I. Ausgangslage
Der Konjunktureinbruch des letzten Jahres und die verminderte Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts haben zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland -wie auch in anderen europäischen Staaten (1993 waren in Europa insgesamt mehr als 17 Millionen Menschen ohne Arbeit) -geführt. Die zunehmende Erwerbslosigkeit stellt ein schwerwiegendes wirtschaftliches und soziales Problem dar, dem aus zwei Gründen derzeit besondere Aufmerksamkeit gelten muß: 1. Wenn in den absehbaren weiteren Verlauf dieser Entwicklung nicht bald und wirksam eingegriffen wird, dann drohen uns ihre negativen Konsequenzen nachhaltiger zu beschäftigen als der Entlastungseffekt aufgrund einer vielleicht besseren konjunkturellen Entwicklung in 1994/95. 2. Mit dem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit wird der Druck auf Wirtschafts-und Geldpolitik zunehmen, „etwas zu tun“. Wichtig ist, daß das Richtige getan wird -dies auch angesichts der Gefahr in unseren Nachbarländern, daß nach britischem Vorbild mit aggressiver Zinssenkung und dadurch verursachter Abwertung ein falscher Weg gegangen wird. 1993 hatten wir in Westdeutschland im Jahres-durchschnitt knapp 2, 3 Millionen Arbeitslose (Arbeitslosenquote: 7, 3 Prozent), in Ostdeutschland (ohne die durch Maßnahmen der Arbeitsmarkt-politik -wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kurzarbeit, Altersübergangsgeld -vorübergehend aufgefangenen Erwerbslosen) über 1, 1 Millionen (15, 1 Prozent). Für Gesamtdeutschland ergab sich damit eine durchschnittliche Arbeitslosenzahl von 3, 4 Millionen (8, 8 Prozent) bei weiter steigendem Trend. Im Januar 1994 betrug die Zahl der Arbeitslosen bereits 4 Millionen (2, 7 Millionen in Westdeutschland und 1, 3 Millionen in Ostdeutschland). Allein in Westdeutschland ist sie damit seit ihrem Tiefststand im Frühjahr 1991 bis Januar 1994 um rund. 1 Million gestiegen. Am stärksten ist der Beschäftigungseinbruch in der vom internationalen Wettbewerbsdruck gebeutelten Industrie. Hier sind binnen Jahresfrist 10 Prozent der Arbeitsplätze verlorengegangen.
Aller Voraussicht nach wird die Arbeitslosigkeit bis weit in das Jahr 1995 hinein weiter ansteigen. Schon 1994 wird die Arbeitslosenquote in Gesamt-deutschland im Jahresdurchschnitt 10 Prozent erreichen (mit rund 8, 6 Prozent in Westdeutschland und rund 15, 5 Prozent in Ostdeutschland). Und aus heutiger Sicht wird die deutsche Wirtschaft auch dann, wenn es 1994/95 zu der erhofften Belebung kommt, in den nächsten Jahren nicht genügend neue Arbeitsplätze schaffen, um eine weitere, wenn auch langsamere Zunahme der Beschäftigungslosigkeit verhindern zu können.
Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit liegt in Westdeutschland heute bei über einem Jahr (12, 4 Monate). Von den gesellschaftlichen Kosten und dem politischen Radikalisierungspotential einmal ganz abgesehen, werden die direkten finanziellen Kosten dieser Arbeitslosigkeit -ohne Sozialhilfe -in diesem Jahr schon bei 65 Milliarden D-Mark liegen. Das -aus dem Bundeshaushalt zu deckende -Defizit der Bundesanstalt für Arbeit betrug 1993 bereits rund 25 Milliarden D-Mark und wird 1994 trotz der Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung einen ähnlichen Betrag erreichen.
Besonders bedrohlich ist der steile Anstieg der sogenannten Sockel-Arbeitslosigkeit, also der Arbeitslosigkeit, die auch in konjunkturellen Hochphasen verbleibt.
-Im Konjunkturhoch vor der Rezession 1974/75 betrug die Arbeitslosenquote nur 0, 8 Prozent, ihr höchster Punkt erreichte 4, 4 Prozent.
-Vor der Rezession 1981/82 war die Arbeitslosigkeit auf dem Tiefpunkt mit 3, 0 Prozent bereits fast viermal so hoch, und auf dem Höhepunkt betrug sie 8, 3 Prozent.
-Dieses Mal ist die Arbeitslosenquote selbst im Wiedervereinigungsboom nur noch auf 5, 5 Prozent zurückgegangen, und sie wird allein in Westdeutschland weiter auf 8, 6 Prozent im Schnitt ansteigen.Die Aussage, daß die Arbeitslosigkeit bei uns immer weniger ein konjunkturelles und zunehmend ein strukturelles Problem ist, ist inzwischen fast zum Allgemeinplatz geworden. Aber was heißt das?
Natürlich spielt die Konjunktur eine wichtige Rolle. Die Industrieproduktion ist seit dem Höhepunkt der Konjunktur (1. Quartal 1992) bis Ende 1993 um über 10 Prozent gesunken, in der Metall-industrie sogar um knapp 20 Prozent. Die Kapazitätsauslastung liegt bei nur noch 78 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt war 1993 fast zwei Prozent niedriger als im Vorjahr; damit handelt es sich um die schwerste Rezession der Nachkriegszeit.
In dieser Lage stecken wir -allen Warnungen der letzten Jahre zum Trotz -in der Falle konjunktur-politischer Handlungsunfähigkeit. Wirtschaftsund Sozialpolitik haben auf die vereinigungsbedingten Lasten falsch reagiert. Die Finanzpolitik wie auch die Lohnpolitik haben im einigungsbedingten Boom den Blick über den Tag hinaus unterlassen. Ausgabensenkungen wurden nicht rechtzeitig und nicht in dem notwendigen Ausmaß vorgenommen, so daß die Haushaltsdefizite auf neue Höchststände anstiegen. Überhöhte Lohnabschlüsse kamen hinzu und führten zu einer Verstärkung des inflationären Auftriebs, worauf die Geldpolitik hart restriktiv, nämlich mit einer drastischen Erhöhung der Zinsen, reagierte. Angesichts des langsamen Rückgangs der Inflationsrate und des starken Wachstums der Geldmenge wird die Bundesbank ihre seit Herbst 1992 eingeschlagene Politik, die Leitzinsen nur langsam und schrittweise zu senken, weiter fortsetzen. Das klassische Instrumentarium der Konjunkturpolitik -Ausgabenprogramme, Steuersenkungen, expansive Geldpolitik -steht damit nicht zur Verfügung. Schon deshalb ist eine schnelle Erholung der deutschen Wirtschaft unmöglich. Wir rechnen für 1994 mit -bestenfalls -einem Prozent Wachstum im Westen und acht Prozent in Ostdeutschland, was für Gesamtdeutschland eine Wachstumsrate von 1, 5 Prozent ergibt.
II. Strukturschwächen als tiefere Ursache der wirtschaftlichen Krise
Auf das Konjunkturtief drücken jetzt zusätzlich strukturelle Schwächen, die immer deutlicher werden. Dazu nur zwei Zahlen:
Von 1990 bis 1993 sind die gesamten Industriegüterimporte in unseren Abnehmerländern um ca. acht Prozent gestiegen. Gleichzeitig sind aber die deutschen Industriegüterexporte in diese Länder um rund vier Prozent gesunken. Das heißt, die deutschen Exporte haben allein in diesen wenigen Jahren etwa 12 Prozent Marktanteile im Ausland verloren. Seit Jahren wird -auch von uns -vor dem schleichenden Verlust unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit gewarnt. Schleichend kann man diese alarmierende Entwicklung allerdings nicht mehr nennen.
Die erste, vordergründigste Erklärung hierfür ist die relative Stärke der D-Mark in den letzten Jahren. Mit einer starken D-Mark hat die deutsche Wirtschaft aber seit dem Ende der sechziger Jahre zu leben gewußt. Wichtiger ist wohl, daß es in der jüngsten Phase keine Entlastung mehr von der Lohnkosten-und Preisseite gab. Früher stiegen die Lohnkosten und Preise in Deutschland regelmäßig geringer als bei unseren Handelspartnern, so daß die deutschen Unternehmen trotz Aufwertungen der D-Mark ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit wahren konnten. Dagegen kumulieren sich nun negative Wechselkurs-und Kosteneffekte: Zur Aufwertung der D-Mark kommt ein Kostenanstieg, der über das Ausmaß hinausgeht, das die mit uns konkurrierenden Länder verzeichnen. Mit einem solchen Doppelproblem ist die deutsche Wirtschaft zum ersten Mal konfrontiert.
Das Durchschlagen dieser Preis-/Kostensituation auf die Ausfuhr und damit auf die Beschäftigungssituation führt zur entscheidenden Ursache der negativen Entwicklung: dem abnehmenden Anteil von preisunempfindlichen Spitzenprodukten an der deutschen Gesamtausfuhr. Deutsche Produkte verfügen immer weniger über einen Qualitätsvorteil gegenüber ausländischen Konkurrenzgütern, so daß durch Aufwertungen der D-Mark notwendige Preisanhebungen von den deutschen Unternehmen auf den Auslandsmärkten kaum noch durchgesetzt werden können bzw. zu rückläufigem Absatz führen. Immer mehr deutsche Produkte sind nur noch in einem intensiven Preiswettbewerb mit ausländischen Anbietern zu verkaufen.
Hersteller preisempfindlicher Produkte, die nicht über Innovationsvorsprünge oder vom Markt akzeptierte Qualitätsüberlegenheit verfügen, denken deshalb zunehmend über Produktionsverlagerungen ins kostengünstigere Ausland -insbesondere Osteuropa -nach; dies gilt vor allem in Branchen wie Textil-und Bekleidungsindustrie, Holz-und Möbelindustrie, Papierverarbeitung und für Zulieferer für den Maschinen-und Fahrzeugbau. Sie können die niedrigere Produktivität in diesen Ländern durch Maschinenimporte, Mitarbeiterschu- lung und Qualitätskontrolle am ehesten anheben. Andere Industrien werden folgen.
Direktinvestitionen in und Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa sind aber für unsere Arbeitsmarktprobleme derzeit noch unbedeutend, die entsprechenden Volumina noch klein. 1992 waren es erst 1, 5 Milliarden DM bzw. gut sechs Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen (bzw. 0, 4 Prozent der unternehmerischen Inlandsinvestitionen). Die Bedeutung dieses Trends liegt in seiner Zukunftsdimension. Der Kostendruck ist in vielen Unternehmen erst durch die Lohnrunden 1991 bis 1993 und die Aufwertungen der D-Mark im EWS seit September 1992 an die kritische Grenze gestoßen. Der Investitionsschub nach Osten kommt daher jetzt allmählich in Gang. Nach Umfragen der Industrie-und Handelskammern befassen sich in verschiedenen Regionen (Süd-westdeutschland, Niederrhein) allein über 50 Prozent der Unternehmen aus der Verbrauchsgüterindustrie mit solchen Plänen.
Für den deutschen Arbeitsmarkt sind die Auslandsinvestitionen deswegen fatal, weil ihnen nur sehr geringe Ausländerinvestitionen in Deutschland gegenüberstehen. Deutschland kann nicht gleichzeitig Einwanderungsland für Arbeitskräfte und Auswanderungsland für Arbeitsplätze sein. Die deutsche Wirtschaft muß also ihre künftige Rolle in der internationalen Arbeitsteilung neu finden.
Dazu müssen wir folgende Eckpunkte sehen: 1. Die Produktionsverlagerung in Niedrigkostenländer ist für viele Unternehmen notwendig.
Sie stellen damit ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit -vor allem gegenüber Wettbewerbern aus Asien -wieder her. 2. Auch für unsere Volkswirtschaft insgesamt sind die Direktinvestitionen in Osteuropa sinnvoll.
Sie gehen in Deutschland nicht verloren: Die Alternative wären nicht Investitionen in Deutschland, sondern Marktanteils-und damit Arbeitsplatzverluste an kostengünstigere Wettbewerber im Ausland. Zudem wird die deutsche Industrie in den kommenden Jahren von der wachsenden Investitionstätigkeit in Osteuropa profitieren: Investitionsbedarf, Knowhow-Bedarf, Beratungs-und Finanzierungsbedarf werden zu verstärkten Exporten von Gütern und Dienstleistungen führen. Die deutschen Ausfuhren nach Polen, in die ehemalige Tschechoslowakei und nach Ungarn lassen diesen Trend erkennen: Sie waren in den ersten fünf Monaten 1993 um 19 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Jahres 1992, bei einem Rückgang des Gesamtexports um 13 Prozent.
3. Der große Lohnkostenunterschied ist kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein neues Charakteristikum der Weltwirtschaft. Wir können es nicht verhindern. Aber wir können es nutzen. Auch darin sollten wir von der japanischen Industrie lernen und Wettbewerbsnachteile wieder aufholen. Ähnlich wie Japan dies in Südostasien vorexerziert, können deutsche Unternehmen Kostenvorteile in den osteuropäischen Niedriglohnländern durch Investitionen vor Ort -u. a. für Zulieferungen -nutzen und auf diese Weise ihre globale Wettbewerbsfähigkeit verbessern.
Wir müssen sehen, daß nicht nur das Kapital als Folge der weltweiten elektronischen Vernetzung global mobil geworden ist, sondern zunehmend auch die Arbeit. Ingenieurstunden eines Konstruktionsbüros oder einer Software-Entwicklung werden nicht mehr im Sitzland des Unternehmens, sondern dort erbracht, wo sie in der notwendigen Qualität zum niedrigsten Preis angeboten werden. Die optimale Verknüpfung relativer Wettbewerbsvorteile von Land zu Land wird im internationalen Wettbewerb immer wichtiger, die Wirksamkeit nationaler Arbeitsmarktpplitik damit immer begrenzter. An Arbeit wird es -entgegen verbreitetem Vorurteil -auch künftig in Deutschland nicht mangeln. Im Gegenteil: Arbeitsvolumina und Arbeitsvielfalt sind in den letzten 200 Jahren seit der Industriellen Revolution mit jedem Innovationsschub kräftig weiter gestiegen. Auch diesmal werden im Zuge des notwendigen Strukturwandels neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze -beispielsweise im Dienstleistungssektor -entstehen. Gleichzeitig wird Arbeit auch künftig in Branchen wegfallen, die durch überhöhte Kosten im internationalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Das Tempo dieses Wandels scheint sich allerdings noch zu beschleunigen.
Wir stehen vor der dringend zu lösenden Aufgabe, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß neue Strukturen, neue Arbeitsmärkte auch in Deutschland entstehen können, wo die alten keine Arbeit mehr bieten. Diese Herausforderung wird noch immer zu wenig begriffen -sonst würden wir nicht weiterhin Wirtschaftspolitik zur Erhaltung veralteter Strukturen (Kohle, Stahl, Werften, Landwirtschaft) anstatt zur Förderung neuer betreiben. Denn eines zeigt die Diskussion über die Fülle der notwendigen Maßnahmen deutlich: Die Arbeits losigkeit ist auch und zuallererst das Ergebnis von über lange Jahre entstandenen Verkrustungen und Inflexibilitäten
Ob Zunftwesen und Innungen, staatliches Post-monopol oder Handels-und Gewerbegesetze: Institutionen, die zum Teil zuletzt im Kaiserreich -im 19. Jahrhundert -modernisiert wurden, sind jetzt daran zu messen, ob sie dem Quantensprung des Übergangs von der Mechanik zur Mikroelektronik und zur globalen Satellitenkommunikation gewachsen sind.
III. Ansatzpunkte für die Behebung der Arbeitsmarktprobleme
Das mit Abstand größte Problem ist die Verhinderung neuer Arbeitsplätze durch die Überregulierung der deutschen Wirtschaft 2. Ein Netz von Reglementierungen und Liberalisierungsrückstände in zentralen Dienstleistungsbereichen -der Telekommunikation, dem Verkehrssektor oder auch dem Einzelhandel -schränken die Flexibilität deutscher Unternehmen ein und wirken den Marktmechanismen entgegen. Diese Überregulierung hat zwei gravierende Folgen: -Sie behindert die industrielle Innovation und -verzögert die Entwicklung des tertiären Sektors in einem Ausmaß, daß die deutsche Volkswirtschaft hier gegenüber allen vergleichbaren großen Industrieländern inzwischen weit zurückliegt.
Wir leiden nicht nur unter der Verhinderung von Innovationsschüben wie in der Gentechnik oder Biotechnologie -mit der Folge, daß ganze Industriezweige ihre wertvollen Forschungsarbeitsplätze ins Ausland verlagert haben. Es geht auch nicht nur um die notwendige Förderung arbeitsplatzträchtiger Technologien wie Magnetbahn, elektronische Verkehrsleitsysteme, Informationsnetze etc. Es geht quantitativ, aber auch qualitativ wohl vor allem um die Innovationsfähigkeit des Mittelstandes. 99 Prozent der deutschen Unternehmen sind mittelständische. Der mittelständische Unternehmer, dessen Managementkapazität durch ständig neue Anforderungen und Auflagen im Steuer-, Bau-, Gewerbe-und Sozialrecht voll beansprucht wird, der in einem wenig innovationsfreundlichen Klima jahrelang um Baugenehmigungen, Betriebslizenzen, TÜV-Abnahmen u. a. m. kämpfen muß, der weder seine Arbeitskräfte noch seine Maschinen flexibel disponieren darf -dieser mittelständische Unternehmer wird in die Defensive gezwungen und muß sich auf Kostensenkungen, Rationalisierungen, Arbeitskräfteabbau konzentrieren. Welcher Raum bleibt ihm für zukunftsorientiertes risiko-und innovationsfreudiges Handeln?
Im Mittelstand werden 64 Prozent aller Arbeitsplätze unterhalten. Deshalb ist die Kemaufgabe angesichts unserer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit diese: die notwendigen Freiräume wieder herzustellen, die Unternehmer brauchen, um sich auf die Anforderungen der Zukunft konzentrieren und neue Arbeitsplätze schaffen zu können.
Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, wirksame Schwerpunkte zu setzen. Der wirksamste Ansatzpunkt ist der sogenannte Dienstleistungssektor. Er ist in Deutschland eine weithin vom Staat beherrschte und überregulierte „Veranstaltung“. Die Erfahrungen in anderen Industrieländern zeigen, daß hier zuerst neue Unternehmen entstehen, daß wichtige Innovationen von den „Turnschuh-und Garagenunternehmern“ kommen, die es eben in Deutschland nicht gibt. Wir haben erheblich weniger Arbeitsplätze im tertiären Sektor als die meisten anderen Industrieländer. Dem entspricht ein hohes Außenhandelsdefizit bei Dienstleistungen. Die USA erzielen einen Exportüberschuß von rund 30 Milliarden US-Dollar mit Filmen, Telefon-und Datendiensten, Software sowie Finanz-und sonstigen Dienstleistungen. Wir erwirtschaften hier ein Defizit von 20 Milliarden US-Dollar. Hier rächt sich der oben angesprochene deutsche Rückstand bei Liberalisierung und Privatisierung von Verkehrswesen, Telekommunikation etc.
Gleichzeitig verhindern wir auch bei den einfachen Dienstleistungen eine Aufnahme der schwer zu vermittelnden minderqualifizierten oder Teilzeitarbeit suchenden Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt. Seit langem weisen wir z. B. darauf hin, daß die Arbeitslosenstatistik auch eine Gruppe von rund einer viertel Million Teilzeitarbeit suchenden Frauen enthält, die von einer Abschaffung des Ladenschlußgesetzes profitieren würden. Das Ladenschlußgesetz aber wird von einigen wenigen Interessengruppen nach wie vor erfolgreich vertei digt. Wir müssen deutlicher machen, daß solcher Gruppenegoismus nicht nur für den Verbraucher, sondern auch für den Arbeitsmarkt negative Folgen hat.
Es geht hier nicht darum, die lange Reihe von abzuschaffenden Regulierungen aufzuführen. Verwiesen sei nur auf die nahezu hundert Vorschläge der Deregulierungskommission. Es geht darum, die wachsende Brisanz des Arbeitslosenproblems so einsichtig zu machen, daß ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem das Ladenschlußgesetz sowie Gewerbe-und Handwerksordnung liberalisiert und die Überregulierungen der beratenden Berufe, der technischen Prüfer und Sachverständigen sowie des Bau-, Tarif-, Arbeits-, Sozial-und Steuerrechts abgebaut werden können, ohne jedesmal am Egoismus spezieller Interessengruppen zu scheitern.
Bisher beobachten wir das Gegenteil -jetzt wieder augenfällig bei den dringlichen Bemühungen, den überbürokratisierten Arbeitsmarkt selbst flexibler und funktionsfähiger gestalten. Die Bundesregierung versucht, mit dem Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes mehr Flexibilität zu ermöglichen: Erleichterung von Sonntags-und Nachtarbeit, Ausdehnung der maximalen Tages-und Wochen-arbeitszeit mit größerem Ausgleichsspielraum, Erleichterung kontinuierlicher Fertigungen -Stichwort längere Maschinenlaufzeiten. Auch dieses Vorhaben ist von parteipolitischen Querelen und Gruppeninteressen bedroht. Der Bundesrat hat dazu über sechzig Änderungswünsche angemeldet. Die Ministerpräsidenten der Länder müssen sich fragen lassen, ob sie das für verantwortungsvolle Politik zur Minderung des Arbeitslosenproblems halten.
Ein weiteres Zwangskorsett des Arbeitsmarktes ist die deutsche Tradition, dem Arbeitsamt, d. h. einer inflexiblen Staatsbehörde, ein Monopol für die Arbeitsvermittlung einzuräumen. Die Effizienz des Arbeitsmarktes könnte schnell erheblich gesteigert werden, wenn Vorschläge zur Beseitigung dieses Monopols und zur Erlaubnis auch privater Arbeitsvermittlung endlich realisiert würden. Es ist zu begrüßen, daß die Bundesregierung -nachdem sie zunächst nur einen zeitlich und regional begrenzten Modellversuch starten wollte -im Januar angekündigt hat, das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit noch in dieser Legislaturperiode gänzlich aufheben zu wollen.
Ein monopolistisches System, das der Schaffung neuer Arbeitsplätze hinderlich ist, ist auch das deutsche Tarifvertragswesen. Es schützt im Ergebnis diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, vor der Konkurrenz derer, die Arbeit suchen. Die zunehmenden Austritte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus den Tarifvertragsorganisationen zeigen, daß die Zweifel an diesem System wachsen. Bewährte Elemente daraus sollten sicher erhalten bleiben. Aber auch hier geht es um zukunftsorientiertes Aufbrechen von Verkrustungen. Die Diskussion des Arbeitslosenproblems muß natürlich auch eine Betrachtung der Löhne und Lohnnebenkosten einschließen. Deutschland weist die höchsten Arbeitskosten weltweit auf. Dies liegt unter anderem an den hohen Personalzusatzkosten, die im Durchschnitt rund 84 Prozent des Direktentgeltes ausmachen. Bei den Nebenkosten ist im Laufe der Zeit ein Wildwuchs von zahlreichen Einzelkosten entstanden, der in der Summe von vielen Unternehmen nicht mehr durchzuhalten ist und deshalb jetzt von vielen Betrieben durchforstet wird.
Der entscheidende Punkt sind aber die Kosten der sozialen Sicherung. Die Sozialbeiträge lagen 1970 einmal bei 26, 5 Prozent des Einkommens; 1994 werden sie auf 40 Prozent steigen. Wir werden angesichts dieses Kostendrucks um eine generelle Überprüfung vor allem der Alterssicherungssysteme und des Gesundheitswesens nicht herum-kommen. Andernfalls würden durch die eingebauten Automatismen die Kosten des Faktors Arbeit so hoch getrieben, daß es noch weniger Investitionen und noch mehr Arbeitslose gäbe, daß die Zahl der Beitragszahler weiter ab-statt zunähme, damit zugleich die sozialen Kosten aber noch weiter stiegen. Wir müssen den Sprengsatz dieser Zeitbombe entschärfen, bevor es in wenigen Jahren vielleicht schon zu spät ist.
Zu den Lohnkosten selbst: Ich nenne sie erst an dieser Stelle, denn die direkten Lohnkosten sind eine, aber nicht die einzige Ursache unserer hohen Arbeitslosigkeit. Das deutsche Lohnniveau ist zehn-bis zwanzigmal so hoch wie in Osteuropa und auch bei Adjustierung um Produktivitätsunterschiede immer noch erheblich höher als etwa in den hoch wettbewerbsfähigen asiatischen „Tigerländern“ (Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan). Den Ansatzpunkt zur Überwindung dieser Differenz müssen wir primär in den gerade genannten Bereichen suchen.
Es führt aber -auch mit Blick auf die niedrigeren Lohnkosten in unseren hochindustrialisierten Nachbarländern -kein Argument daran vorbei, daß die deutschen Löhne wieder in Einklang gebracht werden müssen mit der erwirtschafteten Produktivität. Auf dem Gebiet der Produktivitätssteigerung hat die deutsche Industrie immer wieder Vorbildliches geleistet. Das läßt die Erwartung zu, daß viele der in den letzten Jahren entstandenen Rückstände mit Hilfe der eingeleiteten energischen Maßnahmen bald wieder aufgeholt werden können. Ein ausreichendes Maß an Innovation -auch Prozeßinnovation -muß aber hinzukommen. Dies bedingt höher qualifizierte Arbeitnehmer.
Ganz entscheidend ist deshalb die Anpassung der Qualifikation der Arbeitnehmer. Je weniger wir bereit sind, die Höhe der deutschen Löhne in Frage zu stellen, desto mehr müssen sie durch Qualifikations-und Produktivitätssteigerung tragbar gemacht werden. (An dieser Stelle kann ein Hinweis auf notwendige Reparaturen des deutschen Bildungssystems nicht unterbleiben: Man braucht nur Niveau und Alter deutscher Universitätsabsolventen mit denen in wichtigen Konkurrenzländern zu vergleichen.) Dazu gibt es umfangreiche konkrete Empfehlungen, deren Umsetzung ebenfalls zu wünschen übrigläßt.
Ein Mangel der derzeitigen Diskussion über Maßnahmen zur Förderung der Arbeitnehmerqualifikation liegt darin, daß meist nur davon die Rede ist, was der Staat, die Unternehmen, die Arbeitgeber zu veranlassen haben. Das greift zu kurz. Die Uniformität der Arbeitsbedingungen des industriellen Arbeitsprozesses wird mehr und mehr eine Sache der Vergangenheit -und nicht nur da, wo „home work stations“ und ähnliche Individualisierungen der Arbeitsverhältnisse zu neuen Arbeits-und Lebensformen führen. Wir müssen deshalb deutlich machen, daß der einzelne, der Betroffene selbst, seine Zukunft wieder mehr als in der Vergangenheit in die eigenen Hände nehmen muß.
Wir müssen den Anreiz zur Aufnahme von Arbeit erhöhen und die Rahmenbedingungen dafür verbessern. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe ergibt sich aus ihrer Dimension. Es wäre ein kostspieliger Irrtum zu meinen, wir könnten längerfristig 10 Prozent oder mehr Arbeitslose zu den heute geltenden Sätzen in der Arbeitslosigkeit alimentieren. Wenn wir den gegenwärtigen Entwicklungstrend noch über Jahre fortschreiben, wird unsere soziale und politische Stabilität erheblichen Belastungen ausgesetzt sein. Das gilt es zu verhindern.