Industriepolitik in Ostdeutschland am Beispiel des Bundeslandes Sachsen
Dirk Nolte
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Zusammenfassung
Ein Ergebnis der Wirtschaftspolitik der Vereinigung, die im wesentlichen auf die schockartige Freisetzung der Marktkräfte und die schnellstmögliche Privatisierung setzt, ist die weitgehende Deindustrialisierung aller Regionen in Ostdeutschland. Vor diesem Hintergrund entwickelten die fünf Länderregierungen unkonventionelle Ideen und realisierten Projekte zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft, die sich auf den Erhalt und die Sanierung der noch verbliebenen regional-und strukturpolitisch bedeutenden Industrieunternehmen konzentrieren. Ordnungpolitisch begründeter Ablehnung jeglicher Industriepolitik -insbesondere in Westdeutschland formuliert -wird in den neuen Bundesländern entgegengehalten, daß sich der Staat nicht in den Elfenbeinturm der Setzung von Rahmenbedingungen zurückziehen und lediglich auf das freie Spiel der Marktkräfte vertrauen könne. In bezug auf die konzeptionelle Ausgestaltung industriepolitischer Aktivitäten zum Erhalt industrieller Kerne nahm der Freistaat Sachsen mit dem „Sachsenfonds“, Projekt „ATLAS“ und einer Industrieholding eine Pionierrolle ein. Im Rahmen eines „sächsischen Solidarpaktes“ entwickelte sich eine pragmatische Zusammenarbeit von Landesregierung, Untemehmerverbänden und Gewerkschaften. Die industriepolitischen Aktivitäten der ostdeutschen Länder stoßen bis heute auf den Widerstand von Treuhandanstalt und Bundespolitik. Der Aufbau des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland kann jedoch nur gelingen, wenn Bundesregierung und Treuhandanstalt die in den neuen Ländern begonnene Industrie-und Strukturpolitik aktiv unterstützen.
I. Die Wirtschaftspolitik der Vereinigung in der Kritik der ostdeutschen Länderregierungen
Die Bundesregierung setzte zur Transformation der ostdeutschen Wirtschaft ordnungspolitisch zunächst auf die schockartige Freisetzung der Marktkräfte und den Prozeß der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter). Im Sinne eines „zweiten Wirtschaftswunders“ sollte die der Marktwirtschaft innewohnende Dynamik die Angleichung der Lebensverhältnisse in West-und Ostdeutschland innerhalb eines nur kurzen Übergangszeitraumes ermöglichen. Während die Treuhandanstalt (THA) mehr oder weniger auf eine bedingungslose Privatisierung des ihr überantworteten volkseigenen Vermögens verpflichtet wurde, konzentrierten sich die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für privatwirtschaftliche Initiativen, insbesondere des Mittelstandes. Im Einigungsvertrag (Art. 28) wurde festgelegt, in welchem Umfang und auf welchen Gebieten die marktwirtschaftlichen Kräfte durch staatliche Aktivitäten unterstützt und gefördert werden sollen. Die im alten Bundesgebiet bestehenden Regelungen des Bundes zur Wirtschaftsförderung bei Berücksichtigung der Zuständigkeiten der heutigen Europäischen Union (EU) gelten seither auch für die neuen Länder Nicht zuletzt gemessen an den geweckten Erwartungen, waren die Ergebnisse der eingeschlagenen Wirtschaftspolitik enttäuschend: Die registrierte Arbeitslosigkeit stieg bis Frühjahr 1991 rasch auf über 0, 8 Millionen Menschen, weitere knapp zwei Millionen waren in Kurzarbeit. Die landwirtschaftliche und industrielle Produktion sank zum Jahresende 1990 auf unter 50 Prozent des Jahresdurchschnittes von 1989. Auch die Politik der THA lief mit rund 400 privatisierten Unternehmen und Betriebsteilen (von damals insgesamt rd. 6000 zu pri vatisierenden ehemaligen volkseigenen Betrieben und Kombinaten) schleppend an. Als Folge der schlechten Bilanz und der Forderung der ostdeutschen Länderregierungen, der Oppositionsparteien und der Gewerkschaften nach einer aktiveren Wirtschafts-, Struktur-und Arbeitsmarktpolitik sah sich die Bundesregierung gezwungen, die öffentliche Nachfrage zu beleben, die staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur auszuweiten und mit dem seit 1990 praktizierten massiven arbeitsmarktpolitischen Instrumenteneinsatz zu verbinden. Im März 1991 legte der Bund mit dem Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost“ (GAO) ein auf zwei Jahre angelegtes keynesianisches Nachfrageprogramm auf, welches primär als Beschäftigungsbrücke konzipiert war Im Mittelpunkt des mit 24 Milliarden DM ausgestatteten Programmes standen die Förderung von Investitionen im Schienen-und Straßenverkehr, die Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), ein kommunales Investitionsprogramm (insbesondere Schulen, Krankenhäuser, Altenheime) und die Förderung des Wohnungs-und Städtebaus. Mit dem GAO wurde erstmals eine konzeptionelle Verknüpfung arbeitsmarkt-und strukturpolitischer Maßnahmen in der Region angestrebt und praktiziert.
Gemessen an der Zielsetzung einer möglichst raschen Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands sind die Ergebnisse und Folgen der Wirtschaftspolitik von Bundesregierung und THA jedoch bis heute unbefriedigend. Zwar kam der Neuaufbau bei Dienstleistungen, der BauWirtschaft und einzelnen von der staatlich initiierten Konjunktur profitierenden Branchen des Verarbeitenden Gewerbes (wie Stahl-und Leichtmetallbau, Holzwirtschaft) deutlich voran, aber insgesamt wird die Lage doch von einem destabilisierenden Entindustrialisierungsprozeß in allen ostdeutschen Bundesländern geprägt.
In gewisser Abkehr von der marktliberalen Philosophie, lediglich die Rahmenbedingungen privater (Mittelstands-) Initiativen zu verbessern, sah sich das Bundeskanzleramt -und nicht etwa das Bundeswirtschaftsministerium -schließlich veranlaßt, industriepolitische Konzepte zum Erhalt industrieller Kerne zu befürworten. Die Bundesregierung mußte zur Kenntnis nehmen, daß die ostdeutschen Länderregierungen angesichts des massiven Problemdrucks vor Ort eine stärker interventionistische Wirtschaftspolitik forderten und diese mit ihren begrenzten Mitteln auch betrieben. Die Kritik der Länder setzte insbesondere an der zu engen Privatisierungspolitik der THA an. Eine aktive Sanierung ihrer Unternehmen wurde von der THA nur in Ausnahmefällen betrieben, so daß sich die Wettbewerbssituation der meisten -ohnehin nur schwer zu privatisierenden -Industriebetriebe kontinuierlich verschlechterte Gleichwohl sind alle Versuche gescheitert, die THA dem Kompetenzbereich des Bundesfinanzministeriums zu entziehen und den gesetzlichen Auftrag in Richtung verstärkte Sanierung zu realisieren.
Vor diesem Hintergrund entwickelten die ostdeutschen Länderregierungen -mit unterschiedlicher Konsequenz -unkonventionelle Ideen und starteten Projekte zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft, die sich auf den Erhalt und die Sanierung der noch verbliebenen regional-und strukturpolitisch bedeutenden Industrieunternehmen konzentrierten. Bevor die strukturpolitischen Initiativen am Beispiel des Freistaates Sachsen im einzelnen vorgestellt und analysiert werden, wird zunächst ein kurzer Überblick über Entwicklung und Ausmaß der industriellen Destabilisierung in den ostdeutschen Bundesländern gegeben.
II. Entwicklung und Ausmaß der Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern
Abbildung 13
Tabelle 2: Industriebesatz in den EG-Staaten, in den Vereinigten Staaten sowie in Japan im Jahr 1990 Quelle: Wsi.
Tabelle 2: Industriebesatz in den EG-Staaten, in den Vereinigten Staaten sowie in Japan im Jahr 1990 Quelle: Wsi.
Die Wirtschaftsstruktur der DDR zeichnete sich im Vergleich zu der der Bundesrepublik durch eine personell überbesetzte Landwirtschaft und eine strukturell dominierende Industrie aus. Gleichzeitig war die ostdeutsche Wirtschaft durch ein Über-gewicht von Großunternehmen (Kombinaten) geprägt, während kleine und mittlere Betriebe anteilsmäßig kaum ins Gewicht fielen. Insofern konnte erwartet werden, daß sich die Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer über einen Beschäftigtenabbau in den überbesetzte^ Sektoren, einen relativen Bedeutungsverlust der Industrie und das Entstehen neuer Arbeitsplätze in bislang unterentwickelten Bereichen -insbesondere dem Dienstleistungssektor und Mittelstand -dem westdeutschen Gefüge tendenziell angleichen würde
Der Deindustrialisierungsprozeß und die hohe Geschwindigkeit, in der er erfolgte, gingen jedoch in allen neuen Bundesländern bei weitem über das erwartete Ausmaß hinaus. Bei dem heute erreichten Niveau erscheint es eher unwahrscheinlich, daß sich auf dieser Grundlage noch ein rascher selbsttragender Aufschwung der neuen Bundesländer entwickelt.
Im Jahr 1989 arbeiteten in Ostdeutschland noch rund 3, 2 Millionen Menschen in der industriellen Produktion. Bereits bis Januar 1991, dem ersten offiziellen Erhebungsmonat der amtlichen Statistik, sank die Industriebeschäftigung auf knapp 2, 1 Millionen Personen. Von diesen sind nach nur zweieinhalb Jahren im Juni 1993 mit ca. 740000 gerade noch ein Drittel vorhanden (vgl. Tabelle 1). Absolut gesehen sind die meisten Industriearbeitsplätze im Umfang von rund 800000 im zweiten Halbjahr 1991 verlorengegangen. Insbesondere die industriell geprägten Bundesländer Sachsen mit fast 300000, Thüringen mit knapp 180000 und Sachsen-Anhalt mit ca. 140000 mußten die absolut höchsten Arbeitsplatzverluste in der Industrie verzeichnen. Obwohl die Akzeptanz industriepolitischer Konzepte zum „Erhalt industrieller Kerne“ in den neuen Bundesländern wuchs (vgl. Kapitel IIL), setzte sich der Zerfall der ostdeutschen Industrie weiter fort. Im Zeitraum von Juni 1992 bis Juni 1993 wurden weitere 205 000 Industrie-arbeitsplätze vernichtet, davon allein in Sachsen über 68000. Zwar steigt seit dem Frühjahr 1993 der Umsatz der sächsischen Industrie, aber aufgrund unausgelasteter Kapazitäten sinkt die Industriebeschäftigung bis heute
Bezieht man die Anzahl der in der Industrie Beschäftigten auf die Bevölkerungszahl, erhält man den Industriebesatz, der als Maßstab für den Industrialisierungsgrad eines Landes oder einer Region herangezogen werden kann. Der ostdeutsche Industriebesatz sank von knapp 132 Industriebeschäftigten pro 1000 Einwohner zu Beginn des Jahres 1991 auf ein Rekordtief von 47 im Juni 1993 (vgl. Tabelle 1). Zu Beginn des Einigungsprozesses waren bezogen auf die Bevölkerung in Thüringen (162), Sachsen-Anhalt (152) und Sachsen (147) überdurchschnittlich viele Industriearbeitsplätze vorhanden, es folgten Brandenburg (114), Ost-Berlin (92) und Mecklenburg-Vorpommern (63). Im Sommer 1993 konnten in allen neuen Bundesländern nur noch knapp ein Drittel der ehemals Beschäftigten einen Industriearbeitsplatz finden. Der Industriebesatz bewegte sich zwischen knapp 59 in Sachsen-Anhalt und knapp 29 in Mecklenburg-Vorpommern
Die Arbeitsplatzverluste, die die westdeutsche Industrie im Zuge der tendenziellen Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft zu verzeichnen hatte, waren -verglichen mit den Entwicklungen in den neuen Bundesländern -weit geringer. Hier fanden in den letzten drei Jahren von 1000 Einwohnern zwischen 116 und 106 Personen einen Arbeitsplatz in der Industrie. Es gibt kein ostdeutsches Bundesland, welches auch nur annähernd den vergleichsweise niedrigen Industriebesatz der vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Westländer Schleswig-Holstein (69) und Niedersachsen (86) erreicht. Auch die stark dienstleistungsorientierten Stadtstaaten West-Berlin und Hamburg übertreffen noch den ostdeutschen Spitzenwert Sachsen-Anhalts deutlich (vgl. Schaubild).
Im westeuropäischen Vergleich ist das ostdeutsche Industrialisierungsniveau mit Abstand das niedrigste und wird selbst von den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern Irland, Griechenland oder Spanien übertroffen. Die dienstleistungsorientierte Volkswirtschaft der USA weist mit 88 Industriebeschäftigten je 1000 Einwohner immerhin eine nahezu doppelt so große Industriedichte wie Ostdeutschland auf (vgl. Tabelle 2).
III. Sachsen als industriepolitischer Pionier: „Sachsenfonds“, Projekt „ATLAS“ und sächsische Industrieholding
Abbildung 14
Schaubild: Industriebesatz in den Bundesländern Januar 1991 und Juni 1993 Quelle: WSI.
Schaubild: Industriebesatz in den Bundesländern Januar 1991 und Juni 1993 Quelle: WSI.
Bereits im März 1991 wurden als Folge des weithin als viel zu schleppend eingeschätzten ostdeutschen Transformationsprozesses die „Grundsätze der Zusammenarbeit von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt für den Aufschwung Ost“ verabschiedet Dies geschah im wesentlichen auf Initiative der ostdeutschen Bundesländer. Die Sanierungsaufgabe der THA wurde durch Aufnahme von Elementen einer aktiven Sanierung präzisiert. Obwohl nun offiziell anerkannt wurde, daß die ernste Situation „ungewöhnliche Maßnahmen“ erfordere und ein „schnelleres unideologisches Handeln“ notwendig sei, änderte sich an der Politik der Bundesregierung und der THA mit dem Grundsatz des Vorranges der schnellstmöglichen Privatisierung zunächst kaum etwas
Das Bundesland Sachsen war aufgrund seiner hohen Anzahl von Treuhandunternehmen in besonderem Maße von der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und den Entscheidungen der THA betroffen. Deshalb und angesichts der zunehmenden Destabilisierungstendenzen in der Industrie sprach sich die Landesregierung unter Ministerpräsident Kurt Biedenkopf schon frühzeitig für eine aktive Industriepolitik und den substantiellen Erhalt sächsischer Industriebetriebe aus. Im Rahmen eines „sächsischen Solidarpaktes“ entwickelte sich eine pragmatische Zusammenarbeit von Landesregierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall In bezug auf die konzeptionelle Ausgestaltung industriepolitischer Aktivitäten zum Erhalt industrieller Kerne nahm das Land Sachsen eine Pionierrolle ein. 1. Die Idee des „Sachsenfonds“ als Beteiligungsgesellschaft für Treuhandunternehmen
Im Oktober 1991 stellte die sächsische Landesregierung ihre Idee eines Landesfonds als Beteiligungsgesellschaft für Treuhandunternehmen der Öffentlichkeit vor. Mit dem „Sachsenfonds“ sollte ein neuer Weg der Privatisierung beschritten werden, um mehr Treuhanduntemehmen eine Überlebenschance einzuräumen. Es ging darum, sanierungsfähige Unternehmen von der THA zu kaufen, zu sanieren und wettbewerbsfähig zu machen. Im Unterschied zu staatlichen Industrieholdings, welche eine direkte staatliche Kapitalbeteiligung kennzeichnet, sollte das Gesellschaftskapital des als Aktiengesellschaft zu führenden Fonds von privaten Unternehmen aufgebracht werden. Da sich die Sächsische Landes-bank, an der der Freistaat zu rund 37, 5 Prozent beteiligt ist, zu einer „angemessenen Beteiligung“ verpflichtete, war zumindest eine indirekte Landesbeteiligung beabsichtigt.
Die Landesregierung selbst wollte den „Sachsen-fonds“ durch die volle Einbeziehung der Mitgliedsunternehmen in öffentliche Förderprogramme und eine SOprozentige Ausfallgarantie über Bürgschaften unterstützen. Ursprünglich sollte der Fonds mit einem Kapital von 500 Milhonen DM (Einlagen der Gesellschafter) und weiteren 100 Millionen DM (Wandelschuldverschreibungen an sächsische Bürger) ausgestattet werden. Das Unternehmen scheiterte schließlich im April 1993, selbst die später angekündigte kleine Lösung mit einem Volumen von nur 180 Millionen DM konnte nicht realisiert werden. Vergleichbaren Projekten wie den „Spree-HavelFonds“ der Länder Berlin und Brandenburg war ein ähnliches Schicksal beschieden.
Als Ursachen für die Zurückhaltung der privaten Kapitalgeber können Imageprobleme und konkurrierende Anlagemöglichkeiten genannt werden: Der Sachsenfonds erschien als ein Auffangbecken für marode Betriebe, die kaum noch eine wirtschaftliche Zukunft hätten und deren Verluste und Kosten durch private Anleger gedeckt werden sollten. Es wurde befürchtet, daß das als extrem hoch eingeschätzte Ausfallrisiko auch durch die Ausfallgarantie des Landes nicht kompensiert werden könnte. Banken und Unternehmen, die sich bereits direkt in den neuen Bundesländern engagierten oder dies noch tun wollten, gaben dieser Variante den Vorzug vor einer Fondsbeteiligung
2. Die Vereinbarung von Treuhandanstalt und Land Sachsen zur Modernisierung von Treuhandunternehmen und das „ATLAS“ -Konzept
Am 23. April 1992 traf die THA erstmals mit einem ostdeutschen Bundesland, dem Freistaat Sachsen, eine Vereinbarung über die zukünftige Zusammenabeit bei der Modernisierung von Treuhandunternehmen In der Absprache erklärte sich die THA unter bestimmten Bedingungen bereit, noch nicht privatisierte Treuhandunternehmen, die ihr von der sächsischen Landesregierung benannt werden sollten, zu modernisieren. Im Gegenzug verpflichtete sich die Landesregierung aus Struktur-und regionalpolitischer Verantwortung, einen Beitrag zu leisten, „damit Sachsen ein Industrieland bleibt, das mit Leistungskraft und Selbstbewußtsein an seine Tradition als wichtige Industrieregion anknüpfen kann“. Die sächsische Regierung sagte zu, die Modernisierung von Treuhanduntemehmen mit Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GA), Landes-bürgschaften und speziellen Landesprogrammen zu unterstützen. Als Voraussetzungen für eine Förderung durch das Land wurden definiert: -Das Unternehmen muß „regional bedeutsam“ sein.
-Das von der THA bestätigte Unternehmenskonzept muß erkennen lassen, daß Wettbewerbsfähigkeit erreichbar ist. -Das Sanierungskonzept erhält bestehende Dauerarbeitsplätze bzw. kann neue schaffen. Die THA verpflichtet sich, der sächsischen Landesregierung alle notwendigen Informationen über die Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Hat sich die Landesregierung bereit erklärt, ein bestimmtes Treuhandunternehmen zu unterstützen, gewährt die THA diesem Unternehmen im Rahmen des von ihr bestätigten Unternehmenskonzeptes -welches „laufend zu überprüfen und zu optimieren“ ist -den notwendigen unternehmerischen und finanziellen Spielraum, „auch wenn das bestätigte Konzept einen mehrjährigen Modernisierungsprozeß erfordert“.
Ziel der Vereinbarung zwischen THA und Land zur Modernisierung von Treuhandunternehmen blieb die frühestmögliche Privatisierung. Es sollten bevorzugt mittelständische Strukturen geschaffen werden. Wird die Wettbewerbsfähigkeit von Treuhandunternehmen „mit vertretbaren Mitteln und in vertretbarer Zeit“ nicht erreicht, haben THA und Landesregierung die Stillegungs-und Abwicklungsentscheidung gemeinsam zu tragen.
Mit dem Ziel der praktischen Umsetzung der in der Vereinbarung dokumentierten prinzipiellen Bereitschaft zur Kooperation wurde -insbesondere auf Initiative des sächsischen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit und der IG Metall Sachsen -das Projekt „ATLAS“ ins Leben gerufen „ATLAS“ bedeutet „Ausgesuchte Treuhandunternehmen, vom Land Angemeldet zur Sanierung“ und hat die vordringliche Aufgabe, nach konkreten unternehmerischen Alternativen für sächsische Betriebe zu suchen und die Unternehmen in festgefahrenen Verhandlungen mit der THA oder auf dem Weg zur Privatisierung zu unterstützen. „ATLAS“, ein kleines Team, welches beim Ministerium für Wirtschaft und Arbeit angebunden ist, nahm im November 1992 offiziell seine Arbeit auf. „ATLAS“ hat drei Aufgabenkomplexe:
Erstens: Bei der Erfassung von Treuhandunternehmen in Sachsen mit „regionaler Bedeutung“ sollen insbesondere Unternehmen berücksichtigt werden, die entweder prägend für eine Region oder Kern eines Wirtschaftszweiges sind. In struktur-schwachen Landesteilen können auch kleine Betriebe als regional bedeutsam angesehen werden. Der „ATLAS-Beratungskreis , Region“ 6 soll bei der Erfassung der regional bedeutsamen Unternehmen unterstützen, indem er notwendige Informationen aus dem regionalen Umfeld der Unternehmen, aus anderen sächsischen Regionen und aus den Ausschüssen des Landtages zur Verfügung stellt. Die Mitglieder dieses Beratungskreises sind Vertreter aus den Ausschüssen Wirtschaft und Arbeit sowie Haushalt und Finanzen des sächsischen Landtages. Bis Dezember 1993 wurden 200 von 300 Unternehmen, die zur Aufnahme in das Projekt vorgeschlagen wurden, mit rund 56500 Beschäftigten als regional bedeutsam klassifiziert. Bereits hier wird die Diskrepanz zwischen Anforderung und finanzpolitischen Möglichkeiten im Landesbudget deutlich. Zweitens: Die zweite Aufgabe von „ATLAS“ ist die Erörterung der Unternehmenskonzepte der gemeldeten Unternehmen mit den zuständigen Abteilungen der THA. Die Landesregierung meldet der THA die aus ihrer Sicht regional bedeutsamen und sanierungsfähigen Betriebe auf Vorschlag des „ATLAS-Beratungsgremiums betriebliche Sanierung“ 6. Das Gremium ist drittelparitätisch mit je zwei Vertretern aus den Landesministerien, den Untemehmensverbänden (Vereinigung der Unternehmensverbände in Sachsen [VUS] /Verbände der Sächsischen Metall-und Elektroindustrie [VSME]) und den Gewerkschaften (DGB/IG Metall) besetzt. Liegt ein von der THA bestätigtes Sanierungskonzept vor, das aus Sicht von „ATLAS“ alle Chancen für ein regional bedeutsames Unternehmen nutzt, wird der Status „ATLAS-Unternehmen“ gewährt. Das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes entscheidet dann über die Vergabe von Fördermitteln. Kommt „ATLAS“ unabhängig von der THA zu dem Ergebnis, daß es keine Chance mehr gibt, ein regional bedeutsames Unternehmen mit vertretbaren Mitteln und in vertretbarer Zeit wettbewerbsfähig zu machen, sollen regional-und strukturpolitische Aktivitäten die Abwicklung sozial-verträglich begleiten.
Drittens: Bestehen jedoch, abweichend von der THA-Auffassung, noch Überlebenschancen für ein Unternehmen, sucht „ATLAS“ nach Alternativen zu den vorhandenen Unternehmenskonzepten. Die Prüfung, ob es noch ungenutzte Chancen -etwa aufgrund neuer Marktentwicklungen oder einer veränderten Wettbewerbssituation -gibt, obliegt den „ATLAS-Untemehmensbeauftragten“. Bis Dezember 1993 wurden 25 meist sanierungserfahrene Manager als Unternehmensbeauftragte vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit eingesetzt. Sie erörtern die Untemehmenssanierungskonzepte mit den Verantwortlichen in der THA und entwickeln -falls erforderlich -neue
Konzepte. Letzendlich entscheidet aber die THA allein über Sanierungsfähigkeit oder Abwicklung und damit auch, ob die von „ATLAS“ aufgezeigten Alternativvorschläge aufgegriffen und umgesetzt werden.
Im Jahresverlauf 1993 weitete „ATLAS“ seine Unterstützung auf bereits von der THA privatisierte Unternehmen in Sachsen aus, die angesichts der konjunkturellen Situation oder infolge anderer Ursachen in eine akute Liquidationsgefahr geraten waren.
Von den bis Dezember 1993 200 als regional bedeutsam bestätigten und der THA gemeldeten Unternehmen wurden 101 Unternehmen privatisiert, 42 als sanierungsfähig eingestuft, weitere zwölf in Management-Kommanditgesellschaften (KG) der THA eingeordnet. 38 Unternehmen, insbesondere der Metall-und Textilindustrie, fördert das Land Sachsen mit Fördermitteln in Höhe von 55 Millionen DM bei einem geplanten Investitionsvolumen von insgesamt 372 Millionen DM. In Liquidation befinden sich 26 Unternehmen, bei weiteren 19 bereitete die THA die Entscheidung über Sanierungsfähigkeit oder Abwicklung vor. Obwohl durch „ATLAS“ in einer Reihe von Fällen praktikable Alternativen zu einer übereilten Stilllegung durch die THA aufgezeigt, die Untemehmenskonzepte verbessert und die Fördermöglichkeiten für zu sanierende Betriebe besser ausgeschöpft werden konnten -bei letzterem sieht „ATLAS“ nach eigenem Bekunden derzeit seine Hauptaufgabe -, zeigen sich doch die Grenzen des „ATLAS“ -Konzeptes: Das Votum des „Beratungskreises , Betriebliche Sanierung 1“ und die Vorschläge der „ATLAS“ -Untemehmensbeauftragten finden bei Verhandlungen auf Landesebene und besonders mit der THA nur im Einzelfall Berücksichtigung. Hier erweist sich die Tatsache, daß die THA über die Empfehlungen allein entscheidet, als entscheidender Schwachpunkt des Modells. Bis heute wurden im wesentlichen nur die unproblematischeren Sanierungsfälle zwischen „ATLAS“ und THA besprochen. Nach Angaben der IG Metall Sachsen muß noch über Industrieunternehmen mit rund 40 000 Beschäftigten verhandelt werden.
3. Die sächsische Initiative für eine Industrieholding
Anfang Februar 1993 trat die sächsische Landesregierung an die Bundesregierung mit der Forderung heran, eine staatliche Sanierungsgesellschaft -also eine Industrieholding -zur Sicherung und Sanierung der industriellen Kerne in den neuen Bundesländern zu gründen. Damit bestätigte sie die von den Gewerkschaften vertretene Auffassung, daß im Rahmen des „ATLAS“ -Modells die industrielle Basis Sachsens nicht im nötigen Umfang gesichert und modernisiert werden könne. Die Konzeption der Industrieholding, die sanierungsfähige, aber bis zur Schließung der THA noch nicht privatisierte Betriebe ab einer bestimmten Größenordnung aufnehmen soll, wurde im Auftrag der Landesregierung vom Bezirksleiter der sächsischen IG Metall, Hasso Düvel, und vom ehemaligen Treuhand-Vorstand und jetzigen „ATLAS“ -Unternehmensbeauftragten, Karl Schirner, erarbeitet. Die gewerkschaftlichen Vorstellungen einer sächsischen Industriesanierungsgesellschaft wurden im wesentlichen übernommen. Der Ausgangspunkt des Konzeptes ist die vollständige Herauslösung der noch nicht privatisierten, aber sanierungsfähigen Industrieunternehmen aus der THA und das Einbringen in eine staatliche Industrieholding. Die zentrale Begründung liegt in den Erfahrungen mit der THA-Politik, die eine Sanierung ihrer Unternehmen nicht leisten kann Die THA, in Organisation und personeller Besetzung schwerpunktmäßig auf Privatisierungs-und Entflechtungsaufgaben ausgelegt, könne die notwendig im Zentrum stehende Aufgabe der Unternehmensumstrukturierung und Marktfindung nicht hinreichend bewältigen. Als Anstalt des öffentlichen Rechtes -so wird argumentiert -sind die Entscheidungsmechanismen zu schwerfällig, so daß sanierungserfahrene Manager sowohl für die THA als auch für ihre Unternehmen nur außerordentlich schwer zu gewinnen sind („Unternehmerlücke“). Die Aufgabenvielfalt nichtindustrieller Art (Landwirtschaft, Immobilien, Reprivatisierung, Partei-vermögen etc.) machen zudem ein klares unternehmerisches Profil der THA unmöglich.
Zwar weisen die seit Frühjahr 1992 gegründeten Management-KGen zur Problemlösung in die richtige Richtung Sie können aber nur eine begrenzte Zahl industrieller Arbeitsplätze sichern, da die THA qualifizierte Manager nur gewinnen kann, wenn die zugeordneten Unternehmen eher unproblematischere Sanierungsfälle sind. Eine „strategische Sanierung“, die darauf abzielt, Industrieunternehmen durch eine grundlegende strategische und operative Neuausrichtung voll wettbewerbsfähig zu machen, ist zeitaufwendig und erfordert hohe Finanzmittel, die sich an den branchenüblichen Kosten eines neuen Arbeitsplatzes orientieren müßten. Die heute überwiegende Anzahl der Industrieunternehmen, die nur strategisch saniert werden kann, ist im derzeitigen Handlungsrahmen der Management-KGen kaum unterzubringen.
Als problematisch erweist sich auch die Unternehmenszusammensetzung innerhalb der Management-KGen. Statt Synergieeffekte -unternehmerisches Produkt-und Markt-Know-how in der Holding -systematisch zu erschließen und zu nutzen, wurden von der THA mit Absegnung der Bundesregierung Unternehmen gleicher Branchen auf mehrere Management-KGen verteilt, lediglich um dem ordnungspolitisch begründeten Vorwurf, sektorale Struktur-und Industriepolitik zu betreiben, entgehen zu können.
Als Kapitaleigner der vorgeschlagenen Sanierungsholding sollten ursprünglich der Bund 75 Prozent, das Land 20 Prozent und die Banken zusammen 5 Prozent Beteiligung halten. In der später der Öffentlichkeit präsentierten Version hat sich das Land aufgrund finanzieller Engpässe zurückgezogen. Die Auswahl der zuzuordnenden Unternehmen -sanierungsfähige Industrie-betriebe mit nur im Einzelfall unter 100 Beschäftigten -sollte im Rahmen des „ATLAS“ -Konzeptes erfolgen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Möglichkeit sektoraler Verbundlösungen zur Sanierung industrieller Kerne gelegt. Die als AG zu führende Holding sollte möglichst staatsfern arbeiten können, d. h.der Vorstand und die Geschäftsführungen hätten ein hohes Maß an unternehmerischem Spielraum besitzen und unabhängig von politischen Vorgaben handeln können.
Obwohl THA und Bundesregierung den Vorstoß aus Sachsen zur Gründung einer staatlichen Industrieholding im Frühjahr 1993 kategorisch ablehnten, wird an der Idee einer Führungsholding, der sanierungsfähige Treuhandunternehmen zuzuordnen sind, die in einem Zeitraum von bis zu fünf Jahren saniert werden sollen, in der sächsischen Landesregierung festgehalten. Dies sei aus regional-und strukturpolitischer Perspektive sowie aus unternehmerischer Sicht die bessere Lösung als die angedachte direkte Unterstellung und lediglich Verwaltung der betroffenen Unternehmen im Bundesministerium der Finanzen, wenn die THA Ende des Jahres 1994 ihre Arbeit einstellen wird
IV. Ein Aufbauprogramm für Ostdeutschland
Zu einer aktiven staatlichen Industrie-und Strukturpolitik zur Sicherung und zum Aufbau des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland gibt es keine Alternative Dies haben die ostdeutschen Länder-regierungen angesichts des massiven Problem-drucks vor Ort früher oder später erkannt und selbständig Initiativen ergriffen Teilweise wurden Gewerkschaften und Unternehmerverbände im Sinne einer konzertierten Aktion aktiv beteiligt. Die Länderkonzepte stoßen dabei bis heute nicht selten -wie hier am Beispiel Sachsens gezeigt -auf den Widerstand von THA und Bundespolitik.
Ordnungpolitischem Dogmatismus, insbesondere von westdeutschen Hochschulprofessoren vorgetragen, wird in den neuen Ländern mit dem Argument begegnet, daß sich der Staat nicht in den Elfenbeinturm der Rahmenbedingungen zurückziehen und lediglich auf das freie Spiel der Marktkräfte vertrauen könne. Stellvertretend dafür sei eine Äußerung des früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth, angeführt: „Es geht daher völlig an der Sache vorbei, wenn im Zusammenhang mit dem Erhalt industrieller Kerne die Verletzung marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien bejammert wird. Diese Prinzipien sind gar nicht anwendbar, weil hierfür die Voraussetzungen fehlen.“
Der Aufbau des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland kann nur gelingen, wenn Bundesregierung und THA die in den neuen Ländern begonnene aktive Industrie-und Strukturpolitik unterstützen. Notwendig ist ein Aufbaukonzept für Ostdeutschland, das gemeinsam von allen am Wirtschaftsprozeß Beteiligten getragen wird Im Mittelpunkt des Aufbauprogrammes muß ein regional und sektoral orientiertes Verflechtungskonzept stehen, das die industriepolitischen Ansätze der ostdeutschen Bundesländer konsequenter im Hinblick auf ihre regionss und unternehmensspezifischen Bedürfnisse miteinander verzahnt (Verknüpfung von Standort-entwicklung und Untemehmenssanierung). Zu den notwendigen Bestandteilen zählen erstens der Erhalt und die Modernisierung sanierungsfähiger Industriebetriebe, zweitens der Aufbau einer neuen industriellen Basis, in deren Folge sich komplementäre Unternehmen im Zuliefer-und Dienstleistungsbereich gruppieren können, drittens die Verknüpfung mit einer gezielten und koordinierten Ansiedlungspolitik und viertens die Aktivierung des regionalen Entwicklungspotentials über eine dynamische Bestandsentwicklung und -pflege.
Insbesondere aufgrund beschäftigungs-und sozialpolitischer Erfordernisse müßte eine Politik des Aufbaus in den neuen Bundesländern durch eine forcierte Arbeitszeitverkürzung in verschiedenen Variationen (Wochen-, Jahres-, und Lebens-arbeitszeit) flankiert werden. Hier könnten auch bisher eher unkonventionelle Wege beschritten werden, etwa eine Kombination von Arbeitszeit-verkürzung mit Qualifizierung im Betrieb.
Dirk Nolte, Dr. rer. pol., geb. 1961; wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) des DGB in Düsseldorf; Mitarbeiter im Sonderforschungsprojekt „Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands“, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung. Veröffentlichungen: zahlreiche Aufsätze zu Fragen und Problemen regionaler und sektoraler Struktur-politik in Ostdeutschland.
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