Madrid-Prozeß sichtlich in eine Sackgasse geraten war. Die Übereinkunft bestätigte, daß die Regierung in Tel Aviv schon bald nach der Rückkehr der Arbeiterpartei in die Regierungsverantwortung (Juli 1992) Kontakte zur PLO aufgenommen hatte -zu einer Zeit, als ein israelisches Gesetz noch jeden Kontakt zwischen Regierungsvertretern und der Organisation untersagte. Am 19. Januar 1993 hatte zwar das israelische Parlament dieses Kontaktverbot aufgehoben, doch hatte Ministerpräsident Rabin in einer Erklärung direkte Kontakte und eine direkte Rolle der PLO bei den Friedensverhandlungen abgelehnt Und noch am 17. Mai hatte er abgestritten, daß mit der PLO gesprochen werde.
Dabei wurden bereits seit mehreren Monaten Geheimverhandlungen geführt Bei insgesamt elf gemeinsamen Treffen, an denen auf palästinensischer Seite führende Mitglieder der PLO und auf israelischer Seite neben einer kleinen Gruppe von Akademikern schließlich auch Außenminister Peres beteiligt waren, wurden bis Ende August die Grundlinien des Abkommens ausgearbeitet. Gastgeber dafür war die norwegische Regierung. In einer Erklärung am 30. August gab der norwegische Außenminister Johan Jörgen Holst einen Überblick über die einzelnen Phasen des Prozesses Die dritte Phase, die „autorisierte Verhandlungsphase“, sei die entscheidende gewesen.
Holst war schließlich auch Empfänger eines Briefes des PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat vom 9. September, in dem dieser ebenso wie in einem Schreiben an Israels Minister September, in dem dieser ebenso wie in einem Schreiben an Israels Ministerpräsidenten Itzhak Rabin vom gleichen Tage für die PLO das Existenzrecht Israels anerkannte und den Verzicht auf Terror und Gewalt bekräftigte 7. Mit diesem Briefwechsel, zu dem auch ein Schreiben Rabins an Arafat vom gleichen Tag gehört, in dem der israelische Ministerpräsident den Beschluß seiner Regierung übermittelt, die PLO „als die Vertretung des palästinensischen Volkes anzuerkennen und Verhandlungen mit der PLO im Rahmen des Nahost-Friedensprozesses aufzunehmen“ 8, wurden die jeweiligen Bedingungen für eine gegenseitige Anerkennung erfüllt.
In einer feierlichen Zeremonie wurde das Gaza-Jericho-Abkommen vor dem Weißen Haus in Washington von Außenminister Shimon Peres und Mahmud Abbas, Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, am 13. September unterzeichnet. Die insgesamt sechs Dokumente beschreiben die Prinzipien und Schritte, die zu einer friedlichen Lösung des Konflikts führen sollen. Im einzelnen handelt es sich um eine Prinzipienerklärung, ein Memorandum sowie vier Zusatzvereinbarungen über die Modalitäten der Wahlen, den Rückzug der israelischen Truppen und regionale Entwicklung 9. Im Mittelpunkt des Vertrages steht die Einräumung einer vorläufigen Selbstverwaltung in den von Israel 1967 besetzten Gebieten -unter Ausschluß Jerusalems -über fünf Jahre. Im dritten Jahr der Selbstverwaltung sollen Verhandlungen über den endgültigen Status der Gebiete aufgenommen werden, wobei dann Jerusalem einbezogen wird. Die Prinzipienerklärung beeinhaltet eine grundsätzliche Übereinkunft zur Übertragung von Befugnissen auf die Palästinenser und über einen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gaza-Streifen und Jericho. Nach dem ursprünglich vereinbarten Zeitplan (der freilich aufgrund der Schwierigkeiten der Verhandlungen über die Einzelheiten der Verwirklichung des Vertrages schon bald nicht mehr realistisch erschien) hätten freie, direkte und allgemeine Wahlen in den besetzten Gebieten neun Monate nach der Inkraftsetzung der Prinzipien-erklärung (13. Oktober 1993), also bis zum 13. Juli 1994 abgehalten werden sollen.
III. Internationale und regionale Koordinaten
Die Frage nach der Zukunft und dem Erfolg der Verhandlungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, namentlich der PLO kann wohl kategorisch durch den Hinweis beantwortet werden, daß es zu ihnen keine Alternative für einen der Verhandlungspartner gibt. Die Argumente für sie umfassen Oktober 1993), also bis zum 13. Juli 1994 abgehalten werden sollen.
III. Internationale und regionale Koordinaten
Die Frage nach der Zukunft und dem Erfolg der Verhandlungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, namentlich der PLO 10, kann wohl kategorisch durch den Hinweis beantwortet werden, daß es zu ihnen keine Alternative für einen der Verhandlungspartner gibt. Die Argumente für sie umfassen ein breites Spektrum von Gegebenheiten, die von den Veränderungen in der internationalen Politik im Gefolge des Zerfalls der Sowjetunion bis zur Psychologie der führenden Staatsmänner bei der Kehrtwende im Verhandlungsprozeß, die in Oslo vollzogen wurde, reichen.
Auf der internationalen Ebene ist das Verschwinden der Sowjetunion als eines mitgestaltenden Akteurs auch der Entwicklungen im Nahen Osten ein entscheidender Sachverhalt. Damit verloren die wichtigsten arabischen Akteure eine willfährige Unterstützung ihrer Hoffnung, eines Tages doch noch in die Lage versetzt zu werden, Israel unter Druck zu setzen, die besetzten Gebiete zu räumen, ohne die Anerkennung des jüdischen Staates als „Vorleistung“ erbringen zu müssen. (In Wirklichkeit sind auf arabischer Seite die mit der Sowjetunion verbundenen Hoffnungen eher noch weiterreichend gewesen.) In Israel andererseits wurde die Sowjetunion vor dem Hintergrund des Interesses Moskaus, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten an Einfluß zu gewinnen, als Bedrohung empfunden. Mit dem Verschwinden der Sowjetunion von der weltpolitischen Bühne wurden auch im Nahen Osten die Spielregeln des west-östlichen Nullsummenspiels, nach dem die eine Macht in dem Maße verlieren würde, in dem die andere gewänne, außer Kraft gesetzt. Seitdem die USA als die einzige bestimmende Großmacht weltpolitischen Zuschnitts dominierte (auch wenn Washington seit der Konferenz von Madrid den Vorsitz des Friedensprozesses mit Moskau teilte), waren beide Seiten -die arabische wie auch die israelische -mit einer neuen Ausgangssituation konfrontiert. Die USA aber mußten in der Ära nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein erhebliches Interesse an einem Ausgleich im Nahen Osten haben 11.
Auf der regionalen Ebene war schon vor dem weltpolitischen Wandel von 1990/91 die arabisch-israelische Konfrontation durch andere regionale Konfliktkonfigurationen überlagert bzw. in den Hintergrund gedrängt worden. Im ersten Golfkrieg war die Gefahr eines iranischen Durchbruchs und einer fundamentalistischen Machtübernahme in Teilen des Nahen Ostens mit den Jahren zur größten Bedrohung der Sicherheit einiger Nahoststaaten geworden. In dem Kommunique der arabischen Gipfelkonferenz von Amman vom November 1987 12 mußte der arabisch-israelische Konflikt hinter dem Krieg am Golf zurücktreten -was die Palästinenser in den besetzten Gebieten wenige Wochen später mit dem Ausbruch der Intifada quittierten, indem sie nun ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen 13. Im übrigen war Israel auf diskrete Weise im Golfkrieg involviert, wie in dem als „Irangate“ bezeichneten Skandal zutage getreten war. Damals (1985/86) hatte der Iran amerikanische Waffen -zum Teil durch israelische Vermittlung -erhalten.
Im zweiten Golfkrieg war Israel zwar nicht Mitglied der gegen den irakischen Diktator gebildeten Allianz. Doch stand es -spätestens seit der Beschießung mit irakischen Raketen -in demselben Lager, wurde es doch von demselben Mann bedroht, der seine Truppen nach Kuwait geschickt hatte und der Saudi-Arabien mit den gleichen Waffen beschoß, die auch Israel bedrohten. Indem sie Saddam Husains Forderungen ignorierten, Israel müsse sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen und unabhängig davon auf einen Abzug Saddams aus Kuwait bestanden, schienen die arabischen Teilnehmer an der Allianz den Kampf gegen ein arabisches Regime dem Kampf gegen den gemeinsamen Feind Israel überzuordnen. Die offen gegenüber den arabischen Mitgliedern der Golf-Allianz zum Ausdruck gebrachten Antipathien zahlreicher Palästinenser waren dieselben, die diese auch Israel entgegenbrachten. Die arabische Front -verbal immer wieder beschworen -war damit praktisch zusammengebrochen.
Auch die Intifada hat nachhaltige Anstöße zu einem Bewußtseinswandel gegeben. Sechs Jahre des palästinensischen Aufstands hatten der PLO vor Augen geführt, daß die Intifada Israel zwar störte und auf Wirtschaft, Moral und die internationale Stellung des Landes nicht ohne negative Auswirkungen war. Nur von ihrem Ziel, eine Beendigung der Besatzung herbeizuführen, waren die Steine werfenden Jugendlichen trotz des hohen Blutzolls weit entfernt. Israel seinerseits hatte sich darüber klar werden müssen, daß eine Besatzung ohne Opfer nicht aufrechtzuerhalten ist, daß es eine sanfte Besatzung nicht gibt. Eine Besatzung also, die dadurch ein freundliches Gesicht erhielte, daß man der Bevölkerung des besetzten Landes die Möglichkeit geben würde, bei der Besatzungsmacht selbst zu arbeiten und so den Lebensstandard aller Beteiligten zu erhöhen. Die Intifada hatte der Besatzung die Maske heruntergerissen und dahinter für die gesamte Weltöffentlichkeit sichtbar das wahre Gesicht enthüllt: die Brutalität einer Armee und das Unrechtsregime einer Besatzungsmacht, die Praktiken anwenden, welche zu grundlegenden westlichen Wertvorstellungen in krassem Widerspruch stehen
Daß auch vor diesem Hintergrund Washington noch außerordentliche diplomatische Anstrengungen unternehmen mußte, um schließlich in Madrid den Friedensprozeß in Bewegung zu bringen, verweist auf die äußerst komplizierte Ausgangssituation.
IV. Die Wende von Oslo
Die israelischen Wahlen im Juni 1992 sollten den Beginn einer neuen Etappe des Verhandlungsprozesses bedeuten. Unbeschadet der Teilnahme am Madrid-Prozeß hatten die führenden Politiker des Likud keine Zweifel daran gelassen, daß „Judaea und Samaria“ nicht zur Disposition stehen würden. Und trotz amerikanischen Drucks war die Besiedlung der besetzten Gebiete fortgesetzt worden. Die Entscheidung der israelischen Wähler, die die Arbeiterpartei mit 44 Sitzen zur stärksten Fraktion in der Knesset machten (der Likud erhielt 32 Sitze) und somit eine Koalitionsregierung unter ihrer Führung ermöglichten, war auch ein Mandat für Verhandlungen um einen Ausgleich mit den Palästinensern, der einen möglichen Rückzug Israels aus der Westbank beinhalten würde. Angesichts der Alternative einer kostspieligen Fortsetzung der Siedlungsaktivitäten bei wachsendem internationalen Druck auf der einen und der Konzentration der zur Verfügung stehenden Mittel auf die Integration jüdischer Neueinwanderer, vornehmlich aus Rußland, und damit der Konsolidierung der israelischen Gesellschaft selbst auf der anderen Seite, hatte der Wähler zugunsten des letzteren entschieden. Am 13. Juli 1992 wurde dem neuen Kabinett Rabin mit 67 gegen 53 Stimmen das Vertrauen ausgesprochen.
Gleich seine zweite Auslandsreise führte den neuen Regierungschef vom 7. -13. August nach Washington (seine erste Reise am 21. Juli hatte dem ägyptischen Präsidenten Mubarak gegolten). Rabin gelang es, Präsident Bush von der ernsthaften Absicht der neuen israelischen Regierung zu überzeugen, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten zu beenden. Daraufhin sagte ihm der amerikanische Präsident am 11. August die Übernahme der gewünschten Kreditbürgschaft durch die USA zu.
Mit Bezug auf die Stellung der Palästinenser im Nahostkonflikt im allgemeinen und die Rolle der PLO und Yassir Arafats bei einer Lösung im besonderen hat Shimon Peres, ganz entscheidend der Architekt des Abkommens vom 13. September 1993, in seinem bemerkenswerten und streckenweise visionären Buch „Die Versöhnung. Der neue Nahe Osten“ eine Reihe von Einsichten formuliert, die unmittelbar auf die neue Ausrichtung der Verhandlungen, wie sie schließlich in Oslo geführt wurden, hinführen. So sei es ihm klar geworden, daß im Zentrum des Konflikts, der seit etwa einhundert Jahren andauere, die palästinensische Sache liege Je länger sich der Verhandlungsprozeß in Washington hingezogen habe, um so größer seien seine Zweifel geworden. „Jerusalem“ sei ein Felsen, die „Siedlungen“ eine Sandbank geworden, an denen die „Papierschiffe“, die dort in den Meeren der Formulierungen umhersegelten, immer wieder gescheitert seien Und schließlich wird ihm auch die „bestimmende Persönlichkeit“ des Yassir Arafat immer klarer: seine „mythische“ Erscheinung, seine bestimmende Rolle im Verhandlungsprozeß, an dem er und seine Leute nicht unmittelbar beteiligt waren. Peres findet Worte, die wohl früher schwerlich von einem führenden israelischen Politiker zu erwarten gewesen wären: „Darüber hinaus bewies Arafat im Laufe der 25 Jahre, die er an der Spitze der PLO stand, persönlichen Mut und nicht weniger als das -Manövrierfähigkeit.“ Und daraus zieht Peres dann die unzweideutige Schlußfolgerung: „Es wurde mir klar, wenn wir keine direkten Kontakte mit Arafat herstellten, würde sich nichts bewegen. Allerdings war die Aufnahme einer direkten Verbindung zu Arafat keine Kleinigkeit in den Augen der israelischen Bürger, die wir vertraten... Was aber würde geschehen, wenn wir ihn anerkannten und er seine Position nicht änderte? ... Es ging darum, mit Arafat Verhandlungen zu führen, ohne ihn anerkannt zu haben. Dazu war absolute Geheimhaltung notwendig. Die norwegische Geheimhaltung war hier für uns ein Geschenk des Himmels.“
Tatsächlich begann die Regierung der Arbeiterpartei nahezu umgehend, die prozeduralen Bremsen, die von der Likud-Regierung ererbt waren, aus dem Weg zu räumen. Das Gesetz, das Kontakte zwischen Israelis und Angehörigen der PLO verbot, wurde aufgehoben. Obwohl auch die neue Regierung mit der gemeinsamen jordanisch-palästinensischen Delegation verhandelte, unterstützte sie zugleich stillschweigend deren intensive und offene Konsultation mit der PLO, gestattete die Teilnahme von Palästinensern der Diaspora an den multilateralen Verhandlungen und räumte schließlich die Teilnahme eines Palästinensers aus Ost-Jerusalem, Faisal Husseini, im Rahmen der palästinensischen Delegation ein
Gleichwohl schwand der anfängliche Optimismus rasch dahin; und jede Verhandlungsrunde schien die Aussichten auf ein Übereinkommen eher zu dämpfen. Die Dinge blieben, was sie seit Madrid gewesen zu sein schienen: eine Veranstaltung, die nach dem Willen einer amerikanischen Macht zustande kam, der sich nach dem Krieg am Golf keine Partei hatte widersetzen können. Dabei hatten die Palästinenser eine klare Vorstellung von dem Ergebnis, auf das sie hinarbeiteten, nämlich den unabhängigen Staat. Folglich waren alle Positionen mit Bezug auf ein Interimsabkommen auf dieses Ziel ausgerichtet. Demgegenüber hatte die israelische Seite keine so kohärente positive Zielvorstellung. Ihre Verhandlungsposition war durch das entschlossene Bemühen gekennzeichnet, sicherzustellen, daß ein Interimsabkommen nicht automatisch zur Verwirklichung der palästinensischen Ziele führen werde. Diese unterschiedlichen Zielvorstellungen machten es schwierig, hinsichtlich der Dauer und des Ausmaßes an Befugnissen der palästinensischen Interimsverwaltung zu Vereinbarungen zu kommen, da diesbezügliche Abmachungen direkt oder indirekt mit dem endgültigen Status -z. B. Jerusalems -verbunden waren.
Neben dieser Divergenz der Verhandlungsziele wirkten zugleich die Interessen der PLO als Organisation blockierend auf die Verhandlungen, auf die die Führung in Tunis zwar einen bestimmenden Einfluß hatte, in denen ihr andererseits aber keine unmittelbare Rolle eingeräumt war. Ein solcher Status war angängig, solange die Verhandlungen unverbindlich dahinliefen. Sollte freilich wirklich eine Übereinkunft gefunden und schließlich über einen Zeitraum implementiert werden, mußte sich ein solches Arrangement für die PLO als schädlich erweisen. Würde eine solche Interimsverwaltung scheitern, würde die PLO dafür geziehen, einer solchen überhaupt zugestimmt zu haben. Würde sie hingegen funktionieren, würden jene Palästinenser davon profitieren, die die Verwaltung bis dahin tatsächlich ausgeübt und sich so Respekt bei der Bevölkerung erworben hätten. Für die PLO gab es also wenig Anreiz, sich auf ein Abkommen, wie von Israel vorgeschlagen, einzulassen.
Diese Kombination von Hindernissen hatte den in Madrid begonnenen Prozeß praktisch in eine Sackgasse geraten lassen. Auch der Regierungswechsel in Israel erwies sich als nicht durchschlagend genug, ein neues Moment zu erzeugen; es mußte also noch mehr geschehen. Die Hinwendung zur PLO, die mit den Kontakten von Oslo vorbereitet war und schließlich von Rabin autorisiert wurde, war die eine Konsequenz; die Vorschaltung einer umgehenden weitreichenden Selbstverwaltung von Gaza und Jericho die andere. Noch einmal Shimon Peres: „Die Übereinkunft, die wir gemeinsam erreicht hatten, war die gemeinsame Grundsatzerklärung. Im Gegensatz zu den Washingtoner Unterhandlungen beinhaltete die Osloer Vereinbarung auch einen Artikel, der die Gebiete betraf -den Gaza-Streifen und Jericho. Die palästinensische Seite erhielt in Oslo also nicht nur philosophische Prinzipien, die an und für sich schon wichtig sind, sondern konkrete Absprachen über Gebiete.“
Ist das Abkommen das Diktat eines übermächtigen israelischen Verhandlungspartners gegenüber einer PLO, die dabei war, von der politischen Bühne zu verschwinden, wie viele arabische Kritiker argumentieren? Wurde es also von einem Arafat gleichsam als Strohhalm ergriffen, der nach zahlreichen politischen Fehlern Gefahr lief, von anderen Kräften abgelöst zu werden, und der nicht zuletzt auch aus materiellen Schwächen, die sich mit der Einstellung der Zuwendungen 'der ölreichen Regime abzuzeichnen begannen, seiner organisatorischen Basis verlustig zu gehen drohte? Und wäre es nicht besser gewesen, wenn die PLO, der einstmals gefürchtete Gegner der Israelis, den Geist tatsächlich aufgegeben hätte, wie nicht wenige israelische Gegner gegen ihre Regierung argumentiert haben? Ein solches Räsonnieren verrät das alte Nullsummendenken im Verhältnis zwischen den beiden Kontrahenten um Palästina. Ein tieferer Blick aber zeigt, daß beide Seiten die Kosten neu kalkuliert hatten, die aus fortdauernder Bewegungslosigkeit erwachsen würden. Die Regierung Rabin war mit einem Rückenwind angetreten, der sie zur Erreichung eines Abkommens über die Westbank drängte. Ein Scheitern mußte ihr Ansehen auch innenpolitisch untergraben. Die Situation wurde freilich um so komplizierter, ja gefährlicher, als mit wachsender Kraft der „Bewegung des Islamischen Widerstands“ (Harakat al-muqawama al-islamiyya, Akronym: was Hamas, als Begriff zugleich wiederum „Eifer“ bedeutet) ein politischer Akteur an Einfluß gewann, der das Existenzrecht Israels aus radikal-islamischer Dimension heraus zurückweist. Mit wem würde man angesichts dieses Umstands nach einem möglichen Verschwinden der PLO verhandeln können?
Und auch für die PLO Arafats war in Hamas ein Rivale erwachsen, der um so stärker wurde, als sich die Verhandlungen als unersprießlich erwiesen und die israelische Besatzung andauerte. Die PLO mußte also das Gesetz des Handelns zurückgewinnen. Das Abkommen war dazu geeignet; und mit konkreten Verhandlungen über Gaza und Jericho sowie mit der Perspektive, die Verwaltung dort zu übernehmen, vermochte sie Handfestes vorzuweisen. Im übrigen machte Arafat bei jeder Gelegenheit klar, daß von den Zielen, nämlich der Errichtung des palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt, auch mit Abschluß des Abkommens nicht abgewichen werde. Vor diesem Hintergrund ist die israelische Regierung mit einem Abkommen mit der palästinensischen Nationalbewegung -trotz der unbestreitbaren Überlegenheit israelischer Machtmittel -kein geringes politisches Risiko eingegangen. Es fällt schwer, Sieger oder Verlierer eindeutig zu ermitteln.
Im Austausch für eine prozedurale und symbolische substantielle Konzession Israels, nämlich die Anerkennung der PLO und die Bereitschaft, mit ihr um konkrete Gebiete und deren Verwaltung zu verhandeln, stellte die PLO -zumindest für den Augenblick -ihre grundlegenden Forderungen zurück und ging auf etwas ein, was sie zwar im Prinzip nicht ausgeschlossen, aber worauf sie sich im Verhandlungsprozeß nach Madrid niemals eingelassen hatte: ein Interimsabkommen, das den endgültigen Status der besetzten Gebiete offenlassen und die Verhandlungen der umstrittenen Punkte auf einen späteren Zeitpunkt verschieben würde.
V. Polarisierung auf beiden Seiten
Der Abschluß des Abkommens hat beide Seiten -die israelische wie die palästinensische -tief gespalten. Dies um so mehr, je länger sich die Verhandlungen um die Verwirklichung der Autonomie für Gaza und Jericho aufgrund komplizierter Detailprobleme hinzogen. Auf beiden Seiten hatte zunächst die Zustimmung überwogen. Für die palästinensische Seite sind zwar aussagekräftige Zahlen kaum zu haben Auch war es schwierig, zahlenmäßig zwischen denen zu unterscheiden, die das Abkommen ausdrücklich akzeptierten, und jenen, die es zwar ablehnten, aber nicht dagegen auftraten, um die Polarisierung und Spannungen zwischen den Palästinensern nicht weiter zu vergrößern. Die Bilder aus Palästina freilich, Bilder begeisterter Menschen, die ein Meer palästinensischer Flaggen hißten -wogegen israelische Soldaten nun nicht mehr vorgingen -, wie sie von den Medien um die Welt geschickt wurden, lassen keinen Zweifel daran, daß die Mehrheit der Palästinenser große Erwartungen in das Abkommen setzt. Hingerissen von überschäumenden Emotionen, scheinen viele das Abkommen schon mit einer endgültigen Regelung, die ihnen das Ende der israelischen Besatzung und einen eigenen palästinensischen Staat bringen würde, verwechselt zu haben. Umfragen auf der israelischen Seite zeigen demgegenüber eine zunächst zurückhaltende, später sehr deutliche Zustimmung Es ist hier nicht der Ort, um die zum Teil pauschalen, zum Teil differenzierten Argumente gegen das Abkommen vorzutragen. Die radikalste Absage unter den Palästinensern kam aus dem extremistischen islamischen Lager, das nicht nur das Abkommen als solches, sondern letztlich Verhandlungen insgesamt ablehnt, da grundsätzlich die Existenz und das Existenzrecht Israels zurückgewiesen werden
Ein grundsätzliches Argument gegen das Abkommen war der Vorwurf, daß es die letztlich aus palästinensischer Sicht entscheidenden Punkte der Grenzen, Flüchtlinge, israelischen Siedlungen, Jerusalems und der Souveränität über die 1967 von Israel besetzten Gebiete offenlasse. Es berufe sich nicht auf Vorgaben des internationalen Rechts oder auf beiderseits vereinbarte bzw. andere halbwegs objektive Kriterien dafür, wohin sich der Verhandlungsprozeß schließlich entwickle. Es hänge vielmehr von der Einschätzung der jeweils an der Macht befindlichen israelischen Regierung ab, mit Blick auf Verhandlungen über eine endgültige Regelung zu befinden, ob sich die Palästinenser während der einzelnen Stadien der Interims-periode zufriedenstellend verhalten und sich somit zu weiterreichenden Schritten in Richtung auf die Wahrnehmung der Selbstbestimmung vorbereitet gezeigt hätten. Eine Garantie aber für solche „Probezeiten“ könne keine palästinensische Führung übernehmen.
Im übrigen sei das bestehende Abkommen „schlampig“ ausgehandelt. Nirgendwo enthalte es klare Absprachen hinsichtlich der Implementierung der Autonomie von Gaza und Jericho. So habe sich zwar die PLO-Führung offensichtlich mit Nachdruck um die Anerkennung ihrer Organisation und um Sicherheitsfragen gekümmert, nicht aber um wirtschaftliche und andere Details
Viele und namhafte Palästinenser -unter ihnen Haidar Abd al-Schafi, der die palästinensische Delegation in den Washingtoner Verhandlungen geleitet hatte -nahmen nicht nur am Inhalt des Abkommens, sondern auch an der Art seines Zustandekommens und seiner Umsetzung Anstoß. Die Tatsache, daß die Verhandlungen geheim geführt und die Palästinenser nicht konsultiert worden seien und daß die PLO die Verwirklichung aus eigenen personellen Kapazitäten unter Umgehung der Palästinenser in den Gebieten selbst anstrebe, ließ Besorgnisse über den demokratischen Charakter des Prozesses und die langfristigen Intentionen der PLO und ihres Führers aufkommen. So hänge das’Schicksal des Abkommens und des palästinensischen Volkes weithin von der Fähigkeit seiner Institutionen ab, eine repräsentative und demokratische Regierung, effiziente öffentliche Dienstleistungen und ein rasches Wirtschaftswachstum zu gewährleisten, das einer größtmöglichen Zahl von Menschen zugute kommen werde.
Unter dem Strich freilich dürfte die innerpalästinensische Opposition, insofern sie überhaupt zur Sache argumentierte, mit Rashid Khalidis Schlußfolgerung übereinstimmen: „For better or worse, however, at this stage there appears to be for the Palestinians little alternative to attempting to make the best of a bad deal.“
Auf israelischer Seite war das Lager derer, die das Abkommen ablehnten, weniger diffus, denn immerhin erhielt Ministerpräsident Rabin am 21. September parlamentarische Unterstützung. Nach einer dreitägigen Debatte billigte die Knesset es mit einer relativ klaren Mehrheit von 61 zu 50 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Die parlamentarische Opposition unter Führung des Likud warf der Regierung vor, den Weg zur Aufgabe von „Judaea und Samaria“ beschritten und mit der Aufwertung der PLO die Sicherheit Israels gefährdet zu haben; dies vor allem auch deshalb, weil die palästinensische Nationalcharta, die eine Zerstörung Israels fordert, noch in Kraft sei. Rabin habe kein Recht, Land an die Palästinenser abzutreten. Die militanten Siedler beschuldigten die Regierung des Verrats an der zionistischen Sache und drohten, sich palästinensischen Ordnungskräften bewaffnet zu widersetzen.
Der Abschluß des Abkommens löste eine Lawine von Gewalt aus, die von Extremisten auf beiden Seiten begangen wurde. Dabei tat sich auf palästinensischer Seite die islamische Hamas-Organisation hervor und reklamierte die Täterschaft für Anschläge, die zum Teil in Israel, zum Teil in den besetzten Gebieten begangen wurden Auf israelischer Seite ging die Initiative zu gewalttätigem Vorgehen von extremistischen Siedlern aus, die zu Protestveranstaltungen gegen die Regierung aufriefen und militante Provokationen unter der arabischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten durchführten Ziel der militanten Aktionen auf beiden Seiten war es, eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen, die schließlich zum Zusammenbruch der Verhandlungen führen würde Zugleich aber setzte das israelische Militär die konsequente Bekämpfung arabischer Extremisten fort -Maßnahmen, die ihrerseits auch zur Desillusionierung unter breiten Teilen der palästinensischen Bevölkerung beitrugen.
Der schleppende Gang der Verhandlungen und die daraus resultierende Gewaltanwendung haben das Lager derer, die dem Abkommen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, deutlich verbreitert. Bemerkenswert ist aber, daß die Verhandlungen gleichwohl nicht abgebrochen wurden. Zwar hat es Verhandlungspausen gegeben -insbesondere nach dem Massaker von Hebron; doch wurde das Ziel der Vertragsgegner nicht erreicht. Im Gegenteil: Die brutalen Störmanöver haben nicht nur gezeigt, wie wichtig es ist, zügiger zu verhandeln. Vielmehr mußten diese auch zwangsläufig dazu führen, daß die Frage nach der Zukunft der Siedlungen und der Siedler, die erst in den Verhandlungen um den endgültigen Status der Westbank hätte berührt werden sollen, bereits unübersehbar auf die Agenda gesetzt werden mußte. Zwar hat sich Ministerpräsident Rabin geweigert, bereits irgendwelche Schritte und konkrete Maßnahmen zu unternehmen, doch hat er unmißverständlich eingeräumt, daß, wenn es denn zu einem wirklichen Frieden kommt (auch gegenüber Syrien), die Frage der Siedlungen nicht tabu sein darf Auch sind Anzeichen unübersehbar, daß die ersten Siedler begonnen haben umzudenken und daß sie eine freiwillige Rücksiedlung nach Israel nicht mehr ausschließen.
Mit dem Abschluß des Abkommens über die Über-gabe administrativer Verantwortung an die Palästinenser in Gaza und Jericho (bei gleichzeitigem militärischem „Rückzug“ der Israelis) ist zwar eine wichtige Etappe erreicht; gleichwohl ist sie nur der Beginn eines Verhandlungsmarathons, das sich über Jahre hinziehen wird. Unmittelbar anschließen werden sich die Verhandlungen um das Interimsabkommen, das die Befugnisse des palästinensischen Self-Governing Authority Council und die Modalitäten der Wahlen zu ihm festlegen wird. Die israelischen Truppen sollen dann umgruppiert und aus den bewohnten Gebieten in andere Teile der besetzten Gebiete verlegt werden. Der Council wird dann seine exekutiven und legislativen Funktionen in den Bereichen Erziehung, Kultur, Gesundheit, soziale Wohlfahrt, Steuern und Tourismus auf der Grundlage des Abkommens wahrnehmen. Mit dem dritten Jahr der palästinensischen Autonomie sollen dann die schwierigen Gespräche über den endgültigen Status der besetzten Gebiete beginnen, bevor nach Ablauf der fünfjährigen Übergangsperiode die dritte Stufe des Prozesses, eben dieser endgültige Status, in Kraft gesetzt wird.
Auf diesem langen Weg sind zahlreiche Hindernisse zu überwinden, die auch Gefahren für den Prozeß beinhalten. Sie liegen zum einen in der Ambiguität der Abmachungen. Schon die Verhandlungen um die Verwirklichung des Gaza-Jericho-Vorspiels der Interimsperiode haben erkennen lassen, wo fundamentale Gegensätze sind: Während Jerusalem seine operationale Kapazität zu maximieren versuchte, um für Israel und die Israelis in den besetzten Gebieten ein Höchstmaß an Sicherheit zu garantieren, suchten sich die Palästinenser nach Möglichkeit exklusive Autorität zu sichern. Andere Unklarheiten, die sich aus dem Vertrag ergeben, traten zutage. Verhandelt werden müssen schließlich auch Punkte, die in dem Abkommen gar nicht angesprochen werden. Dazu gehören die Landwirtschaft (mit Implikationen für die Kontrolle von Land und Wasser) und das Transportwesen (mit Implikationen für die Kontrolle der Straßen).
Eine andere Gefährdung droht dem Prozeß angesichts der Unsicherheit darüber, ob beide Seiten ihre gewaltbereiten Extremisten werden in Schach halten können. Wird es den palästinensischen Autoritäten möglich sein, entschlossen gegen Gewalttäter vorzugehen, ohne in den Ruch der „Kollaboration“ mit dem „zionistischen Feind“ zu geraten? Und auf der anderen Seite stellen zwar die Siedler nur etwa drei Prozent der israelischen Wählerschaft dar (und die Ultras einen noch kleineren Teil); doch sind deren Anliegen und Aktionen geeignet, im ideologischen Hinterland auf der Rechten des politischen Spektrums vermehrt auf Resonanz zu stoßen.
VI. Perspektiven
Wirtschaftliche Entwicklung und eine legitimierte Führung der Palästinenser werden die beiden Pfeiler sein, auf denen -für die palästinensische Seite -die Fortführung des Friedensprozesses ruht. Nach seinem Einzug in Palästina in jenes Minigebilde, aus dem eines Tages der palästinensische Staat entstehen soll, wird Yassir Arafat vor der schwierigen Aufgabe stehen, eine Balance zwischen innerer Sicherheit und Demokratie herzustellen Es gilt, politische Beteiligung einzuräumen und zur gleichen Zeit die destabilisierenden Auswirkungen extremistischer und radikaler Aktivitäten aufzufangen. Seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Führer einer Befreiungsbewegung mag ihn dazu verführen, einem autoritären Stil bei der Machtausübung den Vorzug zu geben, und er mag dazu von seinem politischen Umfeld in Tunis bestärkt werden, das nunmehr die Möglichkeit sieht, endlich -politisch wie wirtschaftlich -das Schäfchen ins Trockene zu bringen. Er mag dazu auch von Israel ermutigt werden, das seine Sicherheit jetzt in einem stabilen Interimsgebilde, das von fester Hand geführt wird, gewährleistet sieht.
Mit Blick auf eine palästinensische Elite in den Gebieten selbst, die nicht nur dem Abkommen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, sondern auch mißtrauisch fragt, was die politischen Ambitionen von Arafat und seiner Umgebung sind, die zugleich aber selbst entschlossen und vorbereitet ist, unter entsprechenden Rahmenbedingungen die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, wäre deren Ausgrenzung aus der politischen Mitverantwortung ein schwerer Fehler. Es würde das Lager derer, die das Abkommen aufgrund seines Inhalts ablehnen, um jene verstärken, die mit den Jahren zur Person Yassir Arafats und seiner „Tunis-PLO“ auf Distanz gegangen sind.
Was Israel betrifft, so wird der Fortschritt auf zwei Variablen beruhen. Zum einen auf der Art des angestrebten Abkommens selbst, und das heißt auf der Art des palästinensischen Staates, der zur Verhandlung ansteht. Wird es ein Abkommen, das israelische Interessen nicht bedroht, den in der Siedlerfrage liegenden Sprengstoff minimiert, israelische Ängste im Zusammenhang mit der Rückkehr der Flüchtlinge abzubauen geeignet ist, israelischen Anliegen im Zusammenhang mit Jerusalem entgegenkommt, israelischen Sicherheitsinteressen Rechnung trägt und schrittweise sowie kontinuierlich zu verwirklichen wäre, dürfte es Jerusalem akzeptabel erscheinen, sich darauf einzulassen. Die zweite Variable sind die Erfahrungen Israels während der Übergangsphase. Wird das gelebte Nebeneinander Israel das Gefühl geben, daß ein wirklicher Friede möglich ist, oder werden die Israelis weiterhin -eine tiefsitzende Befürchtung -das Gefühl haben, daß ein palästinensischer Staat nur ein Ausgangspunkt für einen neuen Kampf um ganz Palästina ist?
Darüber hinaus richtet sich der Blick der Israelis auf die arabische Welt. Wird der Ausgleich mit den Palästinensern eine „Friedensdividende“ seitens der anderen Araber bringen? Dies würde eine Aufhebung der militärischen Bedrohung und des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Boykotts beinhalten. Es war ja auch diese Asymmetrie gewesen, die den Verhandlungsprozeß so schwierig gemacht hat: Die Palästinenser können das meiste von dem, wonach sie streben, von Israel bekommen; geben können sie nur einen kleinen Teil dessen, was Israel von den Arabern zu erhalten sucht. Die stärksten Anliegen Israels richten sich auf die arabischen Staaten. Wenn, wie diese immer argumentiert haben, die palästinensische Sache der Kern des Problems zwischen Israel und den Arabern war, sollten sie -nachdem auch die Probleme Syriens, Jordaniens und des Libanon mit Israel zur Lösung anstehen -zu einer umfassenden Normalisierung der Beziehungen bereit sein.
Dies aber berührt die fernere Zukunft. Bis auf weiteres geht es um die Erhaltung des israelisch-palästinensischen Verhandlungsprozesses mit komplexer Agenda. Zu den vielen Ursachen und Erklärungen der mit dem Gaza-Jericho-Abkommen gegebenen Wende gehören auch das persönliche Engagement und der Mut der verantwortlichen Politiker auf beiden Seiten, politischer Führer, die einem an sich schon historischen Lebenswerk einen Schlußstein einfügen wollen -den Frieden. Es ist zu hoffen, daß dieses Engagement hilft, den weiteren Prozeß über die Hürden zu bringen, die unweigerlich auf seinem Wege liegen. Als das Gaza-Jericho-Abkommen zur „Prinzipienerklärung“ nach fast acht Monaten zäher Detail-verhandlungen am 4. Mai in Kairo unterzeichnet wurde, waren die Fragezeichen für seine Umsetzung nicht zu übersehen. Eine Alternative dazu, auf dem eingeschlagenen Verhandlungswege fortzuschreiten, gibt es aber nicht. Denn, wie Shimon Peres schreibt, „der Prozeß der gesellschaftlichen Wandlung macht es erforderlich, die alten Konzeptionen und Begriffe der neuen Realität anzupassen“
Udo Steinbach, Dr. phil., geb. 1943; Studium der Islamkunde und klassischen Philologie an den Universitäten Freiburg i. Br. und Basel; seit 1976 Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik und Gesellschaft des zeitgenössischen Nahen und Mittleren Ostens.
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