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Wahl 94. Was tun? | APuZ 15/1994 | bpb.de

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APuZ 15/1994 Erneuerung aus der Mitte Zukunft gestalten, Bewährtes erhalten, Stabilität sichern Wahl 94. Was tun? F. D. P.: 1994 -Die zweite historische Chance Politik der Reformen und Reform der Politik Erneuerung der Gesellschaft

Wahl 94. Was tun?

Wolfgang Thierse

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Wahljahr als Herausforderung an die Parteien: Ob sie durch Wettstreit um die besseren Argumente Vertrauen zurückgewinnen oder durch „Propagandaschlachten um Stimmenmaximierung“ die antidemokratische Attitüde befördern. Die SPD will vor allem für die ökologische Modernisierung und eine wirksame Beschäftigungspolitik werben. Eine neue gesellschaftliche Glücksverheißung gibt es nicht. In fünf „Aufgaben-Feldern“ werden Perspektiven beschrieben, die über die bevorstehenden Reformen und Instrumente hinausweisen: Gerechtigkeit als Bedingung der inneren Einheit; Transformations-und DDR-Erfahrungen fruchtbar machen für ein gesamtdeutsches Reformprojekt; einen Umgang mit der DDR-Vergangenheit, der zwischen dem gescheiterten System und den darin gelebten Biographien unterscheidet; eine Neubesinnung auf die Kultur als verbindende Klammer der Deutschen sowie die Arbeit an einem nicht-nationalistischen Verhältnis zur eigenen Nation.

Der Idealvorstellung, daß Wahlzeit Aufklärungszeit sein soll, entsprechen Wahlkämpfe im Medienzeitalter schon lange nicht mehr. Das Jahr 1994 mit seinen fast 20 Wahlen droht schon jetzt, die schleichend um sich greifende antidemokratische Attitüde kräftig zu befördern, statt ihr entgegenzuwirken.

Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einer Lage, die so reich an ungelösten Problemen und Krisen ist, wie noch nie seit ihrer Gründung. Die Bundesregierung muß dafür die Verantwortung übernehmen. Die Opposition, womit hier die SPD gemeint ist, sieht sich aber auch selbst dem Vorwurf ausgesetzt, sie unterscheide sich nicht so richtig von der Regierungskoalition. Woran mag es liegen, daß diejenigen Wählerinnen und Wähler, die die angeblich unzureichende Opposition kritisieren, gar nicht zur Kenntnis nehmen, was alles anders gewesen wäre, hätte seit Ende 1990 die SPD regiert?

Ein paar Beispiele: Die Treuhandanstalt hätte nicht unter Privatisierungszwang gestanden, sondern hätte die ostdeutschen Betriebe zunächst sanieren dürfen, um sie dann um so zukunftsicherer, möglicherweise gegen erkennbare Verkaufspreise, zu privatisieren. Ich bin sicher, auf diese Weise hätte eine weitaus größere Zahl von Betrieben diese Umstellung überlebt. Eine Pflegeversicherung -ohne Kompensation -wäre wahrscheinlich längst in Kraft; bei der Klärung der Eigentumsfragen in Ostdeutschland gälte der Grundsatz Entschädigung vor Rückgabe: Das Gegenteil verursacht heute nicht nur Ängste, Sorgen und Ärger bei unzähligen Menschen, sondern hemmt auch ungemein die Investitionstätigkeit in den ostdeutschen Bundesländern. Bei der Überleitung des Rentenrechts auf Ostdeutschland wäre der Grundsatz, daß Sozialrecht niemals der Strafe dienen dürfe, sicher beachtet worden; Kürzungen im Bereich arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, aber auch bei Sozialleistungen, wären nicht vorgenommen worden. Wir hätten keinen Asylkompromiß, sondern ein neues Zuwanderungsrecht, das die Einwanderung nach Deutschland steuert und kanalisiert, politisch Verfolgten und zum Beispiel Bürgerkriegsflüchtlingen ohne weiteres Schutz gewähren würde. Das sind nur einige Beispiele für Unterschiede, ja in einzelnen Fragen Gegensätze zwischen dem, was die Regierung getan, und dem, was die Opposition gefordert hat.

Das Meinungsbild, das einen Mangel an Unterscheidbarkeit behauptet, mag mehr von den Kompromissen und Gemeinsamkeiten geprägt sein, die es auch gegeben hat: Die Gesundheitsreform und die Rentenüberleitung sowie jetzt auch die Pflegeversicherung gehören an die Spitze der Kompromisse, auf die wir als Opposition mit Recht stolz sein dürfen, so viel von unseren Vorarbeiten und Forderungen sind darin erkennbar. Das Stasi-Unterlagengesetz ist die bisher wohl einzige überparteiliche Gemeinschaftsarbeit, bei der sich die westdeutschen Parlamentarier aller Fraktionen von ihren ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen einmal etwas haben sagen lassen.

Nicht genug Platz wäre allerdings, die vielen Kompromisse aufzuzählen, in denen eine in den Ländern -also im Bundesrat -starke SPD zwar auf neue Bundesgesetze erheblichen Einfluß nehmen konnte, aber zugleich Zugeständnisse machen mußte, die nun der SPD angekreidet werden. Schade, daß nicht dieselben, die immer wieder die Übermacht der Parteien beklagen, hier einmal lobend feststellen, daß der Arm der Parteizentralen in vielen Fällen nicht ausreicht, alle Landes-regierungen an die Kandare zu nehmen.

Die letzte Legislaturperiode war auch bestimmt von einigen großen und aufregenden Kontroversen, wo eine Entscheidung nach parteipolitischen Maßstäben gar nicht möglich war, nicht hätte erzwungen werden können und dürfen: Bonn-Berlin, § 218 und zuletzt Christos Kunstaktion mit dem Berliner Reichstagsgebäude. Das Parlament hätte sich zu anderen Zeiten mit diesen Debatten durchaus einen guten Namen verdient. Wer guckt da weg, um es nicht zugeben zu müssen?!

Der Rest sei grauer Alltag, fauler Kompromiß, Kontinuitäten -nichts Neues eben. Es mag ja sein, daß es einen ostdeutschen Blick voraussetzt, sich über diese grauen Töne freuen zu können. Daß Differenzieren erlaubt und geboten ist, daß nicht immer letzte Wahrheiten tangiert werden, die doch etwas Willkürliches haben, daß dieser Preis für den Pluralismus nicht zu hoch ist. Die Freude über diesen streitbaren Pluralismus erschließt sichwohl auch im Osten nicht jedem sogleich. Das ist kein Vorwurf, im Gegenteil: Massenarbeitslosigkeit, relativ niedrige Einkommen oder noch schlimmer: Lohnersatzleistungen, Entindustrialisierung, neue Orientierung in einem ganz anderen Alltag stiften durchaus nachvollziehbar mehr Sorgen und Ärger, als teure Reisefreiheit und oft verwirrende politische Vielfalt Freude machen können.

Trotzdem braucht die Demokratie gerade jetzt Freunde, Verteidiger, Offensiv-Verteidiger. Das übellaunige Geraune über Parteiengezänk und ungenügende Problemlösung -nicht immer unberechtigt zwar -offenbart eine Unlust an der Demokratie, die mich beunruhigt.

Hier liegt eine Bewährungsprobe für die Parteien. Ob sie sie bestehen, ist noch fraglich. Dazu müßten sie sich verborgener Tugenden erinnern: sagen, was ist, und tun, was man sagt. Nicht das Blaue vom Himmel herunter versprechen, sondern die Grenzen des politischen Handelns mitbedenken und erklären. Ein Dauerwahlkampf unter diesem Motto wäre ein Gewinn für die Demokratie. Wir, die SPD, wollen das versuchen.

Wir werden den Wählerinnen und Wählern sagen, daß wir als Erben von zwölf Jahren Kohl die Welt nicht über Nacht auf die Füße stellen können. Die Neuverschuldung darf nicht in dem gleichen Stil wie zuletzt weiterwachsen; die Höhe der Steuer-und Abgabenbelastung der Durchschnittsverdiener erlaubt kaum erhebliche Verbesserungen der staatlichen Einnahmen. Das sind Rahmenbedingungen, mit denen jede Regierung ab 1995 rechnen muß. Die Zeiten, in denen allein durch Umverteilung von Zuwächsen die Welt zufrieden-stellend in Ordnung gebracht werden konnte, sind damit zunächst einmal vorbei. Will man den einen etwas geben, muß man anderen etwas nehmen. Das wird keine leichte Aufgabe. Ganz gleich, ob sie auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit, die unter der konservativ-liberalen Regierung erheblich gelitten hat, zu lösen ist oder bei der vielleicht weniger komplexen Forschungsförderung. Das Beispiel der Kulturpolitik, die doch einmal die Aufgabe hatte, „zu ermöglichen“ (Hilmar Hoffmann), zeigt die Änderung: Heute werden wir auch da Tag für Tag entscheiden müssen, was noch ermöglicht werden kann mit öffentlicher Unterstützung, und was schon nicht mehr. Uns steht auf jeden Fall mehr Streit ins Haus.

Seit Jahrzehnten diskutiert wenigstens Westdeutschland über den Schutz der Umwelt. Die Tabuisierung dieses Themas durch die SED-Herrschaften in der DDR hat es dort zu einem Kristallisationspunkt für Systemopposition gemacht. Jetzt zeichnet sich erst die Möglichkeit für ein die Unternehmen umfassendes gesellschaftliches Bündnis für ökologische Produktion, energiesparende Technologie, erneuerbare Energiequellen ab. Es wäre unverantwortlich, diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Unverantwortlich gegenüber der Umwelt und unverantwortlich gegenüber der zukünftigen Wettbewerbssituation Deutschlands auf den Weltmärkten. Treibhaus-effekt und Ozonloch sind globale Herausforderungen ersten Ranges. Jenseits allen wissenschaftlichen Streits dürfte feststehen, daß weniger Emissionen von CO 2, weniger Erwärmung der Atmosphäre sicherer irreparable Schädigungen begrenzen als ein betriebswirtschaftlich motiviertes Durchmogeln, beschönigt durch den Verweis auf etwaige analytische Unsicherheiten. Die Antworten heißen: Rohstoffe sparen -durch Wiederverwertbarkeit; nicht Entsorgungskreisläufe schaffen, sondern -nebenbei sparsamere -Wiederverwertungskreisläufe. Energieverbrauch und Umwelt-verbrauch besteuern und verteuern und nicht immer mehr Lasten auf die Arbeit abladen. Forschung und Entwicklung sind auf diese Zukunftsaufgaben auszurichten. Das alles wurde sträflich versäumt.

Sinnvolle Arbeit gehört zu den Grundbedingungen für die Würde des Menschen. Aber unsere Zukunft liegt nicht in der Perspektive der uns benachbarten Niedriglohnländer. Im Gegenteil: hochqualifizierte und teure Arbeit werden wir leisten müssen. Für die Summe der Arbeitsplätze bedeutet das ohne Zweifel, daß sie abnimmt. Das wissen wir schon lange. Getan aber wurde nichts, außer Arbeitsplätze unsicherer zu machen, außer Versuchen, Arbeit zu verbilligen oder gar der krausen Idee, Arbeitszeiten zu verlängern. Mit Zukunftsvorsorge hat das nichts zu tun. Wir müssen die vorhandene Arbeit teilen unter denjenigen, die arbeiten wollen, und wir müssen auch neue Arbeitsfelder, vor allem im Dienstleistungsbereich, schaffen. Dabei dürfen wir diejenigen nicht vergessen, die den Wettlauf um immer höhere Qualifikationen nicht gewinnen können.

Die SPD bietet in diesem Wahlkampf ein ernst gemeintes Sachprogramm an, klare Alternativen für eine gesellschaftspolitische Umkehr; nicht nur Wohltaten an alle denkbaren Zielgruppen verteilend, sondern auch Anstrengungen abfordernd im Interesse einer sicheren Zukunft. Polemisch könnte man sagen: Wir schaffen die Umkehr, die Helmut Kohl nach zwölf Jahren Kanzlerschaft als letztes Argument zu fordern eingefallen ist.Zwölf Jahre Kohl sind auch zwölf Jahre einer Politik des „Bereichert Euch!“ Die „geistig-moralische Wende“ ist eine Wende weg von gesellschaftlichen Tugenden, von Solidarität, hin zur Verteidigung des blanken Egoismus. Nicht Leistung lohnt sich in dieser Gesellschaft -was zählt, sind Status und Einkommen, aber ganz unabhängig davon, wie sie zustande gekommen sind. Der Prozeß der Individualisierung der Gesellschaft hat sicher etwas zwangsläufiges, aber es bedarf eines Korrektivs: der Solidarität. v Unverantwortlich dagegen finde ich es, sozialpopulistische Agitation im Stile der PDS zu machen. Es ist interessant, wie von zwei Seiten versucht wird, die hier beschriebenen Unterschiede zwischen SPD und CDU zu verniedlichen. Bei der CDU geschieht dies in Verbindung mit dem Versuch, von der Debatte über Arbeitslosigkeit, Beschäftignngspolitik, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die teilweise verzerrte Darstellung deutschlandpolitischer Ereignisse in der vorvorigen oder noch früherer Legislaturperioden des Bundestages abzulenken. Die PDS, wohl von Natur verantwortungslos -als SED hatte sie sich nicht zu verantworten, als PDS kann sie es nicht -, muß als die irgendwie „bessere“ Opposition erscheinen, sonst findet sie keinen Platz im Parteienspektrum. Beide, CDU wie PDS, reagieren damit nicht auf gesellschaftliche Probleme, sondern auf ihre jeweils eigene, unterschiedlich existenzielle Bedrohung im Wahljahr 1994. Das ist verständlich, aber der Demokratie nicht ohne weiteres von Nutzen.

Mir ist das etwas andere, pragmatischere Politikverständnis, das bei manchem angeblich Politik-verdrossenen zum Ausdruck kommt, durchaus sympathisch: die Vorstellung nämlich, Parteien könnten doch die Propagandaschlacht um die Stimmenmaximierung ein wenig zurücknehmen zugunsten eines Wettbewerbs um die besten Ideen, eines Diskurses zwischen Regierung und Opposition im Interesse optimaler Problemlösung. Nur eines wird sich dadurch nicht ändern: der Umstand, daß wir miteinander streiten. Das muß sein. Und noch etwas: Es gibt keine antagonistische Systemalternative mehr. Der Verdruß, der diesem scheinbaren Mangel geschuldet ist, kann vorerst nicht geheilt werden. Das Bedürfnis nach einer neuen Verheißung, einem gesellschaftlichen Glücksversprechen, einer neuen System-Utopie -das kann gottlob nicht befriedigt werden!

Aber es gibt wichtige Ziele und Aufgaben, von denen hier fünf herausgegriffen werden. Dabei geht es um Chancen und Herausforderungen der Deutschen Einheit, die die SPD nutzen will und -besser als andere -bestehen kann. Sie geben unsere Perspektive an, über die genannten Probleme, über die Instrumente eines sozialdemokratischen Regierungsprogramms hinaus: 1. Gerechtigkeit ist die Bedingungfür das Gelingen der inneren Einigung Deutschlands. Diese innere Einigung ist belastet, ist gefährdet durch die grobe Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Lasten und Chancen, von Gewinnern und Opfern der deutschen Einigung. Ungerechtigkeit aber beschädigt die Bereitschaft und die Fähigkeit, zu teilen.

Ungerechtigkeit bringt , Wessis‘ und , Ossis‘ gegeneinander auf. Es wäre zynisch, einem westdeutschen von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeiter oder Angestellten Besitzstandswahrungsmentalität vorzuwerfen. Was Westdeutschland und dabei vor allem die Arbeitnehmer erbringen, ist eine ganz außerordentliche Solidaritätsleistung. Und dies belegt den Satz, der auch für die nächsten Jahre gelten wird, daß die ostdeutschen Probleme nur gesamtdeutsch zu lösen sind oder gar nicht. Das gilt auch dann, wenn die, die öffentlich das Gegenteil behaupten, für ihre Partei damit einen Erfolg verbuchen könnten.

Fest steht, die Belastungen in Deutschland sind ungleich verteilt. Und diese ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist durch die deutsche Einigung und die Politik in diesem Zeitraum verschärft worden. Die Bundesregierung hat in den letzten zwölf Jahren zu einer erheblichen Umverteilung von unten nach oben beigetragen, was seit der deutschen Vereinigung durch die Ungleichheiten im Ost-West-Gefälle ergänzt worden ist.

Wir haben es also mit einem doppelt zu korrigierenden Gefälle zu tun: oben -unten, West -Ost! Hierfür ist ein sozialer Lastenausgleich für Gesamtdeutschland erforderlich, der auf beiden Ebenen die Ungleichheiten mittel-oder langfristig, kurzfristig wird es nicht gehen, auszugleichen bestrebt ist. Es geht um die Herstellung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands und dazu bedarf es eines breiten wirtschafts-, finanz-und sozialpolitischen Maßnahmebündels. Es muß uns gelingen, durch verschiedene steuerliche Maßnahmen, Maßnahmen der Einsparungen, der Subventionskürzungen und der besseren Kontrolle von Mißbrauch eine gerechtere Verteilung von Lasten zu erreichen.

Ich will aus den möglichen Maßnahmen hier nur eine einzige nennen, die sicher auf erheblichen Widerstand stoßen dürfte, wenn irgendeine Regierung sie zu verwirklichen versuchen wollte: Eswird nicht anders gehen als ohne eine Anhebung der Erbschafts-und Vermögensteuer, ohne eine zeitgemäße Reformierung der Einheitswertberechnung von Grundstücken, also ohne eine höhere steuerliche Belastung von leistungslosem Einkommen. Der Sinn dieser Vorschläge ist klar: Der Staat muß sparen, und die Leistungsfähigeren sollen ihrem Leistungsvermögen entsprechend zu den Aufgaben der Gemeinschaft mehr beitragen. Eine gerechtere Lastenverteilung ist die einzig sinnvolle, nicht nur gerechtere, sondern allein mögliche Lösung angesichts der doppelten Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit einerseits und der enormen Staatsverschuldung andererseits. Nur so können Mittel frei werden für die gesamtwirtschaftliche Modernisierung, vor allem aber, damit wir sie produktiv für Ostdeutschland einsetzen können. Es geht um finanzielle Möglichkeiten für Zukunftsinvestitionen zum Aufbau in Ostdeutschland. Uns Ostdeutschen stellt sich dann eine andere unbequeme Frage: Was muten wir uns selbst zu, wenn den Westdeutschen nicht nur wegen der deutschen Einigung, sondern zur Überwindung der hausgemachten, nicht durch die deutsche Einigung verursachten Wirtschaftskrise beträchtliche Opfer zugemutet werden müssen? Wohlstandsstillstand, gar Wohlstandseinbußen zu ertragen, das ist für niemanden leicht, aber genau dies wird von den Westdeutschen verlangt. Und von uns Ostdeutschen? Mindestens geradezu revolutionäre Geduld im Prozeß der vollständigen Angleichung der Lebensverhältnisse. Aber vielleicht ist das noch die leichtere Aufgabe. Denn auf die Westdeutschen kommt die Bewährungsprobe für die Demokratie erst zu. 40 Jahre Frieden in der alten Bundesrepublik, 40 Jahre Demokratie und soziale Marktwirtschaft, 40 Jahre mehr oder minder kontinuierliches Wachstum von Wohlstand ermöglichten die Verteilungskonflikte der alten Bundesrepublik friedlich zu lösen, weil am Schluß doch irgendwie immer Zuwächse verteilt werden konnten. Jetzt ist das anders; das wird die Bewährungsprobe für die Demokratie sein. 2. Die innere Einheit, das Zusammenwachsen der Deutschen, wird nur gelingen, wenn wir die Einigung nicht einfach weiterhin praktizieren als die Übertragung des Status quo West in allen seinen Facetten auf den zusammengebrochenen und abgewickelten Osten, sondern wenn wir die Einigung zu einem gemeinsamen Reformprojekt machen.

Das verlangt neben Strategien für die Modernisierung der deutschen Wirtschaft, für ökologisch und sozial verantwortbares Wachstum, für die Schaffung neuer zukunftsträchtiger Arbeitsplätze auch die Arbeit am Zusammenwachsen unserer zwei Gesellschaften in einem Staat, verlangt die Arbeit an der Reform verkrusteter Institutionen -eine Arbeit, in die Erfahrungen einfließen können, die Ost-und Westdeutsche gemeinsam bei der Transformation Ostdeutschlands gemacht haben.

Diese Reform ist notwendig. Viele in der DDR haben geglaubt, die Mischung aus preußisch-sächsisch-russischer Bürokratie sei nicht mehr zu überbieten. Dies ist eine große Täuschung gewesen, wie ein paar ganz disparate Beispiele zeigen: Jeder Bürger, jede Bürgerin soll Steuern zahlen. Spezial-wissen ist jedoch erforderlich, um zu wissen, wie das geht. Obwohl es sich um Rechte und Pflichten jedes Bürgers handelt, kennen wir sie nicht im einzelnen, können das auch gar nicht.

Das Arbeitsrecht ist inzwischen ähnlich verzweigt und kompliziert, daß wenigstens die Zusammenfassung aller Regeln in einem Arbeitsgesetzbuch -das gab es in der DDR -schon ein großer Fortschritt wäre.

Der Staat fördert den Bau von Eigenheimen, so weit so gut. Es ist aber schon zweifelhaft, daß jeder, auch der Millionär, in den Genuß dieser Förderung kommt. Unerträglich aber ist, daß die Höhe dieser Förderung auch noch mit dem Einkommen des Häusle-Bauers wächst. Das kann man ändern.

Wenn die Qualität der schulischen Bildung in den einzelnen Schulformen so weit auseinanderfällt, daß bald schon in jedem Beruf das Abitur zur Voraussetzung wird, haben wir es auch da mit einer Fehlentwicklung zu tun. Lehrer, Schüler, Eltern und vor allem die Länder müssen hier einen vernünftigen Ausweg finden. Das kann ihnen niemand abnehmen. Nur, daß hier etwas geschehen muß, steht außer Frage.

Die Gesundheitsreform droht in ein gigantisches Kürzen von Leistungen auszuarten. Es gibt sicher unsinnige Leistungen, die entfallen können. Die Kosten senken kann man aber auch bei der Art und Weise, wie die Leistungen der Ärzte und Krankenhäuser organisiert und honoriert werden. Niemand hat je behauptet, daß das System der Polikliniken nicht leistungsfähig gewesen wäre. Es hat die Betreuung und Behandlung der Patienten gewährleistet. Wahrscheinlich werden die Kosten-Nutzen-Relationen im Vergleich zu Einzelpraxen für die wenigen, nur in Brandenburg erhalten gebliebenen Gesundheitszentren sprechen. DieseLösungen sparen auch den Patienten weite Wege von einem Facharzt zum anderen. Diese Beispiele knüpfen an ostdeutsche Erfahrungen an, an Lebenserfahrungen, die widerlegen, daß in der DDR alles völlig ineffektiv gewesen sei.

Wir brauchen institutionelle Reformen. Heute klagen alle über die unübersichtliche Verteilung von Zuständigkeiten, zugleich über zu große Zentralisierung, zu detaillierte Normung, zu lange Genehmigungsverfahren. Das Gespräch zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und staatlichen Stellen ist gestört. Man macht nichts mehr zusammen. Das gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik. Also Dezentralisierung und Regionalisierung von Entscheidungen sind notwendig. Der Bund, wann immer er zur Förderung von Investitionen gebraucht wird, kann sich auf einige wichtige Kriterien beschränken und alles andere den Menschen vor Ort überlassen. So kommt dann auch Bewegung in die wirtschaftliche Entwicklung.

Vereinfachung ist notwendig. Wir müssen vermeiden, daß -wer so einen Betrieb gründen will, schon bei der Beantragung von Fördermitteln scheitern kann. Wenn die Bürokratie durch unübersichtliche Strukturen verhindert, daß auch ein nichtvermögender Ostdeutscher einen erfolgversprechenden Betrieb gründen kann, dann ist etwas faul. Da müssen Strukturen verändert und übersichtlicher gestaltet werden. Aber bei dieser Art von Reformen geht es keineswegs nur um die staatlichen Verwaltungen. Solange zum Beispiel an den ostdeutschen Universitäten geforscht wird, ohne daß die Industrie davon erfährt, ist die Anstrengung der Wissenschaftler vergeblich. Wir müssen die Kommunikation, den Austausch zwischen Wissenschaft, Unternehmen und Staat, verbessern. Wir brauchen eine „dialogorientierte Wirtschaftspolitik“, die allerdings gewährleistet, daß die Ergebnisse dieses Dialogs auch umgesetzt werden.

Wenn wir solcherart Veränderungen -Reformen des Staates, institutionelle Reformen -in Angriff nehmen, dann ist das auch eine Chance für ostdeutsche Gleichberechtigung. Die doppelten ostdeutschen Erfahrungen aus 40 und vier Jahren sollten wir nutzen, und nicht die Ostdeutschen stets nur als die, die zu lernen und zu übernehmen haben, betrachten. Wenn die Ostdeutschen umschalten vom Leiden an der Umwälzung zum Einfordern derartiger Reformen und Verhaltensweisen, dann werden die fast vier Jahre seit der Einheit nicht verloren sein, sondern gesamtdeutschem Fortschritt nützen können. 3. In den letzten vier Jahren sind wir uns unserer Fremdheit bewußt geworden, haben wir die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Interessen zwischen West und Ost erkannt. Für die Interessen-gegensätze haben wir in der pluralistischen Demokratie den Weg des Aushandelns und Ausgleichens, sehr oft mit dem Ergebnis des Kompromisses, der eben kein schäbiger ist, wenn er beider Seiten Interessen berücksichtigt. Mit den Fremdheiten, den unterschiedlichen Identitäten in Deutschland wird das aber so nicht gehen; sie entziehen sich dem Aushandeln. Sie müssen vielmehr vor allem zunächst anerkannt werden. Anerkennen heißt zunächst auch kennen. Das läßt sich politisch nicht verordnen -ebensowenig, wie sich Identitätswandel verordnen läßt.

Unsere jüngste Vergangenheit, die unsere Identitäten prägt, müssen wir aufarbeiten. Das umständliche Wort von der Aufarbeitung erinnert an den Schneider, der früher Anzüge aufarbeitete, damit sie weiter getragen werden konnten. In diesem Sinne sollte auch die kritische Begegnung mit der eigenen Geschichte erfolgen. Ost-und Westdeutsche, Menschen, die die DDR bloß ertragen, und solche, die die DDR getragen haben -wir alle müssen miteinander leben. Deshalb dürfen politischer Irrtum, Anpassung und Opportunismus -alles bei weitem keine typisch ostdeutschen Verhaltensweisen, sondern auch im Westen unter sehr viel milderen Bedingungen erstaunlich weit verbreitet -nicht dauerhafte Kainsmale bleiben. Es ist beschämend, wenn viele nicht einmal unterscheiden zwischen dem System der DDR, das gescheitert ist, und den Menschen, die in diesem System gelebt haben, und die nicht, oder wenigstens nicht alle, gescheitert sein dürfen. Diese Unterscheidung ist wichtig. Wir müssen sie den Westdeutschen abverlangen, aber wir müssen sie ihnen auch ermöglichen durch selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte. Nicht durch Verdrängen, Beschönigen, Normalisieren der DDR-Vergangenheit. Damit sind ja nicht wenige beschäftigt.

Für die ehemaligen DDR-Eliten, wenn man das Wort Eliten da überhaupt verwenden kann, ist es schmerzlich, abgelöst worden zu sein und zumeist auch den erwarteten Lebensstandard im Alter nicht halten zu können. Das gehört wohl zum Wesen eines politischen Umbruchs: der Wechsel des Personals. Jammern und Klagen darüber hat etwas Würdeloses, auch wenn es höchst verständlich ist. Aber Pauschaldiskriminierungen -zum Beispiel im Rentenrecht -gegen alle, die nach einem formalen Kriterium staatsnah, wie es da heißt, gewesen sein sollen, sind doch äußerst fragwürdig. Sozialrecht darf kein Strafrecht sein.Daß sich die Parteien stärker öffnen müssen, um ihre stabilisierende Funktion in der Demokratie weiter wahrnehmen zu können, ist zwar zu einem Gemeinplatz geworden, ist aber trotzdem richtig. Daß diese Öffnung für die SPD in Ostdeutschland auch gegenüber ehemaligen SED-Mitgliedern gelten soll, will ich noch einmal bekräftigen. Sozialdemokrat, Demokrat überhaupt, ist man nicht durch Geburt oder Herkunft, man kann es werden. Ich rate zu menschlicher, politischer Großzügigkeit und dazu, möglichst vielen eine Chance zum demokratischen Neuanfang zu geben, wenn sie denn wollen. Notwendig sind Verständnis und Gerechtigkeit bei der Bewertung unterschiedlicher deutscher Vergangenheiten, unterschiedlicher Biographien. Ein Klima eiliger Verdächtigung ist ebenso falsch wie bequeme Verdrängung. Warum jemand für die Staatssicherheit gearbeitet hat, ist wichtig, um diese Versuchung künftig vermeiden zu können. Erst in zweiter Linie sollte es um die Konsequenzen gehen, die ein Schuldiger wird ziehen müssen. Hat er anderen geschadet, muß Strafe sein, sonst aber steht jedem eine Chance zum Neuanfang zu. Und wir alle sollten uns mehr um Begreifen und etwas weniger um Aburteilen bemühen. 4. Wir leben mit den vielfältigen Brüchen und Gräben in unserer Gesellschaft, die so gar nicht harmonisch einigen zusammenwachsen will einem Deutschland. Was könnte die bindende Klammer sein, Bindeglied Menschen Ost das zwischen den in und West, das ihnen das Zusammenleben, das Zusammenwachsen -das sie auch befähigt, Schwierigkeiten zu ertragen und Geduld zu üben füreinander? Ist es der Rückgriffaufden Begriffder deutschen Nation?

Mit Recht schrecken hier viele zusammen, ist ihnen der Begriff doch untrennbar verknüpft mit dem des Nationalismus. Sein Wüten erleben wir alltäglich in häßlichen Attacken auf alles Andere und Fremde. Und trotzdem gilt das Wort von Günter Grass: „Wenn wir es nicht fertigbringen, ein angemessenes, aufgeklärtes Nationalbewußtsein zu entwickeln, dann sind wir ein Sprengsatz in Europa.“ Der Dramaturg und Regisseur Adolf Dresen wollte, als er in der ersten Hälfte der achtziger Jahre Direktor des Schauspiels in Frankfurt am Main mit DDR-Paß war, nicht die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, die ihm sekundär erschienen sei, sondern eine nationale Identität, eine innere Einheit fördern, wie eine gemeinsame Kultur sie stifte. Es ist nicht zu übersehen, daß in Zeiten der wirtschaftlich-sozialen Krise aber leider ausgerechnet dort zuerst gespart wird. Der Bund streicht die Mittel für Ostdeutschland für die Kulturförderung, die Länder und Kommunen sind in der Gefahr, gerade am Kulturetat zu streichen. Das trifft nicht nur Ostdeutschland, sondern auch die Kultur in den westlichen Bundesländern. Die vielfältige kulturelle Infrastruktur, das reiche kulturelle Erbe, künstlerische Institutionen und Aktivitäten sind hochgradig gefährdet. Das, was ein Mittel des Überlebens in der DDR war, was ein Bindeglied der staatlich gespaltenen Nation war, ist heute bedroht. Trotz der Krise ist Deutschland eine reiche Gesellschaft. An der Kultur zu sparen heißt, den für den Zusammenhalt einer zivilen Gesellschaft notwendigen Raum von Reflexion und Kommunikation, von Identitätswahrung und Identitätsfindung beschränken. Das Echo von Kulturzerstörung durch Sparen an der falschen Stelle könnte ein dumpfer, ein gefährlicher Nationalismus sein. Deshalb muß der Bund weiterhin kulturpolitische Verantwortung tragen, und dürfen Länder und Kommunen nicht zu allererst bei der Kultur sparen.

Sparen wird auch im Bereich der Kultur unausweichlich sein. Sparen muß aber nicht identisch sein mit Abwicklung. Natürlich hat insbesondere die DDR eine staatlich alimentierte Kulturlandschaft gehabt, die unter den heutigen Bedingungen so nicht zu halten ist. Aber es wird doch allzu schnell angesetzt, der Rotstift die Verantwortung an Länder und Kommunen weitergeschoben, denen die Schulden bis zum Halse stehen und die im Zweifel eher eine Kultureinrichtung schließen, als infrastruktureile Investitionen zur Industrieansiedlung zu unterlassen.

Die Konsequenz aus dem Sparzwang ist unausweichlich Streit; hinsichtlich öffentlicher Förderung müssen immer neue Wertentscheidungen getroffen werden. Die erreichten Standards, wie sie unter den Stichworten „Bürgerrecht Kultur“ und „Kultur für alle“ treffend zusammengefaßt worden sind, müssen aber unter veränderten Bedingungen, wenn es irgend geht, erhalten werden.

Kulturarbeit muß die Selbstbegrenzung angesichts enger werdender finanzieller Spielräume als Auftrag an sich selbst auffassen und verbliebene Spielräume selbstverständlich und selbstbewußt neu füllen. Darin liegt auch eine Chance. Wir haben als Menschen, die noch immer im reichsten Teil dieser Erde leben, aus einer Reihe anderer Gründe eine „Kultur der Bescheidung“ zu lernen. Nicht zuletzt verlangen globale ökologische Bedrohung, Armutswanderungsbewegung, Welt-hunger notwendigerweise auch einen kulturellen Paradigmawechsel. Die Ästhetisierung des unbe grenzten Massenkonsums, die schrankenlose Individualisierung stößt allmählich selbst an die eigenen Grenzen. Auch daraus könnte ein Diskurs über eine Kultur der Bescheidung einen Ausweg weisen. Eine Neubesinnung auf den Begriff und den Inhalt der Kulturnation im bewußten Gegensatz zur Mobilisierung der auf den Nationalstaat bezogenen nationalistischen Instinkte hat einen weiteren unschätzbaren Vorteil: Während Nationalstaaten dazu tendieren, einander auszuschließen, ist Nationalkultur immer grenzüberschreitend, schließt alle ein. Die Gefahr liegt immer sehr nahe, daß der, der sich nicht positiv definieren kann, es negativ tut. Daraus entstehen Fremdenhaß, Feindbilder, Überkompensation von Minderwertigkeitsgefühlen. Wir haben bereits genug davon in Deutschland. Deshalb gilt: Fördern wir nach der staatlichen Vereinigung das Zusammenwachsen der Deutschen zu einer Kulturnation! 5. Notwendig ist Arbeit an einem nichtnationalistischen Begriff von Nation, an einem nichtnationalistischen Verhältnis zur eigenen, der deutschen Nation.

Ein solches Verhältnis bedeutet eine kritisch-gelassene und zugleich freundliche Bejahung der eigenen Nationalität. Das ist nicht zuletzt auch die Voraussetzung der Respektierung der Nationalität anderer. Eine so verstandene Bejahung der eigenen Nationalität ist also nicht Gegensatz, sondern Teil von Internationalismus. Es ist ein wenig wie bei der christlichen Nächstenliebe: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es kommt in der Tat unter Menschen selten vor, daß derjenige seinen Nächsten liebt, der sich selber haßt, oder sich aus lauter Eigenliebe über ihn erhebt.

Ostdeutsche haben nach dem Geschmack mancher aufgeklärter Westdeutscher ein vormodernes Verhältnis zur eigenen Nation. Tatsächlich haben viele Ostdeutsche an das einigende, tragfähige Band der Nation geglaubt und sehen sich jetzt darin enttäuscht, daß dieses Band offenbar nicht fest genug ist. Für viele DDR-Bürger war die Nation immer eine, gewiß zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich realistisch eingeschätzte, aber doch ungebrochene Hoffnung, war das Bedürfnis nach Einheit niemals ganz erloschen. Allerdings, und das ist für mich der entscheidende Punkt, war Nation inhaltlich identisch mit der Sehnsucht nach Freiheit, nach Demokratie, auch nach Wohlstand. Das Bedürfnis nach nationaler Einheit war ganz und gar nicht nationalistisch, im Gegenteil: Der Wunsch nach Wohlstand, Demokratie, Freiheit hatte unter den obwaltenden Umständen einen unausweichlich nationalen Charakter, da das Erwünschte ja nebenan, in dem anderen, aus der gemeinsamen Geschichte hervorgegangenen deutschen Staat vorhanden und erreichbar war.

Diese Sehnsuchtverbindung scheint mir ein bewahrenswertes Erbe aus DDR-Zeiten. Könnten wir dieses Erbe bewahren und verlebendigen, so hätten wir ein Konzept gegen den auch (aber nicht nur) ostdeutsch motivierten, dummen und gefährlichen Nationalismus der jugendlichen Banden und der Stammtische der Entwurzelten, der Verunsicherten, der Enttäuschten. So gesehen geht es bei den Wahlen 1994 um eine politische Umkehr mit dem Ziel, daß deutsche Geschichte endlich auch einmal gut ausgehen könnte. Die Chance dafür ist seit 1989 groß. Wir dürfen diese Chance nicht wieder vertun. Indem wir unsere deutschen Hausaufgaben, die uns keiner abnehmen wird, besser lösen als bisher, leisten wir einen Beitrag und werden freier für die Lösung der Aufgaben europäischer und globaler Solidarität, um die es eigentlich geht. Die Sache Deutschland ist zwar vor allem unsere Sache, aber sie darf nicht unsere einzige Sache sein.

Fussnoten

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Wolfgang Thierse, geb. 1943; Studium der Kulturwissenschaften und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; wiss. Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR; Anfang Oktober 1989 Unterschrift beim Neuen Forum; Januar 1990 Eintritt in die SPD; Vorsitzender des Berliner Bezirksparteirates der SPD/DDR, Juni bis September 1990 Vorsitzender der SPD/DDR; Mitglied der Volkskammer vom 18. März bis 2. Oktober 1990; Mitglied des Deutschen Bundestages seit 3. Oktober 1990; seit September 1990 stellv. Bundesvorsitzender der SPD; stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Veröffentlichungen u. a.; Mit eigener Stimme sprechen, München 1992; (Hrsg. zus. mit Michael Müller) Deutsche Ansichten. Die Republik im Übergang, Bonn 1992; Von den Ursachen rechtsextremer Jugendgewalt in Ostdeutschland, in: Hubertus Heil/Muzaffer Perik/Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.), Jugend und Gewalt, Marburg 1993; Fremde im eigenen Land. Nach der Einheit die Entfremdung, in: Warnfried Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, München 1994.