I. Zur Ausgangslage der „neuen Ostpolitik“
„Die neue Ostpolitik entstand aus der Kritik der alten.“ Dabei bildeten die sechziger Jahre eine Übergangsphase, in der nach den vorsichtigen Anfängen Außenminister Schröders gegen Ende der Kanzlerschaft Adenauers der Begriff der neuen Ostpolitik in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts in Umlauf kam und ein Konsens über die Notwendigkeit der Ost-West-Entspannung entstand. Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger im Dezember 1966 ging vom Status quo und vom Gedanken des Gewaltverzichts aus und eröffnete die erste Phase der „neuen Ostpolitik“ „Das ist meine Ostpolitik“, soll Kiesinger gesagt haben, um seine Rolle als christdemokratischer Bundeskanzler gegenüber derjenigen des sozialdemokratischen Vizekanzlers und Außenministers Brandt kenntlich machen zu können Im Unterschied zur Großen Koalition war die Regierung Brandt/Scheel, mit der 1969 die zweite Phase der „neuen Ostpolitik“ begann, bereit, ältere Rechtspositionen aufzugeben. Mit der Formel von den „zwei Staaten in Deutschland“ tat sie einen ersten Schritt und erbrachte eine „Vorleistung“, die -wie später zu erkennen gegeben wurde -, „die Gesprächspartner in Osteuropa von der Ernsthaftigkeit der Absichten der Bundesregierung überzeugt hat“ 5V*on ihrer größeren „Realitätsbereitschaft“, wie es Helmut Schmidt treffend formuliert hat erhoffte sich die sozial-liberale Regierung, auch die Sowjetunion werde sich bewegen und von ihrer Maximal forderung der vollen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR abrücken sowie das atlantische Sicherheitssystem der NATO als europäische Realität von Dauer zu akzeptieren. Als 1949 zwei nicht-souveräne deutsche Staaten gegründet wurden, handelte es sich einmal um ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, in dem sich der gemeinsame Wunsch der Siegermächte nach Sicherheit vor Deutschland ausdrückte. Zum anderen waren die beiden deutschen Staaten ein Produkt des Kalten Kriegs, also des Konflikts der Sieger untereinander, der sich entfaltete, nachdem der gemeinsame Feind ausgeschaltet worden war und bedingungslos kapituliert hatte. Für die Deutschen in West und Ost führte dieser Vorgang bis Mitte der fünfziger Jahre zur festen Einbindung in die weltpolitischen Blöcke der bipolaren Nachkriegszeit. In der Bundesrepublik kam es zu einander widersprechenden Argumentationslinien. Einerseits entwickelte man eine Staatsräson, die die Westbindung des Teilstaats betonte. Andererseits befand man sich im Gegensatz zu sich selbst, weil eben dieser Teilstaat die Offenheit der deutschen Frage nicht leugnen durfte und darüber hinaus die Grenzziehung, die die deutschen Ost-gebiete von dem übrig gebliebenen Territorium der beiden deutschen Staaten trennte, nicht anerkannt und in erster Linie als Ergebnis des Kalten Kriegs und nicht des von Deutschland herbeigeführten Weltkriegs gesehen wurde. Die sich zwangsläufig ausbildende Identität des westdeutschen Teilstaats und der im Wiedervereinigungsgebot gleichzeitig aufrechterhaltene nationalstaatliche Bezugsrahmen gerieten in einen Dauerkonflikt, der der Bundesrepublik zwei leidenschaftlich und zum Teil erbittert geführte Auseinandersetzungen bescherte. Die erste entzündete sich an der dezidierten Politik der Westbindung Konrad Adenauers und seiner von CDU und CSU dominierten Regierungen, die den nationalstaatlichen Bezug zwar nicht aufgaben, aber in erster Linie unter Hintanstellung der Wiedervereinigungsfrage westdeutsche Interessen verfolgten und damit entschiedenen Widerspruch hervorriefen. Die zweite polarisierende Debatte entstand, als die Opponenten der fünfziger Jahre, die 1960 mit der bekannten Rede Herbert Wehners im Bundestag ihren Frieden mit der Westpolitik Adenauers gemacht hatten, die Nachkriegsgrenzen und die Existenz zweier deutscher Staaten anerkannten und damit, ohne unbedingt an eine Zementierung der Zweistaatlichkeit und an ein Ende der Geschichte des deutschen Nationalstaats glauben zu müssen, die „Ergebnisse der Geschichte“ annahmen. Erst mit diesem Schritt der sozial-liberalen Regierung konnte der westdeutsche Teilstaat seine volle außenpolitische Handlungsfreiheit gewinnen und in der Dynamik der Detente-Phase des Ost-West-Konflikts die Rolle spielen, an der auch die unionsgeführten Regierungen der achtziger Jahre festgehalten haben.
Was die sozial-liberale Regierung von ihren Vorgängerregierungen, die Große Koalition eingeschlossen, unterschied, war ein größeres Maß an Realitätsnähe und eine größere Bereitschaft zu internationaler Kommunikation. Der Realismus der fünfziger Jahre, den Willy Brandt im Rückblick auf das Werk Adenauers ausdrücklich anerkannte war in den sechziger Jahren nicht mehr adäquat. Nicht zuletzt der Bau der Berliner Mauer hatte die Wahrheit ans Licht gebracht: Realismus bedeutete jetzt Anerkennung der bestehenden Grenzen und Interessensphären in Europa auf der Basis des Gewaltverzichts. Kommunikation hieß jetzt die volle Einbeziehung der Sowjetunion in den außenpolitischen Dialog und die Neubewertung der UdSSR als Verhandlungspartner. Damit der erweiterte Realismus der sozial-liberalen Regierung nicht in einseitigen Zugeständnissen stekkenblieb, war ein Wandel auch auf sowjetischer Seite und ein Abrücken der sowjetischen Regierung von ihren Maximalzielen nötig. Ob dies mit der Sowjetunion zu machen war, gehörte zu den zentralen Punkten in der Auseinandersetzung um die „neue Ostpolitik“.
Die Regierung Brandt/Scheel hatte sich, da sie keineswegs vor den Maximalforderungen Moskaus zu kapitulieren gedachte, die Frage zu stellen, ob die sowjetische Führung dialogfähig sein würde und ob man die Sowjetunion in sicherheitspartnerschaftliche Überlegungen einbeziehen konnte. Es genügte nicht, alte Feindbilder aufgeben zu wol-len. Man brauchte auch Anhaltspunkte, daß die sowjetische Seite Anlaß dazu gab; daß sie, wie Willy Brandt es 1970 ausdrückte, ihre „Westfremdheit“ überwand Insofern war die Wahrnehmung der Sowjetunion in den sechziger Jahren und im unmittelbaren Vorfeld der sozial-liberalen Regierungsbildung seitens der Koalitionspartner eine wesentliche Voraussetzung für die Formulierung der Ostpolitik und darüber hinaus für eine glaubwürdige Darstellung der Sowjetunion in den Verlautbarungen der Bundesregierung gegenüber der nationalen und internationalen Öffentlichkeit
Welche Informationen besaß die Regierung bei Amtsantritt über den künftigen Verhandlungspartner? Wie schätzte man die Sowjetunion im Hinblick auf Ideologie, außenpolitisches Konfliktverhalten, militärische Stärke und wirtschaftlichen Entwicklungsstand ein? Kurz: Welches Bild von der Sowjetunion läßt sich in regierungsseitigen Äußerungen ablesen? Gab es im Laufe der Jahre Veränderungen in der Darstellung der Sowjetunion? Behandelt wird im folgenden mit einem Schwerpunkt auf den Jahren 1968-1972 die Zeit von der Intervention des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei bis zur Mitte der siebziger Jahre, als eine erste Bilanz der sozial-liberalen Ostpolitik vorgenommen werden konnte.
Als seit 1967 während der Großen Koalition im Planungsstab des Auswärtigen Amts unter dessen Leiter Egon Bahr die Grundlinien der nach Bildung der Regierung Brandt/Scheel 1969 ins Werk gesetzten Ostpolitik ausgearbeitet wurden, konnte man sowohl an internationale Rahmenbedingungen anknüpfen, als auch an Positionen, die seitens der SPD und auch der F. D. P.seit dem Mauerbau 1961 entwickelt worden waren. Den Prozeß der Gedankenbildung stark vereinfachend, sei hier auf die Ausführungen verwiesen, die Willy Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister im Juli 1963 während der später berühmt gewordenen Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing gemacht hat. In Tutzing sprach auch Egon Bahr, damals Leiter des Berliner Presse-und Informationsamts. Obwohl sie nicht als Handlungsanweisung verstanden werden konnten, lesen sich die Thesen von Brandt und Bahr heute wie eine Prognose der späteren Entwicklung. Sie lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen
1. Politik hat sich, soll sie friedenspolitisch relevant sein, an zwei Schlüsselbegriffen zu orientieren: Realität und Kommunikation. Neben die Forderung nach Realitätsnähe trat das Verlangen nach „Kommunikation“, um „die Erstarrung zwischen Ost und West aufzubrechen“. Durch „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“ sollten im Zuge einer „Politik der Durchdringung“ graduelle Veränderungen erreicht werden.
2. Realitätsnähe hieß, sich der „amerikanischen Strategie des Friedens“, wie sie von Präsident Kennedy entwickelt worden war, anzuschließen und im Bewußtsein „gemeinsamer Sicherheitsinteressen“ die „Interessen der anderen Seite“ anzuerkennen. Realitätsnähe im Sinne der Anerkennung des Status quo bedeutete keineswegs Verzicht auf Realitätswandel. Einerseits seien der Ost-West-Konflikt und die bestehende machtpolitische Teilung Europas als Normalität der internationalen Politik zu akzeptieren. Andererseits gelte die zukunftsweisende Dialektik, daß die vorläufige Anerkennung des Status quo seiner „Überwindung“ diene.
3. Der Herrschaftsbereich der sowjetischen Hegemonialmacht galt unter der Voraussetzung, daß dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis durch Besitzstandsgarantien Rechnung getragen wird, als veränderbar. Eine „Transformation der anderen Seite“ wurde für möglich gehalten. Die kommunistische Herrschaft sollte „nicht beseitigt, sondern verändert werden“. Durch Anerkennung der Sicherheitsinteressen der anderen Seite sei Annäherung möglich; durch Annäherung sei Wandel denkbar. „Wandel durch Annäherung“ lautete die Formel, die künftige Unwägbarkeiten auf den Begriff brachte.
4. Im Prozeß der Kommunikation lag die Lösung der deutschen Frage eingeschlossen. Sie war nur „mit der Sowjetunion, nicht gegen sie“ erreichbar.
5. Die Bundesrepublik war „erwachsen genug“ geworden, um als „Gleicher unter Gleichen“ „im Konzert des Westens“ eigene Interessen verfolgen zu können. Auf der Grundlage der Westintegration sollte sie sich „künftig stärker um unsere Interessen gegenüber dem Osten kümmern“.
6. Das so formulierte -gegenüber den fünfziger Jahren erweiterte -nationale Interesse war im Kontext der steigenden weltpolitischen Bedeutung Europas zu sehen: „Jedenfalls hat es den Anschein, daß wir im Jahr 2000 weder auf ein amerikanisches noch auf ein sowjetisches Jahrhundert zurückblicken werden.“
Parallel zur sozialdemokratischen Korrektur von Sprache und Politik der fünfziger Jahre verliefen die Bemühungen der Freien Demokraten, Auswege aus der Sackgasse der älteren Deutschlandpolitik zu finden. Hier ist vor allem die konzeptionelle Arbeit zu nennen, die sich mit den Schollwer-Papieren verband. Auch in ihnen wurde vom Status quo als vorläufig nicht zu ändernder territorialer Realität ausgegangen
Was in der Bundesrepublik nach dem Bau der Berliner Mauer von verschiedenen Seiten als außen-politischer Neuansatz konzipiert wurde und scharfe innenpolitische Frontenbildungen hervorrief, war zugleich der Versuch, den Anschluß an den weltpolitischen Trend der Entspannung nicht zu verpassen. Kennedys schon erwähnte „Strategie des Friedens“ war ebenso ein unverzichtbarer Referenzpunkt der „neuen Ostpolitik“ und neuen Sowjetunion-Wahrnehmung wie die wiederholten entspannungspolitischen Initiativen, die von London und Paris ausgingen. Als „Labor der Entspannung“, wo „neue Prinzipien und Regelungen der zwischenstaatlichen Beziehungen entwickelt“ worden seien, wollte rückblickend ein sowjetischer Diplomat die Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion als „Pionieren der Entspannungspolitik“ verstanden wissen Vom französischen Außenminister vernahm man 1966, die Sowjetunion stelle „keine direkte Bedrohung“ mehr dar. Infolge des „Wandels der sowjetischen Politik“ habe sich die Politik Frankreichs gegenüber der Sowjetunion ebenfalls geändert Der Harmel-Bericht schließlich legte die NATO im Dezember 1967 , auf die Doppelstrategie von Sicherheit und Entspannung fest. Die Ostpolitik der Bundesregierung war schon zur Zeit der Großen Koalition eingebettet in das „Doppelziel des sich Verteidigens... und des Bereitseins, über gleichgewichtige und gleichwertige Rüstungsbegrenzungen und Rüstungsminderungen zu verhandeln“
II. Die Sowjetunion im Vorfeld der sozial-liberalen Regierungsbildung
Da der internationale Trend zur Detente den Ost-West-Konflikt nicht beseitigte, sondern nur die Form seines Austrags veränderte, liefen im Westen der Wille, nicht zu den Konfliktformen des Kalten Kriegs zurückzukehren, und die Unsicherheit über die politischen Ziele der sowjetischen Weltmacht parallel. Die aus dem Kalten Krieg stammenden Bedrohungsvorstellungen waren noch zu gegenwärtig, als daß der Ost-West-Konflikt Ende der sechziger Jahre schon als Normalität im Sinne gewaltfreier Koexistenz hätte empfunden werden können Jeglicher Anschein von Normalität schien verschwunden zu sein, als der „Prager Frühling“ im August 1968 von den Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam niedergeschlagen wurde. Das Image der Sowjetunion als Akteur der internationalen Politik verschlechterte sich schlagartig. Auf die Frage: „Tut die Sowjetunion alles, was sie tun sollte, um den Frieden in der Welt zu fördern?“ antworteten 1969 Briten, Franzosen, Italiener und Westdeutsche überwiegend negativ, am negativsten die Deutschen
Auch in der Bundesregierung herrschte Unsicherheit über die Ziele sowjetischer Politik. Außenminister Brandt sah „neue und bedrückende Fragen aufgeworfen“, seit in der Prawda Ende September 1968 von der eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Länder zu lesen war was Außenminister Gromyko vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Oktober 1968 bestätigte und was bald als Breschnew-Doktrin bekannt werden sollte. Am Rande der UNO-Vollversammlung traf Brandt mit Gromyko zusammen, der sich wenig gesprächsoffen zeigte. Vor allem erwuchs Brandts Irritation aber aus der Unklarheit, welche Länder Moskau in Zukunft der „sozialistischen Gemeinschaft“ zurechnen und in welchen Regionen das „sowjetische Machtzentrum“ einen Führungsanspruch geltend machen wolle, der die Souveränität kleinerer Staaten einschränkte oder gar beseitigte. Der Nahe Osten mit Ägypten und Syrien als möglichen Objekten „sowjetischen Weltanspruchs“ gab in besonderer Weise Anlaß zu Befürchtungen. Die sowjetische Politik fordere „zwangsläufig die Formulierung von Gegeninteressen“ heraus. Auch eine räumliche Ausweitung der NATO-Aufgaben wollte Brandt nicht ausschließen
Für Europa allerdings folgte der Außenminister dem Urteil der „Fachleute“: „Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Vorverschiebung der sowjetischen Divisionen mit aktiv-militärischen Absichten gekoppelt sei.“ Auch wenn das „Kräftegleichgewicht“ infolge der Okkupation der Tschechoslowakei zugunsten der Sowjetunion verändert worden sei, gab es für Brandt keine vernünftige Alternative zur Wiederaufnahme bzw. Weiterführung des „Meinungsaustauschs mit der Sowjetunion über die offenen politischen Fragen“. Brandt war sich allerdings nach „Prag“ hinsichtlich jedes „Versuchs, sowjetische Interessen zu interpretieren“, bewußt: „Dabei kann man sich schwer irren.“ Denn Brandt hatte letztlich nicht mit militärischer Gewaltanwendung gegen die Tschechoslowakei gerechnet. Ernüchtert sprach er jetzt von „zunehmender Unsicherheit“, „die vom sowjetischen Machtzentrum ausgeht“, und von „unserer begrenzten Fähigkeit und Möglichkeit, die sowjetischen Entscheidungen vorauszuberechnen“. Für die nächste Zukunft wollte Brandt einen „weltpolitischen Verkehrsunfall“ nicht ausschließen, doch rechnete er eigentlich nicht damit. Den sowjetischen Herrschaftsbereich sah er in steigendem Maß durch innere Widersprüche belastet. Sie resultierten für ihn aus dem Konflikt zwischen den „engen Machtbeherrschungsinteressen der sowjetischen zentralen Führung“ und zwei Tendenzen, die ihm für die Zukunft von Bedeutung zu sein schienen: einmal dem „nationalen Faktor“ und dem Streben nach „Nationalidentität“ in Osteuropa, aber auch „in Teilen der Sowjetunion selbst“; zum anderen den „Zwangsläufigkeiten der modernen Industriegesellschaft“ und dem ihr inne-wohnenden Verlangen nach „Austausch“, „Kontakt“ und „Öffnung“. Letzteres führe in den Ländern des Ostblocks zu einer Lage, in der man den seit jeher bekämpften „Sozialdemokratismus“ zunehmend als feindliche Ideologie hinstellen werde
So groß die Unsicherheiten in der Beurteilung der Ost-West-Beziehungen auch waren, so eindeutig zielten die Analysen Brandts -in Übereinstimmung mit den NATO-Außenministern, die sich im Herbst 1968 zur Erörterung der Prager Ereignisse in einer Sondersitzung berieten -auf Fortsetzung des Ost-West-Dialogs und Abbau der Ost-West-Spannungen. Auch mit Bundeskanzler Kiesinger gab es keinen Dissens in dieser Grundsatzfrage. Kiesinger wußte, daß die Bundesrepublik nur um den Preis ihrer Isolierung im westlichen Bündnis vom Kurs der Entspannungspolitik abweichen konnte Ein Jahr nach der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei konnte Brandt feststellen, daß auch Moskau das Gespräch suchte. Der „große schwierige Partner Sowjetunion“, wie es in der unverkennbar Brandtschen Sprache hieß, zeigte sich stärker als je zuvor seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1955 an Kontakten mit der Bundesregierung interessiert. „Ohne daß wir es an die große Glocke hängen“, wurde seit Anfang 1969 „über eine Mehrzahl von Fragen gesprochen“, „in Moskau und hier“ Der Meinungs-und Informationsaustausch über die wechselseitigen Absichten, in dessen Verlauf die Bundesregierung am 3. Juli 1969 weitere Gespräche über einen beiderseitigen Gewaltverzicht vorschlug, führte auf sowjetischer Seite zu einer eindeutigen Entscheidung: „Bisher haben wir Dokumente ausgetauscht, und jetzt wollen wir zu Verhandlungen mit der westdeutschen Seite übergehen.“
Brandts Beurteilung der Lage deckte sich mit der Einschätzung Herbert Wehners. Wie Brandt sah auch Wehner im „Budapester Appell“ der War-schauer-Pakt-Staaten vom 17. März 196926 einen „Kurswechsel“. Ihm seien „viele Konsultationen“ gefolgt, „über die man öffentlich nicht reden kann und reden wird“. Wehner war sich unsicher, ob in der sowjetischen Politik wirklich neue Elemente vorhanden waren und was vielleicht „nur taktisch neu“ war. Aber wie es um die „Dinge“, die in der sowjetischen Politik „neu sind“, auch steht: „die muß man greifen und muß sie für die Zeit bis nach der Wahl im Gespräch halten“ Die bevorstehende Bundestagswahl vor Augen, flog Brandt in beiderlei Funktion -als Außenminister und Parteivorsitzender -wenige Tage vor der Wahl eigens nach New York, um Gromyko am 22. September 1969 zu treffen In Moskau erkannte man sehr wohl den Stellenwert der Ostpolitik im Bundestagswahlkampf und signalisierte auch der Bonner SPD-Zentrale auf direktem Weg, man solle die Verhandlungsbereitschaft „über alle konkreten Fragen des Gewaltverzichts“ als „sehr wichtiges Zeichen der sowjetischen Regierung“ bewerten Selbst an Gesprächen interessiert, wollte die Sowjetunion „je näher die Bundestagswahlen rückten, desto anschaulicher“ ihre Bereitschaft „zu einem Neubeginu“ erkennen lassen und damit die Befürworter einer „neuen Ostpolitik“ stärken. Nicht nur auf Regierungs-, sondern auch Partei-ebene fanden 1969 deutsch-sowjetische Gespräche statt, die der Informationsbeschaffung über die sowjetische Politik und der Selbstdarstellung der deutschen Seite gegenüber der sowjetischen Führung dienten. Beides war wichtig: Aufschluß zu erhalten über die sowjetischen Absichten und deutlich zu machen, daß das „Feindbild Bundesrepublik“ im Osten immer mehr der Grundlage entbehrte Zunächst reiste eine Delegation der F D P. (Scheel, Genscher, Mischnick) im Juli 1969 nach Moskau, wo auch Ministerpräsident Kossygin zu den Gesprächspartnern gehörte. Kossygin bekräftigte das sowjetische Entspannungsinteresse mit wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Argumenten Einen Monat später war die SPD mit Schmidt, Franke und Möller zur Stelle, die auf Wunsch der Parteiführung reisten, obwohl Kossygin aufgrund seines Urlaubs nicfyt zu sprechen war und obwohl Schmidt zunächst bis Oktober hatte warten wollen. Unabhängig vom Zeitpunkt der Reise zeigte sich Schmidt überzeugt, „daß daraus kein Schaden, sondern eher ein Vorteil für die Positionen der Sozialdemokratischen Partei im Wahlkampf entstehen würde“
Man kam mit drei Haupteindrücken nach Bonn zurück, die die sozialdemokratische Perzeption der Sowjetunion in den nächsten Monaten prägen sollten. Erstens wolle die Sowjetunion erreichen, daß die von ihr seit langem geforderte europäische Sicherheitskonferenz Zusammentritt. Sie schien aber nicht in der Lage zu sein, „konkret zu sagen, was dort nach ihrer Vorstellung beschlossen werden soll“. Gromyko hielt sich gegenüber den deutschen Sozialdemokraten bedeckt, so daß in ihrem Bild von der sowjetischen Außenpolitik manche dunkle Flecken bleiben mußten. Die undeutlichen Konturen wurden noch dadurch unterstrichen, daß Gromyko die Existenz der Breschnew-Doktrin bestritt. Zweitens wurde der Eindruck mit nach Hause genommen, daß in Moskau ein „gewisser Pragmatismus“ herrsche und an einem ernst gemeinten und „glaubwürdig“ erscheinenden Gesprächsfaden gesponnen werde. Dieser Faden müsse von der Bundesrepublik aufgenommen werden. Drittens zeichnete sich ein konkretes Feld für die „Institutionalisierung von Austausch und Zusammenarbeit“ ab. Die „Gespräche über den wirtschaftlichen Austausch“ waren die „erfreulichsten“, die die SPD-Parlamentarier in Moskau führen konnten. „Die Sowjets“, wie Helmut Schmidt die andere Seite in der ihm eigenen Diktion nannte, „haben unverhohlen zum Ausdruck ge-bracht, daß sie ein wirtschaftliches Interesse haben an der Ausweitung des Außenhandels. Sie haben Interesse zum Ausdruck gebracht an dem zukünftigen Austausch wissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher, technologischer Ergebnisse.“
III. Das Image der Sowjetunion nach der Bildung der sozial-liberalen Bundesregierung
Als die Bundesregierung nach Bildung der sozialliberalen Koalition in direkte Gespräche mit der sowjetischen Regierung eintrat, geschah dies auf der Basis der Informationen, die man seit dem Frühjahr 1969 zusammengetragen hatte. Mit anderen Worten: Man hatte ein klares Konzept von dem, was man als „nationales Interesse“ definierte, war sich aber unsicher, ob die Sowjetunion in der deutschen Frage der Bundesrepublik entgegenkommen würde. Was den „Verhandlungsgegner“ Sowjetunion im einzelnen anging, begab man sich mit der operativen Phase der Ostpolitik „in den Nebel hinein“ Es war erst noch herauszufinden, was mit der sowjetischen Führung machbar war. Auch nach außen verbarg man nicht, daß die „Diktion der Sowjetpolitik“ als „merkwürdig schillernd“ und „merkwürdig vielgestaltig“ empfunden wurde Im Kern baute man darauf, für den eigenen kommunikativen Ansatz auf sowjetischer Seite eine konstruktive Entsprechung zu finden. Man hoffte auf die Eigendynamik einmal aufgenommener Kommunikation und wollte dadurch innovativ wirken, daß die Anerkennung der Realitäten im Nachkriegseuropa durch neue Formen internationaler Kommunikation ergänzt wurde, auf die eine in ihrem Wesen eher unkommunikative und von „krankhafter Geheimhaltungssucht“ bestimmte sowjetische Führung würde reagieren müssen.
Die Wahrnehmung der Sowjetunion und die Darstellung ihrer Politik seitens der Bundesregierung erfolgte unter dem Blickwinkel sozial-liberaler Interessendefinition Wie jede Wahrnehmung von Realität verfuhr auch die sozial-liberale Perzeption der Sowjetunion selektiv und betonte zunächst die in Richtung Kooperation weisenden Momente der sowjetischen Politik. Insgesamt lassen sich drei Phasen der Sowjetunion-Kommentierung ausmachen. Sie stellen zugleich Stufen der Deutlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion dar. In der ersten Phase 1969/70 stand der außen-politische Ansatz der sozial-liberalen Ostpolitik im Vordergrund und nicht die Einschätzung des Verhandlungspartners. Die Konturen des Sowjetunion-Bildes, das man der Öffentlichkeit präsentierte, blieben unscharf. Die zweite Phase markieren die Jahre 1971/72, als die Regierungsparteien im Zuge der innenpolitischen Auseinandersetzungen über die Ostverträge gezwungen waren, sich häufiger und detaillierter über die Sowjetunion zu äußern. Die dritte Phase setzt 1973 ein, als auch kritischere Akzente in der Sowjetunion-Darstellung erkennbar wurden. Wer zu optimistisch gewesen war, konnte eine gewisse Ernüchterung nicht verbergen und bekannte, „daß wir uns alle von der Ostpolitik mehr versprochen haben“
Was einzelne Aspekte der sowjetischen Realität anging, so konzentrierten sich die Kommentare der Regierung und der Regierungsparteien auf das außenpolitische Konfliktverhalten der Sowjetunion, ihre militärische Stärke und ihre Bedeutung als Handelspartner. Weitgehend in den Hintergrund der Wahrnehmung rückten der internationale Kommunismus als weltrevolutionäre Bewegung und die möglicherweise ideologisch fixierte Weitsicht der sowjetischen Führung, also die Aspekte sowjetischer Realität, die in der kompromißlosen Konfrontationsphase während des Kalten Kriegs im Vordergrund gestanden hatten. Ein internes Positionspapier der F. D. P. von Anfang 1969 hielt den „Prozeß der Verbürgerlichung“ in der Sowjetunion „als Ergebnis der Industrialisierung und des technischen Fortschritts“ für „unaufhaltsam“. Die Sowjetunion sei „zunehmend“ eine saturierte, auf Sicherheit bedachte Großmacht“, auch wenn „Moskau jede Möglichkeit zur Ausnutzung sozialer Unzufriedenheit wahrnehmen“ werde Im Zentrum dieser pragmatischen Sowjetunion-Perzeption, die den ideologischen Gehalt sowje-tischer Politik ausblendete, stand die von Brandt 1970 geäußerte Annahme, es bestehe keine Gefahr, „daß die Sowjetunion ihren Einfluß in Westeuropa in gefährlicher Weise geltend machen könne“ Das entideologisierte Bild von der Sowjetunion ermöglichte in der Außenpolitik eine Konzentration auf die „Interessen unseres Staates“. Auch für die Sowjetunion galt, was Brandt in anderem Zusammenhang ausführte, nämlich daß die Außenpolitik „sich von ideologischen und anderen Vorurteilen frei halten“ müsse Damit befand sich die Bundesregierung auf einem durchaus realistischen Kurs. Ihre Einschätzung der sowjetischen Politik entsprach exakt der sowjetischen Selbstwahrnehmung. Während die DDR-Führung 1970 besorgt auf die Gefahren des „Sozialdemokratismus“ verwies und die aus der Ostpolitik erwachsene „ideologische und politische Konfrontation“ als „kompliziert“ darstellte, hielt Breschnew es für zweckmäßig, „nach Möglichkeit die ideologischen Streitigkeiten mit den Sozialdemokraten von den Beziehungen auf der staatlichen Ebene zur Regierung Brandt/Scheel zu trennen“ Hand in Hand mit der Sicht der UdSSR als normalstaatlicher Weltmacht ging die Vorstellung, das sowjetische außenpolitische Konfliktverhalten zeichne sich durch Berechenbarkeit und Status quo-Orientierung aus. Für Helmut Schmidt etwa war die Sowjetunion zwar „die einzig übrig gebliebene expansionistische Weltmacht“ Zumeist aber differenzierte man in regierungsseitigen Erklärungen zwischen der Status-quo-Macht Sowjetunion in der direkten Konfrontation mit den NATO-Staaten und der auf Machterweiterung zielenden sowjetischen Politik außerhalb des NATO-Gebiets. Wie schon 1968 blickte man auch 1970 voller Besorgnis auf den Nahen Osten als einer Region, in der die UdSSR „ihren Einfluß“ „verstärken“ wolle Für die „neue Ostpolitik“ war entscheidend, daß man, wie dies schon Adenauer getan hatte, der Sowjetunion keine offensiven mili-tärischen Absichten in Europa unterstellte und unter dem Eindruck einer möglichen nuklearen Katastrophe auch von der Sowjetunion annahm, sie ziehe Krieg als Mittel der Politik nicht ins Kalkül. Aus einem rationalen Interesse am Überleben, so Helmut Schmidt, sei die Sowjetunion in Überein-stimmung mit den USA bereit, der „Gegnerschaft Schranken zu setzen“ und die früher „unversöhnliche Konfrontation“ zu einem „Konflikt unter Kontrolle“ zu transformieren
Ungeachtet sicherheitspartnerschaftlicher Vorstellungen blieb die Sowjetunion als Militärstaat, der seine Rüstung auch in der Detente-Phase weiter ausbaute, eine Quelle für ungebrochene Bedrohungswahrnehmungen. Mit Blick auf die Rüstungspolitik standen „neue Ostpolitik“ und alte Sowjetunion-Wahrnehmung nebeneinander. Zunächst vermied die sozial-liberale Regierung allerdings klare Aussagen und Stellungnahmen zu diesem Punkt. Die zurückhaltende Darstellung der sowjetischen Rüstungspolitik sollte offensichtlich dazu beitragen, den schwierigen Prozeß der Annäherung zwischen beiden Staaten nicht zu gefährden. Im Rückblick wird von Zeitzeugen, die befragt worden sind, allgemein festgestellt, daß es 1969/70 während der Verhandlungen mit Moskau und Warschau zu Ausblendungen der sowjetischen Militärpolitik aus der regierungsseitigen Sowjetunion-Darstellung gekommen ist und die Regierung zur Unterstützung ihrer ostpolitischen Ziele ein moderates UdSSR-Bild verbreitete Dies änderte sich 1971/72 erst vorsichtig und danach beträchtlich. Aufgrund der sowjetischen Rüstungsmaßnahmen, die mit angemessenen Verteidigungsvorkehrungen nicht im Einklang zu stehen und über ein legitimes Sicherheitsinteresse hinaus-zugehen schienen, wurde 1971/72 in Übereinstimmung mit der NATO-Ministertagung vom Dezember 1971 zunehmend die offensiv erscheinende Dynamik sowjetischer Politik, insbesondere der Flottenpolitik betont. Nach der Bundestagswahl 1972 war verstärkt vom Bedrohungscharakter der sowjetischen Rüstung die Rede. Auch Bundeskanzler Brandt, der zwar vor „falschen Hoffnungen“ und „Schönfärberei“ auf dem „Weg zur Entspannung“ warnte, aber aus der Steigerung des „östlichen Gesamtpotentials“ keine „vorschnellen“ Schlußfolgerungen ziehen wollte, zeigte sich irritiert und hatte den „Eindruck“, daß man sich in Moskau „in der falschen Richtung bewegt“ Der Regierungswechsel von Brandt zu Schmidt führte zu keiner Änderung der Ostpolitik, wohl aber zu einer stärkeren Akzentuierung der Abschrekkungskomponente in der Detente-Politik. „Nicht ohne Sorge“ sprach Schmidt im Mai 1974 „von den wachsenden Rüstungsanstrengungen im War-schauer Pakt“
Während der Militärstaat Sowjetunion als Gegen-welt wahrgenommen wurde und auch der System-gegensatz zwischen der liberal-westlichen Welt und den kommunistischen Diktaturen im Zuge der KSZE-Verhandlungen wieder an Bedeutung gewann, ergaben sich in den Wirtschaftsbeziehungen perspektivische Überschneidungen zwischen Bonn und Moskau. Die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik als Wirtschaftsmacht fand ihre Entsprechung in der Fremdwahrnehmung: Die Sowjetunion zeigte Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Damit eröffnete sich ein Feld, „auf dem Fortschritte auch den politischen Beziehungen zugute kommen werden“ Der Pragmatismus, den man auf sowjetischer Seite glaubte erkennen zu können, entsprach dem eigenen Politikansatz. Die Handels-und Finanzbeziehungen wurden -unabhängig von ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Wirtschaft der Bundesrepublik -als Vehikel zur Verbesserung des politischen Klimas und der Vertrauensbildung verstanden. Von grundlegender Bedeutung war, daß diese Einschätzung der sowjetischen Sicht ganz und gar entsprach. In Moskau erblickte man im Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen nicht nur einen ökonomischen Vorteil, sondern auch einen wichtigen „Schlüssel für die Entwicklung sowohl der kulturell-wissenschaftlichen als auch der politischen Beziehungen“
Der sozialdemokratische Vordenker und Architekt der Ostpolitik, Egon Bahr, hat in einer Anfang 1975 vorgenommenen Bilanz die „wirt schädlichen Verbindungen“ als den Bereich bezeichnet, in dem sich die Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts „am positivsten“ entwikkelt hätten. In einer solchen Erfolgsmeldung, auch wenn der Schaffung einer „ostwesteuropäischen Infrastruktur“ ökonomischer Art eine „friedenssichemde Funktion“ zugeschrieben wurde, schwang zugleich Bahrs realistische Einschätzung -wenn man so will: auch Enttäuschung -mit, daß in den Ost-West-Beziehungen zwar ein „Prozeß“ in Gang gekommen war, man aber „nicht vor einem Durchbruch“ stehe. Man befinde sich in einem „Nebeneinander von Konflikt und Kooperation, reduziertem Konflikt und erweiterter Kooperation“. In Bahrs Perzeption hatte sich auf seiten der Sowjetunion seit 1969 einiges bewegt. Anderes dagegen war beim alten geblieben. Zu den Veränderungen zählte Bahr nicht nur, „daß die Sowjetunion auf wachsende wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen setzt“, sondern vor allem auch, daß die sowjetische Welt-macht die dauerhafte politische und militärische Präsenz der USA in Europa im Rahmen der KSZE akzeptierte. „Nach fünf Jahren sozialdemokratischer Ostpolitik ist die sowjetische Forderung nach einem amerikanischen Abzug aus Europa durch Vereinbarungen ersetzt, die realistischerweise die Anwesenheit Amerikas voraussetzen.“ Daß Bahr, der den liberalen Koalitionspartner nicht als Mit-akteur erwähnte, „seine“ Ostpolitik als Hebel zur Veränderung auch der Beziehungen zwischen den Supermächten in Europa bezeichnete, entsprang nicht einer möglicherweise egozentrischen Rückschau. Vielmehr handelte es sich um einen Punkt, auf den er in seinen Verhandlungen mit Gromyko selbstbewußt von Anfang an hingewiesen hatte Als positive Veränderung gegenüber 1969 ver-buchte Bahr weiterhin, daß die Beziehungen zwischen Bonn und Moskau eine „besondere Qualität erreicht“ hätten, „weil sie Konsultationen auch über Fragen ermöglichen, die über die bilateralen Probleme hinausgehen“.
Den Veränderungen in Bahrs Sowjetunion-Wahrnehmung standen alte Perzeptionsmuster gegenüber. Sie betrafen sowohl den System-als auch, was wichtiger war, den Machtgegensatz. Daß es keine „ideologische Koexistenz“ gab, konnte weder überraschen, noch war es alarmierend. Anders verhielt es sich mit dem Machtgegensatz, der aufgrund der sowjetischen Rüstungspolitik in einer kaum akzeptablen Weise andauerte „Ohne eine Reduktion von Truppen und Rüstungen“ stagniere der Detente-Prozeß und könne „Vertrauen“ nicht wachsen: „Wir müssen erwarten, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten militärisch einen entsprechenden Kurs verfolgen. Der komplizierte Prozeß der Entspannung könne für Jahre angehalten werden, wenn man statt Truppenverringerung und Abrüstung Truppenverstärkung und Aufrüstung betreibt.“ Zu den konstanten Faktoren rechnete Bahr in seiner Lageanalyse aber nicht nur die Bedrohungswahrnehmung, sondern auch das Festhalten an der Sicherheitspolitik im westlichen Bündnis: „Die Sicherheit wurde nicht vernachlässigt, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten entwickelt.“ Daß in der Tat in der „neuen Ostpolitik“ keine neutralistische Komponente unter Auflösung der Militärblöcke enthalten war, wie dies in Teilen der SPD gelegentlich zu hören war, hatte auch die sowjetische Seite gut verstanden