I. Einleitung
Die seit Herbst 1982 amtierende, durch die Wahlen zum Deutschen Bundestag 1983 und 1987 bestätigte, von CDU/CSU und F D P. getragene Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl hat von Anfang an die Ostpolitik ihrer Vorgängerinnen fortgeführt und weiterentwickelt. Dies geschah im Rahmen der am 12. August 1970 mit der Sowjetunion, am 7. Dezember 1970 mit Polen und am 11. Dezember 1973 mit der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik geschlossenen Verträge. Eine wichtige Rolle spielte für die Bundesregierung Kohl/Genscher auch die Intensivierung des KSZE-Prozesses.
Die Bundesregierung Kohl/Genscher stellte ihre Ostpolitik von Beginn an in den Gesamtzusammenhang der West-Ost-Beziehungen. Immer wieder trat sie entschieden allen Illusionen entgegen, Bonn könnte das nationale Problem in Deutschland unabhängig vom Ost-West-Konflikt lösen. Besonderen Wert legte sie auf die Feststellung, „Fundament deutscher Außen-und Sicherheitspolitik sind das Nordatlantische Bündnis und die Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.. .“ Dank dem vorbehaltlosen Bekenntnis zur Wertegemeinschaft und zur Verteidigungsfähigkeit des Westens blieb die Bundesrepublik Deutschland ein verläßlicher und wichtiger Partner im westlichen Bündnis; das wußte vor allem die amerikanische Führung im Verlauf der achtziger Jahre zu schätzen.
Die Bundesregierung Kohl/Genscher war bestrebt, das 1972 geschaffene innerdeutsche Vertragswerk auf den verschiedenen Ebenen auszubauen. Einige neue Akzente hat sie insofern gesetzt, als sie den Rechtspositionen in der Deutschland-Frage und damit auch der fortbestehenden Vier-Mächte-Verantwortung einen höheren Rang einräumte als die Bundesregierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher. Angesichts des rechtlich verbrieften Mitspracherechts der Sowjetunion in der „deutschen Frage“ und des engen Verhältnisses zwischen Moskau und Ost-Berlin war sie bemüht, ihre deutschlandpolitischen Positionen auch gegenüber der sowjetischen Führung zu verdeutlichen. Dies geschah auch, da sich die Moskauer Berlin-Politik bis 1989 weitgehend in dem in der Breschnew-Ära gesteckten restriktiven Rahmen bewegte und die deutsch-sowjetischen Beziehungen gravierend belastete. Stets betonte die Bundesregierung Kohl/Genscher, Berlin „bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen. Berlin ist Symbol für die Offenheit der deutschen Frage.“
Die Kontinuität der Bonner Ostpolitik zeigte sich seit Herbst 1982 auch darin, daß die Beziehungen zur UdSSR Priorität genossen. Wie sehr „Westbindung und Ostverbindungen die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland“ ausmachten, dokumentierte auch die bundesdeutsche Politik gegenüber Polen Es würde den Rahmen der folgenden Analyse sprengen, auch jene Staaten einzubeziehen, die immer unter dem Begriff „Ostpolitik“ subsumiert wurden und Mitglieder des am 1. Juli 1991 aufgelösten Warschauer Paktes waren: Bulgarien, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn. Eine Prüfung der offiziellen Bonner Verlautbarungen seit Herbst 1982 ergibt, daß die Bundesregierung die Beziehungen zu allen Staaten des Warschauer Paktes zu verbessern suchte und dabei -verständlicherweise -die Sowjetunion und Polen stets hervorhob.
Eine Darstellung der innerdeutschen Beziehungen seit Herbst 1982 hat zu beachten, daß nach der Öffnung der DDR/SED-Akten noch mit einigen Überraschungen zu rechnen ist. Im folgenden wird vornehmlich der Ausbau des vertraglichen Verhältnisses zwischen Bonn und Ost-Berlin analysiert. Eine Untersuchung über die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands hat zwischen dem innerdeutschen Einigungsprozeß und dem Zweiplus-Vier-Prozeß zu differenzieren.
II. Internationale Rahmenbedingungen
Als die CDU/CSU-F. D. P. -Bundesregierung Anfang Oktober 1982 antrat, setzte die sich zu Beginn der achtziger Jahre rapide verschlechternde internationale Großwetterlage der Bonner Ostpolitik enge Grenzen. Nachdem die UdSSR seit Mitte der siebziger Jahre mit ihrer forcierten Vorrüstung das militärische Gleichgewicht in Europa empfindlich gestört hatte, reagierte die NATO am 12. Dezember 1979 mit dem Doppelbeschluß: Bis Ende 1983 sollte die Sowjetunion in Verhandlungen veranlaßt werden, ihr euro-strategisches Übergewicht in Europa drastisch abzubauen. Sollte sie dazu nicht bereit sein, werde die NATO ab Ende 1983 insgesamt 572 nukleare Mittelstrecken-Systeme (Pershing II und Cruise Missile) in Westeuropa stationieren. Da Moskau das westliche Angebot ignorierte, begann die NATO im Herbst 1983 mit der Aufstellung der Raketensysteme.
Durch die Invasion in Afghanistan belastete die sowjetische Führung unter Leonid Breschnew Ende 1979 zusätzlich die Ost-West-Beziehungen auf das schwerste. In Polen entwickelte sich 1980 die politische Situation zunehmend krisenhaft, und am 13. Dezember 1981 verhängte der polnische Staats-und Regierungschef Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht, von dem die westliche Welt überrascht wurde. So befürchtete die SED-Führung 1980/81 -ähnlich wie 1968 im Fall des „Prager Frühlings“ -Rückwirkungen auf die innere Situation der DDR und befürwortete „entschiedene Maßnahmen“ der Armeen des Warschauer Paktes gegen „die umstürzlerischen Handlungen“ der polnischen Oppositions-Bewegung. Der Kreml reagierte besonnener, verließ sich auf die polni-sehe Führung und sah von einer militärischen Intervention ab. Das sich zusehends abkühlende Ost-West-Verhältnis wirkte sich zwangsläufig auch auf die innerdeutschen Beziehungen aus. Nachdem es Partei-und Staatschef Erich Honecker bereits beim Arbeitsbesuch Bundeskanzler Helmut Schmidts in der DDR vom 11. bis 13. Dezember 1981 nicht gelungen war, eine Revision des NATO-Doppel-beschlusses zu erreichen, war die Hoffnung Ost-Berlins, auch gegenüber der Bundesregierung Kohl/Genscher zwischen dem Nachrüstungs-Beschluß der NATO und der weiteren „Normalisierung“ der deutsch-deutschen Beziehungen ein „Junktim“ herzustellen, trügerisch.
Erst mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU am 11. März 1985 trat die Sowjetunion in eine neue Ära ein. Auch wenn der neue Kreml-Chef bis zum Frühjahr 1987 vornehmlich darauf fixiert war, in der Innen-, vor allem Wirtschaftspolitik neue Akzente zu setzen, verstand er es, das von seinen Vorgängern so belastete internationale Klima allmählich aufzuhellen. Den entscheidenden Wandel in der sowjetischen Außen-und „Blockpolitik leitete Gorbatschow im Frühjahr 1987 ein, der in die vollständige Abkehr von der berüchtigten „Breschnew-Doktrin“ und 1988 in das Bekenntnis zum „Prinzip der freien Wahl“ mündete
Die politisch verantwortlichen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland wußten, daß die „deutsche Frage“ nicht isoliert gelöst werden konnte, sondern in den fortbestehenden Ost-West-Konflikt eingebettet war. Die Teilung Deutschlands war zugleich Bestandteil der Teilung Europas. Alle Überlegungen über eine Lösung der „deutschen Frage“ hatten außerdem das besondere Verhältnis der DDR gegenüber der Sowjetunion und die Position des „ersten“ und wohl letzten „Arbeiter-und Bauern-Staates auf deutschem Boden“ zu beachten. Aufgrund ihrer geographischen Lage am Schnittpunkt zwischen Ost und West, ihrer Funktion als westlicher Vorposten der engeren „sozialistischen Gemeinschaft“, ihres großen strategischen Gewichts und darüber hinaus aufgrund ihres für die sowjetische Vormacht bedeutsamen wirtschaftlichen Potentials besaß die DDR für die UdSSR eine außerordentliche Bedeutung. Die DDR diente mit den dort stationierten sowjetischen Streitkräften bis zur grundlegenden Modifizierung der „Block“ -Politik durch Michail Gorbatschow dem Kreml auch und gerade dazu, Polen im Griff zu behalten, d. h. eine zu weitgehende innere Emanzipation und Abkehr vom „Sozialismus“ ebenso zu verhindern wie ein von Warschau niemals angestrebtes Ausscheren aus dem Warschauer Pakt.
III. Die vorgegebenen ost-und deutschlandpolitischen Rahmenbedingungen
Nachdem sich im Laufe der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf seiten der westlichen Alliierten, vor allem der amerikanischen Führung, die Vorstellung durchgesetzt hatte, die Schranken zwischen Ost und West abzubauen und dabei den politischen und territorialen Status quo in Europa weitgehend hinzunehmen, ohne ihn jedoch zu legitimieren, wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland immer intensiver die Frage geprüft, ob und in welcher Weise man zu einem Modus vivendi mit der UdSSR und den anderen Staaten des Warschauer Paktes unter Einschluß der DDR gelangen könnte, ohne auf dem früheren „Junktim“ -Sicherheit und Entspannung in Europa setzen die Lösung der „deutschen Frage“ voraus -zu beharren. Dieses neue Sicherheitskonzept, das unter Entspannung nicht mehr eine Politik verstand, die auf eine Überwindung der Ursachen der Spannungen in Europa gerichtet war, mündete schließlich in die von sowjetischer Seite jahrelang vorgeschlagene Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)
Auf dieser Grundlage leitete im Herbst 1969 die SPD/F. D. P. -Bundesregierung ihre „neue Ost-und Deutschland-Politik“ ein, indem sie von Anfang an ihre Bereitschaft erklärte, von der Respektierung der Teilung Deutschlands auszugehen. Sie attestierte der DDR zum ersten Mal die Staatsqualität und gab den bereits zur Zeit der Großen Koalition auf die Allein-Sprecher-Berechtigung reduzierten Alleinvertretungsanspruch auf. Nicht bereit war die Bundesregierung, der immer wieder seitens Ost-Berlins erhobenen Forderung zu entsprechen, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. In seiner ersten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 führte Bundeskanzler Willy Brandt aus: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“ Die These von den innerdeutschen Beziehungen „besonderer Art“ und dem Ausschluß der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verband die Bundesregierung Brandt/Scheel mit der prononcierten Berufung auf die „Einheit der deutschen Nation“.
Helmut Schmidt, am 16. Mai 1974 als Nachfolger Brandts zum Bundeskanzler gewählt, hat dessen Ost-und Deutschland-Politik bewußt fortgeführt und insofern einige neue Akzente gesetzt, als er nüchterner und pragmatischer innerdeutsche Vertragspolitik trieb. In vielen Darstellungen der im Herbst 1969 eingeleiteten „neuen Deutschland-politik“ werden die Positionen Brandts und Schmidts zu undifferenziert kommentiert. So geht Peter Bender fehl in der Annahme, in Brandts Vorstellungen sei „an die Stelle von Wiedervereinigung und Selbstbestimmung... die Einheit der Nation“ getreten. Bundeskanzler Brandt hat dem Gedanken der Selbstbestimmung keinesfalls eine untergeordnete Rolle beigemessen, wenn er es auch bewußt vermied zu sagen, die Wiedervereinigung oder Vereinigung Deutschlands auf diesem Wege herbeiführen zu wollen. Bundeskanzler Schmidts stärkeres Engagement in der „deutschen Frage“ mit dem Hinweis, die Deutschen hätten sich mit der staatlichen Teilung nicht abgefunden, ist damals nur von wenigen Beobachtern registriert worden. Die meisten interpretierten die Deutschland-Politik der sozial-liberalen Koalition dahingehend, daß sich nun auch Bonn endlich mit dem Status quo in Europa, soweit das Grundgesetz dies zuließ, abgefunden habe
Darüber hinaus waren die Bundesregierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher bestrebt, auf bilateraler Weise zu einem Modus vivendi mit den Oststaaten zu gelangen, wobei sie der UdSSR die Priorität einräumten. Diese Politik führte zum Abschluß der verschiedenen Verträge mit den Staaten des Ostblocks, in denen ein qualifizierter Gewaltverzicht vereinbart worden ist, indem sie den Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt, den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen und den Verzicht auf territoriale Ansprüche postulieren.
IV. Ost-und deutschlandpolitische Ausgangspositionen der Bundesregierung Kohl/Genscher
Die immer wieder gestellte Frage, ob die Bundesregierung Kohl/Genscher die vor der Wahl zum Deutschen Bundestag am 6. März 1983 angekündigte „Wende“ auch in der Ost-und Deutschland-politik eingeleitet oder gar vollzogen habe, war theoretischer Natur. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien wußten von Anfang an, daß zumindest die vorgegebenen ost-und deutschland-rechtlichen Positionen einer „Wende“ überhaupt nicht zugänglich waren. Dies hatte Bundeskanzler Kohl schon nach seiner Wahl zum Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, als er die Kontinuität seiner Ost-und Deutschland-Politik so formulierte: „Wir respektieren die Rechte und die Verantwortlichkeit der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin. Die drei Westmächte unterstützen unsere Deutschland-Politik. Mit dem Osten ist ein Modus vivendi vereinbart. Wir stehen zu diesen Verträgen, und wir werden sie nutzen als Instrument aktiver Friedenspolitik... Die DDR... kann sich darauf verlassen, daß wir zu übernommenen Verpflichtungen stehen. Und wir erwarten, daß sich die DDR an Inhalt und Geist dieser Verträge hält: Das heißt, den Frieden in der Mitte Europas auch dadurch zu festigen, daß Gewalt bei der Verfolgung politischer Ziele ausgeschlossen und die Lage der voneinander getrennten Menschen verbessert wird.“
Auch wenn sich alle Vorgänger Bundeskanzler Kohls der fortbestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bewußt waren, hat keiner von ihnen so prononciert die Bonner Ost-und Deutschland-Politik dieser Prämisse untergeordnet. Mit seinem Hinweis, seine Ost-und Deutschland-Politik werde auch von den drei Westmächten getragen, schloß er jegliche Ängste um einen möglichen deutschen „Sonderweg“ aus: „Die Grundlage sind die geschlossenen Verträge, nach deren Buchstaben und Geist wir unsere Politik mit dem Osten gestalten wollen. Unser Ziel bleibt eine gesamteuropäische Friedensordnung.“ Nicht nur ihre Ost-, sondern auch ihre Deutschland-Politik trieb die Bundesregierung Kohl/Genscher auf der Basis der vertraglich gesicherten Westbindung. Das sollte sich im weiteren Verlauf der achtziger Jahre als außerordentlich vorausschauend erweisen. So spezifizierte Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 die deutschlandrechtlichen und -politischen Grundpositionen, indem er ausführte, wir Deutschen könnten aus eigener Kraft alleine den Zustand der Teilung nicht ändern: „Für die Über-windung der deutschen Teilung haben wir den Rückhalt im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft nötig. Sie garantieren uns Sicherheit und Freiheit, sie stützen die Hoffnung auf Einheit -nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas. Das Bündnis und das geeinte Europa -wir brauchen sie mehr als andere.“
Die Deutschland-Politik der Bundesregierung bleibe bestimmt durch -das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, -den Deutschlandvertrag, -die Ostverträge, die Briefe zur „deutschen Einheit“ sowie die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972, der alle Fraktionen -CDU/CSU, SPD und F D P. -zugestimmt haben, -den Grundlagenvertrag und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1973 und vom Juli 1975
Bundeskanzler Kohl konnte sich mit gutem Gewissen auf den „Brief zur deutschen Einheit“ zum Moskauer Vertrag und die Entschließung des Deutschen Bundestags vom 17. Mai 1972 berufen, da die CDU/CSU-Opposition während der Verhandlungen über den deutsch-sowjetischen Vertrag nachdrücklich und permanent darauf gedrungen hat, daß er das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung mit der Möglichkeit der staatlichen Vereinigung in keiner Weise einschränken dürfe. Der Moskauer Vertrag schloß ebenso wie der Warschauer Vertrag und der innerdeut-sehe Grundlagenvertrag nicht aus, Grenzen „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung“ zu verändern
Da der deutsch-sowjetische Vertrag „mit Gewalt-verzicht und Grenzerhaltung so nachdrücklich am Status quo orientiert“ war, mußte die Bundesregierung dafür Sorge tragen, „daß ihre legitimen Bemühungen um eine friedliche Verbesserung des Status quo, das heißt um eine Wiedervereinigung, nicht unter den Vorwurf gerieten, vertragswidrig zu sein“ Auch wenn dies juristisch durch die Präambel und durch die „Nichtberührungsklausel“ des Artikels 4 sichergestellt wurde, wünschte man „eine auch dem Laien erkennbare Verankerung der Wiedervereinigungspolitik im Vertragswerk und erreichte, daß die Sowjetunion den , Brief zur deutschen Einheit 4 vom 12. August 1970... widerspruchslos entgegennahm“
In dem Brief stellte die Bundesregierung „im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung“ des deutsch-sowjetischen Vertrags fest, „daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.
Die sowjetische Regierung hat den „Brief zur deutschen Einheit“ ohne Widerspruch angenommen und ihn ausdrücklich bei der Ratifizierung des Vertrags durch den Obersten Sowjet in das Verfahren einbezogen Auch wenn die UdSSR damit nicht die Verpflichtung übernahm, die Vorstellungen der Bundesrepublik über die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gutzuheißen, konnte sie der Bundesrepublik in der Folgezeit nicht vorwerfen, sie verstoße gegen den Moskauer Vertrag, wenn sie auch weiterhin für die Überwindung der staatlichen Teilung Deutschlands eintrat. Daß die „deutsche Frage“ juristisch und politisch durch den Moskauer Vertrag, den „Brief zur deutschen Einheit“ und die Gemeinsame Entschlie-ßung des Bundestags vom 17. Mai 1972 offengehalten wurde, ist auch ein Verdienst der damaligen parlamentarischen CDU/CSU-Opposition
Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern wußte Bundeskanzler Kohl, die Tragweite des Grundlagenvertrags-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 richtig einzuschätzen und für seine Ost-und Deutschland-Politik nutzbar zu machen. Die Bedeutung des Urteils für den gesamten Staat und alle seine Bürger wurde -wie der Regensburger Staats-und Völkerrechtler Otto Kimminich zutreffend betonte -durch keine andere Entscheidung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland übertroffen Das gilt auch und gerade im Hinblick auf die Ereignisse von 1989/90, auch wenn prominente Politiker sowie Staats-und Völkerrechtler dies in der Zeit ab 1973 nicht zu erkennen vermochten Es bleibt das unbestreitbare Verdienst von Franz Josef Strauß, daß er 1973 den Mut hatte, die bayerische Staatsregierung mit Ministerpräsident Alfons Goppel zu veranlassen, die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrags vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. In seiner Analyse des Karlsruher Urteils vom 31. Juli 1973 gelangte Strauß zu dem richtigen Schluß, das Urteil habe „unverrückbare Pflöcke eingeschlagen. Auch die damals skeptisch und passiv abseits stehende CDU beruft sich seither immer wieder auf dieses Urteil... 1973 hatte man mich ausgelacht, verspottet, allein gelassen.“
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft eine starke Integrationskraft entfaltet. So hielt es an seiner These von der Fortexistenz des in beiden Staaten lebenden „deutschen Staatsvolkes“ und am Wiedervereinigungsgebot fest. Mit Präzision und Akribie stellte es alle Regelungen des Grundlagenvertrags und seiner Begleitdokumente zusammen, die es nach seiner Auffassung rechtfertigten, von einem „besonderen Verhältnis“, von „Inter-se-Beziehungen“ zwischen den beiden Staaten in Deutschland, zu sprechen. Gleichzeitig verwies es auf die fortbestehende Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland Nachdrücklich sei daran erinnert, daß sich Bundes-außenminister Genscher jedes Jahr in seiner Rede vor der UNO-Generalversammlung bis 1989 ausdrücklich auf den „Brief zur deutschen Einheit“ berufen hat, nachdem sein Vorgänger Walter Scheel mit seiner Ansprache vom 19. September 1973 in New York, einen Tag nach der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die UNO, diese gute Tradition begründet hatte. Zumeist verband Genscher seinen Hinweis auf den „Brief zur deutschen Einheit“ mit dem Appell an die beiden Staaten in Deutschland, für eine gesamteuropäische Friedensordnung zu arbeiten. Dabei verwies er auf die KSZE, die Ostverträge und das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin. Gerade hier, also auf der internationalen Ebene, zeigte sich die außerordentliche Bedeutung des „Briefes zur deutschen Einheit“, da er es Bonn erlaubte, der restriktiven Auslegung des deutsch-sowjetischen Vertrags und des Grundlagenvertrags durch Moskau und Ost-Berlin in dieser zentralen Frage entgegenzutreten, ohne daß die östliche Seite die bundesdeutsche Position als vertragswidrig bezeichnen konnte.
V. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen
Da die UdSSR in der ausgehenden Breschnew-Ära sowohl innen-als auch außenpolitisch in Stagnation verharrte und bemüht war, soweit wie möglich den territorialen und politischen Status quo in Europa und damit auch in Deutschland festzuschreiben, waren von ihr keine Initiativen zu erwarten, die auf eine Überwindung der Teilung des Kontinents hinausgelaufen wären. Große Mühe hatte die sowjetische Führung, die menschenrechtlichen Konsequenzen aus der KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975 in die von ihr gewünschten Bahnen zu lenken. Auch in der labilen Übergangsphase unter Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko (1982-1985), den Nachfolgern Breschnews, war Moskau nicht bereit, seine West-Politik auf eine neue Basis zu stellen.
Bundeskanzler Kohl hatte -wie dargelegt -in seinen Regierungserklärungen vom 13. Oktober 1982 und 4. Mai 1983 unmißverständlich den Wunsch geäußert, die Beziehungen zur Sowjetunion und zu den anderen Staaten des Warschauer Pakts auf allen Ebenen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Als er vom 4. bis 7. Juli 1983 der UdSSR einen offiziellen Besuch abstattete, plädierte er nochmals für eine „Politik der Verständigung, der Kooperation, der Entspannung und des Ausgleichs mit dem Osten auf der Grundlage und in konkreter Ausfüllung der Verträge mit der Sowjetunion, mit der Volksrepublik Polen, mit der ÜSSR auf der Grundlage des Viermächte-Abkommens, des Grundlagenvertrages mit der DDR und der Schlußakte von Helsinki sowie der darauf gegründeten Vereinbarungen und Erklärungen“ Viele westliche Beobachter waren überrascht, daß Bundeskanzler Kohl ausgerechnet in Moskau das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und den Gedanken an die Einheit der deutschen Nation betonte, um hinzuzufügen: „Wir denken in historischen Dimensionen. Wir wissen, daß diese Aufgabe nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu verwirklichen ist. Wir wollen zu ihr beitragen.“ Zu Kohls Gesprächspartnern gehörten u. a. KPdSU-Chef Andropow, Ministerpräsident Nikolai A. Tichonow, Außenminister Andrej Gromyko und Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow. Auf seiner Pressekonferenz am 6. Juli wies der Bundeskanzler darauf hin, ein wichtiger Punkt seiner Moskauer Gespräche sei sein Bekenntnis zur Wiedervereinigung gewesen; er habe erklärt: „Man kann keine Grenze, die ein Volk teilt, zuzementieren.“ Ohne Vorbehalt bekannte er sich zu beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses und verwies darauf, daß die UdSSR bei den landgestützten Mittelstreckenraketen weit überlegen sei und ihren Bestand an nuklearen Gefechtsköpfen bei diesen Raketen in den letzten fünf Jahren noch verdoppelt habe. Nur in wenigen bilateralen Fragen konnten Fortschritte erzielt und konkrete Verabredungen getroffen werden. Beim Kanzler-Besuch in Moskau zeigte sich einmal mehr, wie sehr die sowjetische Führung unter Breschnew und Andropow die internationale Großwetterlage verschlechtert hatte. Daran sollte sich auch in der kurzen Phase unter der Ägide Tschernenkos bis zu dessen Tod am 10. März 1985 nichts ändern. Erst der am 11. März 1985 zum KPdSU-Chef gewählte Michail Gorbatschow erkannte frühzeitig, wie sehr die nukleare Aufrüstungs-Politik seiner Vorgänger das internationale Klima belastete. Nachdem der amerikanische Präsident Ronald Reagan am 18. November 1981 weitgehende Vorschläge zur Rüstungs-Verminderung gemacht und angeboten hatte, den NATO-Doppelbeschluß nicht zu vollziehen, falls die UdSSR zu einem Abbau ihres nuklearen Potentials bereit sei sollten noch sechs Jahre vergehen, ehe die beiden Repräsentanten der Supermächte, Reagan und Gorbatschow, bei ihrem dritten Gipfeltreffen am 8. Dezember 1987 das Washingtoner Abkommen über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen längerer und kürzerer Reichweite (INF) Unterzeichneten Der amerikanische Präsident stellte dazu fest, zum ersten Mal in der Geschichte sei die Sprachregelung „Rüstungskontrolle“ durch „Abrüstung“ ersetzt worden -„in diesem Fall die vollständige Vernichtung einer ganzen Kategorie amerikanischer und sowjetischer Nuklearraketen“
Gorbatschow wußte auch, wie sehr die UdSSR mit ihrer militärischen Intervention in Afghanistan im Dezember 1979 die internationale Großwetterlage verschlechtert hatte. Am 14. April 1988 wurde in Genf unter Vermittlung des stellvertretenden UNO-Generalsekretärs Diego Cördovez u. a. ein Abkommen getroffen, in dem sich die UdSSR und Afghanistan verpflichteten, daß die sowjetischen Truppen, beginnend mit dem 15. Mai 1988, bis zum 15. August zur Hälfte und bis zum 15. Februar 1989 ganz aus Afghanistan abgezogen werden. An diesen zeitlichen Fahrplan hat sich die UdSSR gehalten.
Seit dem Frühjahr 1987 revidierte Michail Gorbatschow schrittweise wichtige Positionen der sowjetischen Europa-und „Block“ -Politik. Den Auftakt bildete seine Rede vom 10. April 1987 in Prag, mit der er den ersten wesentlichen Schritt vollzog, den Vormachtanspruch der UdSSR und der KPdSU abzubauen. Allerdings waren seine „Block“ -Vorstellungen in den folgenden Monaten noch nicht frei von Widersprüchen. Das gilt auch für seine programmatische Rede vom 2. November 1987 anläßlich der Feiern zum 70. Jahrestag der Oktober-Revolution. Die vollständige Abkehr von der berüchtigten sowjetischen Interventions-Doktrin, im Westen „Breschnew-Doktrin“ genannt, vollzog der Kreml-Chef 1988/89. So sagte er am 7. Dezember 1988 vor der UNO-Vollversammlung: „Für uns ist ... die Verbindlichkeit des Prinzips der freien Wahl über jeden Zweifel erhaben... Die Freiheit der Wahl ist ein allgemeingültiges Prinzip, das keine Ausnahmen kennen soll.“ Mit den Beschlüssen von Bukarest vom 7. und 8. Juli und vom 26./27. Oktober 1989 haben die Mitglieder des Warschauer Paktes gemeinsam die „Breschnew-Doktrin“ zu den Akten gelegt und sich zum Primat des Völkerrechts bekannt
Obwohl die sowjetische Führung bis zum Herbst 1989 in zahlreichen Dokumenten ihren Willen bekundet hatte, die überkommene Vorstellung von der „Ordnungsmacht“ UdSSR zu überwinden und das Prinzip der Selbstbestimmung auch im War-schauer-Pakt-Bereich zuzulassen, war sie bestrebt, den Status quo in Deutschland möglichst unangetastet zu lassen. Erinnert sei daran, wie Gorbatschow auf den Hinweis Bundespräsident Richard von Weizsäckers bei dessen Besuch am 6. Juli 1987 in Moskau, „die Deutschen, die heute in Ost und West getrennt leben, haben nicht aufgehört und werden nicht aufhören, sich als eine Nation zu fühlen.. .“ reagiert hat. Damals zeigte sich Gorbatschow nicht geneigt, in diesem Zusammenhang über den Begriff der „deutschen Nation“ auch nur zu „theoretisieren... Es gibt zwei deutsche Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Sie haben ihre eigenen Werte. Beide haben sie Lehren aus der Geschichte gezogen, und jeder kann seinen Beitrag zu den Angelegenheiten Europas und der Welt leisten. Und was in hundert Jahren sein wird, wird die Geschichte entscheiden. Ein anderes Herangehen ist unannehmbar.. ,“
Bundespräsident von Weizsäcker gebührt das Verdienst, den Kreml-Chef erstmals veranlaßt zu haben, dezidiert zu „Deutschland“ Stellung zu beziehen. Als Bundeskanzler Kohl vom 24. bis 27. Oktober 1988 zu Besprechungen in Moskau weilte, zog sich Gorbatschow auf die Formel zurück: „Über die sogenannte , deutsche Frage* habe ich in letzter Zeit mehrmals gesprochen. Die derzeitige Situation ist ein Ergebnis der Geschichte. Die Versuche, diese umzustoßen oder eine unrealistische Politik voranzutreiben, sind ein unberechenbares und sogar gefährliches Unterfangen.“
Mit seiner nochmaligen scharfen Absage, über die „deutsche Frage“ auch nur zu diskutieren, verdeutlichte der Kreml-Chef unmißverständlich, daß er das zuvor von ihm postulierte Prinzip der „Freiheit der Wahl“ auf die deutsche Situation nicht anzuwenden gewillt war. Als er die Bundesrepublik Deutschland besuchte, war er immerhin bereit, in der mit Bundeskanzler Helmut Kohl Unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung vom 13. Juni 1989 festzustellen, das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völker-rechts souverän zu gestalten, müsse sichergestellt werden: „Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muß gewährleistet werden.“
Nachdem der Kreml die weitreichenden Demokratisierungs-Prozesse in Ungarn und Polen widerspruchslos akzeptiert und auf die weitere innere Stabilität der DDR gehofft hatte, mußte er wissen, daß er etwaige evolutionäre oder gar revolutionäre Entwicklungen im „ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden“ nicht mehr hätte unterbinden können.
VI. Das schwierige deutsch-polnische Verhältnis
Auch die deutsch-polnischen Beziehungen seit Herbst 1982 dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Ebenso wie ihre Vorgängerinnen räumte die Bundesregierung Kohl/Genscher im Rahmen ihrer Ostpolitik -verständlicherweise -Polen die zweite Position ein. Die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 durch Staats-und Parteichef Jaruzelski belastete das deutsch-polnische Verhältnis ebenso wie der Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses (1983/84). Die Stationierung nuklearer Mittelstrecken-Systeme in der Bundesrepublik Deutschland war auch eine Antwort auf die Stationierung sowjetischer Nuklearwaffen in Polen. Hinzu kommt, daß der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 mit dem darin vereinbarten qualifizierten Gewaltverzicht und dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen sowie dem Verzicht auf territoriale Ansprüche von polnischer und deutscher Seite unterschiedlich interpretiert wurde. Dieser Streit ging vornehmlich auf die Aussagen der Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945 zurück und kann hier nicht rekapituliert werden. Während Bundeskanzler Kohl in Übereinstimmung mit dem Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 und der Entschließung von Bundestag und Bundesrat zu den Ostverträgen vom 17. Mai 1972 die Regelung der Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen noch nicht für endgültig entschieden hielt, war dies für Außenminister Genscher -wie auch für die SPD -seit langem kein Streitpunkt mehr. Festzuhalten gilt, daß die drei Westmächte und die UdSSR in ihren Abmachungen aus den Jahren 1944/45 von „Deutschland ... innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden“, ausgegangen sind, ohne jedoch die Verpflichtung übernommen zu haben, diesen Gebietsstand zu garantieren und die staatliche Einheit Deutschlands in diesen Grenzen anzustreben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es immer vermieden, sich präzise über die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes zu äußern oder gar mit der Formel „Gesamtdeutschland“ das Land in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 zu umschreiben. Da die drei Westmächte und die UdSSR 1945 keine Garantie übernommen haben, Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 wiederherzustellen, haben die drei Westmächte auch in dem am 5. Mai 1955 in Kraft getretenen Deutschland-Vertrag nur die Formel „Deutschland als Ganzes“ akzeptiert und sind gleichfalls keine Verpflichtung eingegangen, die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 anzustreben.
Wilhelm G. Grewe, der maßgeblich an der Formulierung des Deutschland-Vertrags seinerzeit beteiligt war, hat noch in einem 1991 verfaßten Beitrag wiederum mit Nachdruck betont, daß die drei Westmächte weder 1952/54 noch früher oder später jemals bereit gewesen seien, „eine Verpflichtung zur Wiederherstellung eines deutschen Staates in den Grenzen von 1937 zu übernehmen. Das war auch den deutschen Verhandlungspartnern bekannt. Wiedervereinigung bedeutete daher im Deutschlandvertrag stets nur die Zusammenführung von Bundesrepublik, DDR und Berlin.“ Grewe fügte jedoch hinzu, daß bis zu der abschließenden Regelung in bezug auf Deutschland die Grenzen von 1937 als ein „verhandlungsrechtliches Ausgangsdatum, nicht aber als ein verbindliches Zieldatum dienen: alle Vertragspartner des Deutschlandvertrages erkannten an, daß sie rechtlich nicht geändert oder beseitigt worden waren; keiner von ihnen -auch die Bundesrepublik nicht -war verpflichtet, sie als verbindliches Verhandlungsziel anzusehen. Die Grenzfrage war bis zur Vereinigung Deutschlands offen.“
Das Bundesverfassungsgericht war weiser und vorausschauender als jene Politiker, Staats-und Völkerrechtler sowie Repräsentanten des Bundes der Vertriebenen, die vor der Wende in der DDR 1989/90 gehofft hatten, aufgrund der alliierten Abmachungen aus den Jahren 1944/45 hätten spätere Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland zumindest von den Grenzen vom 31. Dezember 1937 auszugehen, ohne damit eine verbindliche territoriale Zielvorgabe zu verknüpfen. Volker Rühe, seinerzeit stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, war heftig kritisiert worden, als er am 6. Februar 1985 im Bundestag zwischen der rechtlichen und politischen Problematik des Warschauer Vertrags vom 7. Dezember 1970 differenzierte und meinte, wer nüchtern und illusionslos nachdenke, „der weiß, daß der Warschauer Vertrag mit Polen eine politische Bindungswirkung hat, die auch von einem wiedervereinigten Deutschland nicht ignoriert werden könnte“
Volker Rühes Aussage sollte sich voll bestätigen. Nach der vertraglichen Regelung der Grenz-Frage belasten däs deutsch-polnische Verhältnis der Status der deutschen Minderheit in den Oder-Neiße-Gebieten sowie die Schulden-und Investitions-Problematik
VII. Der Ausbau der innerdeutschen Beziehungen
Nachdem SED-Chef Honecker am 13. Oktober 1980 mit seiner Rede in Gera den Versuch gemacht hatte, die innerdeutschen Beziehungen uneingeschränkt auf die völkerrechtliche Ebene zu heben und sie -mit Ausnahme des Gebiets des Handelsverkehrs -von allen noch fortbestehenden Besonderheiten zu befreien, war es nicht erstaunlich, daß der Arbeitsbesuch Bundeskanzler Schmidts in der DDR vom 11. bis 13. Dezember 1981 nur wenige konkrete Ergebnisse aufwies. Auch wenn Honecker eine Revision des NATO-Doppelbeschlusses verlangte und wiederum darauf drang, die deutsch-deutschen Beziehungen auf die völkerrechtliche Ebene zu transponieren, führte er in seinen Besprechungen mit Bundeskanzler Schmidt am 12. Dezember 1981 gleichzeitig aus: „Wir können uns von der Weltpolitik nicht abkoppeln, aber wir können, jeder auf seine Weise, einen wesentlichen Beitrag leisten zur Verbesserung des internationalen Klimas, vor allem zur Stabilisierung des Friedens in Europa.“
Zwar blieb die innerdeutsche Bilanz Anfang der achtziger Jahre nicht völlig negativ, doch wurden wichtige Erwartungen an die DDR-Führung bis zum Ende der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition im Herbst 1982 nicht erfüllt. Vor allem war die DDR-Führung auch nach dem Antritt der Bundesregierung Kohl/Genscher bemüht, zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet die Beziehungen auszubauen. Da die Bundesregierung um die verschlechterte ökonomische Situation der DDR wußte, beschloß sie am 29. Juni 1983 einen Milliarden-Kredit westdeutscher Banken an die DDR, den der bayerische Ministerpräsident Strauß „eingefädelt“ hatte. Nach Begegnungen mit führenden bundesdeutschen Politikern, die Honecker zur Beseitigung der Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze aufgefordert hatten, versicherte er am 6. Oktober 1983, die Selbstschußanlagen „an der gesamten Länge der Grenze“ zur Bundesrepublik würden beseitigt. Bereits zuvor, am 15. September 1983, hatte die DDR eine Verordnung erlassen, mit der die Familien-Zusammenführung und die Eheschließung von DDR-Bürgern mit „Ausländern“ geregelt wurden.
Während die Arbeit der innerdeutschen Kommissionen auf den verschiedenen Gebieten in den Jahren ab 1980 trotz der deutlich abgekühlten Ost-West-Beziehungen nicht unterbrochen wurde, hatte die DDR schon im März 1975 die Ende November 1973 mit Bonn aufgenommenen Verhandlungen über den Abschluß eines Abkommens über die kulturelle Zusammenarbeit blockiert, als sie die Herausgabe jener Kunstgegenstände forderte, die vor 1945 ihren Standort auf dem Territorium des späteren Ost-Berlin hatten und sich im Eigentum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin (West) befanden. Erst am 20. September 1983 wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, die am 6. Mai 1986 endlich erfolgreich abgeschlossen werden konnten.
Nach dem Abschluß des Kulturabkommens zwischen den beiden Staaten in Deutschland vom 6. Mai 1986 hegten die Bundesregierung und die parlamentarische Opposition berechtigte Hoffnungen, nun auch in jenen wenigen Sachbereichen mit der DDR vertragliche Vereinbarungen zu erreichen, die gemäß dem Zusatzprotokoll zu Artikel 7 des Grundlagenvertrags zuvor nicht erzielt werden konnten. Das galt vor allem für ein Abkommen über den Rechtshilfeverkehr, dessen Abschluß die DDR von einer einschneidenden Änderung der im Grundgesetz verankerten (gesamt) deutschen Staatsangehörigkeit abhängig gemacht hatte. Darüber hinaus hatten sich die beiden Staaten in Deutschland im Zusatzprotokoll zum Grundlagen-vertrag verpflichtet, Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Technik zu schließen.
Erst der mehrfach verschobene Arbeitsbesuch von Partei-und Staatschef Honecker vom 7. bis 11. September 1987 in der Bundesrepublik Deutschland -in Erwiderung der Visite Bundeskanzler Schmidts im Dezember 1981 in der DDR -führte zu einer beachtlichen „Ausfüllung“ des Grundlagenvertrags. Am 8. September 1987 wurden in Bonn Abkommen über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, die weitere Gestaltung der Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes sowie Informations-und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strahlenschutzes unterzeichnet. Das Abkommen über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik schuf erstmals die Voraussetzungen für wissenschaftlich-technologische Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Institutionen der beiden Staaten in Deutschland. Die drei Abmachungen bezogen -gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -ausdrücklich Berlin (West) ein
VIII. Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands
Neben dem 13. August 1961 bildet der Abend des 9. November 1989, als die Grenzübergänge in Berlin und zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland-geöffnet wurden, die tiefste Zäsur in der Entwicklung der „deutschen Frage“ nach 1945. Der 9. November 1989 markierte, was für viele Beobachter in West und Ost damals noch nicht erkennbar war, das Ende des SED-Regimes. Der sich abzeichnende schnelle und totale Zusammenbruch der DDR forcierte den Prozeß der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, der mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 zum Abschluß kam. Der rasche Einigungsprozeß erscheint auch insofern bemerkenswert, als alle politisch verantwortlichen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland wußten, daß die „deutsche Frage“ nicht isoliert gelöst werden konnte, sondern in den fortbestehenden Ost-West-Konflikt eingebettet war. Der Einigungsprozeß (1989/90) verdeutlichte nochmals, wie sehr die Teilung Deutschlands zugleich Bestandteil der Teilung Europas war. Die einzelnen Stadien des innerdeutschen Einigungsprozesses (1989/90), über die inzwischen eine umfangreiche Literatur vorliegt, können hier ebensowenig wie der Zwei-plus-Vier-Prozeß (1990) rekapituliert werden
Erstaunlich bleibt nicht nur, in welchem Tempo Bonn und Ost-Berlin die komplizierten inneren Aspekte der Wiedervereinigung des Landes geregelt haben. Respekt verdienen daneben die Verhandlungen, die auf der Zwei-plus-Vier-Ebene geführt wurden und Mitte Februar 1990 in Ottawa ihren Ausgang nahmen. Festzuhalten gilt jedoch: Als sich das unaufhaltsame Ende der DDR und der Einigungsprozeß Anfang 1990 abzeichneten, konnte man nur verblüfft feststellen, mit welcher Selbstverständlichkeit von Anfang an sowohl für Bonn und Ost-Berlin als auch für die drei Westmächte und die UdSSR feststand, daß die staatliche Einheit nur unter beachtlichen Opfern zu erreichen war. Die Abtretung der Oder-Neiße-Gebiete bedeutete aus der Sicht des deutschen Gesamtstaates den endgültigen rechtlichen Verlust von rund 114 000 qkm Staatsgebiet, „dessen Zugehörigkeit mit rund 9, 4 Millionen deutschen Staatsangehörigen zum Völkerrechtssubjekt Deutschland vor 1945 unbestritten war“ Hingegen umfaßte das Territorium der früheren DDR demgegenüber nur 108 000 qkm. Inzwischen haben auch weitgehend jene, die diese Vorgänge mit Bedauern und teilweise mit Verbitterung verfolgt haben, eingesehen, daß der Bonner Diplomatie angesichts der einmalig günstigen internationalen Konstellation und des notwendigen Tempos, den Einigungsprozeß zu vollziehen, gar keine andere Wahl blieb, als von vornherein vom territorialen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete auszugehen.
Beim dritten Zwei-plus-Vier-Treffen am 17. Juli 1990 in Paris wurde im Beisein des polnischen Außenministers Krzysztof Skubiszewski eine Einigung über die endgültige Regelung zur Festlegung der Westgrenze Polens erzielt. Zum Abschluß der Gespräche kündigte Außenminister Genscher an, daß „der deutsch-polnische Grenzvertrag innerhalb kürzest möglicher Zeit nach der Vereinigung und der Herstellung der Souveränität des vereinigten Deutschlands unterzeichnet und dem gesamtdeutschen Parlament zugeleitet werden wird“. Am 15. November 1990 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen den Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze.
Auf dem vierten Zwei-plus-Vier-Treffen der Außenminister konnte am 12. September 1990 in Moskau der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ unterzeichnet werden. Es war von vornherein klar, daß das ver-* S. einte Deutschland nur die Gebiete der Deutschen Demokratischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland und ganz Berlins umfassen würde. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags beendeten die Vier Mächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis sollten die damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der vier Mächte aufgelöst werden. Außerdem heißt es in Artikel 7: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Ein besonderer Erfolg westlicher Diplomatie bedeutet Artikel 6 des Vertrages vom 12. September 1990, der festlegt, „das Recht des vereinten Deutschlands, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt“. Von vornherein stand fest, daß das in den NATO-Bereich einbezogene Territorium der früheren DDR einem militärischen Sonderstatus unterliegen würde; dieser ist in Artikel 5 des Moskauer Vertrags formuliert. Da für alle Beteiligten am Zwei-plus-Vier-Prozeß von Anfang an klar war, daß die „deutsche Frage“ nur im europäischen Rahmen gelöst werden konnte, bleibt festzuhalten, daß die „Charta von Paris für ein neues Europa“, die Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats-und Regierungschefs vom 21. November 1990, „mit großer Genugtuung“ Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau Unterzeichneten „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ nimmt und aufrichtig begrüßt, „daß das deutsche Volk sich in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in seinem Staat vereinigt hat. Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist ein bedeutsamer Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für ein geeintes, demokratisches Europa, das sich seiner Verantwortung für Stabilität, Frieden und Zusammenarbeit bewußt ist.“