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Der goldene Angelhaken: Entspannungspolitik und Systemwandel | APuZ 14/1994 | bpb.de

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APuZ 14/1994 Rückblick auf die Entspannung Der goldene Angelhaken: Entspannungspolitik und Systemwandel Die Ostpolitik der konservativ-liberalen Bundesregierung seit dem Regierungsantritt 1982 Neue Ostpolitik und das Bild der Sowjetunion von 1968 bis 1975 Aus den Anfängen der Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus dem Jahre 1987

Der goldene Angelhaken: Entspannungspolitik und Systemwandel

Peter Bender

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den achtziger Jahren war die Entspannungspolitik der Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl nicht ganz, aber weitgehend akzeptiert. Seit 1990 wird sie kritisch befragt, so kritisch, daß sich das Bild ins Gegenteil verkehrt hat. Die Leistungen und Erfolge, deren sich die Bundesregierungen vorher rühmten, sind in den Schatten getreten; die Fehlleistungen und Mißerfolge stehen im Scheinwerferlicht. Da die DDR zusammengebrochen ist, erscheint jede Politik fragwürdig, die nicht auf ihren Zusammenbruch hinarbeitete. Da die DDR nicht wie Polen, Ungarn und die Sowjetunion das System zu reformieren versuchte, erscheint die Bemühung Bonns um Ost-Berlin als Stabilisierung des Systems. Weitgehend unbeachtet bleibt, was Entspannung für die SED-Macht bedeutete. Sie brachte der Führung nicht nur Valuta und Aufwertung, sondern auch „Aufweichung“ und den Zwang zu allmählicher, kontrollierter Öffnung zur Bundesrepublik. Während Bonn für „menschliche Erleichterungen“ nur mit Geld und Ehrenbezeigungen bezahlen mußte, war Honecker genötigt, wesentliche Fundamente der Parteiherrschaft abzubauen: das Feindbild, die „Abgrenzung“ gegen Westen und das Verbot von Reisen dorthin; sogar seine Handlungsfreiheit gegenüber der Bundesrepublik wurde eingeschränkt und sein Verhältnis zur Schutzmacht Moskau gestört. Bonns konsequente Entspannungspolitik hat keine Reform der DDR bewirkt, aber deren Ruin gefördert und beschleunigt.

Zu den größten Merkwürdigkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört die wechselnde Rolle, welche die Bundesrepublik für die DDR gespielt hat. Zuerst war Bonn der Todfeind, am Ende war es die letzte Rettung. Bis mindestens Mitte der sechziger Jahre proklamierten alle westdeutschen Parteien das Ziel „Wiedervereinigung durch gesamtdeutsche freie Wahlen“, das hieß: Tod der DDR. In den siebziger und achtziger Jahren bemühten sich dann alle Bundesregierungen um ein möglichst gutes Verhältnis zum ostdeutschen Nachbarstaat und halfen ihm aus seinen ständigen und steigenden Finanznöten. Bonn wurde zur letzten Instanz, wenn die DDR ökonomisch nicht mehr weiterkam. Es wäre fast ein Wunder, wenn nach dem Ende der DDR nicht kritische Fragen gestellt worden wären: Hätte Bonn die harte Politik der ersten zwanzig Jahre weiterführen müssen und den SED-Staat damit eher zu Fall gebracht? Haben Schmidt und Brandt, Kohl und Strauß den Machthabern in OstBerlin zu viel Ehre angetan und sich zu weit mit ihnen eingelassen? Hätten sie statt dessen die Opposition stärken und stützen sollen? Haben sie vielleicht sogar die Herrschaft Honeckers gefestigt und verlängert? In der Konsequenz solcher Fragen kommt die Deutschlandpolitik Konrad Adenauers wieder zu Ehren, denn schließlich sei doch alles so gekommen, wie er es gewollt und vorausgesagt habe. Was damals unmöglich erschien, wurde 1990 Wirklichkeit: Ganz Deutschland ist demokratisch vereint und Mitglied der Europäischen und der Atlantischen Gemeinschaft. Der Kommunismus ist an sich selbst zu Grunde gegangen -hätten wir nur die Nerven behalten und warten müssen, bis auch die DDR zusammenbrach? Die Gegenfrage lautet: Zwischen Adenauers Erwartung und deren Erfüllung liegen dreißig Jahre -wie wären wir ohne die neue Ostpolitik von Brandt und Scheel durch die Zeit gekommen? Die Hall-stein-Doktrin bröckelte seit Mitte der sechziger Jahre -wann hätte sie das Gegenteil ihres Zwecks bewirkt und nicht die DDR isoliert, sondern die Bundesrepublik? Wie lange hätte ein Staat im Zentrum Europas es sich noch leisten können, sein Verhältnis zum Ostteil des Kontinents nicht zu regeln? Wie lange hätte Bonn es durchgehalten, gesamteuropäische Veranstaltungen wie die KSZE und Rüstungskontrolle zu blockieren, weil es nicht mit DDR-Vertretern an einem Tisch sitzen wollte? Wie wäre es der Insel Berlin ergangen ohne das Vier-M^chte-Abkommen, dessen wesentliche Bestimmungen erst durch Brandts Moskauer Vertrag möglich wurden? Nochmals fast zwanzig Jahre Unsicherheit auf den Transitstraßen, radikale Ab-schließung beider Stadtteile voreinander und nicht einmal Telephonverbindung? Und schließlich: Wie weit hätten sich West-und Ostdeutsche noch entfremdet, wenn sie nicht seit 1972 in wachsendem Umfang einander wieder, oder sogar erst neu, kennengelernt hätten? Schon heute wissen wir nicht, wie und wann wir die innere Einheit der Deutschen zustandebringen -nochmals zwanzig Jahre weiterer Trennung, was hätten wir dann überhaupt noch zum Vereinigen?

Natürlich sind das rhetorische Fragen. Kein ernst-zunehmender Politiker oder Betrachter meint noch, Brandts Ostpolitik sei vermeidbar gewesen; auch Brandts erbitterte Gegner in den Jahren 1970 bis 1972, die CDU und CSU, folgten getreulich seinen Spuren, als sie 1982 wieder an die Regierung kamen. Aber wenn die Ostpolitik von Brandt bis Kohl nötig war für die Einheit der Nation, dann kann man Adenauer, der sie versäumte, nicht als den Einheitskanzler feiern.

Ernster ist die Frage nach den Milliardenkrediten, die Kohl und Strauß 1983 und 1984 der DDR verschafften: Der ostdeutsche Staat war damals finanziell am Ende, wäre er ohne die Bonner Hilfe eher zusammengebrochen? Die Antwort ist: Die DDR konnte erst zusammenbrechen, als Moskau sie zusammenbrechen ließ. Die Sowjetunion war zwar außerstande, ihr wirtschaftlich aus der Not zu helfen, aber die SED an der Macht halten konnte sie allemal, sei es durch eigene Truppen, sei es durch militärischen Rückhalt für Notstandsmaßnahmen, wie Jaruzelski sie im Dezember 1981 in Polen traf. Und was der Kreml schon in Polen nicht auf die Dauer zuließ, den Zerfall der Partei-herrschaft, das hätte er im Grenzland DDR noch weniger geduldet.Erst als der Kreml nicht mehr der Kreml war und die Konservativen dort vom Reformator Gorbatschow abgelöst worden waren, wurde ein Machtwechsel in den abhängigen Staaten möglich. Auch Gorbatschow hat den sowjetischen Herrschaftsanspruch im östlichen Mitteleuropa nicht mit einem Mal, sondern schrittweise aufgegeben. Niemand wußte wirklich, daß Moskau nicht mehr tun werde, was es dreißig Jahre lang seit dem 17. Juni 1953 getan hatte, nämlich die Parteiherrschaft in den abhängigen Ländern mit der Roten Armee zu schützen. Als die Leipziger am 9. Oktober 1989 zur großen, alles entscheidenden Montagsdemonstration ansetzten, waren sie nicht sicher, daß die sowjetischen Panzer in den Kasernen bleiben und die alten Herren im Berliner Politbüro zu einer „chinesischen“ Lösung nicht mehr fähig waren.

Auch überall sonst im Osten kam es erst 1989 zu einem Regimewechsel. Sogar in Polen, wo in Gestalt von SolidamoSd schon eine Gegenmacht bestand, wurde erst im Sommer 1989 ein NichtKommunist Ministerpräsident. Und die anderen gingen keineswegs der DDR voran, sondern folgten ihrem Beispiel, indem sie ihre Regenten aus dem Amt demonstrierten: zuerst die Bulgaren, dann die Tschechen und Slowaken und schließlich, in blutiger Form, die Rumänen.

Aber auch wenn die DDR vor Gorbatschows Toleranz-Edikten nicht zusammenbrechen konnte -war es nötig, die marode DDR-Wirtschaft mit ständigen Devisenzahlungen und Milliardenkrediten zu füttern, einen ausgiebigen politischen Besuchsverkehr mit den ostberliner Regenten zu pflegen und -vor allem -Honecker zu einem Beinahe-Staatsbesuch mit Ehrenkompanie und DDR-Hymne einzuladen? Zweifellos wird man über vieles streiten können, besonders über die Pilgerfahrten westdeutscher Politiker jeder Couleur, die alle mit Honecker gesprochen haben wollten -das Gedränge war zeitweise peinlich; außerdem war offenkundig, daß nicht immer sachliche Erfordernisse die Reisen veranlaßten, sondern oft auch Geltungssucht. Honecker war Mode.

Verständlich ist auch, daß die Bürgerrechtler sich mißachtet fühlten, wenn sie den Betrieb auf den oberen Politik-Etagen sahen. Wer unter DDR-Verhältnissen opponierte, also mindestens den Beruf und zuweilen die Freiheit riskierte, hatte Anspruch, ernst genommen zu werden -ganz gleich, wieviel er politisch ausrichten konnte. Zweifellos litten die meisten westdeutschen Politiker, besonders die älteren, unter den gleichen Erfahrungen wie die älteren Ostdeutschen: Offene Opposition war im ganzen Osten immer gewaltsam unterdrückt worden -wer konnte, gut und trocken im Westen sitzend, andere zum Widerstand ermuntern? Die Möglichkeiten der letzten Jahre, sich in der DDR zu rühren, wurden unterschätzt, und die Macht der Partei wurde überschätzt.

Schließlich, hier setzt die stärkste Kritik an, wollten sich manche Bonner Politiker ihre Politik nicht stören lassen: Es war zwar mutig, was die meisten jungen Leute in der DDR unternahmen, aber Honecker stürzen konnten sie damit nicht, und die politischen Geschäfte mußten darunter leiden. Und diese Geschäfte, vom Umweltschutz bis zu Reiseerleichterungen, versprachen mehr, als von Demonstrationen zu erwarten war.

Das war halb richtig und halb falsch. Es war richtig, weil niemand den Zusammenbruch des sowjetischen Machtwillens voraussah und wohl voraussehen konnte; eine Politik, die auf den Sturz des SED-Regimes gerichtet war, mußte daher nicht nur zwecklos, sondern gefährlich erscheinen. Sogar im Rückblick ist es noch höchst fraglich, ob offene Unterstützung aus Bonn der Opposition genützt und das Politbüro geschwächt hätte. Andererseits war das Bonner Urteil über die DDR-Opposition falsch, weil die unterirdischen Veränderungen nicht erkannt wurden, die das Macht-gefüge im ganzen Osten Europas ausgehöhlt hatten. In den Achtzigern war möglich, was es vorher nicht war. In den Achtzigern war der Machtwille oben schwächer geworden und die Bereitschaft unten, nicht mehr mitzumachen, hatte sich beträchtlich vergrößert. Jetzt rechtfertigte sich Opposition nicht mehr nur moralisch, sondern wurde auch politisch zweckmäßig.

Den Beweis gaben zuerst die beharrliche Kleinarbeit einzelner Gruppen, dann die stetig wachsenden Demonstrationen und am Ende die Massen, denen das Regime, das sich auf die Massen berief, nicht mehr gewachsen war. Von heute auf morgen wären die Ereignisse in Dresden, Leipzig und Berlin nicht zustande gekommen. Ohne die Jahre zunehmend mutiger Bekenntnisse in und außerhalb der Kirchen, ohne ein wachsendes Selbstbewußtsein auch des unpolitischen DDR-Bürgers, also ohne ein verändertes Klima im Lande hätte es den Herbst 1989 wohl nicht gegeben.

Die DDR ist von unten aus den Angeln gehoben worden; aber damit sie sich heben ließ, mußte sich ihr Gewicht stark verringert haben. Der Kommunismus war inhaltsleer geworden, Ideologie wie Ökonomie, Städte, Straßen und Infrastruktur verfielen, es blieb nur noch die staatliche Macht, aber auch die verlor ihre Kraft, weil die Herrschenden den Mut zu sich selbst verloren. Dazu kam das Beispiel Gorbatschows, der immer radikalere Konsequenzen aus dem offenkundigen Versagen des Systems zog. Die Welt stand auf dem Kopf: In Moskau entwickelte sich Demokratie, in Berlin blieb die Diktatur -das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Die DDR starb an sich selbst -zu fragen ist: Hat die Politik der Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl ihr Dahinscheiden behindert oder begünstigt? Sicher ist, daß diese Politik nicht darauf angelegt war, die DDR zugrunde zu richten -im Gegenteil: Bonn erklärte, es wolle die DDR nicht destabilisieren; denn nur auf dieser Geschäftsgrundlage funktionierte der Austausch von Geldern und Leistungen. Aber nicht nur das. Auf dieser Grundlage wurde es möglich, daß die Bundesrepublik ihren wichtigsten Trumpf ins Spiel brachte, nämlich sich selbst. Die Überlegenheit der Bonner Republik lag nicht in dieser oder jener Politik, sondern in der schieren Existenz des westdeutschen Staates, der jedem Bürger der DDR vor Augen führte, wie man die Wirtschaft und die öffentlichen Angelegenheiten anders regeln und wie man das meiste besser machen kann. Und da nicht eine fremde Nation, sondern die eigenen Landsleute das Beispiel gaben, war die Bundesrepublik eine Herausforderung an die Regenten der DDR und eine Verlockung für deren Bürger, wie kein anderer kommunistischer Staat in Europa sie zu bestehen hatte. Die wirksamste Politik, die Bonn treiben konnte, war allezeit darauf gerichtet, das Beispiel Bundesrepublik wirken zu lassen, es den Ostdeutschen vor Augen zu führen und nahezubringen -nicht durch Propaganda, sondern durch Unbefangenheit: man gab sich, wie man war. Hauptziel der Politik mußte sein, die Hindernisse zu überwinden, mit denen die Regenten der DDR sich den „Westen“ vom Leibe zu halten versuchten. Das Politbüro in Ost-Berlin war sich der Gefahr immer bewußt, auch deshalb hatte es die Mauer gebaut und „Abgrenzung“ proklamiert. Doch während das Regime sein Volk vor der kapitalistischen Verführung bewahren wollte, erlag es ihr selbst. Die Wirtschaft brauchte Devisen und Honecker brauchte Bonns Einverständnis oder wenigstens Zurückhaltung, wenn er in Westeuropa Staatsbesuche machen und die DDR in die europäische Staatengesellschaft einführen wollte. Nur wenn Kohl nicht protestierte, wurde der Staats-ratsvorsitzende in Brüssel, Rom und Paris empfangen. Um die Wirtschaft am Leben zu erhalten und um außenpolitischer Erfolge willen, die seine Eitelkeit befriedigten, ließ sich Honecker mit Bonn in Geschäfte ein, die ihm kurzfristig halfen, allmählich aber die DDR ruinierten.

Drei Jahrzente lang hatte die SED-Führung in der Furcht vor dem überlegenen Westdeutschland gelebt; aber sie hatte auch von dieser Furcht gelebt, indem sie die Bonner „Imperialisten“ und „Revanchisten“ als Rechtfertigung benutzte -für Mauerbau und „Abgrenzung“, für Reiseverbote und Fernhaltung von Westliteratur, für alles, was den Westen auf Abstand hielt. Und nun sollte der Feind auf einmal nicht mehr Feind sein, sondern Partner.

Wenn der Staatsratsvorsitzende fast täglich mit einem westdeutschen Politiker auf der ersten Seite des „Neuen Deutschland“ prangte, dann konnte der „Imperialismus“ so furchtbar doch nicht sein. Wenn die Beziehungen zum Bonner Staat demonstrativ gepflegt wurden, dann konnten kollegiale und private Beziehungen zu Bundesbürgern nicht mehr bedenklich sein. Wenn die SED mit der SPD über ideologische und politische Grundsatzfragen sprach, dann konnte der „Sozialdemokratismus“ so gefährlich nicht sein. Und wenn Honecker seine Schwester im Saarland besuchte, dann konnte es keinen vertretbaren Grund mehr geben, den Normal-Bürgern Verwandten-Besuche im Bundesgebiet zu verbieten.

Das Eingehen auf innerdeutsche Entspannung hat der SED ihr Feindbild genommen. Mit der Beschwörung der großen Gefahr aus dem Westen waren die eigenen Mängel nicht mehr zu verdekken und „Abgrenzung“ nicht mehr zu rechtfertigen. Ebenso bedenklich für das Regime war: Je enger es sich mit Bonn einließ und wirtschaftliche und politische Bindungen einging, desto mehr wurde es in ein Netz aus Vorteilen und Verpflichtungen eingefangen, aus dem es sich schließlich kaum mehr zu lösen vermochte. Honecker beschwor zwar bei jeder Gelegenheit die Souveränität seines Staates. Er wucherte auch mit dem einzigen Pfund, das er hatte, den humanitären Zugeständnissen; seine Unterhändler „verkauften“ auch die geringste Erleichterung im Reiseverkehr zu Höchstpreisen -dennoch schränkte sich sein Manövrierraum ein.

Die DDR-Führung mußte in einem Maße, das sie nie gekannt hatte, auf die Bundesrepublik Rücksicht nehmen: auf die Überzeugungen, Gefühle und Vorurteile dort, auf die Empfindlichkeiten und Rivalitäten der Parteien und nicht zuletzt auf die Medien. Auch in Ost-Berlin wußte man, daß in Bonn die Deutschlandpolitik sehr stark innenpolitisch bedingt war: Gegen die Stimmung im Lande und gegen einflußreiche Stimmungsmacher konnte keine Bundesregierung wagen, der kommunistischen DDR unter die Arme zu greifen.Die DDR erhielt Finanz-und Wirtschaftshilfe, Honecker bekam politische und persönliche Anerkennung -aber alles mußte mit gewissem Wohl-verhalten bezahlt werden. Selbst die Aufwertung der SED durch die Sozialdemokraten, die Abmachung über eine „Streitkultur“, verlangte einen hohen Preis: Wenn die SED mit der SPD von gleich zu gleich verhandelte und sich von den sozialdemokratischen „Arbeiterverrätern“ sogar Reformfähigkeit, also Reformbedürftigkeit bescheinigen ließ -was unterschied die Kommunisten dann noch von einer gewöhnlichen Partei? Wie konnten sie dann noch ihren Unfehlbarkeitsanspruch als Marxisten-Leninisten behaupten? Was gab der SED dann noch das Recht, für alle Zeit die „führende Rolle“ im Staat zu spielen?

Die dritte Folge der Öffnung nach Westen lag darin, daß die Wirkung der Mauer mehr und mehr nachließ. Die Führung sah sich gezwungen, dem Druck von unten und dem Drängen aus Bonn nachzugeben, und lockerte die Sperren für Reisen in die Bundesrepublik. Mehr als ein Vierteljahr-hundert lang war die Grenze für Normalbürger unpassierbar gewesen; die meisten Jüngeren machten jetzt zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Bundesrepublik. Der westliche Teil Deutschlands konkretisierte sich vom Fernsehbild zu einer selbst erfahrenen Wirklichkeit. Der Austausch der Reiseeindrücke wurde zu einem Hauptgesprächsthema, die Bundesrepublik lag nicht mehr auf einem anderen Stern, sie trat als ein erreichbares Land ins allgemeine Bewußtsein. Die Möglichkeit, nach Westen zu reisen, beflügelte den Wunsch, nach Westen „auszureisen“; manchen brachte erst ein Besuch der Bundersrepublik auf den Gedanken, ins andere Deutschland überzusiedeln. Nicht mehr nur die Reisen, sondern die „Ausreisen“ wuchsen zum Hauptproblem des Landes -wohin man seit Mitte der achtziger Jahre kam, vor allem davon war die Rede. Die Zahl der Anträge stieg gewaltig.

Die wichtigste Wirkung der Mauer war, den Ostdeutschen die Alternative zu nehmen. Es gab nur noch ein Leben in der DDR und unter den Bedingungen der DDR. Mit der Erlaubnis zur Auswanderung schwand diese Wirkung. So sehr die Funktionäre die Ausreise erschwerten, sie war möglich geworden, und jeder kannte jemanden, dem sie gelungen war. Vielleicht hat nichts die politische Stabilität der DDR so unterhöhlt wie das Wiedererstehen der Alternative: Man konnte ein neues Leben im Westen beginnen -auch wer dies gar nicht wollte, wurde innerlich freier; er mußte nicht mehr alles hinnehmen, denn im Notfall konnte er, wenn er noch jung genug war, gehen. Im Notfall konnte er auch nur mit seinem Weggang drohen, der Ausreiseantrag wurde in den letzten Jahren der DDR zum Druckmittel des kleinen Mannes, zuweilen sogar mit Erfolg. Schon bevor die Mauer fiel, hatte sie ihre Wirkung als Herrschaftsschutz teilweise eingebüßt.

Was Honecker sich bei alledem gedacht hat, wissen wir nicht. Vermutlich hoffte er, die Bundesrepublik nutzen und die Gefahren, die von ihr ausgingen, bewältigen zu können. Jedenfalls trieb er eine Politik, wie sie ihm Breschnew schon 1970 ausdrücklich verboten hatte: „Es darf zu keinem Prozeß der Annäherung zwischen der BRD und der DDR kommen.“ Moskau erkannte die Bedrohung, die seinem Klientelstaat entstand, schärfer als Honecker. Es schickte seinen alten Prokonsul Abrassimow als „Botschafter“ wieder nach Berlin, um den eigenwilligen Vasallen zur Raison zu bringen. Moskau mahnte und warnte auch immer wieder: Honecker tue zu viel für den Lebensstandard der Ostdeutschen und zu wenig für Investitionen, an denen auch die Sowjetunion interessiert war. Er gründe seine Politik auf Westkredite und bringe sich damit in Abhängigkeit von Bonn. Anfang 1989 gab (in einem Gespräch mit dem Autor) Nikolai Portugalow, einer der besten Deutschland-kenner, die DDR schon fast verloren: Wirtschaftlich sei sie bereits in der Hand der Bundesrepublik, und so gleite der ostdeutsche Staat langsam, aber unaufhaltsam in den westdeutschen hinüber.

Auch aus Honeckers Politbüro kam kräftige Kritik, aber nur selten offen. „EH verschaukelt uns und die sowjetischen Genossen“, sagte Mielke 1980 zu Stoph. Honecker sei nicht hart genug gegen Bonn und suche eine „Sonderrolle“ im sozialistischen Lager, meinten andere. Er verhalte sich nicht aufrichtig zur Sowjetunion und gerate „in den Sumpf des Nationalismus“. Und schließlich: „Es ist ein Paradoxon, daß ein eingefleischter Westdeutscher an der Spitze der DDR steht“, so das Politbüro-Mitglied Krolikowski im März 1983. Aber Honecker ließ sich nicht beirren und tat weiter, was Julij Kwizinskij mit einem fatalen Bild beschrieb: „Die DDR schluckte den goldenen Angelhaken immer tiefer, von dem sie dann nicht mehr loskam.“

Aber möglich wurde das nur, weil es einen goldenen Angelhaken gab. Die Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl erlaubten der DDR-Führung nicht nur, Hilfe in Bonn zu suchen; sie ermunterten dazu, luden förmlich ein und dachten sich immer neue Geschäfte aus, die den Ostdeutschen Erleichterungen und Ost-Berlin Geld und Prestige brachten.Bonns Politik der Umarmung hat das Ende der DDR nicht verursacht, aber dabei mitgewirkt. Gerade weil die Bundesrepublik nicht mehr der Todfeind, sondern der Retter war, hat sie die innere Auflösung des SED-Staats vorangebracht; gerade weil sie die DDR nicht zu Fall bringen wollte, hat sie deren Zusammenbruch gefördert. Die deutsch-deutsche Politik bestand wie fast alle Politik aus beiderseitigem Geben und Nehmen; keiner bekam etwas umsonst, die entscheidende Frage war nur, wer den höheren Preis zu entrichten hatte. Bonn zahlte mit D-Mark und Ehrenbezeigungen, Ost-Berlin war genötigt, die Fundamente der Parteiherrschaft anzugreifen: Es konnte die Distanz zum überlegen verführerischen Westen nicht hinreichend wahren, geriet in wirtschaftliche Abhängigkeit von der Bundesrepublik und entfremdete sich der Schutzmacht Sowjetunion. Bonn zahlte mit Leistungen, die es wenig kosteten, OstBerlin zahlte mit Zugeständnissen, die dem SED-Kommunismus ans Leben gingen.

Wenn man unter den vielen Formeln, die im Laufe der Jahrzehnte für die Deutschlandpolitik geprägt wurden, die passende sucht, stößt man auf Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“. Die DDR hat sich seit den siebziger Jahren nicht reformiert, doch sie hat sich im Klima und unter den Anforderungen der Entspannung ruiniert -es war ein Wandel bis zur Selbstauflösung, der sich im Prozeß der Annäherung an die Bundesrepublik vollzog.

Die Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl glaubten nicht, daß sie die DDR zerstören könnten; aber sie wollten die Annäherung an sie auch in der stillen Hoffnung auf Einwirkung und allmählichen Wandel dort. Honecker mußte die Annäherung dulden, weil Bonn ihm ökonomisch und politisch weiterhalf, doch er trieb damit seinen Staat in einen existenzbedrohenden Wandel. Er hing an dem goldenen Angelhaken, den die drei Kanzler ausgelegt hatten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Bender, Dr. phil., geh. 1923; seit 1954 Journalist. Veröffentlichungen u. a.: Offensive Entspannung, Möglichkeiten für Deutschland, Köln 1964; Neue Ost-politik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986; Unsere Erbschaft. Was war die DDR -was bleibt von ihr?, Hamburg 1992.