Lückenhafte Wahrnehmung der DDR und Berlins 1959/60
Den 17. Juni 1953 habe ich als Schüler erlebt, am Radio, in den Bildern der Zeitungen. Der Deutschlehrer war Offizier gewesen, und auch Lehrer an nationalsozialistischen Internatsschulen; er hatte seine „Weltanschauung“ kaum geändert und zeigte das auch offen. Über den Aufstand in der „Zone“ sprach er als Militär, entwarf Szenarien entschlossener und zentraler Führung -ein Führer war das wichtigste -und erwog Formen der Intervention. Ich erinnere mich noch recht gut, wie widrig mir die studienrätliche Rede war und wie ich zugleich die Bilder der Aufständigen mit einem intensiven Gefühl schmerzlicher Sympathie betrachtete.
Literatur aus der DDR spielte in der Schule keine Rolle; sie kam einfach nicht vor. In der Oberstufe wählte ich als Referatthema Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Das wurde als Kuriosum aufgenommen und auch als solches goutiert -übrigens nicht diskutiert. Auch im Studium kam Literatur aus der DDR nicht vor. Ich erinnere mich an keine einzige Lehrveranstaltung aus diesem Bereich, Brecht ausgenommen.
Im Winter 1959/60 studierte ich an der FU Berlin. Es gab noch keine Mauer. Die Theater im „anderen“ Teil der Stadt waren uns offen, auch die Buchläden. Ich bin sehr viel im Theater gewesen, fast nur im „Osten“, mit Leidenschaft. Ich habe noch Helene Weigel als „Mutter Courage“ gesehen und den alten Eduard von Winterstein als „Nathan der Weise“. Aber ich erinnere mich nicht an Aufführungen von Stücken aus der DDR. Und auch in den Buchläden habe ich zwar viele Propagandabroschüren, aber keine Belletristik aus der Gegenwart erstanden. Die Humboldt-Universität, Objekt der Neugier, ja der Begierde, blieb mir unzugänglich. Es gab Ausweiskontrollen, und ich war offensichtlich zu naiv, um sie zu überlisten.
Es wäre ganz falsch, wenn ich behauptete, daß ich damals Sympathie für das Staatsgebilde DDR und für seine Ideologie gefaßt hätte. Der verordnete Atheismus stieß mich ab; den Pazifisten verstörten und ärgerten Uniformierung und Militarisierung in der Öffentlichkeit. Dagegen waren mir Vorstellung gen einer durchgreifenden Egalisierung der Gesellschaft, des Abbaus überkommener gesellschaftlicher Hierarchien sympathisch. Empfänglich war ich für das Gerechtigkeitsversprechen des Sozialismus. Vom Kapitalismus erwartete ich schon damals keine Gerechtigkeit. Vielleicht ist aufschlußreich, wenn ich anführe, worüber ich zu jener Zeit mit Kommilitonen diskutierte. Es war Karl Barths kleine Schrift: Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik
Deutlich war mir schon damals, was ich bundes-republikanische Heuchelei nannte. Man sprach von den „Brüdern und Schwestern in der Zone“ -und kümmerte sich um die DDR nicht. Man nahm sie im Wortsinne nicht oder kaum zur Kenntnis. Kenntnisse fehlten auf allen Ebenen, und das Fehlen wurde kaum als Manko empfunden. Man war zufrieden mit den Sonntags-und Feiertagsreden und mit Klischees, die den eigenen Blick auf das andere und das Nachdenken ersparten.
Auf mein Fach gewendet und jetzt zeitlich etwas vorgreifend: Ich nahm Anstoß daran, daß die Germanisten in den Universitäten der Bundesrepublik weder die Literatur aus der DDR noch die Literaturwissenschaft in der DDR zur Kenntnis nahmen und ich fragte mich, was sie eigentlich bewog, so ganz freiwillig ihre eigene Mauer zu bauen.
Weimar, Kants „Aula“, Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ und andere Arbeiten
Im Frühjahr 1968 fuhr ich zur Tagung der Shakespeare-Gesellschaft nach Weimar -auch aus Ärger über die Borniertheit der anglistischen Kollegen, die die Shakespeare-Gesellschaft in Ost und West geteilt hatten. Es war eine große Tagung, auch offiziell, vor allem mit vielen Studenten. Ich habe nach neuer Literatur gefragt, die für sie interessant sei. Die allermeisten nannten Hermann Kants „Die Aula“ und kommentierten das Buch in unter-schiedlichen Graden positiv. Zu Hause habe ich dann eine Interpretation des Romans geschrieben und versucht, Selbstbild und Geschichtsauffassung der „neuen Klasse“ deutlich zu machen, so wie Romantext und Romanheld sie vorstellen
Der Roman hat mich zum Lernen gezwungen: DDR-Geschichte mußte dem Interpreten gegenwärtig sein, und eben nicht nur in ihrem offiziellen linearen Lauf, sondern in ihren Verwerfungen und weißen Stellen. Das galt in noch weit höherem Maße für die folgende Interpretation von Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“. Ich hatte für diese Arbeit aus Goethe den schönen Titel entlehnt: „Produktive Sehnsucht“ und wollte zeigen, wie der , Gläubige an der Wirklichkeit leidet, also der Kommunist an der DDR-Realität, an ihr zugrunde geht, aber eben doch mit zorniger Zuversicht Die Literatur erzwang den Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und diese schärfte den Blick auf die Besonderheiten der poetischen Rede -modern gesagt: des literarischen Diskurses. Das alles war nicht einfach, aber sehr spannend. Literatur als Streitgespräch über Wirklichkeit, so etwa könnte die Formel heißen, wenn denn eine genannt sein soll, die die innere Form meiner Arbeiten umschreibt. Einige Titel seien aufgereiht, weil sie auf meine Interessen hindeuten: „Literatur als Kritik und Utopie der Gesellschaft“; „DDR-Geschichte als Thema der DDR-Literatur“; „Entwicklungslinien der Literatur im geteilten Deutschland“; „Das gebeutelte Hätschelkind. Literatur und Literaten in der Ära Honecker“. Und auch einmal kurz und programmatisch, ein Gestus, der mich eher geniert: „DDR-Literatur als Provokation der Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland“ -ein Vortrag in den USA. Dazwischen monographische Arbeiten, z. B. über die Lyrik Volker Brauns, über Sarah Kirsch, über Erich Loest, über „Die zeitgemäße Autorin: Christa Wolf in der DDR“ und anderes mehr
Ich gestehe, daß ich ein Verächter der Theorie bin. Schlimm, ich weiß. Aber ich konnte trotz mancher Ansätze wenig anfangen mit den vorgezeigten Theoremen bei meiner Arbeit der Interpretation poetischer Texte in ihrem historisch-gesellschaftlichen Kontext. Ich blieb bei der Hermeneutik -im Unterschied zum Verfahren meiner Lehrer bei einer historisch und ideologiekritisch orientierten Hermeneutik. Das ist keine geschlossene Theorie; es sind reflektierte Verfahrensvorschläge, die einen Text nicht „erklären“, aber Deutungen und auch Wertungen plausibel machen wollen -nicht mehr. Bündig formuliert: Text im Kontext. Kontext ist die Geschichte, die gesellschaftliche und politische Situation und natürlich der literarische Zusammenhang und die Geschichte der Literatur. Die Gewichtungen sind jeweils ganz unterschiedlich. Wie weit dieses Verfahren trägt und wie und wo es versagt, das mag man z. B. an meinen verschiedenen Arbeiten zur literarischen Thematisierung des Aufstands vom 17. Juni 1953 nachprüfen
Arbeitskreis Literatur und Germanistik in der DDR
In den späten sechziger Jahren, im Zusammenhang der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Regierung, gewann auch die Literatur aus der DDR in der Bundesrepublik Interesse, zunächst mehr auf dem Buchmarkt und im Feuilleton, dann auch in der Germanistik. 1978 war ich einer der Gründer und der erste Vorsitzende des Arbeitskreises „Literatur und Germanistik in der DDR“. Mitbegründer war Karl Lamers von der Karl-Arnold-Stiftung; bei ihr wurde der Arbeitskreis angesiedelt. Er veranstaltete in der Regel zwei Tagungen im Jahr. Paul Gerhard Klussmann und ich waren die Herausgeber des „Jahrbuchs zur Literatur in der DDR“ (1980-1990).
Im Vorwort zum 1. Band heißt es programmatisch und ein wenig volltönend: „Für den Bürger der Bundesrepublik ist die DDR ein , fremdes Land'; das ist Resultat böser Geschichte. Aber die DDR muß ihm nicht ein , unbekanntes Land'bleiben. Langjährige Versäumnisse sind aufzuarbeiten, falsche Vorstellungen zu korrigieren. Dabei will der Arbeitskreis mitwirken. Er will in der Bundesrepublik die Kenntnis der literarischen Kultur in der DDR fördern und verbreiten. In Zukunft hoffen wir, auch Kollegen und Autoren aus der DDR als Redner und Diskussionsteilnehmer einladen zu können. Unpolitische Beschäftigung mit der DDR gibt es nicht. Auch der Arbeitskreis ist ein Politikum. Er ist sich dessen bewußt und trägt dem Rechnung. Entschiedene Toleranz wird Prinzip seiner Arbeit sein. Niemand ist ausgeschlossen, kein Thema tabu. Es soll wirkliche Demokratie stattfinden. Uneingeschränkter Pluralismus der Methoden und der politischen Ansätze und Fragestellungen wird angestrebt. Mit der Weite und Vielfalt seiner Arbeitsintentionen und der Praxis radikaler Toleranz möchte der Arbeitskreis ein Beispiel geben.“
Der Arbeitskreis existiert bis heute. Sein Name ist geändert worden: „Internationaler Arbeitskreis Literatur und Politik in Deutschland“. Der alte, erste Vorsitzende ist wieder der neue. Das Jahrbuch wird in veränderter Form beim Reclam-Verlag, Leizig, erscheinen und von Frauke Meyer-Gosau und Wolfgang Emmerich herausgegeben werden. Die große Chance ist, Wissenschaftler und Autoren aus der gewesenen DDR und der gewesenen Bundesrepublik zum Gespräch zu bringen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Es ist aber gewiß eine Chance, und es soll an ihr gearbeitet werden, damit sie glückt.
Politik, Ideologie, Utopie
Ich habe die Entspannungspolitik ebenso begrüßt wie die neue Ostpolitik. Überfällig schien mir bei des und alternativlos. Ich habe begrüßt, daß allmählich beides zum Konsens der großen Parteien in der Bundesrepublik wurde. Auf Erich Honecker habe ich Hoffnung gesetzt, wenn auch zögerlich, bis in die Mitte der siebziger Jahre. Begeistert war ich nie von der DDR; aber ich war dafür, sie nüchtern anzunehmen. Der Formel „Wandel durch Annäherung“ pflichtete ich bei. Daß sie viel zu optimistisch war, merkte ich erst mit der Zeit.
Was hat mich denn begeistert? Die großen Utopien haben mich durchaus berührt, sehr sogar; aber eben nicht überzeugt, nicht gläubig gemacht. Will sagen: Ich habe nie vermocht, ihrer Übersetzung in Ideologien zu folgen. So habe ich nie das Glück genossen, zu glauben. Ich meine das Wort „Glück“ in diesem Zusammenhang ernst. Gewiß war Marx’ klassenlose Gesellschaft, in der man abwechselnd Fischer, Esser und Denker sein durfte, hinreißend. Aber wie der Weg dahin? Mao hat mich fasziniert -und erschreckt. Über das Ausmaß des Terrors der Kulturrevolution hatte ich damals keine Vorstellung. Aber daß Terror da war -dies war dem Aufmerkenden wohl erkennbar, auch wenn er, wie ich, große Zwecke zu sehen meinte. Aber wie sollten Emanzipation und hunderttausendfaches Schwenken der Mao-Bibel Zusammengehen?
Che Guevara war die edelste Gestalt. Aber von Anfang an für mich mit der Aura des Scheiterns umgeben. Und Fidel Castro? Nach all den Torheiten und auch den Verbrechen der US-amerikanischen Regierung ein Satellit der Sowjetunion; eher traurig und früh schon narrenhaft, nicht erst jetzt, 1994. Ich bin nie einem Mao-Bild hinterhergelaufen. Ich habe nie „Ho-Chi-Min“ gerufen, obwohl ich an vielen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilgenommen habe. Und um jetzt vor-zugreifen: Als ich mich 1983/84 in der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung engagierte, da hatte ich keineswegs lichte Gegenbilder, sondern die atomare Apokalypse vor Augen. Die SS 20 als Friedenssäulen? Widersinnig. Das hat mich nicht gehindert, drei Tage und Nächte lang mit die Carl-Schurz-Kaserne in Bremerhaven zu blockieren, und ich war doch schon ein gar nicht mehr so junger Professor. Warum denn eigentlich habe ich mich damals engagiert, bei soviel Skepsis? Weil man Vernunft und Menschenfreundlichkeit aufrütteln und dem Übel widerstehen soll, auch ohne Wahrscheinlichkeit des Gelingens. Elisabeth Siegel, eine 93jährige Freundin, die für den Kreisauer Kreis und für ihren Lehrer und Freund Adolf Reichwein 1943/44 Botendienste geleistet hatte, erzählt von ihrer brennenden Wohnung in Magdeburg bei Kriegsende, wo ihr zufällig eine Karte mit dem Wahlspruch des Wilhelm von Oranien vor die Füße fiel: „II n’est pas besoin d’esperer pour entreprendre, ni de rdussir pour perseverer. Man braucht weder Hoffnung, um etwas zu unternehmen, noch Erfolg, um auszuharren.“ Wenn es nicht anders und besser geht, dann soll das gelten.
Reiseerfahrungen in der DDR, Freundschaften
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war ich meist zweimal jährlich in der DDR. Zunächst bei einem Vetter in Einsiedeln, südlich von Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz. Der war aus Liebe zu einem Mädchen 1962 aus Heidelberg in die DDR übergesiedelt. Er fuhr gerne mit mir und meiner Frau in der näheren und weiteren Umgebung herum, besuchte mit uns Freunde und Bekannte. Wir lernten viele , kleine Leute kennen: Arbeiter, Fließbandarbeiterinnen, Forstarbeiter. Das hohe Maß von aggressiver Feindschaft gegen Staat und Partei verblüffte und erschreckte uns. Pastor Brüsewitz hatte sich gerade verbrannt -er war für viele ein Held. Auf einer goldenen Hochzeit sagte uns die Jubilarin, eine Waldarbeiterin in Rente, mit plötzlich haßerfüllten Zügen: „Verbrecher sind sie alle, der Honecker, und alle anderen auch, alle!“ Wir waren geschockt, beschwichtigten, widersprachen: ein Reden in den Wind. Wenig später hat mein Vetter sich erhängt; die Reiseerlaubnis zur erkrankten Mutter war ihm versagt worden. Ich habe viele Autoren besucht -keine Berühmtheiten, mehr diejenigen, die nicht oder kaum im Westen publiziert hatten. Erich Loest wurde mein Freund. Was er alles zu erzählen hatte, brauche ich kaum anzudeuten: sieben Jahre Zuchthaus, eine DDR-Lebensgeschichte, die vieles bündelt, man kann das nachlesen in seiner Autobiographie: „Durch die Erde ein Riß“. Durch ihn lernte ich Wilhelm Strube kennen, mit dem ich umherreiste. Es folgten der Bloch-Schüler Jürgen Teller, Dieter Mucke, Volker Ebersbach, Christian Pech, Reinhard Bernhof, Wolfgang Schütte, Peter Gosse und andere mehr. Eindrucksvoll Ralph Schröder, Slawist und Lektor; er war acht Jahre im Gefängnis gewesen.
Ich entwarf ein Projekt: eine unregelmäßige Reihe von Lesungen solcher Autoren an der Universität Osnabrück in Verbindung mit dem Städtischen Kulturamt. Das funktionierte zunächst rasch und gut -war aber bald vorbei. Denn die Autoren, die ich einlud, erhielten keine Reiseerlaubnis mehr.
Nach dem Wintersemester 1981/82 reiste ich zum letzten Mal in die DDR. Ich kam bis zur Grenzstation Oebisfelde. Dort wurde ich aus dem Zug geholt, zwölf Stunden festgehalten, wartend auf ein Verhör, das nicht stattfand, und dann wieder zurückexpediert. Zum ersten Mal in einer Zelle, ebenerdig, Stuhl und Tisch angeschraubt, das Fenster natürlich vergittert. Es war ein Vorfrühlingstag mit sehr hellem Licht. Ich schaute auf das Eingangstor einer nahen Fabrik. Am Nachmittag kamen die Menschen dort heraus, und sie schauten zu mir mit sachlicher Neugierde, so, wie man ein neues Tier im Zoo beschaut. Eine junge Mutter hob ihr Kind aus dem Wagen und zeigte mit dem Finger auf mich. Was hat sie wohl gesagt?
Der Offizier war grob und auf Einschüchterung aus, desgleichen die Zollbeamten. Nicht so die Grenzpolizei, der die Zelle unterstand. Um vier Uhr fragte mich ein sehr junger und freundlicher Soldat, ob ich nicht Kaffee trinken wolle: „Wir haben da eine Mitropa-Gaststätte“. Ich folgte ihm dorthin. Die Gaststätte war fast leer. Ich trank meinen Tee. Am Fenster lehnte der Soldat, verlegen durchaus; unauffällig wollte er dastehen. Aber wie macht man das, in einer fast leeren Gaststätte unauffällig-pflichtgemäß einen teetrinkenden Gefangenen bewachen? Ich hätte ihn gerne eingeladen, aber das ging ja nun wirklich nicht. Um 19. 00 Uhr kam ein anderer Soldat. Auch er freundlich: „Wir haben da eine Mitropa-Gaststätte.“ Diesmal wurde mir in der Zelle serviert: Schweinebraten und zwei Glas Bier. Das Servierfräulein war verlegen, aber sehr freundlich; sie trug eine tadellos weiße und gestärkte Schürze, wie ich sie in keiner Mitropa-Gaststätte der Republik je angetroffen hatte. Daß man doch in so entscheidenden Fragen keine letzte Klarheit gewinnt... Ich bestehe darauf: Für mich hat sie eine frische Schürze gewählt, die schönste, die einzige mit Stikkereien. Ja für mich hat sie diese auch noch rasch geplättet -während überall in der Gaststätte nach der Bedienung gerufen wurde; alles extra für mich.
Nach Mitternacht wurde ich in den Zug nach Hannover verfrachtet, in den letzten Wagen und erst, als alle „normalen“ Menschen den Bahnsteig verlassen hatten. Ein wieder sehr junger Soldat von der Grenzpolizei half mir mit dem Gepäck. Und bevor er die Tür zuschlug, als wirklich niemand das hören konnte, sagte er leise und schüchtern „Auf Wiedersehen“.
Organisator der „politisch-ideologischen Diversion“
Ich habe gegen das Einreiseverbot protestiert, meinte sogar törichterweise „Druck“ machen zu können. Schließlich hatte mich der Minister für innerdeutsche Beziehungen in den Arbeitskreis „DDR-Forschungsförderung“ seines Hauses berufen, sollte also irgendwie für mich zuständig sein. Es war alles ergebnislos. Das Ministerium hatte für mich weder Erklärungen noch Hilfe. Es war ein stummes Haus.
Später gab Erich Loest alle Erklärungen. Er hat sich nach 1989, im Handstreichverfahren, seiner Akten bemächtigt und schon 1990 in „Der Zorn des Schafes“ der lesenden Öffentlichkeit präsentiert, was ein Autor denkt und tut und wie sein Denken und Tun sich in den Observationen der Staatssicherheit ausnimmt. Und wo es um den großen Dichter geht, da kommt auch einmal ein kleiner Germanist vor und erfährt nun endlich, wer er ist: „Im Rahmen der operativen Bearbeitung des Loest, Erich, wurde festgestellt, daß der Mohr, Heinrich, wesentlichen Anteil an der publizistischen und verlegerischen Profilierung des L. in der BRD hatte. M. strebt an, Nachwuchsautoren der DDR gezielt in der BRD aufzubauen, um diese Autoren damit in Konflikt mit der Kulturpolitik der Partei und Regierung zu bringen, was letztlich zur Formierung einer oppositionellen Plattform unter Schriftstellern in der DDR führen soll. Der M. ist seinem Wesen nach ein Organisator der PID.“ Übrigens wollte man noch nicht sogleich eine „Einreisesperre“ gegen mich einleiten, sondern erstmal weiter observieren. Das stammt aus dem Dezember 1980, aus der Feder des Abteilungsleiters Oberstleutnant Wallner. Meine Freunde hier haben wild gelacht, und die Studenten dazu. Man weiß, daß ich fast unfähig bin, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Und nun wurde ich erkannt als „Organisator der politisch-ideologischen Diversion“.
Es gibt noch eine andere Spur, der ich nicht nachgegangen bin, will sagen, ich habe nicht die Lektüre meiner Akten bei der Gauck, -Behörde beantragt: 1980 bin ich mit Wilhelm Strube bei Robert Havemann gewesen -auf abenteuerlichen Wegen. Einen langen Nachmittag waren wir bei ihm, mit vielem Reden; er sehr offen, dezidiert, voller Heiterkeit und Sprechlust, mit Kaffee und Cognac. In Havemanns wortgewaltiger Predigt war der Kommunismus ein Prozeß, der immer mehr den Menschen , großmachen 4, zu sich selbst bringen könne, und das sei lebensnotwendig für die Gattung Mensch und jedes Opfer sei dafür gut. Ich weiß noch den Satz, der etwa so ging: „Es ist gut, daß Bahro jetzt im Gefängnis ist, Leute, die die Wahrheit sagen, müssen ins Gefängnis, das ist gut für die Wahrheit, für die Verbreitung der Wahrheit.“ Havemann war der heiterste und gläubigste Apostel des Kommunismus, den ich kennengelernt habe.
Nach dem Abschied von Robert Havemann fuhren wir nach Rügen, zu Wolfgang Schnur, mir damals als Vertrauensanwalt der Kirche und Verteidiger von Opponenten bekannt. Er war auch Anwalt Wilhelm Strubes gewesen. Drei Tage blieben wir dort. Ich habe viel gelernt: Schnur hat mich in seiner Kanzlei Prozeßakten lesen lassen -ein Vertrauensbeweis fürwahr. Das Material war sprechend genug. Es wies in vielen Konkreta auf das Unterfutter eines legalen Terrors in der DDR unter Honecker hin. Zwischen Kommunismus und dem real existierenden Sozialismus lägen Welten, meinte ich. Schnur war dies befremdlich theoretisch. Für ihn war der reale Sozialismus der Kommunismus. Und er erzählte aus dem höchst beschwerlichen Alltag eines Christen, der in der DDR Rechtsanwalt ist. Ach, Wolfgang Schnur!
Erlebnis der Wende
Ich bin 1989 und in den Jahren davor ein aufgeregter und angsterfüllter Beobachter gewesen; arg leidend unter dem Einreiseverbot -ich wollte selbst sehen, hören, reden, wenigstens an einigen Orten und einige Male dabei sein. Die Friedens-und Bürgerrechtsbewegung, die Menschen mit den Kerzen vor den Kirchen, in den Kirchen hatten meine Bewunderung, ja meine Liebe. Aber ich hatte keine Zuversicht. Ich fürchtete für sie. Ich fürchtete auch noch im Winter 1989, als der Protest der wenigen zum Massenprotest geworden war, was auch ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich bin überhaupt ein schlechter Prognostiker gewesen; ich habe nichts besser gewußt und kaum etwas richtig vorhergesehen. Das gilt auch noch für das Jahr 1990. 1989 also hatte ich Angst. Ich hielt das politische System der DDR nicht für reformfähig, jedenfalls nicht in der eingeklagten Grundsätzlichkeit, und ich hielt den Machtapparat für funktionstüchtig, ja ich meinte, er sei wohl der einzig wirklich funktionstüchtige Apparat in der DDR: Staatssicherheit, Polizei, Sonderkampfgruppen, Betriebskampfgruppen, die Armee ... Daß dieser Machtapparat ganz leise in sich zusammensacken könnte, ohne daß auch nur ein Schuß abgegeben wurde -das habe ich mir nicht vorstellen können und kaum zu wünschen gewagt, eben weil es mir so außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, aller Möglichkeit schien. Als das Unmögliche dann Wirklichkeit wurde, habe ich das als befreiendes Wunder erlebt, mit Staunen und Glücke. Plötzlich schien die deutsche Geschichte offen zu sein, offen für Neues. Ich wünschte die Vereinigung; allerdings als Prozeß in mehreren Stufen. Ich meinte, daß jetzt die Chance gekommen sei, eine neue deutsche Republik zu bauen aus den Erfahrungen, die in beiden deutschen Staaten in 40 Jahren gemacht worden waren. Eine einmalige Chance! War es wirklich abwegig, zu denken, daß die Bürgerbewegungen, daß Modelle wie der „Runde Tisch“ Platz fänden in einer neuen Verfassung für eine neue deutsche Republik? Die wünschte ich mir radikal demokratisch, um mit einem Stichwort die Richtung anzugeben.
Gekommen ist alles anders. Die Politiker im Westen wollten die alte Bundesrepublik, nur vergrößert um die alte DDR, die also überhaupt und ganz und gar verschwinden sollte. Und die große Mehrheit der Menschen in der DDR stimmte dem in freien und geheimen Wahlen zu. Die DDR wurde zum Beitrittsgebiet. In meinen Augen: Der einmalige geschichtliche Augenblick ist nicht genutzt worden; die große Chance vertan, verschludert. Was bleibt, sind die vielzitierten „Mühen der Ebenen“, wo wir uns die kommenden Jahre, Jahrzehnte abarbeiten werden, hoffentlich einigermaßen im guten. Sicher aber ist das ganz und gar nicht. Ich rede nicht von Resignation, sondern von Arbeit, die Mut braucht und Ausdauer und die ohne die Fähigkeit alternativen Denkens nicht auskommen wird. Aber gerade aus dieser Haltung heraus nehme ich mir die Freiheit, Trauer zu bekunden über das Versäumte. Die große Gelegenheit ist vorbei; sie ist nicht wieder zurückzuholen.
Die Schriftsteller oder die „verzweifelte Euphorie“
Die Schriftsteller gehörten -mit Ausnahmen, die es gegeben hat -nicht zu den Helden der ersten Stunde. Die älteren von ihnen waren dazu wohl zu skeptisch, zu realistisch, zu vernünftig also. Der Preis der Vernünftigkeit konnte hoch sein und an Selbstverachtung und Ich-Verlust streifen. Man kann das genau nachlesen in Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ in der Episode mit dem „Mädchen“, das die Ich-Erzählerin besucht.
Am 28. Oktober 1989 trat ein Teil der renommierten Autoren öffentlich in Erscheinung. „Wider den Schlaf der Vernunft“, nannte sich eine Gemeinschaftsaktion der Berliner Künstlerverbände in der Erlöserkirche. Ulrich Plenzdorf, Christoph Hein, Stephan Hermlin, Günter de Bruyn saßen nebeneinander; Christa Wolf und Stefan Heym waren dabei. Für den 4. November organisierten die „Kulturschaffenden“ -welch schöner Name -eine Demonstration in Berlin. Es wurde die größte Demonstration in der Geschichte der DDR. Eine halbe Million oder noch mehr zogen durch die Innenstadt und versammelten sich auf dem Alexanderplatz. Viele der Redner waren Schriftsteller: Christa Wolf pries die „revolutionäre Erneuerung“: „Unglaubliche Wandlung. Das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als Volk zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen -der tausendfache Ruf: Wir sind das Volk.“
Christoph Hein begann seine Ansprache: „Liebe mündig gewordene Mitbürger. Es gibt für uns alle viel zu tun ... Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden sollen. Und dazu gibt es keine Alternative.“ Beschwörend ist der Gestus der Rede. Verdeckt er auch Angst? Christa Wolf rührt an den wunden Punkt, freilich in ganz positiver Gestimmtheit: „Traum. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg!“
Euphorie hatte sie ergriffen, spät, aber gewaltig, sie, die Reformsozialisten -ein zwar wenig trennungsscharfer, aber die Vielfalt doch im zentralen Punkt richtig bezeichnender Begriff. Jetzt sahen sie ihre Stunde gekommen, auf die sie so lange, mit Hoffnung und Geduld, im Zorn und auch in Verzweiflung gewartet und auf die sie zugeschrieben hatten.
Beschwörend, jetzt schon im Bewußtsein möglichen Scheiterns, wenden sie sich vier Wochen später an das Volk mit dem Aufruf: „Für unser Land“ und formulieren die Alternative, wie sie ihnen erscheint: Entweder „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“ und Vereinnahmung durch die Bundesrepublik oder Entwicklung einer „solidarischen Gesellschaft“, „einer sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik“. Dafür wirbt der Aufruf
Die kurze Euphorie der Reformsozialisten findet kaum irgendwo so großartig Ausdruck wie in einem Essay Volker Brauns, der, kurz nach der Maueröffnung, am 11. /12. November 1989 im „Neuen Deutschland“ erschien. Er ist überschrieben „Die Erfahrung der Freiheit“: „Wir machen die Erfahrung der Freiheit. Zuerst auf der großen Straße in Leipzig, nun auf den öffentlichen Plätzen Berlins erleben wir sie, in unserer angstlosen Entschlossenheit, und selbst der aufgeschreckte Staat begreift durch den öffentlichen Unterricht, was der Stoff dieser Tage ist. Wir erleben die größte demokratische Bewegung in Deutschland seit 1918... wir sehen die ruhige unaufgeregte Kraft der Massen, die das notwendige Bedürfnis haben, ihr unergiebiges Leben zu ändern. Sie verabschieden sich aus dem zentralistischen Sozialismus. Ein Abschied in aller Öffentlichkeit, ein Abschied, um sichtbar anwesend zu sein ... Das ist die jetzige Revolution ... Wir sind das Volk. In dieser gefährlichen Stadt Berlin steht es mit dem Rücken zur Mauer und starrt fröhlich in das fahle Gesicht der Macht, die ihm vorenthalten war. Es hat sie nie besessen, aber sie hat so lange in seinem Namen geherrscht, daß es sich enteignet fühlt... Die Macht der Mehrheit... Sie fliegt auf uns zu... Heute ahnen wir, was Marx meinte mit der unbestimmten Ungeheuerlichkeit der Zwecke sozialistischer Revolutionen, die sie, sich beständig kritisierend, unterbrechend, neu beginnend, verfolgen. Wenn der Prozeß bis zum Umschlagepunkt getrieben ist, wenn jede Umkehr unmöglich ist und die Verhältnisse selbst rufen: Hic, Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! endet die Herrschaft von Menschen über Menschen, und es beginnt , die Verwaltung von Sachen!
Volkseigentum plus Demokratie, das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt. Das wird man meinen, wenn man sagt: made in GDR. Die Verfügungsgewalt der Produzenten ... Es ist das interessanteste Land. Machen wir uns auf in das Land hinein.“
Den Kenner von Volker Brauns Schriften mutet der Text vertraut an. Er bündelt vieles: Die Larve, die gesprengt wird; das Eis, das bricht; der Gebückte, der sich aufrichtet; das Erwachen; der aufrechte Gang. Es sind Bilder, die alle vom Gleichen reden: vom Akt der Befreiung, vom freien Individuum in der freien Gesellschaft, wie sie der Kommunismus verspricht. Es ist das zentrale Thema in Volker Brauns Denken und Dichten, immer anvisiert, bald trotzig zuversichtlich, später bitterer, auch resigniert, zornig, auch verzweifelt -aber immer gegenwärtig. Jetzt, so sagt die „Erfahrung der Freiheit“, jetzt im November 1989 bricht an, was lebenslang erwartet wurde, der Tag bricht an, die Vorgeschichte der Menschheit geht zu Ende, die Menschen kommen zu sich; es beginnt die Gesellschaft der Freien. Die DDR als Modell, das Land, in dem zuerst die „Larve“ des realen Sozialismus in der Revolution der Massen gesprengt wird und, so ist im Sinne des Bildes fortzufahren, der Schmetterling des Kommunismus seine Flügel entfaltet.
Ich habe mit einiger Ausführlichkeit zitiert, weil der Text extrem ist, weil er fast einen Idealtypus erfüllt: Literatur aus dem Geist der Utopie. Wie lese ich ihn jetzt? Gewiß, staunenswert allemal, wie groß die Kraft der Hoffnung gewesen ist, daß sie auf solche Weise die Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmte und Erkenntnis der Wirklichkeit verhinderte. Die Hoffnung verwandelte sich in Illusion, wie sie vollständiger kaum gedacht werden kann. Der Gläubige wird zum Don Quichotte -selten trug er glänzendere Gewänder als in Brauns Text, aus dem ich gerade zitiert habe.
Irritation und Zorn über westliche Diskussionen zur Rolle der literarischen Intelligenz in der DDR
Wir lesen in den Feuilletons -nicht in allen -und bei manchem klugen Kollegen, wie übel die Verhaftung an die kommunistische Utopie gewirkt habe; wie sie geholfen habe, die Misere des real existierenden Sozialismus in einem Verheißungslicht zu überblenden und so ertragbar zu machen. Ich erhebe Einspruch. Ich halte das schlichtweg für falsch. Die Kritik an der Wirklichkeit, wie sie die Reformsozialisten in ihren Texten vorgestellt haben -auf unterschiedlichste Weise und in unterschiedlicher Radikalität -, hat nicht systemstabilisierend, sondern destabilisierend gewirkt.
Die Poesie sei im realen Sozialismus subversiv, wie die Utopie des Kommunismus, so hat es Volker Braun mehrfach gesagt; sie sei einem Maulwurf vergleichbar. Wie weit der wirksam geworden ist, wie weit er Bewußtsein mitgeprägt hat, das ist natürlich schwer zu sagen und sinnvolles Thema ruhiger Diskussionen. Ich denke wohl, die Wirksamkeit war geringer, als die Dichter und als wir, die wir Literatur lieben und mit ihr leben, es gerne glauben möchten. Aber sie war da, und viele unzufriedenen bis verzweifelten Leser in der DDR haben die Dichter als ihresgleichen, als Verbündete und Freunde wahrgenommen, sogar als Ratgeber, was diese zuweilen in merkwürdige Situationen brachte und im ganzen wohl Überanstrengung bedeutete. Mir will scheinen, daß hier die Staatsmacht -ausnahmsweise -klüger gewesen ist als viele meiner Kollegen heute. Sie liebte die Utopie vom Kommunismus gar nicht, und die Formel vom „realen Sozialismus“ -Honecker hat gar vom „außerordentlich realen Sozialismus“ gesprochen -ist gegen das utopische Denken gerichtet -so ernst nahm man das immerhin. Die Kritik an eben diesem realen Sozialismus, wie sie auch -wahrhaftig nicht nur -von der kommunistischen Utopie her geübt wurde, ist richtig eingeschätzt -wenngleich maßlos überschätzt -worden, nämlich als „zersetzend“, ja als „feindlich negativ“. Sogleich aber ist zu differenzieren: Die Utopie hat in der Literatur der letzten zwei Jahrzehnte in der DDR keineswegs die Bedeutung gehabt, wie es die heutigen Diskussionen vermuten lassen. Ganz im Gegenteil: Es ist Utopieverlust zu konstatieren, bei den allermeisten Autoren auf unterschiedlichste Weise sich literarisch artikulierend. Die Ausnahmen sind selten. Ich gebe der Eitelkeit nach, mich selbst zu zitieren, aus einem Vortrag im Jahr 1978: „Die Energie der Hoffnung, die in langen Jahren nach 1945 auch für die Literatur ungemein wichtig, mit sprach-und literaturprägend war; sie ist längst aufgebraucht. Heute ist die Literatur der DDR eine Literatur der Individuen. Gezwungen, eine übergreifende Thematik... zu nennen, spreche ich vom . bedrängten Individuum und . beschädigten Leben. Darüber , reden die Dichter in der DDR, wenn sie schreiben. Autoren konzentrieren sich auf die differenzierte Darstellung problematischer Individuen: nicht , Männer, die Geschichte machen , sondern Menschen, die Geschichte mitmachen, immer mehr im Sinne von , erleiden ... Extrem, aber exemplarisch ist der Weg des ... Karl-Heinz Jakobs von dem fordernd zukunftsgewissen Roman des Bitterfelder Weges . Beschreibung eines Sommers aus dem Jahre 1961 über Müdigkeit und Skepsis von , Eine Pyramide für mich, ein Jahrzehnt später erschienen, bis zur schieren Verzweiflung des letzten, nur in der Bundesrepublik gedruckten Romans , Wilhelmsburg, dessen Held, symbolisch genug, in Sprachlosigkeit endet...
Enttäuschung und ein Schwinden der Hoffnung kennzeichnen die geistige und seelische Verfassung vieler Autoren, die als sozialistische Schriftsteller Aufbau und Entwicklung der DDR begleitet und auf vielfältige Weise mitgetragen haben. Als Beispiel für viele soll Christa Wolf genannt sein. Ihre preisgekrönte Erzählung , Der geteilte Himmel aus dem Jahr 1963 war voll Zuversicht und Zukunftsgewißheit. 1968 ... , Nachdenken über Christa T. ‘, ein Buch voll zorniger Trauer über unwiederbringlich Versäumtes, zugleich aber voll Zukunftswilligkeit. Der letzte Satz heißt: . Wann, wenn nicht jetzt? Es ist... die Botschaft des Romans. 1979 publizierte Christa Wolf eine Erzählung über ein fiktives Zusammentreffen Heinrich von Kleists mit Caroline von Günderrode. Zwei berühmte Dichter-Selbstmörder werden als wahlverwandt berufen. Wolfs Erzählung gibt'todtraurige Variationen über das Thema Entfremdung, Trauer ohne Hoffnung. Der Titel sagt es schon auf seine Weise . Kein Ort. Nirgends. Das ist die genaue Übersetzung des griechischen Wortes , Utopia . Implizit nimmt der Titel Ernst Blochs Konzeption der , konkreten Utopiezurück, die zu erhoffende und zu erarbeitende Menschen-Heimat.“ 1989 hatten viele reformsozialistische Autoren und Intellektuelle die arg beschädigten oder auch schon abgetanen Hoffnungen wiedergefunden; unverhofft, im „großen Augenblick“, wie sie meinten, wie sie in einem Akt „verzweifelter Euphorie“ es zu sehen glaubten -und eben mit aller Energie auch glauben wollten.
Es war nicht bloß der Glanz der Utopie, der da so plötzlich wieder aufleuchtete in nie gemachten Erfahrungen -etwa in freien Massendemonstrationen. Es war auch Angst vor dem, was ihnen die Alternative zu sein schien: der Kapitalismus. Also doch bloße Repetition des vierzig Jahre Gelernten? Oder auch Hysterie? Gemach: Intellektuelle, die vom Westen mehr wußten, als die Fernsehbilder von ARD und ZDF zeigten, hatten gute Gründe, den Kapitalismus nicht zu wollen; ihn jedenfalls nicht so zu wollen, wie er sich in den meisten Teilen der Welt darstellt. Denn wo ist der Kapitalismus , schön? In der Bundesrepublik, ja, zumindest ist das so gewesen, es beginnt sich vor unseren Augen zu ändern. Gewiß in der Schweiz, in den Beneluxstaaten, in Dänemark, in Skandinavien. In Frankreich schon weniger, in Italien sehr viel weniger. Und in den USA? Und wie steht es mit Lateinamerika; wie überhaupt mit der Dritten Welt? Die böse Antwort weiß jeder. Der Kapitalis-mus ist bislang unfähig gewesen, humane Modelle der Entwicklung unterentwickelter Länder zu praktizieren, meist noch nicht einmal effektive. Das sind vernünftige Überlegungen; sie als Ressentiment abzutun, erscheint mir falsch. Sie gar als Ausfluß einer irrational-fundamentalistischen, anti-westlichen Haltung zu qualifizieren, führt in die Irre.
Die Intellektuellen in der DDR konnten all das wissen, und dieses Wissen ist wohl auch ein Teil jenes Zustandes gewesen, den ich „verzweifelte Euphorie“ nannte. Mit dieser Euphorie sprachen sie am 4. November und warben sie später für eine „sozialistische Alternative“ zur Bundesrepublik -realpolitisch eine Illusion, ganz und gar.
Die Reformsozialisten sind also die Verlierer -ohne Abstrich. Sie haben sich -alles in allem -zu DDR-Zeiten nicht durchgesetzt und nicht 1989. Wie geht man jetzt mit ihnen um? Für mich irritierend genug. Es gibt die Tendenz unter westlichen Intellektuellen, die östlichen Kollegen insgesamt auf eine Art moralischen Prüfstand zu stellen und nach Mitverantwortung, nach Mitschuld zu fragen. Das Wort von der Kollaboration geht um, Kollaboration mit der Macht: ein Verdikt ohne Ansehen der Person. Das scheint mir wenig sinnvoll; unklug und unmenschlich zugleich. Schuld ist immer individuell. Sinnvoll und notwendig sind die Fragen: Hat einer anderen Schaden zugefügt, hat er verraten, hat er als Inoffizieller Mitarbeiter Freunde und Kollegen ausgeforscht und berichtet, und wie hat er berichtet? Ein weites Feld.
Der deutsch-deutsche Literaturstreit. Zu Christa Wolf, Heiner Müller und Sascha Anderson
Christa Wolf, einmal mehr als Repräsentantin begriffen, ist mit ihrer Erzählung „Was bleibt“ Mittelpunkt einer Diskussion geworden -„der deutsch-deutsche Literaturstreit“ -die, den Text eher zum Anlaß nehmend, die Rolle der reform-sozialistischen literarischen Intelligenz debattierte, um dann sogleich ein Verdikt über die Literatur aus der DDR überhaupt zu fällen: Sie werde verschwinden, wie der Staat DDR verschwunden ist. Kühn das, ein weithinstrahlender Nonsens.
Mich hat geärgert, wie souverän der literarische Text instrumentalisiert wurde, und ich meinte, darauf insistieren zu sollen, daß Texte interpretiert werden müssen; meinte und meine auch heute, daß wir Literaturwissenschaftler den Damen und Herren vom Feuilleton nicht hinterherlaufen, sondern -falls nötig -ihnen auf die Finger klopfen sollen. Ich schrieb also eine Interpretation der „Erzählung“ und versuchte einsichtig zu machen, daß wir einen Text der Selbstbefragung und der Selbstbezichtigung vor uns haben. Ich zitiere den Anfang, weil er sagt, was ich zum sogenannten Literaturstreit meinte und meine: „Zorn treibt mich zum Schreiben. Christa Wolfs Erzählung , Was bleibt ist Anlaß zu einem Streit über die Rolle der literarischen Intelligenz in der DDR geworden, der heftig und mit jener Grobschlächtigkeit geführt wird, die gewährleistet, daß Einsichten und Erkenntnisse nicht gewonnen werden. Dem Angriff in Form eines Rundumschlages entsprechen pauschale Verteidigungen: Das wichtige Thema, um das es geht oder doch gehen sollte, wird zugedeckt. Verblüfft bin ich über die Interpretationen und Urteile zum Text , Was bleibt. Zuweilen will mir scheinen, daß man zwar lesen, aber nicht verstehen gelernt hat, daß zwar nicht gerade Analphabeten, aber doch Illiteraten sich ans Werk machen.“
Der instrumentalisierten Nutzung des Textes folgte später die , Enthüllung über die Autorin Christa Wolf: Fast drei Jahre sei sie als Inoffizielle Mitarbeiterin in den Akten der Staatssicherheit geführt worden, in den späten fünfziger und in den frühen sechziger Jahren. Ich war zunächst einmal geschockt. Die fehllaufenden Erklärungen der Autorin aus den USA, die falsche und zudem widrige Gleichstellung mit den deutschen Emigranten aus der Zeit des Dritten Reiches taten ein übriges. Endlich erschien die Dokumentation über ihre , Tätigkeit. Die gläubige Genossin hatte sich dem angetragenen Dienst nicht verweigert -offenbar hatte sie gar nicht gewußt, woher solche Verweigerung nehmen. Aber sie hat wirklich niemandem geschadet, keinen Menschen denunziert, sich eher rührend um sozialtherapeutische Betreuung bemüht. Kein Wunder, daß die Staatssicherheit mit dieser , Mitarbeiterin nichts anfangen konnte.
Ein Wunder aber, daß Christa Wolf ihre Mitarbeit bei der Stasi einfach vergaß. Sie war damals um die dreißig Jahre alt, also keine unerfahrene Jung-Genossin mehr. Aber sie hat es vergessen. Ich glaube ihr das. Welche Verdrängungsleistung -in der Tat ein Thema für die Dichterin Christa Wolf. Anders Heiner Müller. Seine Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“ haben wir alle mit Spannung und Gewinn gelesen; ich auch mit Ärger: Niemals will er Kommunist gewesen sein, die DDR sei bloß sein „Material“ gewesen. Die frühen Texte, z. B. „Lohndrücker“, reden anders und überzeugender. Warum muß der Autobiograph sich selbst ein Stück weit verleugnen? Daß Müller auch mit der Stasi umging, hätte in diese Autobiographie durchaus gepaßt. Wir wissen inzwischen, auch er hat nichts Böses getan. Er hat auch dort wohl viel geredet, auch mit Selbstüberschätzung, gescheit und skrupelarm. Aber warum hat er den Umgang mit der Stasi verschwiegen? Vorsicht? Feigheit? Tut das dem Dichter etwas? Ich meine: nein. Die Texte reden.
Anders steht es mit Sascha Anderson. Er ist Jahre hindurch die Gallionsfigur des Prenzlauer Berges gewesen. Er stand für jene Gruppen, die sich vom dominierenden Diskurs absetzten; sie wollten nicht dafür und nicht dagegen sein, sondern unabhängig, frei. Ich habe mit viel Spannung diesen Versuchen zugesehen, inmitten des engmaschigen politischen Systems der DDR Freiräume zu gewinnen, einen quasi extraterritorialen Status zu behaupten -eine Boheme eigenster Art mitten im realen Sozialismus. Ich habe wieder einmal gelitten unter dem verfluchten Einreiseverbot, denn deutlich war mir, daß man solche Experimente alternativen Lebens selbst erfahren, daß man dabei sein mußte, daß die Texte im -westlichen -Buchladen nicht ausreichten, das , Phänomen* zu kennen; man mußte es selber erleben. Der Prenzlauer Berg -real und als Metapher genommen -nährte den Mythos der Autonomie, und der wurde auch kräftig von außen genährt.
Der Mythos zerplatzte, als Sascha Anderson als Mitarbeiter der Staatssicherheit erkannt wurde. Wolf Biermann machte den Drachentöter: „Sascha Arschloch“. Biermann hatte recht, so meine ich. Der Betrug Andersons, Schedlinskis und anderer war groß, und das Schimpfwort traf die Sache. Unrecht hatte Biermann, wenn er auch gleich daran ging, die Texte des Prenzlauer Berges insgesamt als Stasi-Schrebergartengewächse abzuurteilen. Wer genauer hinsieht -z. B. in die erste wie in die bislang letzte Anthologie: „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ (1985) und „Ein Molotowcocktail auf fremder Bettkante“ (1990) -, der wird differenzierter urteilen und Unterschiede machen, Verschiedenartiges wahrnehmen. Mich fasziniert manches, und manches, vieles, läßt mich kalt. Das ist eigentlich normal.
Biermanns Zorn gründet in seiner Vermutung, die gewollte Flucht aus dem politischen Diskurs habe Kräfte neutralisiert gerade zu der Zeit, in der die DDR politisch kämpferische Menschen so bitter nötig gebraucht habe. Darüber, in der Tat, soll nachgedacht werden.
Beschädigung der Literatur aus der DDR und neue Lektüre?
Es geht die Rede von der „Beschädigung“ der Literatur in der DDR durch ihre Autoren. „Die DDR-Literatur als ganze ... hat tatsächlich Schaden genommen und an Glaubwürdigkeit verloren“ schreibt Wolfgang Emmerich
Ich kann das nicht so sehen. Schaden genommen haben einzelne Autoren, Schaden an ihrer moralischen Integrität. Inwieweit die moralische Beschädigung von Autoren ihre Texte mitprägte, und sie damit in der Tat beschädigte, das ist nur im Einzelfall festzumachen. Die Pauschalaussage scheint mir falsch. Sie taugt auch gar nicht als Voraussetzung zur , neuen Lektüre* der Literatur aus der DDR.
Die aber ist vonnöten, und sie findet statt und wird stattfinden. Erinnern wir uns doch des Altbekannten: Die Texte der Dichter sind Phantasien über die Wirklichkeit -Phantasien der allerverschiedensten Art. Ist die Wirklichkeit, auf die sich Texte beziehen, untergegangen, so bleiben die Texte mit all ihrer Hoffnung, ihrer Verzweiflung und ihrer Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wäre dem anders, dann gäbe es gar keine Literaturgeschichte, dann gäbe es nicht unsere Lust, Texte aus fremder, früherer Zeit zu lesen, sie zu uns reden zu lassen und über sie zu reden. Kriterium ist doch, wie dicht und wie kühn sind die Phantasien und wie gut formuliert; hier liegt unser Interesse.
Ich glaube nicht, daß die Wahrnehmung der Literatur aus der DDR sich grundsätzlich ändern wird. Die großen Texte, die ästhetisch standhalten, bleiben und werden immer wieder neu gelesen und neu interpretiert. Was mit eine Ersatzfunktion für fehlende journalistische Öffentlichkeit war, wird eher ins Vergessen abgleiten. So wird sich einiges verschieben in der Rangliste der Texte, die uns wichtig waren; das ist überhaupt nicht verwunderlich und auch nicht so aufregend. Ein Beispiel -Stefan Heyms Roman „Collin“ mit dem damals höchst brisanten Thema: „Stalinismus in der DDR“ wird wegsacken. Über die Sache sind wir inzwischen informiert. Der Text ist eher primitiv gemacht; er lebt nur von seinem Thema. Bleiben aber wird Stefan Heyms „König Davids Bericht“ -die sehr gescheit und sinnlich ausphantasierte poetische Rede über Risiken und Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit.
Vorbei ist es auch mit der repräsentativen Rolle, die Autoren in der alten DDR teilweise zukam: Ersatzöffentlichkeit, stellvertretend Redende, Beichtväter und -mütter, Stimmen der Stimmlosen usf. Das hat die Schriftsteller erhoben und zugleich belastet. Vorbei -der Sockel ist weg. Verlust, gewiß, aber auch Gewinn: die Möglichkeit zu freierem, weil rücksichtsloserem Reden ist da.
Vorausgesetzt, das Geschriebene findet den Weg zum Druck. Und hier rühren wir an einen grausamen Problemkomplex: Wer bis 1989 nur oder vorwiegend in der DDR veröffentlichte -und den Sprung auf den Westmarkt nicht geschafft hat -, der ist dabei, als Autor unterzugehen, zusammen mit manchem Verlag der DDR, mit den Lektoren, die oft auch unliebsame Bücher mithalfen durchzubringen, mit den Illustratoren oft vorzüglicher Kinderbücher usf... Tonnenweise fanden die Autoren -und zwar gerade nicht regimefromme Autoren -ihre Bücher auf den Müllhalden. Zehn Millionen Exemplare, so heißt es, für die kein Lagerraum mehr da war; noch unausgepackt in Plastikfolie: Ostware, angeblich unverkäuflich.
Der Pastor Martin Weskott, der „Bücherpastor“ aus Katlenburg in der Nähe von Göttingen, hat einiges davon gerettet, und seine Kirchengemeinde hat die „Müllbücher“ verkauft; der Erlös kam „Brot für die Welt“ zugute. Der Pastor erhielt das Bundesverdienstkreuz; der Skandal aber dauert an: Zornig und vergeblich hat Dieter Mucke aus Halle, Mitglied des Vorstandes des Verbandes deutscher Schriftsteller, diese „Kultur-schande“ angeprangert. Er ist selbst, arg drangsaliert zu DDR-Zeiten -ein Opfer, das für viele steht. Seine Bücher, vorweg seine Kinderbücher, gescheite und witzige Texte und schöne Illustrationen, sind aus den Buchläden verschwunden. Erich Loest und ich haben in einem gemeinsamen Brief Mucke dem Arbeitskreis für Jugendliteratur in München für den „Sonderpreis 1991“ vorgeschlagen. Die Damen und Herren der Jury haben uns bis heute noch nicht einmal einer Antwort gewürdigt. )
Wie liest man neue Texte , gewesener' DDR-Autoren?
Nach der Wende begegnen Texte gewesener DDR-Autoren teilweise seltsamen Reaktionen, auf die denn doch zu achten ist. Christa Wolf wird gescholten und der DDR-Nostalgie beschuldigt -einiger Vergleiche wegen, die zuungunsten des Neuen ausfallen. In ihrem Essay „Wo ist Euer Lächeln geblieben?“ zeige sie, so hört man, sich uneinsichtig, weil sie den verlorenen großen Augenblick beschwöre und bitter resümiere: „Entfremdung folgt auf Entfremdung. Wer fragt noch, wo unser Lächeln geblieben ist? Es wurde zwischen der heillosen Vergangenheit und der für viele perspektivlosen Zukunft zerquetscht.“
Volker Braun und Heiner Müller -beide haben wohl die , härtesten Texte geschrieben -finden sich fast auf einer Art Anklagebank: Uneinsichtig seien sie, höchst einseitig, ungerecht, verbohrt usf. Passen wir auf! Hier schleichen sich vermeintlich längst abgetane Kriterien in Betrachtung und Kritik poetischer Texte ein. Noch unausgesprochen, oder doch undeutlich ausgesprochen, wird eine Art von , political correctness eingefordert, zumindest aber Maß und am besten Ausgewogenheit. Anstoß erregt eine Verszeile wie „Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt“ Steht etwa eine neue ideologische Beurteilung literarischer Texte bevor, jetzt aus der West-Perspektive? Einar Schleefs Inszenierung von Hochhuths Drama „Wessis in Weimar“ im „Berliner Ensemble“ provozierte den Zorn der Gerechten: So ist es nicht, so war es nicht, das sind wir nicht!
Ich nehme an, daß wir in den kommenden Jahren erregende Texte lesen werden, gerade auch von Autoren aus der gewesenen DDR. Die Zustände sind danach. „Der Glückliche phantasiert nicht“, meinte Freud. Im vereinten Deutschland gibt es -und wird es geben -viele und sehr verschiedenartige Weisen, unglücklich zu sein. Eine fruchtbare Zeit für Literatur. Machen wir uns nicht freiwillig dumm. Fordern wir nicht von der Literatur, was andere Instanzen zu geben haben. Lesen wir die Texte der Dichter als Phantasien über die Wirklichkeit, auch wüste, wilde, schräge Phantasien. Und leisten wir uns das Privileg, Texte als Kunst wahrzunehmen: Ästhetische Gebilde, die mehr und anderes sind als bloße Mitteilungen und die uns daher auch anders berühren.