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Das Volk und seine Vertreter: eine gestörte Beziehung | APuZ 11/1994 | bpb.de

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APuZ 11/1994 Was bewegt die Wähler? Das Volk und seine Vertreter: eine gestörte Beziehung Politische Partizipation und Wahlverhalten von Frauen und Männern

Das Volk und seine Vertreter: eine gestörte Beziehung

Werner J. Patzelt

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Daß sich die Bürger heute enttäuscht von Parlamenten und Abgeordneten geben, steht außer Frage. Umgekehrt sind nicht wenige Parlamentarier enttäuscht von den Bürgern. Wie kommt es zu dieser gestörten Beziehung? In acht Thesen wird eine Antwort zur Diskussion gestellt. Die Bürger haben recht wenig Wissen über die Wirklichkeit des Funktionierens von Parlamenten und über die Praxis der Abgeordnetentätigkeit. Die empfundenen Enttäuschungen sind darum selten Enttäuschungen präziser Erwartungen, sondern sie werden in der Regel bloß als wenig durchdachte Formulierung von Unmut und Unzufriedenheit vorgetragen. Dabei leisten die Massenmedien Formulierungshilfe und tragen ihrerseits durch die Art ihrer Präsentation von Parlamenten und Abgeordneten zu falschen Erwartungen bzw. Enttäuschungen bei. In der Folge kommen gerade die politisch Interessierten oft zu falschen Lagebeurteilungen und mißweisenden Verbesserungsvorschlägen. Doch auch die Abgeordneten selbst können die Wirklichkeit des deutschen Parlamentarismus nicht befriedigend darstellen und bleiben wichtige Beiträge zur Politikvermittlung wie zur politischen Bildung schuldig. Überdies werden sie ihrerseits oft von den Bürgern enttäuscht, welche die ihnen zukommende Rolle als Aktivbürger nicht übernehmen wollen. Angesichts all dessen nutzen Sündenbekenntnisse und Bußübungen von Politikern wenig; vielmehr kommt es ganz wesentlich an auf Kritik am Kenntnisstand und Erwartungshorizont der Bürger sowie auf größere Informationsanstrengungen und Aufklärungsbemühungen von Politikern, Publizisten, Politikwissenschaftlern und politischen Bildnern.

Daß sich Bürger heute enttäuscht von Parlamenten und Abgeordneten geben, steht außer Frage. Daß sie ein Stück weit enttäuscht sind, wird auch wahr sein. Umgekehrt sind nicht wenige Parlamentarier enttäuscht von den Bürgern. Kurzum: im Verhältnis zwischen dem Volk und seinen Vertretern ist vieles nicht recht beisammen, was doch zusammengehört.

Bei einer bloßen Feststellung oder zynischen Kommentierung dieser Malaise darf man es freilich nicht bewenden lassen. Erstens geht es hier um die Legitimitätsgrundlagen unseres politischen Systems: Enttäuschen Abgeordnete und Bürger einander wechselseitig allzu oft, so wird das gesellschaftliche Fundament eines Parlaments brüchig und verfällt zunächst seine Autorität, dann seine politische Rolle. Zweitens gilt es nun, in Deutschland ein weiteres Mal Demokratie zu gründen. Niemand kann aber annehmen, die Institutionen parlamentarischer Demokratie schlügen in den neuen Bundesländern leicht Wurzeln, wenn dauernd Störungen der Beziehungen zwischen Bevölkerung und Parlament, zwischen Bürgern und Abgeordneten, zwischen Volk und Parteien zu melden sind. Nötig ist darum eine Diagnose der Störungen, die es offensichtlich im Verhältnis zwischen Abgeordneten und Bürgern gibt. Sie läßt sich in acht Thesen zusammenfassen

I. Informationsmängel und Mißverständnisse der Bürger

Die erste These lautet: „Es besteht in der Bevölkerung recht wenig Wissen über die Wirklichkeit des Funktionierens von Parlamenten und über die Praxisder Abgeordnetentätigkeit. “ Zwar ist das politische Interesse im Lauf der Jahre gestiegen, fiel aber seit 1983 wieder. Alles in allem interessiert sich -nur oder immerhin -rund die Hälfte der Wahlberechtigten für Politik. Männer tun dies stärker als Frauen, wobei politisches Interesse positiv mit der Wahlbeteiligung zusammenhängt.

1990 sagten 57 % der Bevölkerung, sie informierten sich laufend über das, „was so ganz allgemein in der Politik geschieht“, und 33%, daß sie sich über , bestimmte Fragen 6 eingehender informierten Über , die Abgeordneten im besonderen 6 informierten sich im Jahr 1978 regelmäßig -wie eigentlich? -15 % der Bürger, während es zwei Dritteln gleichgültig war, ob sie mehr oder weniger darüber erfahren könnten Eigentlich nur dann, wenn Umfragen Politikbereiche betreffen, die -wie etwa Wahlen -wiederholt erfahrbar sind, weist ungefähr ein Drittel der Bevölkerung über kurzfristige Informiertheit hinaus einschlägiges Wissen auf, während bei Sachverhalten, die von tagespolitischer Aktualität unabhängig sind, sich dieser Anteil auf 20-25 % der westdeutschen Bevölkerung reduziert und in Ostdeutschland verständlicherweise noch geringer liegen wird.

Schüttemeyer kommt -Daten wie diese auswertend -zum Schluß, daß nur ein Fünftel bis maximal ein Drittel der Bevölkerung in den Altbundesländern halbwegs fundierte Kenntnisse über das Parlament besitzt, die Masse aber „mit ihrer lücken-und fehlerhaften Perzeption eine positiv­ klischeehafte, schlimmstenfalls eine negativ-klischeehafte Einstellung zum Bundestag“ und zu seinen Abgeordneten hegt Folglich haben nach über 40 Jahren westdeutscher Demokratie die meisten Bürger immer noch keine soliden Kenntnisse über ihr politisches System und leben darum mit ihren Kommentierungspraktiken weit über den Verhältnissen ihrer politischen Bildung.

Zugleich -oder deshalb? -tragen sie die Behauptung der Politikverdrossenheit wie eine Monstranz vor sich her. Ob sie sich politisch echauffieren oder von Politik nichts mehr wissen wollen: Politikverdrossenheit rechtfertigt dies alles. Daß über Politik und Politiker verdrossen zu sein seinerseits gerechtfertigt sei, steht für die meisten außer Zweifel Nach Gründen zu fragen und fundierte Antworten zu verlangen, grenzt einen als Spielverderber oder hoffnungslosen Illusionisten aus. Derselbe Bürger, dem beim Kauf eines Staubsaugers oder CD-Players kein Preis-und Qualitätsvergleich gründlich genug sein kann: er kommt zu politischen Urteilen und Positionen mit einer Leichtigkeit, die an das Plappern von Kindern erinnert. Wenn nun Politiker, Publizisten und Politikwissenschaftler sich gar noch als Echo oder Resonanzboden jenes uniformierten Volksempfindens betätigen statt den nackten Kaiser nackt zu nennen, dann kann für die politische Bildung und Kultur nichts Gutes bewirkt werden.

Aus dem diagnostizierten Informationsmangel folgt die zweite These: „Enttäuschungen der Bürger über Abgeordnete sind selten Enttäuschungen präziser Erwartungen, sondern sie werden in der Regel bloß als wenig durchdachte Formulierung von Unmut und Unzufriedenheit artikuliert. “ Um so schlimmer ist dies, wenn Erwartungen an Parlamente und Abgeordnete ohnehin aus Mißverständnissen entspringen. Befragungen der bayerischen Abgeordneten im Jahr 1989 und der Abgeordneten aus den neuen Bundesländern im Jahr 1991 zeigen, daß Parlamentarier vor allem die folgenden Irrtümer und Mißverständnisse der Bürger hinsichtlich des Abgeordnetenamtes diagnostizieren: Abgeordnete müßten in jeder Hinsicht -auch moralisch -etwas Besonderes sein; sie müßten überall anwesend sein, alles wissen und können, und vor allem müßten sie dauernd der Meinung ihrer Zuhörer sein; ein Abgeordneter habe Weisungsbefugnisse gegenüber Behörden und könne selbst an Gerichtsurteilen etwas ändern, da er große Macht besitze; er könne ohne Rücksicht auf Mehrheiten, erzielte Kompromisse und parlamentarische Kompetenzen politische Positionen durchsetzen; er verfüge über einen großen Stab, eine umfangreiche Infrastruktur, enorme finanzielle Möglichkeiten und viele Privilegien; die Abgeordneten verdienten bei einer nicht sonderlich anspruchsvollen oder zeitaufwendigen Tätigkeit zu viel und sännen trotzdem dauernd auf weitere Gehaltserhöhungen; leere Plenarsäle zeugten von der Faulheit, Auftritte bei Festen im Wahlkreis von der unsoliden Amtsauffassung der Parlamentarier; und vor allem kümmerten sich Abgeordnete um den Kontakt zur Bevölkerung eigentlich nur vor Wahlen und stellten ansonsten, von Lobbyisten vereinnahmt, die Interessen des Volkes zugunsten anderer Interessen systematisch hintan.

Prüfte man demoskopisch, ob solche Sichtweisen die Meinung der Bevölkerung zutreffend widerspiegeln, würde man dieses Bild wohl bestätigt finden. Wer freilich Parlamente und Parlamentarier so sieht, der wird es schwer haben, von der Praxis des Parlamentarismus viel zu verstehen. Auf sein Urteil wird dann zwar wenig zu geben sein; doch massenhaft geäußert, verfestigt es sich zu einer . sozialen Tatsache 1, gewinnt es situationsdefinierende Eigendynamik und belastet die Beziehungen zwischen Volk und Volksvertretern. Denn alle diese Behauptungen sind so gut wie völlig falsch, sind Vorurteile und werden durch Untersuchungen der Abgeordnetentätigkeit, die sich auf ihren Gegenstand empirisch einlassen, klar widerlegt Solange die Bürger sie trotzdem wie gesichertes Wissen behandeln, solange sich für besonders aufgeklärt und kritisch hält, wer am eifrigsten mit jenen Sprechblasen hantiert, solange kann sich nichts zum Besseren wenden.

Welche konkreten Erwartungen richten nun aber -neben solchen Vorurteilen -die Bürger an Parla-mente und Volksvertreter? Im ganzen wohl, daß die von den Parlamenten getragenen und kontrollierten Regierungen ihre Arbeit tun, Probleme erkennen und lösen, daß sie Fehlentscheidungen und Skandale vermeiden, nicht das Bild heilloser Zerstrittenheit und Entscheidungsunfähigkeit bieten, und daß sich in der durchgeführten Politik die Prioritäten, Sichtweisen und Wünsche der Mehrheit des Volkes widerspiegeln. Hinsichtlich der im einzelnen an die Parlamentarier gerichteten Erwartungen aus der Bevölkerung zeichnen Befunde aus den Befragungen bayerischer und ostdeutscher Abgeordneter das folgende Bild:

Zunächst einmal geben sich die Parlamentarier keinen Illusionen über jenen Stellenwert hin, den sie in der Einschätzung der Bürger praktisch haben. Es ist ihnen klar, daß die meisten von den Volksvertretern gar nichts Besonderes erwarten, weil sie sich nämlich um Abgeordnete und Parlamente schlicht nicht kümmern und von der Politik im wesentlichen in Ruhe gelassen werden wollen. So gut wie gar nicht interessiert zumal die parlamentarische Arbeit eines Abgeordneten; allein dessen Wahlkreisaktivität kann fallweise die Aufmerksamkeit des Bürgers wecken. Doch auch dort hält sich des vertretenen Volkes Interesse in engen Grenzen und entzündet sich, wie auch sonst ja immer, vor allem an Skandalen. Kein Wunder, daß ihm dann auch nur die Skandale im Gedächtnis bleiben und sein Urteil prägen.

Für jene Minderheit, die sich an Abgeordnete wendet, gilt sodann: Vor allem will man -möglichst jederzeit -mit persönlichen Problemen an die Volksvertreter herantreten, und dabei erwartet man vollen Einsatz für die geäußerten Wünsche. Kommunen wollen die Beschaffung von Geldern, Vereine erwarten eine , Dekorationsfunktion bei Generalversammlungen und Jubiläen, die Parteimitglieder an der Basis stete Präsenz. Außerdem meinen die Bürger, daß sie nicht nur über Abgeordnete, sondern auch zu ihnen alles und nachgerade in jedem Ton sagen könnten: ein Parlamentarier soll als Blitzableiter und als Klagemauer fungieren. Dabei hat er stets ordentlich aufzutreten, nach Möglichkeit eine Respektsperson, • ohnehin von weit überdurchschnittlicher Integrität und letztlich ein Alleskönner zu sein, der sich dennoch mit möglichst wenig Geld zufriedengibt. Einige Interviewauszüge aus der Bayern-Studie von 1989 zeigen, wie Abgeordnete solche Anforderungen wahrnehmen: -Es werde „die Streßsituation des Abgeordneten nicht immer richtig gesehen... Man verlangt im Grunde genommen zuviel und ist in seiner Kritik gegenüber dem Abgeordneten auch etwas zu großzügig. Man möchte, daß er sich um jeden Kleinkram im Wahlkreis kümmert; man möchte, daß er ununterbrochen anzufassen ist; man möchte aber auch, daß er ein anständiger Familienvater ist und so weiter und so fort. Man verlangt, glaube ich, kaum von einem Berufsbild so viel wie von einem Abgeordneten. Und daß er dann nicht immer dem Ideal entspricht, das man von ihm verlangt, ist klar.“ -„Man stellt oft Ansprüche an den Abgeordneten, die schwer zu erfüllen sind. Man soll also nach Möglichkeit gut gelaunt sein, man soll immer kompetent sein, man soll nicht überheblich sein, man soll durchaus auch einmal einräumen können, daß man darüber jetzt nicht Bescheid weiß. Das darf man aber nicht zuviel, sonst heißt es, das ist ein rechter Pfeifenkopf, der weiß ja überhaupt nichts. Also das ist eine sehr bunte Mischung von Alleinunterhalter, wandelndem Lexikon, politisch kompetent, durchsetzungsfähig, eine gewisse Raffinesse sollte er... besitzen, ...seriös sollte er sein.“ -„Die Leute erwarten von einem, daß man unbegrenzt aufnahmefähig ist. Die sind unbarmherzig, wenn es darum geht, daß unsereiner auch mal Zeit braucht zu lesen, zu lernen, zu verdauen, nachzuarbeiten und so. Am liebsten würden die sozusagen einen ständig irgendwo haben als Vorzeige-oder Grüß-Gott-Kasper.“ -Man „erwartet von dem, daß er eine eierlegende Wollmilchsau ist, daß er alles kann und daß er sich einfach dann im Moment, im wichtigen konkreten Fall, für den einzelnen Bürger bewährt und ihm hilft und damit zeigt, daß er Einfluß hat, daß er aktiv und... vor allen Dingen erfolgreich ist. Und das ist auch ein Problem, warum... das Bild des Abgeordneten bei den Bürgern wohl nicht mehr den hohen Stellenwert hat, den es möglicherweise bisher in der Vergangenheit hatte: weil die Ansprüche einfach nicht in der Vielfältigkeit der Herausforderungen, der Aufgaben, bewältigt werden können.“

In der Tat kann solchen Anforderungen niemand genügen. Deshalb ist es von Bürgern und Medien zweifellos unfair, eine von so überzogenen Erwartungen und Maßstäben ausgehende Kritik an Parlamentariern allein diesen zuzurechnen und sich über die Maßlosigkeit des eigenen Urteils durch selbsterhöhende moralische Empörung schlicht hinwegzutäuschen. Doch auch -und gerade -unfaires Spiel prägt den Fortgang eines Matches und macht irgendwann beide Mannschaften verdrossen. Es wäre erstaunlich, hätte Politikverdrossenheit nicht auch in solchen überzogenen und mit Vorurteilen vermengten Erwartungen und Anforderungen eine Wurzel.

II. Zur Rolle der Medien

Die dritte These gibt an, wer bei dieser Kritik wesentliche Formulierungshilfe leistet und schon im Vorfeld die Kristallisationspunkte von berechtigtem wie unberechtigtem Unmut verfügbar macht: „ Die bei der Formulierung von, Bürgerenttäuschungen'benutzten Worthülsen stellen, ganz nach dem Stand derjeweiligen Themen-und Begriffskarrieren, die Massenmedien als Stichwortgeber alltäglichen Politisierens bereit. Ohnehin trägt ganz wesentlich die massenmediale Präsentation von Parlamenten und Abgeordneten zufalschen Erwartungen und damit zu Enttäuschungen bei. “ Einesteils gibt es Defizite und Lücken bei der Informationsvermittlung; andernteils werden der Bevölkerung recht konkurrenzlos Beschreibungsweisen und Deutungsmuster parlamentarischer Praxis angeboten, die den Blick auf die Funktionslogik eines parlamentarischen Regierungssystems und auf die Wirklichkeit des Abgeordnetenberufs eher verstellen als öffnen.

Zweifellos ist das Fernsehen die wichtigste Quelle politischer Information im allgemeinen und der Prägung populärer Parlamentsvorstellungen im besonderen. Freilich erzeugt es oft eher das gute Gefühl, informiert zu sein, als tatsächliche Informiertheit zu gewährleisten. Und praktisch ist wohl auch das gestiegene Interesse an Politik vor allem Ergebnis einer Art , Anpolitisierung durch das Fernsehen, das zugleich eine Bereitschaft fördert, über alle möglichen Fragen ein Urteil abzugeben, die mit dem tatsächlichen Grad der Informiertheit nur sehr lose verkoppelt ist. Dabei scheinen vor allem fünf Merkmale der Femsehberichterstattung das Verhältnis zwischen Bürgern und Volksvertretungen nachteilig zu beeinflussen

Erstens ist die Darstellung parlamentarischer Arbeit weitgehend auf das Plenum fixiert, ohne daß zugleich den Zuschauern klargemacht würde, dort sei allenfalls die Spitze des Eisbergs parlamentarischen Lebens sichtbar. Durch Kameraschwenks über leere Sitzreihen bestärkt das Fernsehen zweifellos das volkstümliche Vorurteil, Abgeordnete hätten im Plenarsaal gleich Schülern zu sitzen, dem Lehrer am Rednerpult zuzuhören und sozusagen von ihm zu lernen -seien aber offenbar, trotz ohnehin überzogener Besoldung, hierfür zu faul. Warum war es eigentlich bislang nicht machbar, in jede Berichterstattung über eine Plenardebatte mindestens einen Hinweis darauf einzustreuen, was die nicht im Plenarsaal anwesenden Abgeordneten wohl gerade tun? Solche aufklärenden Einfügungen in die Berichte über Plenardebatten wären durchaus ein erfolgreicher Weg politischer Bildungsbemühungen, ist doch das Interesse an Bundestagsdebatten quantitativ keineswegs unbeachtlich: ca. 4 Mio. Westdeutsche hatten in den siebziger und achtziger Jahren ihre Geräte eingeschaltet, wenn beim ZDF nach 19 Uhr und bei der ARD nach 20 Uhr in Sondersendungen oder verlängerten Nachrichten von Bundestagssitzungen berichtet wurde Bei Live-Sendungen in ARD und ZDF erreichen Übertragungen aus dem Bundestagsplenum immer noch Durchschnittswerte von knapp einer halben Million Zuschauern. Desinformierend wirkt, zweitens, auch so manche Standardkritik des Abendkommentars wie jene, bei der heutigen Plenardebatte habe man leider keine neuen Argumente gehört. Müßten Journalisten den Hörern oder Zusehern nicht viel eher nahebringen, daß es -von wenigen Aktuellen Stunden abgesehen -eher ein Zeichen gestörter Kommunikation wäre, wenn Informationen und Argumente erstmals im Plenarsaal zur Debatte gestellt würden? Ist dieser erste Kritikpunkt nur gedankenlos, so ist ein zweiter nachgerade töricht: daß man im Plenum eher Fensterreden halte, als die Kollegen zu überzeugen versuche. Zweifellos wäre nicht nur für die politische Bildung viel gewonnen, verzichteten Journalisten auf diese Standardformeln einer Pseudo-Kritik, wenn sie sich schon nicht dazu durchringen können, den Bürgern immer wieder die spezielle Textgattung der Plenarrede verständlich zu machen Ebenso schlimm sind, drittens, die der , schwarzen Pädagogik entlehnten Begriffe, welche von Journalisten immer wieder zur deutenden Beschreibung politischer Verhaltensweisen benutzt und den Bürgern zum Eigengebrauch angeboten werden. Wo ein Politiker Widerspruch erntet, bekommt er eine , schallende Ohrfeige, und wo politische Willensbildung gemäß pluralistischen Prinzipien abläuft, nämlich streitig, dort wird vom , Gerangel gesprochen. Dann ist dem Bürger natürlich klar, daß die Politiker sich bengelhaft balgen und von wirklich Erwachsenen -nämlich ihm selbst und den Journalisten -gouvernantengleich zur Ordnung gerufen werden müssen. Noch übler wirkt sich, viertens, für die Wahrnehmung von Politik bzw. Politikern wohl die Praxis des kurzen Fernsehinterviews aus. Niemand kann schließlich seine Einschätzung eines halbwegs komplexen Sachverhalts in 30 oder 90 Sekunden systematisch darstellen und begründen. Wer gesendet werden will, spitzt folglich zu und kultiviert Pointensucht. Dann freilich begreift der Bürger: höchstens frecher zu formulieren vermögen die Politiker; sie verstehen aber offenkundig von den Problemen nicht viel mehr als er.

Fünftens schöpft das Fernsehen keineswegs die Chancen aus, jenseits aktueller Chronistenpflicht auch Strukturwissen über die Funktionslogik und Mechanik unseres politischen Systems zu verbreiten. In Berichten über Biotope wird beispielsweise nicht vor der Aufgabe zurückgewichen, den Zuschauern vielfältig vernetzte Systeme und ihre Verletzlichkeit nahezubringen; und die Grundzüge des Aufbaus von Atomen und Galaxien, der Entwicklung von Sternen wie des Lebens darzustellen, gilt im Fernsehen nicht nur als lösbare Aufgabe, sondern sie wird in vielen beeindruckenden Sendungen auch mit Erfolg bewältigt. Doch bei der Darstellung politischer Systeme, etwa der Funktionserfüllung eines Parlaments, beläßt man es so gut wie immer -zumal auch in den politischen Magazinsendungen des Fernsehens -bei jenen Strategien des Geschichtenerzählens, der Personalisierung und Dramatisierung selbst struktureller Sachverhalte, welche schon die aktuelle Berichterstattung problematisch genug prägen. Aller Nutzen, den beispielsweise animierte Modelle in naturwissenschaftlichen Sendungen so oft stiften, scheint beim Konzipieren politischer Sendungen vergessen zu sein, obschon doch zumal parlamentarische Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse oder Rückkoppelungen zwischen politischen Führungsversuchen und demoskopischer Lagefeststellung sich auf diese Weise viel besser visualisieren ließen. Es sollte schon zu denken geben, daß eine Gesellschaft so wenig kritisch reflektiert, wie ihre beiden wichtigsten Lebensbereiche, nämlich Politik und Wirtschaft, in den Massenmedien präsentiert werden (im weiteren Sinne kämen noch der soziale Bereich sowie Wissenschaft und Technik hinzu). Kann sich eine pluralistische Demokratie und derart hochentwickelte Industriegesellschaft dies wirklich leisten?

Die Vermittlung parlamentarischer Politik durch die Massenmedien ist nun aber defizitär, und zwar nicht nur hinsichtlich des Parlaments und seiner Funktionen insgesamt, sondern stärker noch bezüglich der einzelnen Abgeordneten. In der 7. Legislaturperiode des Bundestages ergab eine Auswertung von 116 in-und ausländischen Zeitungen und 46 Presse-und Informationsdiensten, daß mindestens 45 % der MdB ohne Resonanz blieben; und auf der Grundlage der These, daß „erst eine Erwähnung in mehr als 200 Berichten im Verlauf von vier Jahren eine öffentlichkeitswirksame Darstellung bedeutet“, waren dies sogar 83 % der MdB Wie aber soll dann das auf die massenmediale Berichterstattung angewiesene Volk ein zutreffendes Bild von seinen Vertretern gewinnen?

III. Desinformation und falsche Therapievorschläge

Selbst wenn man die Behauptungen der dritten These nicht teilt, sind doch folgende Tatsachen unübersehbar, die es zu erklären und zu therapieren gilt. Diese Tatsachen formuliert die vierte These: „Als Folge der unzulänglichen Medienberichterstattung ist zumal die politisch interessierte Bevölkerung über den normalen Alltag des deutschen Parlamentarismus desinformiert. Ausgehend von dieser defizitären Berichterstattung kommt es darum zu falschen Beurteilungen der Lage und zu mißweisenden Verbesserungsvorschlägen. “

Unbefriedigend ist zunächst einmal die Einschätzung der Wichtigkeit von Parlamenten. 1982 glaubten beispielsweise nur 82 % der Bundesdeutschen, sie brauchten ein Parlament und Abgeordnete Hinzu kommen eklatante Mißverständnisse der parlamentarischen Funktionslogik und Rollenverteilung sowie Inkonsistenzen in den geäußerten Positionen. Unausrottbar scheint z. B. bei Bürgern -und leider oft auch bei Lehrern -die Vorstellung zu sein, dem Gedanken der Gewaltenteilung laufe es grundsätzlich zuwider, wenn Abgeordnete Ministerposten bekleideten. Was die blanke Selbstverständlichkeit gerade eines ordnungsgemäß funktionierenden parlamentarischen Regierungssystems ist, wird dergestalt wie ein tabuisierter Defekt kolportiert und nährt den Verdacht, das System bekunde andere Spielregeln, als es befolgt.

Und was soll man von folgendem Befund halten: 1980 stimmten 70% der Bundesbürger der Aussage zu, Aufgabe der Opposition sei nicht die Kritik der Regierung, sondern die Unterstützung von deren Arbeit. Dieser These hatten schon 1968 68% der Bundesbürger zugestimmt. Umgekehrt hielten zwei Drittel der Deutschen „eine Opposition, die die Regierung kontrolliert“, für einen wichtigen Bestandteil der Demokratie. Beides paßt natürlich nicht zusammen und belegt die Inkonsistenz des ohnehin unbefriedigenden Wissens der Bürger über ihr politisches System. Wenigstens meinten 85 % der Westdeutschen 1982, Opposition sei unbedingt notwendig, und nur 3%, daß „Regierung ohne Opposition“ besser sei; 12 % waren unentschieden. Außerdem stimmten damals 51 % der Bürger der Aussage zu: „Demokratie ist auf die Dauer in Deutschland nur möglich, wenn sich eine starke politische Führung über alle Gruppeninteressen hinwegsetzt.“ Natürlich ist auch dies eine falsche Wahrnehmung der Logik unseres politischen Systems: politische Führung soll sich über die einzelnen Interessen eben nicht einfach hinwegsetzen, sondern aus dem Streit durch Hinwirken auf Kompromißbildung und Mehrheitsentscheid allgemeine Verbindlichkeit herausarbeiten. Sodann meinten 1978 ganze 39% der Deutschen, die ansonsten doch so sehr die angebliche Einschränkung des freien Mandats durch erpresserischen Fraktionszwang beklagen, ein Abgeordneter solle bei einem Gesetzesbeschluß so abstimmen, wie er es für richtig halte. Wenn bekannt sei, daß die Bevölkerungsmehrheit für das entsprechende Gesetz sei, dann soll er sich indessen nach Ansicht von 52% dem Bevölkerungswillen entsprechend verhalten und durchaus nicht einer davon abweichenden eigenen Überzeugung folgen. Dieser Anteil steigt gar auf 62 %, wenn unterstellt wird, den Abgeordneten sei bekannt, daß die Bevölkerung gegen das fragliche Gesetz sei; dann meinten nur noch 29 % der Befragten, der Abgeordnete solle nach seinem eigenen Urteil abstimmen. Dergestalt wird faktisch ein von , der Bevölkerung verwaltetes imperatives Mandat gefordert, während man doch zugleich heftig für das , freie Mandat als Widerlager zum , Fraktionszwang argumentiert. Ferner werden seitens der Bürger oft die Rolle, das Selbstverständnis und das Arbeitsprofil von Abgeordneten falsch eingeschätzt. 1983 stimmten etwa 25 % der Westdeutschen , voll und ganz der These zu, im Grunde kümmerten sich die Politiker nicht um den Wählerwillen; 59% meinten, diese Behauptung stimme teilweise, und nur 11% lehnten sie ab. Zweifellos klingt diese Aussage für die Bürger negativ und nicht danach, die Politiker übten eben oberhalb des Streits einzelner Interessen gemeinwohlorientierte politische Führung aus. Läßt man die Befragten nur zwischen zwei Extremen wählen, so sieht die Einschätzung noch drastischer aus: 1978 stimmten 60% der Meinung zu, daß „sich Politiker nicht viel darum scheren, was Leute wie ich denken“, während nur 37% diese Aussage ablehnten, wobei hier jeweils Politiker insgesamt, nicht aber speziell Parlamentarier gemeint waren. Dies kontrastiert gewaltig zum zugleich populären Vorwurf, Abgeordnete und Parteien verweigerten opportunistisch wichtige Entscheidungen und räumten aus populistischen Gründen inhaltlich bedeutsame Positionen. Auf die Frage, wessen Interessen die Abgeordneten denn verträten, antworteten 1982 die Westdeutschen so: 26% , weiß nicht , 40% , Interessen der Bevölkerung 1, 2% , Interessen der Partei , und 22 % persönliche Interessen. 1988/89 fühlten sich mit ihren Ansichten und Anliegen vom Bundestag und seinen Abgeordneten 9, 7 % der Westdeutschen stark vertreten, 43, 3% mittelmäßig und 26, 6 % wenig bzw. gar nicht vertreten

Diese Einschätzungen der Bevölkerung heben sich scharf von der Selbstdarstellung der Abgeordneten ab. Denn 1991 schrieben sich 84, 3 % der ostdeutschen Abgeordneten , Einfühlung in die Anliegen der Bürger zu (Westberliner Abgeordnete: 70, 8 %), und 52, 9 % der ostdeutschen Abgeordneten gaben an, über die politischen Ansichten im Wahlkreis (sehr) gut Bescheid zu wissen. Die bayerischen Abgeordneten kamen 1989 hier gar auf einen Anteil von 76 %. Ferner erzielten bei ihren Reaktionen auf die These, Schwerpunkt ihrer Arbeit sei die Vertretung von Bürgerinteressen, 1991 die Westberliner Abgeordneten auf einer von 1 = , sehr stark bis 5 = , gar nicht reichenden Skala einen Mittelwert von 2, 5, die ostdeutschen Abgeordneten von 2, 7. Den Bürgern zu helfen, nannten 1991 unter den ostdeutschen Abgeordneten 84, 3 % ein wichtiges Motiv ihrer ins Parlament führenden politischen Laufbahn, unter den Westberliner Abgeordneten 68, 3 %; 1983 waren dies unter den bayerischen Landtagsabgeordneten sogar 96, 6%. Wiederum auf einer fünfstufigen Skala erhoben, verstanden sich 1990 die Westberliner Abgeordneten mit einem Mittelwert von 2, 3 als Bürgervertreter, die ostdeutschen Abgeordneten mit einem Mittelwert von 2, 0. Und im selben Jahr wandten die Abgeordneten in den neuen Bundesländern im Durchschnitt etwa ein Fünftel ihrer politischen Arbeit für den , Bürger-Service auf (für die Wahlkreisarbeit insgesamt: knapp 30%der politischen Arbeitszeit), bayerische Abgeordnete 1989 indessen für den , Bürger-Service 1 knapp 38 % und für die Wahlkreisarbeit gut 47 % Hält man die Abgeordneten nicht von vornherein für Schwindler, die anderen und im schlimmsten Fall gar sich selbst etwas vormachen, so läßt sich hier nichts anderes diagnostizieren als eine bestürzende Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit des Parlamentarismus und seiner Einschätzung durch die Bürger. Dann freilich können Reformansätze, welche die populären Vorurteile für bare Münze nehmen, nur kontraproduktiv wirken. Etwa wären Versuche, Vorwürfe zur , Faulheit der Volksvertreter durch deren bessere Präsenz im Plenarsaal zu entkräften, von der Natur der Sache her verfehlt. Und hält man sich vor Augen, wie aufwendig sich Parlamentarier um öffentliche Sichtbarkeit im Wahlkreis bemühen und wie schlecht besucht trotzdem ihre politischen Veranstaltungen sind, dann ist gegen die populäre These von der , Abgehobenheit der Abgeordneten'zweifellos die von einer nicht eingelösten Holschuld der Bürger zu setzen. Und als Fazit muß wohl -in einer Formulierung Heinrich Oberreuters -statt der Bürger-ferne der Abgeordneten eher die Abgeordneten-ferne der Bürger kritisiert werden. Somit geht es nicht darum, das fälschlicherweise Angemahnte mit gar noch untauglichen Mitteln herbeizuführen, vielmehr sind die falschen Bezugspunkte der Kritik zu verändern.

IV. Defizite der Parlamentarier

Doch, so lautet die fünfte These, „nicht nur das Volk, sondern auch die Volksvertreter hegen oft unzulängliche Vorstellungen vom Abgeordnetenberuf. Sie können das parlamentarische System, das sie doch selbst verkörpern, nicht klar beschreiben, haben kein bruchloses Verhältnis zu ihm und benutzen nicht selten ohne Sorge um deren Tauglichkeit einfach jene Formeln, die in der öffentlichen Debatte gerade modisch sind. Kraft ihrer Autorität als Experten des praktischen Parlamentarismus‘ reproduzieren sie dergestalt Vorurteile, statt sie durch Aufklärung um ihre Wirkung zu bringen. “ Nur auf zwei Beispiele sei verwiesen.

In Interviews mit der Möglichkeit, ausführliche freie Antworten zu formulieren, nach ihrem Verständnis von repräsentativer Demokratie befragt, kamen 1989 unter Bayerischen Abgeordneten und 1991 unter jenen der neuen Bundesländer bloß vage, oberflächliche und defensive Beschreibungen zum Vorschein. Überdies bekundet ein Großteil der deutschen Abgeordneten immer noch ein Parlamentsverständnis, das eher einer konstitutionellen Monarchie und bestenfalls einem (semi-) präsidentiellen Regierungssystems angepaßt ist. In der Bundestagsuntersuchung Dietrich Herzogs aus dem Jahr 1989 befürworteten nur 34 % der westdeutschen Bundesparlamentarier das Parlamentsmodell des parlamentarischen Regierungssystems, bei dem die Regierung aus dem Parlament hervorgeht und mit dessen Mehrheit zu einer Funktionseinheit verschmilzt, welcher die parlamentarische Opposition gegenübersteht. 39% indessen -12% mehr als 1968 -redeten einem Dualismus zwischen Gesamtparlament und Regierung das Wort, während 27 % ein ganz und gar wirklichkeitsfremdes Modell befürworteten, bei dem sich Koalition, Opposition und Regierung jeweils eigenständig gegenüberstehen Damit ist der Anteil derer, welche sich mit der Struktur des 1949 etablierten parlamentarischen Regierungssystems wirklich identifizieren, in zwanzig Jahren nur um ganze 5 % angestiegen! Wenn aber schon die Akteure unseres politischen Systems sich nicht hinter seine bewährten Strukturen stellen und eher schlecht als recht in der Lage sind, in allfälligen Diskussionen mit kritischen Bürgern dessen Grundzüge und Eigenart überzeugend zu beschreiben, dann bleibt natürlich viel sinnvolle politische Bildungsarbeit ungeleistet.

Zweitens gehen deutsche Abgeordnete mit dem Begriff , Fraktionszwang sehr merkwürdig um. Statt Wesen und Funktion der FraktionsSolidarität zu erklären, wird jenes negativ auszeichnende Etikett jeweils den anderen politischen Parteien angeheftet, um sich selbst von ihnen positiv abzuheben. Es behaupteten 1991 nämlich 67, 5 % der ostdeutschen Abgeordneten, bei den anderen Parteien sei , Fraktionszwang mehr oder minder üblich, und nur nach Ansicht von 11 % gibt es ihn auch bei anderen Parteien letztlich nicht (Westberliner Abgeordnete: 50, 3 % vs. 16, 5 %) 20. Doch in der eigenen Partei erkennen unter den ostdeutschen Abgeordneten bloß 22, 1 % einen bestehenden »Fraktionszwang, während ihn 58, 4% in Abrede stellen (Westberliner Abgeordnete: 26, 6 % vs. 55%). Traut man den Angaben der Befragten über die eigene Partei, so bleiben die Aussagen von 45, 4% der ostdeutschen Abgeordneten und von 23, 7 % der Westberliner Abgeordneten unerklärlich: in so vielen Fällen wird »Fraktionszwang nämlich reihum bei den anderen Parteien gesehen, für die eigene indessen bestritten. Können aber schon die Parlamentarier selbst nicht sich und anderen schlüssig erklären, was sie solidarisch zusammenhält, dann ist es kein Wunder, daß auch der Bürger wirklich glaubt, letztlich anonyme Kräfte zwängen die Parlamentarier unter ihre Knute, was diese, soweit selbst betroffen, heuchlerisch verschwiegen. Wenn also bereits das Amts-und Parlamentsverständnis der Abgeordneten derart defizitär ist: wie soll man dann hoffen, das Parlamentarismusverständnis der Bürger werde besser sein und von ordnungsgemäßer Praxis einlösbare Erwartungen zeitigen?

V. Enttäuschungen der Abgeordneten

Die sechste These lautet: „Die Erwartungen, die Abgeordnete an die Bürger richten, weisen diesen eine viel stärkere politische Rolle zu, als die Bürger sie auszufüllen bereit sind. Nicht nur die Abgeordneten enttäuschen also die Bürger, sondern auch die Bürger enttäuschen die Abgeordneten.“ Was die Abgeordneten von den Bürgern normativ, wenn auch realistischerweise nicht faktisch erwarten, zeigen die Angaben aus den 1989 bzw. 1991 durchgeführten Befragungen der Abgeordneten Bayerns bzw.der neuen Bundesländer. Nur drei wesentliche und meist enttäuschte Erwartungen seien erwähnt: -Erstens erwarten die Abgeordneten auf der normativen Ebene, die Bürger sollten sich gründlich informieren, sollten sich mit politischen Sachverhalten auseinandersetzen und rational wie auch kenntnisreich argumentieren. Oben wurde gezeigt, daß dem das tatsächliche Informationsverhalten der Bürger wie auch das Verhalten der Massenmedien keineswegs entspricht. -Zweitens wird normativ erwartet, die Bürger sollten bereit sein, sich in Vereinen, Verbänden und Parteien zu engagieren, um dergestalt gesellschaftliche und politische Verantwortung zu übernehmen. Die Vorstellung, daß ein Mann oder eine Frau sich politisch betätigt, gefiel 1992 aber ganzen 36% bzw. 45 % der Westdeutschen und von der bloßen Idee bis hin zur Tat ist es ein weiter Weg. Beispielsweise sind -bei sinkender Tendenz -in Deutschland nur 4% der Wahlberechtigten Mitglied einer Partei, wovon die Masse sich wiederum passiv verhält. Insgesamt nur 7 % der Westdeutschen betätigten sich 1990 in einer Partei, einem Verband oder Verein, wobei dieser Prozentsatz seit den siebziger Jahren stabil ist. 1990 gab nur jeder zehnte an, zumindest vor der letzten Bundestagswahl sich für eine bestimmte Partei engagiert zu haben; 1978 waren es noch 18 % In den neuen Bundesländern sind laut einer Aliensbacher Umfrage vom Oktober 1991 ohnehin 89 % der Bevölkerung nicht bereit, in eine Partei einzutreten. -Drittens wird von den Abgeordneten normativ erwartet, die Bürger sollten an politischen Veranstaltungen teilnehmen. Doch 1990 besuchten nur ganze 11% der Westdeutschen politische Vorträge, Diskussionen und Veranstaltungen, und nur 7 % -zumal jüngere Bürger -beteiligten sich immerhin an Protestdemonstrationen oder unterstützten protestierende Gruppen

Alles in allem wünschen sich die Abgeordneten also keineswegs eine geringere, sondern eine größere politische Aktivität der Bürger. Sie möchten durchaus, daß von möglichst vielen Deutschen die Rolle des Bürgers einer freiheitlichen Demokratie auch ausgefüllt werde, und keineswegs kann davon die Rede sein, der passive und bequeme Untertan sei ihnen am liebsten Doch 1990 wurden bloß 5 % der Westdeutschen bestimmter Anliegen willen wenigstens in Form von Briefen an Abgeordnete, Behörden oder die Öffentlichkeit politisch aktiv Ganz offensichtlich schreitet der Deutsche auf hohem staatsbürgerlichen Kothurn also nur

dann einher, wenn er Parlamente und Politiker kritisiert -verschwindet aber in den Kulissen, sobald er seinen Part übernehmen soll.

Wegen der so wenig beeindruckenden politischen Aktivität der Bürger geben die Abgeordneten viele Vorwürfe denn auch an diese zurück. Vor allem die folgenden Defizite diagnostizieren sie bei der Bevölkerung: -Die Bürger hätten keine richtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit des Abgeordnetenberufs, ergäben sich ungerechtfertigtem Neid gegenüber manchen seiner nur scheinbar schönen Seiten und pflegten vor allem ihre Ressentiments; -die Bürger seien über Politik zu wenig informiert. Sie wollten von Politikern und Abgeordneten im Grunde immer nur die eigenen Vorurteile bestätigt bekommen, sich aber nicht eines Besseren belehren lassen; -bei zu wenig eigener politischer Engagement-und Leistungsbereitschaft wüchsen die Ansprüche an Politik und Politiker trotzdem ständig; -und, so Zitate aus Interviews mit bayerischen Abgeordneten, „dem Bürger muß ich sagen: Er hat zwar recht, wenn er sagt, hier gibt’s mit vielen Bürgern keinen Kontakt. Aber das liegt nicht nur -oder in erster Linie -an den Abgeordneten, sondern das liegt am Bürger, der zwar das kritisiert, aber in aller Regel aus seinen vier Wänden nicht rausgeht.“

Aus allen diesen Befunden geht hervor, daß von den Beziehungen zwischen Bürgern und Parlament auch die Abgeordneten nicht wenig enttäuscht sind Im Unterschied zu mancherlei Bürger-enttäuschungen stützt sich die Frustration der Abgeordneten aber nicht auf falsche Vorstellungen über die Wirklichkeit, sondern gerade auf diese selbst. Überdies, so die siebte These, „dürfte sich kaum ein deutscher Berufsstand von seiner Kundschaft so sehr mißverstanden und unter Wert eingeschätzt fühlen wie jener der Parlamentarier. “ Dabei ist dieser Eindruck einer Mißachtung der Abgeordneten weder falsch noch allein von den letzteren verschuldet. 1988 trauten jedenfalls 81 % der Deut-sehen , den Politikern nicht mehr; drei von vier Jugendlichen nahmen damals an, Politiker würden lügen Außerdem stieg von 1977 bis 1992 der Anteil derer von 33 % auf 60 %, die folgender Aussage zustimmen: „Ich habe schon zu oft erlebt, daß führende Politiker nicht die Wahrheit sagen. Deshalb habe ich auch kein Vertrauen zu ihnen und verlasse mich nicht auf das, was sie sagen.“ Im gleichen Zeitraum sank der Prozentsatz derer von 57% auf 27%, welche die Gegenthese bejahten: „Natürlich versuchen führende Politiker, ihre Politik in bestem Licht darzustellen. Sie sagen vielleicht nicht alles aus, aber sie sagen nicht absichtlich etwas Falsches. Deshalb kann man ihnen im großen und ganzen vertrauen.“

Dabei diagnostizieren die Abgeordneten ebenso wie die Demoskopen einen klaren Unterschied zwischen dem Mißtrauen, das Politikern im allgemeinen'entgegengebracht wird, und jenem Vertrauen und Ansehen, das sie persönlich in ihren Wahlkreisen genießen Allerdings geben sie sich auch hier keinen Illusionen hin. Zwar sagten 1983 66, 1 % der bayerischen Landtagsabgeordneten, hohes persönliches Ansehen im Wahlkreis sei für sie (sehr) wichtig (weniger wichtig: 9, 1%). Doch 1991 fand sich hinsichtlich des tatsächlich erlebten allgemeinen Ansehens von Parlamentariern, von diesen selbst geschätzt auf einer fünfstufigen Skala von , 1'= , sehr hoch'bis , 5'= , sehr schlecht', unter den Westberliner Abgeordneten ein Mittelwert von 3, 6 und bei den ostdeutschen Abgeordneten von 3, 1. Bei diesen lag der Mittelwert ihrer Einschätzung dessen, wie die Bürger im Wahlkreis ihre persönliche politische Arbeit bewerteten, bei 2, 9 (Westberliner: 2, 8), worin die oben behauptete Schere zwischen allgemeiner und persönlicher Bewertung sichtbar wird.

Zweifellos läuft hier etwas für unser Gemeinwesen Wichtiges schief: Vertrauen zu erwerben -für sich, für ihre Partei und für das politische System insgesamt -sieht nämlich die Masse der Abgeordneten als eine ihrer ganz wichtigen Aufgaben an: 84, 2 % taten dies 1991 unter den Abgeordneten der neuen Bundesländer, 87, 1 % unter den Westberliner Abgeordneten und 90, 1 % unter den bayerischen Parlamentariern im Jahr 1989. Sie erreichen dieses Ziel aber offenbar nicht und wissen natürlich darum -35, 8% der ostdeutschen Abgeordneten meinten 1991, die Bürger hätten zu wenig Vertrauen zu ihrem Parlament (Westberliner Abgeordnete: 33, 3 %), während nur 19, 5 % diese These (eher) ablehnten (Westberliner Abgeordnete: 21, 0 %). Und schon 1983 sagten 33, 6 % der bayerischen Landesparlamentarier, das Ansehen ihres Parlaments sei (eher) mangelhaft, während nur 12, 3% dieser These widersprachen. Hinsichtlich der Arbeit des Bundestages gaben 1982 wiederum 37% der Westdeutschen an, sie hätten einen ungünstigen Eindruck , was seit 1950 der Höhepunkt der Kritik war, während nur 18 % von einem günstigen Eindruck berichteten, was einen Tiefpunkt seit 1950 darstellte Für die Bevölkerung und für einen großen Teil der Massenmedien ist klar, daß sich die Parlamentarier solchen Vertrauensschwund selbst zuzuschreiben hätten. Wie aber erklären sich die Abgeordneten selbst das Scheitern ihres Versuchs, Vertrauen und Ansehen für die politischen Institutionen und für sich zu stiften? Im folgenden dazu einige Erklärungsansätze, die auf Interviews mit bayerischen Parlamentariern beruhen: Grundsätzlich wird betont, Mißtrauen gegenüber Politikern habe es immer schon gegeben. Dementsprechend finde sich auch nur für Politiker eine besonders auf sie ausgerichtete institutionalisierte Kritik mit Massenpublikum. Diese Kritik nehme nur das Negative wahr, nicht aber die tatsächlich geleistete Arbeit. Ferner stelle man von vornherein zu hohe Ansprüche an Abgeordnete und Politiker und verbinde diese dann nicht selten mit grundlegenden Mißverständnissen parlamentarischer Demokratie. Überdies würden nicht wenige gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme einfach der Politik und den Parlamenten angelastet, obschon diese nichts für sie könnten.

VI. Was tun?

Nimmt man diese Befunde und die erörterten Gründe für die gestörten Beziehungen zwischen Volk und Volksvertretern zusammen, so läßt sich das Resultat der vorgetragenen Überlegungen in den Therapievorschlägen der achten These zusammenfassen: „Mehr zum Ergötzen von Publizisten und Publikum als zur Verbesserung kritikwürdiger Zustände tragen bloße Sündenbekenntnisse und Bußübungen von Politikern bei. Neben der skandalvermeidenden Abstellung von Mißständen sind vielmehr die folgenden Maßnahmen nötig: Kritik am Kenntnisstand und Erwartungshorizont der Bürger offensives Informieren von Abgeordneten über die Alltagswirklichkeit ihres Berufs; größere journalistische Anstrengungen im Bereich der Politikvermittlung und der politischen Bildung; schließlich eine Parlamentarismusforschung, die sich in praktischer Absicht des Wurzelwerks der Parlamente annimmt: der perzeptiven und interaktiven Verschränkung zwischen Parlamenten und Bevölkerung“.

Gelingt es nicht, durch solche Bemühungen die gegenseitige Rollenkenntnis und die wechselseitigen Rollenerwartungen von Abgeordneten und Bürgern besser aufeinander abzustimmen, als dies bislang gegeben ist, so produziert auch ein ordnungsgemäß funktionierendes parlamentarisches System dauernd wechselseitige Enttäuschungen. Und lassen sich die derzeitigen Störungen im Zusammenwirken von professionellem Politikerhandeln einerseits und (zeitweiliger) politischer Partizipation von Bürgern andererseits nicht verringern, so wirkt gerade die politische Beteiligung delegitimierend und führt eben die Ratio des Systems zu seiner Destabilisierung. Das freilich kann niemand wollen. Darum sind Politikwissenschaft und politische Bildung, sind Politiker und Publizisten in unser aller Interesse aufgerufen, die genannten Aufgaben viel entschiedener anzupacken, als es bislang geschah.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die folgenden Thesen beruhen im wesentlichen auf den bis zur Mitte der achtziger Jahre zusammengetragenen demoskopischen Befunden zur Einschätzung von Parlamenten und Parlamentariern in: Suzanne S. Schüttemeyer, Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie, Opladen 1986, auf der laufenden Berichterstattung der Meinungsforschungsinstitute und auf Befragungen, die Dietrich Herzog unter Bundesparlamentariem und der Verfasser unter den Abgeordneten sowohl Bayerns als auch der neuen Bundesländer durchgeführt haben. Siehe hierzu Dietrich Herzog/Hilke Rebenstorf/Camilla Wemer/Bemhard Weßels, Abgeordnete und Bürger. Ergebnisse einer Befragung der Mitglieder des 11. Deutschen Bundestages und der Bevölkerung, Opladen 1990; dies. (Hrsg.), Parlament und Gesellschaft. Eine Funktionsanalyse der repräsentativen Demokratie, Opladen 1993; Heinrich Oberreuter, Landtage im Spannungsfeld zwischen Bürgerinitiative und Parteiloyalität, in: Harry A. Kremer (Hrsg.), Das Selbstverständnis des Landes-parlamentarismus, München 1982; ders., Role of parliamentarians and their relationship with their electors, in: Human Rights Law Journal, 9 (1988), S. 413-426; Werner J. Patzelt, Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit, Passau 1993; ders., Legislators of new parliaments: The case of East Germany, in: Lawrence D. Longley (Hrsg.), Working Papers on Comparative Legislative Studies, Appleton 1994.

  2. 1978 waren es noch 46%; siehe Allensbacher Berichte, 1992, Nr. 12, S. 4 und 7. Weitere Studien lassen den Schluß zu, daß wohl ein Viertel der Bundesbürger am öffentlichen Leben im weitesten Sinn kein Interesse hat; vgl. S. S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 142.

  3. Vgl. S. S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 143. Nur ein Viertel wollte mehr über die Bonner Abgeordnetentätigkeit wissen. Immerhin mag die Differenz zwischen der Zahl derer, die über Abgeordnete mehr erfahren wollen, und jener, die sich tatsächlich informieren, ein von Politikvermittlung und politischer Bildung zu nutzendes Potential anzeigen.

  4. Vgl. ebd., S. 140.

  5. Ebd., S. 157.

  6. Als „medialen Mülleimer“ findet sich, zu Recht, das Wort . Politikverdrossenheit 1 glossiert von Wolfgang Thierse, Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31/93, S. 19. Im Einklang mit der herrschenden Stimmung befindet sich diesbezüglich Hildegard Hamm-Brücher, Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31/93, S. 3-6.

  7. So tendenziell und auch die zutreffende Kritik oft allzu weit treibend Hans Herbert v. Arnim, Staat oder Diener. Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?, München 1993.

  8. Siehe die Arbeiten von D. Herzog u. a. und W. J. Patzelt in Anm. 1 sowie Wolfgang Ismayr, Der Deutsche Bundestag, Opladen 1992, wo die Wirklichkeit der Parlamentsarbeit beschrieben wird.

  9. Zum Umfang der Parlamentsberichterstattung siehe Georg Mayntz, Die Femsehberichterstattung über den Deutschen Bundestag. Eine Bilanz, in: Zeitschrift für Parlaments-fragen, 24 (1993), S. 351-366.

  10. Auch Abgeordnete selbst trauen sich meist nicht, hier in die Offensive zu gehen; vgl. die in S. S. Scßüttemeyer (Anm. 1), S. 221, zitierten Stellungnahmen von Parlamentariern.

  11. Vgl. ebd., S. 153.

  12. Werden für zusammenfassende Fernsehsendungen Szenen aus Plenardebatten auch noch gemäß ihrem Unterhaltungswert zusammengeschnitten, so hat der Zuschauer erst recht keine Chance, das Zerrbild nicht für die Sache selbst zu nehmen.

  13. Vgl. S. S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 136.

  14. Vgl. ebd., S. 264. Nur scheinbar ist in diesem Zusammenhang 82 % eine große Zahl: hier spiegelt sich wohl weniger eine Bejahung des Parlaments als vielmehr dessen faktische Hinnahme, weil man sich daran gewöhnt hat.

  15. 15, 3 % äußerten keine besonderen Anliegen, hinsichtlich derer sie vertreten werden könnten; siehe D. Herzog u. a., Abgeordnete und Bürger (Anm. 1), S. 54. Dabei steht der Bundestag freilich nicht an der Spitze der Institutionen, von denen sich die Bürger vertreten fühlen. Dies sind bei , stark vertreten'vielmehr v. a. die Gerichte, die Bundesregierung sowie die Kirchen, und bei , mittel vertreten'die Massenmedien, gefolgt vom Parlament.

  16. In diesem Unterschied zwischen Bayern und den neuen Bundesländern spiegelt sich die Tatsache, daß in Ostdeutschland viel mehr Zeit in den Neuaufbau des politischen und administrativen Systems investiert werden muß und dann für den Bürger-Service natürlich nicht zur Verfügung steht. Dementsprechend haben unter den ostdeutschen Abgeordneten gut 60 % den Schwerpunkt ihrer Arbeit im Parlament, während dies 1989 in Bayern nur bei einem guten Fünftel der Mandatare der Fall war.

  17. Vgl. Hans Maier/Heinz Rausch/Emil Hübner/Heinrich Oberreuter, Zum Parlamentsverständnis des fünften Deutschen Bundestages. Die Möglichkeit von Zielkonflikten bei einer Parlamentsreform, Bonn 1969, S. 21.

  18. Vgl. D. Herzog u. a. Abgeordnete und Bürger (Anm. 1), S. 105.

  19. Vgl. hierzu die zugleich populären, aber einem praxis-nützlichen Parlamentarismusverständnis leider oft abträglichen Schriften von Hildegard Hamm-Brücher, Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr parlamentarische Demokratie, München 19872. Die Politikwissenschaft macht es hier aber vielfach nicht besser, arbeitet sie doch oft immer noch mit den ebenso irreführenden Konzeptualisierungen der Abgeordnetenrolle als , Delegate‘ oder , Trustee*. Siehe hierzu Werner J. Patzelt, Wie fassen Abgeordnete ihr Amt auf? Wider zwei Legenden, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 20 (1991), S. 191-211. 20 Die auf 100 % fehlenden Angaben entfallen auf die Mittelkategorie , teils-teils*.

  20. So Renate Köcher, Wieviel Politikverachtung verträgt ein Staat?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 6. 1992, S. 5. Politik galt im Jahr 1988 ohnehin 98 % der Bürger als ein mehr oder minder schmutziges Geschäft; so Befunde von Infratest, zitiert bei Peter Widmann, Die Politik, das große Geld, Macht, Posten und die Moral, in: Münchner Merkur vom 5. /6. 3. 1988.

  21. Hinweise auf parteipolitisches Engagement vor Wahlen geben heute -und auch das recht selten -vor allem besser Gebildete; siehe Aliensbacher Berichte (Anm. 2), S. 7 und 5.

  22. Vgl. Allensbacher Berichte (Anm. 2), S. 7.

  23. Drei weitere, immer wieder geäußerte Wünsche der Parlamentarier waren: die Bürger möchten mit ihren Wünschen und ihrer Kritik doch konkret an die Abgeordneten herantreten und nicht einfach vor sich hinschimpfen; der Bürger solle seine Probleme zunächst einmal selbst zu regeln versuchen und nicht immer gleich nach dem Staat rufen; und er solle es akzeptieren, wenn nach streitiger Diskussion Entscheidungen gefallen sind.

  24. Vgl. Allensbacher Berichte (Anm. 2), S. 7. Vor 1978 war diese Zahl noch kleiner, so daß man nicht sagen kann, . Enttäuschungen und Mißerfolge 1 hätten sie verringert (ebd.,

  25. Die folgenden Angaben zur Zufriedenheit mit den Beziehungen zu den Bürgern im Wahlkreis werden darum auch reduzierte Ansprüche der Abgeordneten widerspiegeln: Unter den ostdeutschen Abgeordneten waren 1991 38, 4% mit ihren Beziehungen zu den Bürgern ihrer Wahlkreise (sehr) zufrieden (Westberliner Abgeordnete: 49, 5%; Bayern 1989: 65, 7 %; Bayern 1983: 66, 4 %) und 26, 2 % (eher) unzufrieden (Westberliner Abgeordnete: 15, 2%; Bayern 1989: 0%; Bayern 1983: 7, 4%).

  26. Vgl. P. Widmann (Anm. 21).

  27. Vgl. R. Köcher (Anm. 21). Ansonsten äußerten sich 1992 über die mangelhafte Vertrauenswürdigkeit von Politikern 30% der westdeutschen Bürger als , sehr besorgt', weitere 31% als . häufiger besorgt'und nur 39% als , nicht besorgt'(ebd.).

  28. Diese Differenz ist wohl jener analog, die sich bei Umfragestudien stets zwischen der Einschätzung der allgemeinen Lage einerseits und der persönlichen Lage andererseits findet: Der persönliche Bereich wirkt immer positiver, die allgemeine Situation stets negativer. Nicht zuletzt die massenmediale Berichterstattung über das persönlich nicht Erlebbare sowie das von ihr genährte Gerede erzeugt diesen Unterschied.

  29. Vgl. S. S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 176.

  30. Die Folgen sind dann, in den Worten eines bayerischen Landtagsabgeordneten, so zu beschreiben: „Die hervorragenden Leute sagen: Politik ist was Schmutziges; da gehn wir nicht hin. Und dann geht die zweite Garnitur oft... Und dann stellt man an diese zweite Garnitur die Anforderungen, die die erste Garnitur kaum erfüllen könnte.“ Dergestalt sind Enttäuschungen und Mißmut natürlich programmiert.

  31. Einen wertvollen Beitrag hierzu leistet Friedbert Pflüger, Bürgerbeschimpfung -eine Provokation, in: Hans Wallow (Hrsg.), Richard von Weizsäcker in der Diskussion. Die verdrossene Gesellschaft, Düsseldorf 1993, S. 33-52, der die meisten Sprechblasen der populären Abgeordnetenkritik zum Platzen bringt.

Weitere Inhalte

Werner J. Patzelt, M. A., Dr. phil. habil., Univ. -Prof., geb. 1953; seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Sozialwissenschaftliche Forschungslogik. Einführung, München-Wien 1986; Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags, München 1987; Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 19932; Abgeordnete und ihr Beruf, Berlin 1994 (i. E.); Aufgaben politischer Bildung in den neuen Bundesländern, Dresden 1994 (i. E.).