„Uns eint der Wille nach mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, das Gebot einer umfassenden Verwirklichung der Menschenrechte, das Engagement für Frieden und Abrüstung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz von Minderheiten, Bewahrung der Natur sowie umweltverträgliches Wirtschaften und Zusammenleben."
(Aus dem Grundkonsens von Bündnis 90/Die Grünen, Leipzig, Mai 1993)
Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Veränderungen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa und besonders in Deutschland so umfassend und tiefgreifend wie in diesen Jahren. Der rasante Wandel erschüttert Standpunkte und Orientierungen. Was jahrzehntelang als sicher und fest galt, bietet keinen Halt mehr. Die Ängste und Fremdheitsgefühle wachsen und überdecken die Chancen, die dieser Wandel in sich birgt. Das Zusammenwachsen der beiden deutschen Gesellschaften und die Neuorientierung Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eröffnen der Politik enorme Möglichkeiten. Doch auch die Anforderungen steigen.
Die konservativ-liberale Regierung hat diese Chancen größtenteils verpaßt und verpatzt.
Aus ihren Blütenträumen sind Massenarbeitslosigkeit und eine einzigartige Wirtschaftsstrukturkrise gewachsen. Erwerbsarbeit wird nicht gerecht verteilt. Immer mehr Frauen werden aus dem Arbeitsleben herausgedrängt. Die ökologische Reform des Wirtschaftens steht aus. Fremdenhaß und Rassismus drohen Toleranz und Weltoffenheit zu verdrängen. Statt entschiedene Schritte in Richtung einer Zivilisierung der Außenpolitik und umfassender Abrüstung zu gehen, werden neue Gründe für eine militärische Rolle Deutschlands gesucht.
Viele Menschen sehen nicht zuversichtlich, sondern beunruhigt und voller Angst in die Zukunft. Die politische Kultur hat sich nicht weiter-, sondern zurückentwickelt. Das Verhalten zahlreicher Politiker wie auch die pauschale Verurteilung „der Politik“ verschütten Sinn und Geist der Demokratie. Modischer Populismus, der jede ernsthafte Willensbildung untergräbt, und elitäres Politiker-gehabe, das sich als Führungsstärke und Stehvermögen ausgibt, machen sich breit.
Reform der Politik ...
Die Aufbruchstimmung nach dem Fall der Mauer ist in Verdrossenheit umgeschlagen. Vetternwirtschaft, Filz, Selbstbedienung und Opportunismus sind an der Tagesordnung. In den neuen Bundesländern geben vielerorts Westimporte, Wende-hälse und Blockflöten den Ton an. Die politische Klasse macht mehr durch Skandale als durch überzeugende Politik von sich reden. Viele Politiker sehen in ihrem Amt weniger die verantwortliche Aufgabe als ein Vehikel für ihr persönliches Fortkommen. Auch die Parteien als Ganze sind häufig mehr an sich selbst als am Gemeinwohl interessiert.
Nach dem Grundgesetz wirken die Parteien an der politischen Willensbildung mit. Diese Arbeit der Parteien ist notwendig und muß finanziell abgesichert, aber auch öffentlich kontrolliert werden. CDU/CSU, SPD und FDP haben aber immer wieder diesen beschränkten Auftrag des Grundgesetzes mißbraucht, um an dessen Stelle eigennützige Machtinteressen zu setzen. Der Staat, die öffentlich-rechtlichen Medien, die Justiz, die öffentlichen Unternehmen, ja selbst die Vereine befinden sich fast ausschließlich im Besitz und Gebrauch der Alt-Parteien.
Daß die Meinung von Bürgerinnen und Bürgern im politischen Alltag wenig gefragt ist, steht in einem seltsamen Widerspruch dazu, daß billigeAnbiederung die Tagespolitik bestimmt. Nicht die öffentliche Meinungsbildung auf Grundlage hinreichender Informationen ist die Regel politischer Willensbildung, sondern Anbiederei, das Schielen nach Trends. Gefragt sind Stimmungen, nicht Meinungen.
Bündnisgrüne Politik folgt einem anderen Verständnis von politischer Verantwortung. Wir setzen auf die Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit der Menschen und auf ihr Recht, sich an der Gestaltung der politischen Vorgänge zu beteiligen. Es ist besser, Probleme auszusprechen, als sie zu verkleistern, Ressentiments und Vorurteilen zu widersprechen, anstatt sie zu instrumentalisieren. Wir setzen auf eine erwachsene politische Kultur des Streits und der Suche nach Konsens.
Die aus nur acht Abgeordneten bestehende Gruppe Bündnis 90/Die Grünen im 12. Deutschen Bundestag hat eine Vielzahl von Initiativen unternommen und Vorschläge unterbreitet, um das Verhältnis von Parteien, Staat und Gesellschaft neu zu bestimmen und den unkontrollierten Einfluß der Parteien zurückzudrängen. In den meisten Fällen war dies allerdings vergeblich.
Die folgenden Initiativen wollen wir im nächsten Bundestag erneut zur Debatte stellen: -Gegen Politikverdrossenheit und Zuschauer-demokratie setzen wir ein Konzept der direkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen -auf allen Ebenen. Mit der Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid wollen wir die Möglichkeiten zu demokratischer Teilhabe entscheidend ausweiten. -Eine restriktive und transparente gesetzliche Regelung der Parteien-und Fraktionsfinanzierung (Einfrieren der Parteienfinanzierung) bleibt auch nach der Einigung von Koalition und SPD im vergangenen Herbst notwendig: So die weitere Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Parteispenden, die öffentliche Rechnungslegung über Einnahmen und Ausgaben von Parteien und Fraktionen. Damit wollen wir den Schleier über der Parteienfinanzierung lüften und dem verbreiteten Selbstbedienungsdrang einen wirksamen Riegel vorschieben. -In der Abschaffung des Amts der parlamentarischen Staatssekretäre liegt eine weitere Möglichkeit zur Rückführung des aufgeblähten Regierungsapparats und zur Beschränkung der PfründeWirtschaft. -Die Wahl der vom Bundestag zu berufenden Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts soll künftig nach öffentlicher Anhörung unmittelbar durch den Bundestag erfolgen. Selbstverständlich sollen die Senate des Gerichts zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt werden. Mit unserem Vorschlag soll die Berufung der Verfassungsrichter und -richterinnen für die Öffentlichkeit nachvollziehbar und der Parteienkungelei entzogen werden. -Die Urwahl der Kandidaten für politische Ämter kann den Einfluß der Wählerinnen und Wähler auf die Kandidatenaufstellung und Zusammensetzung des Bundestages nachhaltig stärken. Gleiches gilt für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes (Möglichkeit des Kumulierens bei der Zweit-stimme). -Im Gegensatz zur Koalition wollen wir die Strafbarkeit der passiven und aktiven Abgeordnetenbestechung durchsetzen.
Weitere Reformen, etwa im Hinblick auf den Einfluß der Parteien in den Medien, sind dringend geboten. Doch ohne ein verändertes Selbstverständnis der Parteien werden all diese Veränderungen wenig bewirken.
Nicht nur wegen des beschädigten Ansehens der Parteien fällt es vielen Bürgern immer schwerer, diesen Staat als ihren zu begreifen. Zu dieser wachsenden Distanz trägt der Staat selber in dem Maße bei, in dem er den gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen hinterherhinkt.
So wird die -noch aus vordemokratischer Zeit stammende -Verquickung kirchlicher und staatlicher Aufgaben von einer Mehrheit in unserer Gesellschaft als ärgerlicher Anachronismus empfunden. Glaubens-und Gewissensfreiheit gehören zum Kernbestand einer freiheitlichen Ordnung wie das Recht, sich öffentlich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen. Die Aufgabe des Staates ist der Schutz dieser Freiheit -nicht mehr und nicht weniger. Die Trennung von Kirche und Staat muß die schrittweise Abschaffung der Kirchensteuer, des konfessionell gebundenen Religionsunterrichts und der Einschränkung von Arbeitnehmerrechten in kirchlichen Einrichtungen beinhalten.
In den Augen vieler Menschen gelten Teile der öffentlichen Verwaltung als überflüssiger und teurer bürokratischer Wasserkopf. Auch wenn diese Haltung zu großen Teilen in Vorurteilen gründet, bleibt doch die Notwendigkeit einer bürgerorientierten und kostenbewußten Reform der Verwaltung bestehen. Das Ziel ist eine transparente, pro- blemorientiert und effizient arbeitende Verwaltung, die zügige Verfahren garantiert und dabei die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger umfassend gewährleistet.
... Politik der Reformen
Ökologisch wirtschaften -Umwelt bewahren Die aktuelle Rezession legt eine doppelte Strukturkrise unseres Wirtschaftens bloß: eine ökologische Krise -die der falschen Produkte und Produktionsverfahren -und eine soziale Krise -die der falschen Verteilung von Arbeit und Einkommen. Bündnis 90/Die Grünen setzen dagegen auf eine Politik, die den ökologischen Strukturwandel der Wirtschaft aktiv fördert und beschleunigt. Wir wollen den Aufbruch eines klassischen Industrie-landes auf der Grundlage ökologischer Innovationen. Ohne eine ökologische Offensive haben wir auch wirtschaftlich keine Zukunft. Denn nur nachhaltiges Wirtschaften verspricht auf Dauer Erfolg. Wir streben die Sicherung von Wohlfahrt ohne Zerstörung unserer Lebensgrundlagen an. Der Maßstab für die wirtschaftliche Entwicklung sollte in Zukunft ein Ökosozialprodukt sein.
Ein ganz wesentlicher Schritt zur Umsetzung dieser Konzeption muß mit der ökologischen Reform des Steuersystems gegangen werden. Mit der Besteuerung von Ressourcen-und Energieverbrauch wollen wir bewirken, daß die Preise die ökologische Wahrheit ausdrücken. Wer die Umwelt schädigt, soll zahlen; wer sie bewahren hilft, soll gewinnen. Das Aufkommen aus Ökosteuern darf nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern herhalten. Die Mittel sollen vielmehr dem ökologischen Umbau zugute kommen.
Mit der ökologischen Wende der Wirtschaft sind erhebliche Marktchancen verbunden. Wer sich heute mit den Problemen der Zukunft beschäftigt, wird morgen die Produkte auf die Nachfrage der anderen haben. Diese Strategie trägt auf mittlere Sicht zur Schaffung einer Vielzahl neuer, zukunftsorientierter Arbeitsplätze bei -im Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, bei den erneuerbaren Energien und der Energieeinsparung, in der Abfallwirtschaft und vor allem im integrierten Umweltschutz.
Dies gilt besonders für die neuen Bundesländer, die sich ohnehin in einer Phase der wirtschaftlichen Neustrukturierung befinden. Hier bedarf es ergänzend einer klareren Wirtschaftsförderkonzeption, die den bestehenden Wirrwarr ablöst und öffentliche Förderung stärker an die Schaffung von Arbeitsplätzen bindet. Zusätzlich sind verbesserte Hilfen zur Eigenkapitalbildung von kleinen und mittleren Unternehmen -vor allem für die Aufbringung von echtem Risikokapital -erforderlich. Hinzukommen sollten verbesserte Präferenzregeln für ostdeutsche Produkte und schließlich ein Infrastrukturprogramm Ost mit den Schwerpunkten Wohnungsbau, Energieversorgung, Nahverkehr.
In der Vergangenheit sind Wirtschaft und Umwelt als Gegensätze betrachtet worden. Die Bewahrung der Umwelt und die Förderung wirtschaftlicher Wohlfahrt schienen unvereinbar. Doch auf Dauer gesehen rechnet sich Umweltschutz auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn verstärkte Ökologie führt kurz-und langfristig zu überlebensfähiger Ökonomie.
Die klassischen Themen der Ökologiebewegung verlieren dadurch nichts an Aktualität: Der schnelle Ausstieg aus der Atomenergie, die Abkehr von der autonomen Gesellschaft, die Hin-wendung zu einer sanften Chemie werden der ökologischen Innovation unserer Gesellschaft und einer Zukunftsorientierung der Wirtschaft neuen Auftrieb geben.
Solidarische Arbeitsmarktpolitik Ökologische Strukturpolitik ist jedoch kein Allheilmittel zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Sechs Millionen fehlende Arbeitsplätze sind mit dem Umsteuern der Wirtschaftspolitik allein nicht wiederherzustellen. Übrigens auch nicht durch die Politik des bedenkenlosen Wirtschaftswachstums, wie sie von der Bundesregierung und auch von der SPD favorisiert wird.
An der gerechten Verteilung der vorhandenen Arbeit durch allgemeine Arbeitszeitverkürzungen -ohne vollen Lohnausgleich -führt kein Weg vorbei. Es muß gelingen, Arbeitszeitverringerungen in deutlichen Schritten zu verwirklichen. Sonst wird die Massenerwerbslosigkeit mit ihren bedrohlichen gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen auf Dauer bestehen bleiben. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die notwendige Arbeitszeitverkürzung schaffen und das dazu nötige gesellschaftliche Klima fördern.
Wir schlagen zugleich eine gründliche Neuordnung der Instrumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik vor. Statt einer kurzfristig orientierten, ständigen Schwankungen unterliegenden Arbeitsförderunghalten wir die Einrichtung dauerhafter Arbeitsförderbetriebe für sinnvoll, die gesellschaftlichen Bedarf vorwiegend in den Bereichen decken, die privatwirtschaftlich gar nicht oder nur unzureichend versorgt werden.
Die Erzielung eines Arbeitseinkommens in einem solchen gesellschaftlich geförderten Betrieb ist für viele Erwerbslose die bessere, für nicht wenige die einzige Alternative zu einem Sozialeinkommen.
Sozialstaatliche Reformen Die Situation der „sozial Schwachen“ und besonders der Armen in der Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Zum einen haben in der Folge der tiefen Wirtschaftskrise viele Menschen ihr Arbeitseinkommen verloren. Zum andern ist unter dem Druck der leeren Kassen die konservativ-liberale Koalition den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hat die Konsolidierung des Haushaltes vorrangig zu Lasten der „sozial Schwachen“ betrieben.
Gerade jetzt erweist sich die Schaffung einer sozialen Grundsicherung sals notwendig, die im Gegensatz zur heutigen Sozialhilfe bedarfsdeckend ist und der nicht der Makel eines Almosens anhaftet.
Die verfahrene und sehr viele Menschen in diesem Land abschreckende Diskussion über die Pflege-versicherung hat zu einem in vieler Hinsicht unbefriedigenden Ergebnis geführt: Zum einen ist die Pflege selbst unzureichend gesichert. Zum anderen ist mit der faktischen Freistellung der Arbeitgeber-seite die Beitragslast allein den Arbeitnehmern aufgebürdet worden. Ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz wäre die bessere Lösung gewesen, die zudem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen weniger belastet hätte als die bis zur Unkenntlichkeit zerredete Sozialversicherungslösung.
Wir wollen eine kinderfreundlichere Politik; Kinder sind heute ein wesentlicher Grund für die Verarmung von Familien. Statt mit dem Ehegattensplitting die kinderlose Ehe steuerlich zu subventionieren, muß nach Überzeugung von Bündnis 90/Die Grünen dieses Steuerprivileg zugunsten eines deutlich erhöhten, einkommensabhängigen Kindergeldes abgebaut werden.
Gerechte Verteilung der Lasten Bund, Länder und Gemeinden stecken je einzeln und alle zusammen in der Finanzkrise. Mit einer finanzpolitisch unsoliden und gesellschaftspolitisch zerstörerischen Politik versucht die Bundesregierung, den Folgen dieser Krise zu entgehen. Verschuldung im großen Stil, Entsolidarisierung der öffentlichen Haushalte, Ausplünderung der Sozial-systeme, drastischer Sozialabbau kennzeichnen diese Strategie der Verdrängung der Probleme und der Abwälzung der Lasten auf die „sozial Schwachen“.
In den Mittelpunkt einer neuen Finanzpolitik wollen dagegen Bündnis 90/Die Grünen einerseits einen solidarischen Lastenausgleich Deutsche Einheit stellen, der die einkommens-und finanzstarken Gruppen in der Gesellschaft stärker einbezieht, andererseits die überfällige Reform des Steuersystems nach ökologischen Gesichtspunkten, mit der wir im Vorgriff auf eine notwendige europäische Regelung beginnen wollen. Die Einführung von Ökosteuern muß auf längere Sicht zu einer Neugewichtung zwischen den Steuerarten führen, die eine abnehmde steuerliche Belastung der Arbeit einschließt.
Hinzu kommt die wirksame Begrenzung und schrittweise Rückführung der katastrophalen Verschuldung des Staates. Ein weiterer Anstieg der Neuverschuldung wäre auch zur Finanzierung notwendiger Reformen nicht vertretbar.
Offene Gesellschaft im Herzen Europas Europa bereitet sich auf die „immer engere Union der Völker Europas“ vor. So heißt es im Vertrag von Maastricht. Die geistigen und physischen Mauern im Innern der europäischen Gesellschaften werden dessen ungeachtet höher und undurchdringlicher.
In Deutschland wurden mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts die Grenzen für Flüchtlinge und Einwanderer weitgehend geschlossen. Auch die -teilweise schon seit Jahrzehnten -hier lebenden Angehörigen nationaler und ethnischer Minderheiten bleiben ausgegrenzt. Sie und insbesondere ihre Kinder leben und fühlen sich als Bürger/-innen unserer multikulturellen Gesellschaft, werden aber als Ausländer behandelt und von den elementaren Bürgerrechten ferngehalten.
Auch Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten müssen zunehmend ihre Existenzberechtigung und Lebensform verteidigen. Tätliche Übergriffe von Neonazis sind nur eine extreme Ausdrucksform einer allgemeineren Ablehnung des „Nicht-NormGerechten“. Bündnis 90/Die Grünen werden sich am Ausbau Deutschlands zu einer Festung im Herzen Europas nicht beteiligen, statt dessen der multikulturellen Lebensrealität in diesem Land den notwendigen Raum schaffen. Wir fordern die schnelle und kon sequente Gleichstellung dauerhaft hier lebender ethnischer und nationaler Minderheiten. Hierzu gehört das allgemeine und gleiche Wahlrecht und ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, das die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft eröffnet.
Wir werden uns darüber hinaus für eine gesellschaftliche Mehrheit zur Wiederherstellung des Asylgrundrechts einsetzen und treten für ein europäisches Asylrecht ein, das mit einer einklagbaren, individuellen Rechtswegegarantie in jedem Staat der Europäischen Union Teil der europäischen Menschenrechtspolitik wird.
Die Bundesrepublik braucht zusätzlich ein humanes Einwanderungsrecht für Zuwanderer, die keine Flüchtlinge sind. Die Regelungen sollen sich an humanitären und sozialen Gesichtspunkten orientieren und nicht etwa vorrangig an den ökonomischen Interessen des Einwanderungslandes.
Europa zusammenbringen Nicht nur die Festung Deutschland, auch die Festung Europa ist eine falsche -und übrigens auch sehr kurzsichtige -Reaktion auf die aktuellen Probleme. So natürlich es sein mag, wenn in Zeiten wirtschaftlicher Krisen die Besitzstände gewahrt werden sollen, das Seidenhemd den Deutschen und den anderen Westeuropäern näher als der verschlissene Rock der Polen oder Albaner ist: Eine Politik, die mit populistischer Artikulation verbreiteter Ängste den Herausforderungen der neunziger Jahre gerecht werden will, muß scheitern.
Dem neuen Nationalismus, der großen Herausforderung für Europa an der Jahrtausendwende, kann nur wirkungsvoll mit einer erfolgreichen europäischen Einigung begegnet werden. Die alten Konzepte taugen dafür nicht mehr.
Schon für sich allein steckt das Europa der Zwölf, das Europa des Maastrichter Vertrags in der Krise. Sozialpolitische Mängel und das offenkundige Demokratie-Defizit der noch längst nicht gesamteuropäischen Union erzeugen berechtigte Vorbehalte. Alte und neue Partikularinteressen werden durch die flächendeckende Wirtschaftskrise verstärkt. National statt europäisch orientierte Politik erhält neue Nahrung.
Eine Reform des Integrationsprozesses tut also not. Viele Chancen sind seit dem Ende des Kalten Krieges schon verpaßt worden. Die nächsten Jahre müssen Schritte auf dem Weg zu Reformen bringen. Die Ziele sind die Demokratisierung der Union, ihr sozialer und ökologischer Umbau sowie nicht zuletzt ihre Öffnung hin auf Gesamteuropa. Dabei geht das eine nicht ohne das andere.
Die zentralen Strukturen der Europäischen Union müssen transparenter, ihre Entscheidungsfindung stärker bei der Legislative angesiedelt werden. Auf der anderen Seite bedarf es deutlicherer und direkterer regionaler, kommunaler und individueller Einflußmöglichkeiten. Unser Schlüssel für eine Demokratisierung der Europäischen Union liegt vor Ort im eigenen Land.
Die Vielgestalt Europas erfordert schon jetzt größeren Spielraum für unterschiedliche Interessen und Erfordernisse. Mit jedem neuen Mitglied der Union wächst dieses Bedürfnis. Erst recht aber gilt dies für die Einbeziehung der mitteleuropäischen Staaten. Die Europäische Union muß gesamteuropatauglich werden. So sinnvoll und notwendig die Vertiefung der europäischen Integration ist: Sie darf nicht zu Lasten ihrer Erweiterbarkeit gehen.
Die posttotalitären Staaten Mittel-und Osteuropas brauchen die gesamteuropäische Perspektive als eine Triebkraft ihrer eigenen Entwicklung. Bleibt diese Perspektive nur abstrakt und visionär, gewinnt statt der zivilen Gesellschaft der wiederbelebte Nationalismus die Oberhand. Diese Gefahr droht nicht nur wie jetzt in Rußland. Sie existiert vor unseren Augen im ehemaligen Jugoslawien. Die Öffnung nach Osten ist überlebenswichtig -zuerst für die Gesellschaften Osteuropas, aber gleichzeitig auch für die Westeuropas. Es gibt keine Mauern mehr, die Europa und seine Probleme auf zwei verschiedene Planeten zu verteilen vermöchten.
Was für die demokratische, soziale und ökologische Reform gilt, ist auch für die sicherheitspolitische richtig. Gesamteuropäische Strukturen sind notwendig, um Europa nicht in Angst vor sich selbst erstarren zu lassen. Der Kern eines sicherheitspolitischen Reformprozesses für Europa ist deshalb die Abkehr von Militärbündnissen wie NATO und WEU, die Feindbilder und Gegner brauchen, um sich selbst legitimieren zu können. Nicht die Abwehr anderer, die außerhalb bleiben, sondern der Ausbau vertrauensbildender Strukturen führt zum Zusammenschluß der Angehörigen ehemals verfeindeter Blöcke innerhalb Europas. Deshalb setzt Bündnis 90/Die Grünen auf die KSZE als zentrales Forum europäischer Außen-und Sicherheitspolitik. Die KSZE bietet die Grundlage für ein System kollektiver Sicherheit und zeigt bereits heute vielversprechende Ansätze, einem erweiterten Sicherheitsbegriff zu entsprechen, der nicht bloße militärische Stärke, sondern die Garantie der Menschenrechte, Demokratie, Entwicklung und Transparenz umfaßt.
Strittig innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen ist die Rolle der NATO bei diesem Umorientierungs prozeß. Die Mehrheit fordert, die NATO schrittweise aufzulösen und durch die nichtmilitärische KSZE zu ersetzen. Andere stellen sich die Abrüstung der NATO und ihre Umwandlung zum Bestandteil eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems vor, das die osteuropäischen Staaten einbezieht. Soviel allerdings ist sicher: Die Lösung sucht Bündnis 90/Die Grünen jenseits des „weiter so“ der gegenwärtigen Regierungspolitik. i
Reformen setzen die Einsicht in ihre Notwendigkeit voraus. Kommen sie aber in Gang, können sie unaufhaltsam werden. Eine Reform der europäischen Integrationsprozesse hätte enorme Ausstrahlungskraft auch auf die internationalen Beziehungen insgesamt. Die UNO als zunehmend geforderte internationale Problemlösungs-und Konfliktschlichtungsinstitution könnte davon profitieren -und damit wir alle. Auf globaler Ebene kann nicht falsch sein, was auf europäischer richtig ist.
Ziel einer dringend notwendigen UNO-Reform ist deren Umbau in ein demokratisches Gremium ohne Vorrechte einzelner Mitgliedstaaten. Das Übergewicht der nördlichen Industriestaaten muß deshalb abgebaut werden. Eine solche Struktur ist die Voraussetzung für die politische und rechtliche Stärkung der UNO. Weltweiter sozialer Ausgleich, Abbau ökologischer Belastungen, die Garantie der Menschenrechte und die Verhinderung gewaltsamer Konflikte bleiben hehre Ziele, solange nicht durch freiwillige Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte die reale Macht der UNO befördert wird. Dazu bedarf es des Vertrauens in eine repräsentative supranationale Struktur.