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Literatur als Lebenswelt. Frühe Erfahrungen eines späteren Verlegers in der DDR | APuZ 10/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1994 Literatur als Lebenswelt. Frühe Erfahrungen eines späteren Verlegers in der DDR Mein Blick auf die Literatur in der DDR Was ging uns die DDR-Kulturpolitik an? Biographische Notizen eines „Hineingeborenen“ Intellektuelle Opposition und alternative Kultur in der DDR

Literatur als Lebenswelt. Frühe Erfahrungen eines späteren Verlegers in der DDR

Roland Links

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bücher waren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Deutschland vor allem jungen Menschen erste Lebens-und Besinnungshilfe. Klassikerausgaben in allen Varianten -billige illustrierte Volksausgaben aus der „Gründerzeit“ neben kostbaren Erstausgaben -stapelten sich in Antiquariaten. Neue Bücher, schlecht gedruckt auf schlechtem Papier, waren selten. Zu Vorboten des Taschenbuches wurden im Westen „rowohlts rotations romane“ (rororo) im Zeitungsformat und zum Preis von 50 Pfennig. In der SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone) wie in der DDR wurde das Buch zur wichtigsten Quelle jener Visionen einer besseren Welt, die seit 1961 an der „Mauer“ zerbröckelten. In späteren Jahren, als Folge der KSZE-Konferenzen, konnten lange verweigerte Werke moderner Weltliteratur erscheinen und trugen zu jenem neuen Besinnungsprozeß bei, der schließlich die „Wende“ vorbereitete. Diese Entwicklung ist allerdings nicht so folgerichtig und offenkundig verlaufen, wie es heute scheint. Es hat an Richtungskämpfen und Reformversuchen nicht gefehlt; deren Auswirkungen auf die Literatur des Landes wie auf die Editionsstrategien der Verlage sind nachweisbar. Sowohl die hier erkennbare Literaturpolitik wie auch die damit verhinderten oder ermöglichten Leseerfahrungen sollten Bestandteil einer fortzuschreibenden deutschen Literaturgeschichte sein.

L

Als einer vom Jahrgang 1931 habe ich nicht nur die DDR von ihren ersten Tagen an erlebt; ich bin alt genug, um auch von den vier Jahren berichten zu können, die ihr vorausgegangen waren, und die mindestens in meinem Leben wie eine Art Resonanzboden für das gewirkt haben, was später kam.

Als Vierzehnjähriger war ich in den letzten Kriegs-wochen beim Volkssturm und habe jene Älteren beneidet, die eine Panzerfaust tragen „durften“. Selbst als Bomben auf uns fielen und Tiefflieger uns jagten, überdeckte die von Karl-May-Büchern (ich kannte alle) genährte Abenteuersucht die Gefahr. Erst viele Jahre später, nachdem ich den Film „Die Brücke“ gesehen hatte, holte ich das Erlebnis nach und schrie wenigstens im Schlaf vor Angst.

Bis Mai 1946 arbeitete ich auf einem bayerischen Bauernhof, und dort entdeckte ich eines Tages, als ich Getreidesäcke auf den Speicher schleppte, einen Stapel Bücher. Illustrierte Romane von Sir Walter Scott. Berichtenswert ist dieser Fund, weil nicht nur ich diese Bücher verschlang. Sie gingen von Hand zu Hand, und einer der untergetauchten ehemaligen Offiziere, ein Lehrer, nahm sich meiner an, erzählte von den „Rosenkriegen“ und den Kreuzzügen. Er vertrieb sich die Abende damit, mir und anderen jugendlichen Zuhörern eine Brücke zwischen Literatur und Geschichte zu schlagen. Ohne die damals erworbenen Kenntnisse hätte mich Georg Lukacs neun Jahre später nicht sofort in seinen Bann bringen können. Aber das gehört in ein späteres Kapitel.

Kann man Hunger trainieren? Als ich 1946 endlich zu meinen Eltern in Wittenberge an der Elbe fand, litt ich schon nach wenigen Wochen am ungewohnten Hunger wie an einer schweren Krankheit. In Bayern war ich der bemitleidete Junge aus dem Osten, der seine Eltern verloren hatte. Im Osten waren halt alle im Osten oder noch weiter aus dem Osten, also Flüchtlinge. Darüber sprach man aber nicht, sollte man lieber nicht sprechen. Ich wußte das nicht, ich erzählte allen, daß wir 1940 aus der Bukowina nach Schlesien gekommen waren und dann im „Wartheland“ angesiedelt wurden. Mein Klassenlehrer, dem ich auch noch berichtete, daß 1940, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, die Umsiedlungskommission aus je einem Offizier und Feldwebel der SS und einem Sergeanten und einem Kommissar der Roten Armee bestanden hatte, lud mich in seine Wohnung und warnte mich. Er war Halbjude, hatte die Nazizeit als Gleisarbeiter im rüstungswichtigen Reichsbahnausbesserungswerk überstanden und war nun glücklich, an der Oberschule Deutsch-und Geschichtsunterricht geben zu dürfen. Ob er als Lehrer ausgebildet war, weiß ich nicht. Von ihm erfuhr ich, daß noch Ende 1945 in Wittenberge Jugendliche als „Werwölfe“ auf dem Rathausturm die Hakenkreuzfahne gehißt hätten und deportiert worden seien; daß der Hitler-Stalin-Pakt ein „Tabu“ sei und daß man es sich auch derzeit nicht leisten könne, wie ich als „Parzival“ durch das Leben zu stolpern. So endete für mich eine kurze Zeit der Unbefangenheit, denn daß man sich vorsehen und anpassen mußte, war mir schon in Umsiedlungslagern und Internats-schulen der Nazijahre beigebracht worden. Ich hatte das Wort „Befreiung“ offensichtlich zu wörtlich genommen.

Das Kollegium bestand aus einigen uralten Studienräten aus der Weimarer Republik oder aus sogenannten Junglehrern, die sich nachts anzubüffeln suchten, was sie uns am nächsten Vormittag beizubringen hatten. Die Flüchtlingskinder waren meist älter als die Einheimischen, weil viele mindestens ein Jahr verloren hatten. Außerdem saßen in den verschlissenen Schulbänken der höheren Klassen junge Männer, ehemalige Soldaten, die ihr Abitur nachholen wollten. Die so vorprogrammierten Spannungen sollten durch einen Schüler-rat gemildert werden, dem bald auch ich angehörte.

Mein Vater war im Juli 1946, wenige Wochen nach meiner Ankunft, gestorben. Mutters Witwenrente reichte nicht. Auch mit Nachhilfeunterricht und Waldrodearbeiten an Wochenenden war nicht viel zu verdienen. Wir vermieteten eines von unseren zwei kleinen Zimmern an einen Chemiearbeiter der Zellwoll-und Zellulose-AG. Der Bruder meines Vaters, der schon 1940 in Berlin angesiedelt worden war, schickte meiner Mutter immer wieder Geld und erbot sich, meine drei Jahre ältere Schwester bis zum Abitur bei sich zu behalten. So konnte auch ich „Berlin erleben“, allerdings erst, als der übriggebliebene Anzug meines Vaters für mich umgeändert worden war. Berlin, die Zellwoll-Zellulose-AG und die Singer-Nähmaschinenfabrik wurden für meine geistige Entwicklung nahezu entscheidend -aber damit greife ich wieder vor.

Auch das erste Jahr in der „Ostzone“ war für mich ein „historisches“. Ich blieb bei meiner in Bayern geweckten Liebe für Geschichtsromane und steigerte sie zur Leidenschaft. Was sich in der Stadt-bibliothek, bei Schulfreunden, Lehrern und Bekannten von Edward George Bulwer bis Henryk Sienkiewicz auftreiben ließ, beschaffte ich mir, verschlang es und suchte in Konversationslexika Zusammenhänge. Ich weiß noch, daß ich in einem Aufsatz über mein Lieblingsbuch von Gustav Freytags „Ahnen“ schwärmte und daß mein Lehrer so klug war, mir wenig später, zum Geburtstag im März 1947, eine Broschüre zu überreichen, die ich heute noch besitze: „Die historische Größe“ von Jacob Burckhardt. Die vielen Unterstreichungen im Nachwort von Rudolf Stadelmann lassen darauf schließen, wie ernst es mir war. Ein Satz ist besonders hervorgehoben: „Wenn eine geschichtliche Krise die Voraussetzung ist für das Auftreten von großen geschichtlichen Individuen, so sind es offenbar auch nur die schrecklichen Zeiten, die ein Bedürfnis nach Größe haben und sich nach jener Unterwürfigkeit 6 sehnen, welche der unbestechliche Basler Humanist so sehr verabscheut und als ein , Gefühl der unechtesten Art 6 verworfen hat.“

Schon im Vorjahr, 1946, war im Verlag der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eine deutschsprachige Ausgabe der Studie „Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ des russischen Sozialdemokraten G. W. Plechanow veröffentlicht worden (die russische Originalausgabe ist 1898 erschienen). Wie und wann ich sie erworben habe, weiß ich nicht mehr, aber an den zeitlichen und geistigen Zusammenhang mit dem Burckhardt-Erlebnis kann ich mich lebhaft erinnern.

Wenn ich sagen sollte, wann ich das alles gelesen habe, wäre ich in Verlegenheit. Bei meinen Schulzeugnissen liegt ein ganzer Stapel vorgedruckter Urkunden: „Die Stadt Wittenberge dankt dem Bürger... für die geleistete Ehrenpflicht bei dem Wiederaufbau.“ Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen; wer nicht mit enttrümmerte, bekam keine Lebensmittelkarten. Da meine Mutter leidend war, ging ich allein zu den von den Bombenangriffen verbliebenen Ruinen nahe der katholischen Kirche. Hier traf sich die Jugend, hier war das, was sich viel später „Disco“ nannte -denn natürlich wurden wir wenigstens „beschallt“.

Weil ich aber noch nicht einmal gefirmt war, fürchtete meine Mutter um meine Unschuld und ließ sich im Wechsel mit einem jungen Vikar, der sich auf ihre Bitte hin meiner annehmen wollte, immer wieder blicken. Abends und an Wochenenden führte der Priester mit mir lange Gespräche, die erst endeten, als ich im örtlichen Antiquariat Nietzsches Werke fand und nun auch schriftlich belegen konnte, was ich fühlte: Gott ist tot. Daß ich meiner Mutter mit diesem Auftritt wehgetan hatte, tat mir leid, und daß ich für Nietzsche in unsere gemeinsame Kasse gegriffen hatte, beschämte mich. Am schlimmsten war aber, daß der Priester meinte, ich sei „immer noch“ ein Nazi und daß mein Klassenleiter, dem ich alles erzählte, ihm widerstrebend zustimmte. Die Nazis hätten sich auf Nietzsche berufen, und ich solle nicht nur in meinen Äußerungen vorsichtiger sein, sondern auch bei der Auswahl meiner Lektüre. Ich habe das weder damals noch später als „Zensur“ empfunden, weiß aber, daß das zu meinen ersten Lektionen in Selbstzensur gehörte, ohne die Zensur noch nie funktioniert hat.

Ein Zufall hatte mich damals aus meiner Not befreit oder mich vielmehr für einige Zeit von ihr abgelenkt. Während eines Berlinbesuches entdeckte ich im Schaufenster einer Buchhandlung einen Roman mit einem interessanten Titel und einem noch interessanteren Preis: „Schloß Gripsholm“ von Kurt Tucholsky als rororo-Zeitungsroman (dem Vorläufer der Taschenbücher) für ganze fünfzig Pfennig! Daß es kein historischer Roman war, wie ich vermutet hatte, verschmerzte ich schnell, denn plötzlich fühlte ich mich in einer Weise persönlich angesprochen, die ich noch nicht erfahren hatte. Ich meine nicht die berühmte Liebesgeschichte; die scheine ich überlesen zu haben. Mich packte der „Teufelsbraten“, Frau Adriani, und das von ihr malträtierte Kind, mit dem ich mich -in Erinnerung an Erlebnisse während der Nazizeit -identifizierte. Ebenso einseitig persönlich reagierte ich auf Theodor Plieviers „Stalingrad“. Während ich las, wichen zu meinem eigenen Erstaunen Betroffenheit und Trauer einem Gefühlsgemisch aus Trotz und Erleichterung, das ich vom Februar 1943 her kannte. Ich sah mich wieder im Internat in Birnbaum an der Warthe, wie immer als Letzten in der letzten Reihe, hörte die Trommelschläge des heranrückenden Fanfarenzuges und beobachtete denVerlauf einer pompösen Totenfeier, die inszeniert worden war, um alle, also auch mich, in die große Trauer um die in Stalingrad gefallenen Helden einzufangen. Ich hatte mich aber damals nicht einfangen lassen; ich hatte die nur verdeckte Schwäche und Angst derer genossen, vor denen ich mich täglich zu verantworten hatte -weil ich ein „komisches“ Deutsch sprach, weil ich nicht „zackig“ genug sein konnte.

Sicher, man liest und versteht immer nur das, wofür man schon reif ist; es kann aber auch sein, daß man in Büchern sucht, was wie ein Echo klingt, weil man anders nicht zu sich selbst finden kann. So war auch meine erste Begegnung mit dem „Siebten Kreuz“ von Anna Seghers. Heislers beklommenes Staunen über die satte Ruhe in den Orten, die für ihn Stationen der Hetzjagd und Flucht waren, glich meinem Staunen im verschneiten Leubus bei Breslau (im Winter 1940/41), wo sich keiner darum scherte, was wir Umsiedler in den riesigen Gebäuden des ehemaligen Klosters, das mit Strohsäcken als Wohnlager eingerichtet worden war, trieben.

Auch die vielen Striche in Rilkes „Stundenbuch“ signalisieren einen, der Antworten und Bestätigungen nicht nur sucht, sondern sie sich förmlich herausreißt: „Denn Armut ist großer Glanz aus Innen ...“; ..denn ein Wacher ist immer Träumer unter Trunkenheit“; „Du sagtest leben laut und sterben leise/und wiederholtest immer wieder: Sein.“

Zu Rilke habe ich immer wieder zurückgefunden. Immer wieder wurde er verdrängt; damals von Kurt Tucholsky. Ich erbat mir den von Walter Kiaulehn zusammengestellten, von Erich Kästners Nachwort abgeschlossenen Sammelband „Gruß nach vorn“ als Geschenk und kann dessen Wirkung auf mich und meine Freunde nur mit Tocholskys eigenen Worten bestimmen: „... es war, wie wenn jemand das Fenster aufgemacht hätte“, schrieb er am 21. Mai 1917 in einem Brief in die Heimat und meinte „ein Bändchen Schopenhauer“.

Mein Band ging von Hand zu Hand, wir lasen uns die Lieblingsstellen gegenseitig vor, und eines Tages stand ich auf einer Bühne und rezitierte „Drei Minuten Gehör“ mit dem Schluß: NIE WIEDER KRIEG!

Zwei Theateraufführungen in Berlin -„Die Illegalen“ von Günther Weisenborn und „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert -und zwei Prosa-texte -„Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada und „Die Moorsoldaten“ von Wolfgang Langhoff -zwangen mir Fragen auf, die sich schon angekündigt hatten, denen ich aber ausgewichen war. Gab es eine Kollektivschuld des deutschen Volkes, in die ich mich einbeziehen mußte? Waren meine Eltern, meine Verwandten Nazis? Hatte ich nicht auch Stolz empfunden, als ich im „Jungvolk“ nach verschiedenen Mutproben endlich zum „Hordenführer“ befördert worden war?

Solche Fragen wurden auch in der Schule gestellt, aber sie waren nicht in mich eingedrungen. Auch jetzt wurden sie wieder verdrängt, weil eines Tages in unserem Schulhof viele hundert Bücher von mehreren Lastwagen abgeladen wurden und Freiwillige sie in der Turnhalle ordnen sollten. Natürlich meldete ich mich. Übereifrige in den Wittenberger Singer-Werken (oder hieß die Fabrik schon „Textima“?) und bei der Zellwoll-Zellulose-AG hatten die Werksbibliotheken gesäubert und kurzerhand einfach alles aussortiert, was vor 1945 veröffentlicht worden war. Von unserem Untermieter erfuhr ich das Gerücht, alle Bücher seien schon zur Papiermühle unterwegs gewesen, aber der sowjetische Kulturoffizier solle ihre Vernichtung verhindert haben.

Ich entdeckte die prachtvolle Propyläen-Kunstgeschichte (sie soll später der Universitätsbibliothek Leipzig übergeben worden sein) und die zweibändige Literaturgeschichte „Dichtung und Dichter der Zeit“ von Albert Soergel. Obendrein konnte ich zu den meisten dort aufgeführten Namen nicht nur Leseproben finden, sondern nun auch Bücher -Romane, Dramen, Gedichte. Was offensichtlich linksorientierte oder freigeistige Bibliothekare und Gewerkschaftler, wahrscheinlich aber auch leitende Angestellte der beiden Fabriken zur Zeit der Weimarer Republik angeschafft und über die Nazi-jahre hinweg gerettet hatten, überspülte mich wie eine Springflut. Wenn ich später, während des Studiums, Titel wie „Menschheitsdämmerung“ und Namen wie Ernst Barlach, Gottfried Benn, Stefan George, Arno Holz oder Stefan Zweig zu hören bekam, erinnerten sie mich an jene in der Turnhalle meiner Schule verbrachten Stunden und an mein Staunen.

Geblieben ist mein Interesse an Stefan George und meine Liebe zu Arno Holz; geblieben ist meine Nähe zu Alfred Döblin, ausgelöst durch einige Sätze über Kindheit und Jugend in seinem „Rückblick“ von 1928. Verstanden und nicht mehr losgelassen habe ich ihn erst, nachdem ich mich durch „Berlin Alexanderplatz“ durchgebissen hatte. Mir imponierte, daß Döblin sich für „das Problem der Menschen, die , zwischen den Klassen'stehen“, interessierte und daß er sich zu seiner „Armut“bekannte. Noch immer suchte ich vor allem mich selbst, aber die ungewohnte Art der Darstellung, die nahezu filmischen Schnitte und die zahllosen Verfremdungen zwangen mich in eine Distanz, die mir sehr gefiel.

Ob das Döblin-Erlebnis die außerordentliche Wirkung erklären kann, die wenig später Günther Weisenborns „Memorial“ auf mich ausgeübt hat, oder ob sie dem hohen Rang dieses kleinen Textes zuzuschreiben ist, kann ich nicht beurteilen; ich bin befangen. Leider besitze ich den RoRoRo-Zeitungsdruck (er kostete wie „Schloß Gripsholm“ nur 50 Pfennig) nicht mehr, erinnere mich aber noch deutlich an das Nachwort von Wolfgang Weyrauch, in dem Weisenborn gepriesen wurde, weil er zweierlei könne -sich unter die Leute mischen und sie doch „wie aus einem Fesselballon“ beobachten. Aber nicht die Form war mir damals wichtig. Wie bei Döblins „Alexanderplatz“ verhalf sie dem Inhalt, mich so zu packen, daß ich über Assoziationsmöglichkeiten hinaus neue Erfahrungen machte und bewahrte. „Die Illegalen“ von Weisenborn hatten mich, wie Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, auf-gestört -nun aber fühlte ich mich in die Pflicht genommen. Weisenborns unpathetischer, mit Erinnerungen aus dem früheren Leben versetzter Gestapo-und Zuchthausbericht verlangte Ergänzung, und die zu besorgen, war gerade in der Ost-zone leicht. Am tiefsten eingeprägt haben sich von den vielen Zeitungsberichten, Broschüren und Büchern Wiecherts „Totenwald“, „Goethe in Dachau“ des Niederländers Nico Rost und die von Graf Alexander Stenbock-Fermor aufgezeichneten Erinnerungen des Gefängnispfarrers Harald Poelchau: „Die letzten Stunden.“

Im Lehrplan der Oberschulen, gleich nach Kriegsende aufgestellt von demokratisch gesinnten, humanistisch gebildeten Pädagogen, war für die obersten Klassen ein beachtliches Pensum deutscher Klassik vorgesehen. Aber es fehlte an Texten. Die besorgte ich mir in Berlin. Ich hatte sparen können, weil mehrere Lehrer mich ihr Winterholz hatten hacken lassen und dafür gut bezahlten. Vielleicht hätten sie das nicht getan, wenn sie gewußt hätten, daß ich nicht nur jede Mark in die Antiquariate am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin trug, sondern vor lauter Lesen versetzungsgefährdet wurde. So viele neue Klassiker-Ausgaben ich seitdem auch erwerben konnte -die damals zusammen-gesparten haben ihre Plätze in meiner Bibliothek behauptet. Schließlich waren bei Goethe Bruchstücke der Cottaschen Ausgabe von 1840, bei Her-derganze Gruppen der 1829 von Heyne besorgten dabei. Weil ich in jenen Jahren schon wußte, daß ich Germanist und Literaturhistoriker werden würde, habe ich mich auch mit Literaturgeschichten und Essaybänden eingedeckt. Reinhard Buchwalds Betrachtungen über „Gedankenwelt und sittliche Botschaft“ (in: „Das Vermächtnis der deutschen Klassiker“, Insel-Verlag) wurden in meinem Verständnis von Paul Rillas „Goethe in der Literaturgeschichte“ ergänzt, und ich sah keinen Widerspruch zu Hans Mayers „Rede vor jungen Menschen, gehalten im Deutschen Nationaltheater am 21. März 1949: GOETHE IN UNSERER ZEIT“. Die Quintessenz der Mayerschen Darlegungen erschien mir so naheliegend, selbstverständlich und unumgänglich, daß ich sie mir als Maxime meines eigenen Lebens aneignete: „Goethe hat in einem seiner letzten Gespräche betont, sein ganzes Leben habe eigentlich immer nur einem einzigen Thema gegolten: der Scheidung zwischen Kultur und Barbarei.“

II.

Sollten sich ungeduldige Leser dieses Rückblicks fragen, warum ich noch den März 1949 mit Klassikerausgaben verbinde und kein Wort über Sozialismus und entsprechende Indoktrinationen verliere, müßte ich sie auf den Vortrag von Manfred Jäger „Zur Kulturpolitik in der SBZ“, gehalten bei der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages am 4. und 5. Mai 1993 (abgedruckt in „Horch und Guck“, Berlin; [1993] 8, S. 55f.) hinweisen. Dort heißt es u. a.: „Das politische Ziel eines einheitlichen Deutschland war noch nicht ad acta gelegt. Ohnehin konnte das zerstörte Land, der sowjetisch besetzte Teil, mit einer eher apathischen Bevölkerung, nicht unter kommunistischen Losungen aufgebaut werden. Das wäre selbstmörderisch gewesen. So wurde auf sogenannte gute Traditionen gesetzt, diq während der dunklen Nazijahre verschüttet wurden. Die Orientierung auf die großen Geistesheroen, vor allem auf Goethe und Schiller, beginnt auch unter dem Einfluß des Deutschlandbilds, das die Kulturoffiziere der Roten Armee aus Moskau und Leningrad mitbrachten, wo sie in der Regel Germanistik studiert hatten.“

Wie schwer es noch heute (oder gerade heute) ist, sich mit den Verhältnissen jener Jahre ab-oder in ihnen zurechtzufinden, kann Ruth Rehmanns aufschlußreichem Buch über den Schriftstellerkongreß von 1947 entnommen werden („Unterwegs in fremden Träumen“, Carl Hanser Verlag, 1993). Ein Zitat aus anderer Sicht kann erhellen, was damals mit und in meiner Generation vorging: „In den Jahren nach 1945 erschien es fast als eine Selbstverständlichkeit, daß in den Mittelpunkt der Beschäftigung mit literarischem Erbe die Durchbrüche der bürgerlichen Aufstiegsliteratur traten. Sie empfanden wir als uns nahestehend... Denn wir waren ja in jenen Jahren selbst im Begriff, mit der Vergangenheit abzurechnen, uns der entstehenden neuen Gesellschaft zuzuwenden und uns als deren Akteure zu fühlen.“ (Hans Kaufmann: „Versuch über das Erbe“, Leipzig 1980, S. 8).

Mit der Gründung der NATO am 4. April 1949, der wenig später erfolgten Gründung der Bundesrepublik Deutschland und dann im Gegenzug mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik hatten wir plötzlich ausgeträumt. Goethes „Forderung des Tages“ wurde nun als Bekenntnis zum neuen Staat ausgerufen; bald war der Aufbau des Sozialismus die „sittliche Botschaft“, und die „Scheidung von Kultur und Barbarei“ wurde zur Scheidung von Ost und West. Wechselseitig nahm jede Seite die Kultur für sich in Anspruch und unterschob die Barbarei jeweils dem Gegner.

Der Schulchor, dem ich angehörte, hatte schon manche Auszeichnung erhalten; die gemeinsame Reise nach Berlin am 11. Oktober 1949 galt als höchste. In Nieder-Schönhausen, ganz in der Nähe des Schlosses, das zum Sitz des ersten Präsidenten erklärt worden war, standen auch wir mit Fackeln Spalier. Der alte Mann, der im offenen Wagen an uns vorbeifuhr und dem alle zujubelten, hieß Wilhelm Pieck. Lehrer, die wir achteten, weil sie ehrlich waren und in der Nazizeit verfolgt wurden, fanden für ihn gute Worte. Die paßten auch zu dem Bild, das später in unser Klassenzimmer und in die Aula gehängt wurde. Mir gefiel dieses Gesicht, und mir gefiel die Parole, die als das Erziehungsziel dieses neuen Staates ausgegeben wurde: „Selbständig denkende, verantwortungsbewußt handelnde“ Menschen sollten wir sein. Später wollte ich mit dieser Motivation Lehrer werden, und ich habe nicht aufgehört, sie ernst zu nehmen, als ich mich statt dessen als Lektor in einem Verlag wiederfand.

Ehe ich aber Lektor werden konnte, mußte ich studieren. Den Leiter des Germanistischen Instituts der Landeshochschule Potsdam, Prof. Dr. Ernst Hadermann, lernte ich noch vor meiner Immatrikulation beim Möbelschleppen kennen. Denn nichts war fertig, alles improvisiert. Heute glaube ich, daß das unser Glück war. Hadermann besorgte Gastdozenten, unter ihnen Victor Klemperer aus Dresden. Der von jungen Ge-Wi-Dozenten (Ge-Wi = Gesellschaftswissenschaft) praktizierten und propagierten Methode, Lehrsätze auswendig zu lernen, widersetzte sich Hadermann und animierte uns zu eigener, kritischer Sicht.

Ernst Hadermann, Germanist alter Schule und ausgebildeter Lehrer, hatte als Leutnant am Ersten, als Hauptmann am Zweiten Weltkrieg teilgenommen; und weil er nach 1918 Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewesen war, konnte Erich Weinert ihn im Gefangenenlager für das Nationalkomitee Freies Deutschland gewinnen. Er ist der „deutsche Hauptmann H “, mit dem Weinert vor Stalingrad im Graben lag und mit wenig Erfolg die deutschen Soldaten per Lautsprecher zum Überlaufen aufforderte (s. „Memento Stalingrad. Ein Frontnotizbuch“, Berlin 1951). Nach der Rückkehr nach Deutschland war er zusammen mit Paul Wandel in der Landesregierung Brandenburg tätig und u. a. für die Lehrpläne der Oberschulen zuständig. Als 1950 in Potsdam eine Landeshochschule gegründet wurde (die als künftige Universität gedacht war, aber 1953 in eine Pädagogische Hochschule umgewandelt wurde), nutzte er die Gelegenheit, um sich von der Politik zu befreien. Später, als wir befreundet waren, hat er oft geklagt, daß er damals vom Regen in die Traufe geraten sei, denn gerade an den Hochschulen wurde darauf geachtet, daß der dialektische Materialismus sich durchsetzte. Der Sozialismus stand der ganzen Welt, also auch uns, „gesetzmäßig“ bevor; wir hatten uns dementsprechend einzurichten.

Wenn etwas mein Leben in der DDR charakterisieren kann, dann die Kluft zwischen öffentlichen und intimen Meinungen. Hinzufügen muß man die „Grauzonen“ zwischen schon gebildeten Meinungen, die ja Kenntnisse und Erkenntnisse voraussetzen, und dem unreflektierten Nachsprechen von Parolen, die uns als Plakate und Spruchbänder umgaben. Die „Vision“, die unser Leben bestimmt haben soll, kann ich nur bedingt bestätigen. Ich jedenfalls wußte vor allem, was ich nicht wollte: Hunger, Krieg, „Geschliffenwerden“, Befehle entgegennehmen. Der Zukunft glaubte ich mich anvertrauen zu können (und zu müssen), weil sie sich ohnedies als „historische Notwendigkeit“ vollziehen würde. Diese Erkenntnis meinte ich auch den Aufsätzen von Georg Lukacs zu entnehmen.

Georg Lukacs -schon in Wittenberge, also noch vor dem Studium, war mir dieser Name in der Zeitschrift „Aufbau“ begegnet und aufgefallen. Inder Abiturklasse hatte es sich herumgesprochen, daß er der neue Literaturpapst sei und daß man sein Buch über Thomas Mann und „Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus“ kennen müsse. Ich besorgte mir auch „Der russische Realismus in der Weltliteratur“ und hatte daran mehr Gefallen. Die meist harten Urteile über die Werke deutscher Zeitgenossen widersprachen meinen Leseeindrücken, und ich speicherte sie als „öffentliche Meinung“. Was hingegen über Thomas Mann und erst recht über Tolstoj und den kritischen Realismus gesagt wurde, beeindruckte mich tief. Ich hatte eben erst „Krieg und Frieden“ gelesen, hatte auch schon die Franzosen für mich entdeckt und sah nun, mit Lukacs’ Hilfe, Zusammenhänge von Homer bis Goethe, von Balzac, Flaubert, Maupassant und Ibsen bis in die Gegenwart. Ich vertraute der Bildung dieses Mannes; mehr noch nahm mich die Entschiedenheit seiner Argumentation ein. Große Kunst im Zwang „einer welthistorischen Notwendigkeit“! Kunst auch als Gegenentwurf, aber auch dann noch diesen „Notwendigkeiten“ ausgesetzt! Georg Lukacs lehrte mich (und unzählige andere) auf seine Art lesen und die Welt verstehen. Erst über ihn kam ich zu Marx und Engels, dann zu Franz Mehring. Viel, sehr viel, habe ich auch nicht gelesen -weil ER es nicht lesenswert fand. Heute weiß ich, daß Professor Hadermann und manche Dozenten seiner Generation unsere Begeisterung befremdet und besorgt beobachteten. Sie werden gemerkt haben, daß unsere Hingabe-bereitschaft nicht einer bestimmten, bestechend formulierten Lehrmeinung galt, sondern einer Pseudologik, die wir auch auf uns selbst bezogen. Die ganze Menschheitsgeschichte erschien uns als diese „historische Notwendigkeit“, zu deren Ergebnissen der Sozialismus und mit ihm die Deutsche Demokratische Republik gehörten.

Ernst Hadermann war kein karriereorientierter Mitläufer. Als er dem „Nationalkomitee Freies Deuschland“ beitrat, wollte er Menschenleben retten und den Krieg beenden helfen. In diesem Sinne sprach er über den Schwedischen. Rundfunk, was ihm noch in den letzten Kriegsmonaten das Todesurteil in absentia und seinen Angehörigen Verfolgungen einbrachte. Wenn ich mich recht entsinne, ist er noch vor dem 17. Juni 1953 aus der SED ausgetreten. Sein Traum war ein einheitliches Deutschland nach dem Vorbild der Weimarer Republik. Unter den deutschen Klassikern stand ihm Johann Gottfried Herder am nächsten. Dessen geschichtsphilosophische Schriften habe ich Hadermann zuliebe mit Hingabe studiert und mir das erste der vier „Naturgesetze“ über den Ursprung der Sprache hinter die Ohren geschrieben: „Der Mensch ist ein frei denkendes, tätiges Wesen, dessen Kräfte in Progression fortwirken; darum sei er ein Geschöpf der Sprache!“

III.

Nach der Wende sind nicht nur die Bücherfreunde in Leipzig oder in den neuen Bundesländern von einem Büchervernichtungsskandal in Atem gehalten worden, von dem noch heute mancher spricht. Mit der D-Mark war allen Buchhändlern in der damals schon „ehemaligen DDR“ ein ganz anderes Angebot ins Haus gekommen, und die meisten nutzten die Gelegenheit, sich von alten Buchbeständen (und Verpflichtungen) zu befreien. Über Nacht waren alle verfügbaren Papiermühlen überlastet, und so wurde ein beträchtlicher Teil dieses nun „unnützen“ Altbestandes auf Halden förmlich untergepflügt, um auch die Lagerräume des Groß-buchhandels wieder freizubekommen. Auch mir tat es um die Bücher leid, aber ich war nicht überrascht.

Zu meinen ersten Eindrücken als Lektor im Verlag Volk und Welt ab 1954 in Berlin gehörte eine „Ökonomische Konferenz“, auf der über „Bestandslisten“ diskutiert wurde. Alle redeten um den heißen Brei herum, bis der damalige Partei-sekretär (er wurde später Verlagsleiter) Walter Czollek das Kind beim Namen nannte. Er rekapitulierte den Inhalt eines Romans „MT-Station“ des Bulgaren Andrej Guljaschki, verglich dessen Auflagenhöhe (dreißigtausend) mit den Verkaufsmeldungen (zweitausend) und schlug „einstampfen“ vor. An dieses mir ungewohnte Wort -„einstampfen“ -wurde ich erinnert, als in den nächsten Wochen die „Schuld“ des Lektorats erörtert wurde und „Maßnahmen“ beschlossen werden sollten. Jeder wußte, daß solche Bücher nichts taugten und auch kaum gelesen wurden.

Aber solange man sich von ihnen eine propagandistische Wirkung versprochen hatte, war der Buchhandel zur Abnahme verpflichtet. Erst als der Wind gedreht hatte (nach dem 17. Juni 1953) und man auch öffentlich den „Schematismus“ bekämpfte, weil dessen Wirkungslosigkeit nicht mehr zu übersehen war und die Lager überquollen, entschloß man sich zu Reaktionen, und wieder bissen den „Letzten“, nämlich den Lektor, die Hunde.

Tatsächlich war das Lektorat dieses 1947 gegründeten Verlages bunt zusammengewürfelt undwurde nun erst mit Absolventen der neuen Hochschulen neu aufgebaut. Uns konnte man Zutrauen, daß wir gebildet genug waren, literarische Qualitäten eingesandter oder bei ausländischen Verlagen bestellter Texte zu erkennen, und daß wir das erahnen konnten, was die DDR-spezifische „Marktsituation“ war. Im Namen der Leser wählten wir Manuskripte und Bücher aus, im Namen des „Marktes“ (sprich Zensur) schieden wir sie aus. Was Martin Walser in seiner kleinen Philippika „Über Päpste“ den Kritikern vorwirft, habe ich in allen Phasen erlebt: „Aber eben nicht nur die literarische Kritik ging über zur Herrschaft und zur Herrschaft über, sondern die ganze Literatur der Klasse. Statt Kritik wird jetzt vom Intellektuellen Legitimierung verlangt.“ Wir alle hatten ja miterlebt, wie der Film nach Arnold Zweigs Roman „Das Beil von Wandsbek“ erst emphatisch gelobt, dann aber zurückgezogen und verändert wurde. Wir konnten uns an die Umwandlung von Stück und Titel bei Brechts „Verhör des Lukullus (in , Verurteilung 4)“ erinnern. Bei Anna Seghers’ „Die Toten bleiben jung“ hatten wir mitbekommen, wie leicht sich der Vorwurf der zu großen Interessantheit bürgerlicher Figuren in eine „kompromittierende“ Interessantheit umdeuten ließ. Unsere Ambivalenz war vorprogrammiert, und es trat genau das ein, was Martin Walser unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen (übertreibend oder nicht) konstatiert hatte: „Aus einem Instrument, das generell entwickelt wurde, Herrschaft zu bestreiten, hat er (der Kritiker, R. L.) ein Instrument zur Legitimierung von Herrschaft gemacht. Es ist also geradezu logisch, daß dieses Instrument sich jetzt selbst nicht ernst nimmt. Aus schlechtem Gewissen? Vielleicht. Aber gerade das rechnet sich diese Macht am höchsten an, dieses Sich-selbst-nicht-ernst-Nehmen.“ (Martin Walser: „Wer ist ein Schriftsteller?“, Frankfurt/M 1979, S. 52.) Wir saßen zwischen den Stühlen, weil wir einerseits bei Georg Lukacs gelernt hatten, daß „große Literatur“ vor allem die Schwächen jeder Gesellschaft aufspürt, wir uns aber andererseits nicht sagen lassen wollten (und konnten), daß wir das gemeinsame Ziel, den Sozialismus, verrieten. Die Hofnarren-Rolle, in die wir uns drängen ließen, war nicht angenehm; sie bot aber Tarnungs-und Fluchtmöglichkeiten. Sicher ist es nicht übertrieben, wenn ich sage, daß früher oder später jeder von uns seinen „Gift-schrank“ hatte, in dem Bücher standen, die er selber liebte, aber nicht zur Veröffentlichung vorschlug. So hatte beispielsweise Ernst Fischer aus Wien über Robert Musil im Plenarsaal der Akademie der Künste einen fulminanten Vortrag gehalten; der kleine Saal war überfüllt, schnell eingeschaltete Lautsprecher in anderen Räumen beruhigten die anfangs Enttäuschten. Aber zum Drucken der Musilschen Werke „fehlte das Papier“. Es sei „noch nicht an der Zeit“, wurden wir vertröstet, und wir ließen uns vertrösten. Die Jahre von der Gründung der DDR bis zum Bau der Mauer waren natürlich nicht nur von jenen Konstrukten beherrscht, die später unter dem Schlagwort „Schematismus“ abgetan wurden. Viele Bücher aus der Sowjetunion und den „Volksdemokratien“ wurden sogar gern gelesen und haben manchem das beschert, was Ernst Fischer am Leseprozeß als „Erlebnis ohne Risiko“ konstatiert hat. Zwischen Nikolai Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ oder Alexander Fadejews „Die junge Garde“, die beide schon bald nach dem Krieg in der Schule und in der Freien Deutschen Jugend als Lebensvorbilder angeboten wurden, und dem 1957 deutsch erschienenen „Tauwetter“ von Ilja Ehrenburg gab es immer wieder Schilderungen des Krieges wie Viktor Nekrasows „In den Schützengräben von Stalingrad“ oder Konstantin Simonows „Die Lebenden und die Toten“, aber wenige Alltagsgeschichten, denen man vertrauen konnte.

Ich kann über diese Literatur wenig sagen, weil ich sie zu wenig kenne. Selbst bei der Pflichtlektüre „Wie der Stahl gehärtet wurde“ und „Fern von Moskau“ hatte ich mich mit den dazugehörigen Filmen begnügt. Das war weder „Widerstand“ noch Arroganz. Die Zeit hätte nicht auch noch dafür gereicht. Ich weiß noch, mit welcher Erleichterung ich Anfang der fünfziger Jahre ein Gedicht von Franz Fühmann las, in dem er nichts als die Liebe besang. Sie war auch unseren damaligen gewaltigen Dimensionen angepaßt -„Liebe, ach Liebe, du heiliges Feuer/brenn aus der Menschheit die Furcht und den Schmerz“ -, aber dieses Gedicht beruhigte das schlechte Gewissen, man betrüge den Sozialismus mit seinen „kleinen privaten Gefühlen“. In meiner Auseinandersetzung mit Lukacs stieß ich auf einen kleinen Aufsatz „Die wichtigste gesellschaftliche Funktion des Schriftstellers“ von Arnold Zweig (Aufbau, [1950], 3, S. 213L) und fand Sätze, die mich auch als Lektor motivierten: „Die großen Erzählungen der Weltliteratur, von den früheren Märchen bis zu den späten Meisterromanen, helfen dem Menschen leben; sie bringen ihm ins Gefühl, was Liebe zwischen den Geschlechtern wert ist und wie sie verfeinert und veredelt wird. Glück und Elend des Ehrgeizes wird dargestellt, die vernichtende Kraft des Triebes nach Reichtum oder dem sinnlichen Besitz von Frauen wird erlebnisfähig gemacht,ohne daß der Leser oder Zuschauer selber als Geizhals oder als Don Juan zu leben gezwungen ist... Die Beschäftigung mit solchen Dingen gehört zu den wesentlichen Facetten der Kultur und ihrer Einbettung in alle Stände und Klassen, und wer etwas von der wirklichen Funktion der Künste versteht, läßt sich nie wieder als Barbar mißbrauchen.“

Ich glaube, Arnold Zweig wird gewußt haben, wie sehr er die möglichen Wirkungen von Literatur übertrieb. Aber ist man sich denn heute noch dessen bewußt, daß Alexander Abusch -später Kulturminister der DDR -den Schriftstellern expressis verbis Hilfe bei der Erfüllung des Zweijahresplanes der Republik aufbürden wollte? Die Zeitschrift „Sinn und Form“ wird allenthalben gelobt, Brecht erneut geschmäht. Aber von ihm stammt die hier veröffentlichte, uns alle damals ermutigende Forderung, Kunst von Bevormundung und Zensur zu befreien und generell nur Kriegs-hetze und Faschismus zu bekämpfen (Sinn und Form, [1951] 5, S. 5).

Meine kritische Auseinandersetzung mit Lukacs zog sich über das Staatsexamen hinaus noch einige Jahre hin und wurde von Anna Seghers’ Briefwechsel mit ihm befördert („Probleme des Realismus“, Berlin 1955) Damals fand ich zurück zu Döblin und zu den Expressionisten. Ich betreute als Lektor den mit einem Vorwort von Bodo Uhse und einem Nachwort von Bruno Kaiser „abgesicherten“, obendrein auch noch mit dem Vermerk „Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin“ versehenen Band „Ausgewählte Schriften“ von Ernst Toller (Berlin 1959). Die Sätze, mit denen Bruno Kaisers Nachwort über Ernst Toller endete, waren in vielfacher Hinsicht programmatisch: „Und die zweite Auflage seiner Autobiographie widmete er 1936 , Dem Deutschland von morgen 4. Diesem unseren Deutschland hat auch er die Pfade bereitet. Wir schulden ihm Dank.“ Damit konnte auch ein über die DDR hinausweisendes Ideal gemeint sein.

Den Begriff vom „real existierenden Sozialismus“ gab es damals noch nicht; aber es lief schon alles darauf hinaus. Viele der ehemaligen Emigranten hielten an dem fest, was unter Johannes R. Bechers Einfluß ursprünglich zum Programm des „Kulturbundes“ gehört hatte -an einer „demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Aber die Hinrichtungen in Moskau, in der CSR, Ungarn und Rumänien waren nicht vergessen, erst recht nicht die Prozesse gegen Harich, Janka u. a. In jener Zeit den „Anarchisten“ und „Versöhnler“ Toller herauszubringen, dem 1926 bei einem Moskau-besuchdie Ausweisung nur erspart geblieben war, weil Clara Zetkin sich für ihn eingesetzt hatte -das war ein Wagnis, auch wenn es dem Gedenken seines Freitodes galt. Es hat damals an solchen kalkulierten „Wagnissen“ nicht gefehlt, und es wird wohl einmal die Zeit kommen, in der man auch diese Rolle der Akademie der Künste und der Verlage erkennen wird. „Absichern“ war eine stillschweigend gehandhabte und zunehmend bewährte Methode. Nachdem Brecht die Auflösung des engstirnigen „Amtes für Literatur“ erreicht hatte, saßen in der für die Druckgenehmigungen zuständigen Abteilung des Ministeriums für Kultur auch ausgebildete Literaturwissenschaftler, die schnell in das gleiche Dilemma gerieten wie die Lektoren in den Verlagen. Sie waren dankbar für jedes Nachwort aus der Feder eines Prominenten. Diese beriefen sich ihrerseits in ihren Texten auf noch „Prominentere“. Ein Kabinettstück dieser Art hat der ehemalige Sozialdemokrat Walther Victor geliefert, als er 1952 ein Lesebuch von Kurt Tucholsky herausgab (Thüringer Volksverlag, Weimar; später vom Aufbau Verlag übernommen). Im Vorwort verharmlost er Tucholsky auf das Maß eines Verwirrten (was allerdings wissentlich durch die Auswahl widerlegt wird) und setzt ganz an den Anfang ein Motto ausgerechnet von A. A. Shdanow, dem Protagonisten des Kalten Krieges auf sowjetischer Seite. -Ja, es hatte sich in allen Lagern durchgesetzt, daß der Zweck die Mittel heiligt.

Das Wort „Lager“ ist vielleicht übertrieben, aber was Alfred Kantorowicz 1959 rückblickend von einer Tucholsky-Gedenkfeier 1947 zu berichten wußte, war auch ein Jahrzehnt später noch spürbar: „Die Gedenkstunde... hatte viel Atmosphäre des besten Weltbühnengeistes. Der große Sendesaal des Funkhauses war erfreulicherweise überfüllt, dennoch durften wir das gute Gefühl haben, , unter uns 4 zu sein. Kate Kühl (seine , liebe Kulicke 4) sang wie eh und je sein klagendes Lied vom Graben ...“ Und Kantorowicz setzte hinzu: „Der Graben hatte sich ja bereits wieder aufgetan: Gerade an der Stelle, wo wir standen, in Berlin, verbreiterte er sich von Stunde zu Stunde, um zwei Welten voneinander zu trennen“ (Alfred Kantorowicz, „Deutsches Tagebuch“, München 1959, S. 405).

Als Kantorowicz seine Erinnerungen veröffentlichte, 1959, war Bölls „Billard um halb zehn“ erschienen, und ich weiß, daß ich mir die „westdeutsche“ Ausgabe besorgen konnte, weiß aber nicht mehr, wie. Sehr viel später habe ich Bölls eigene Deutung gelesen: „Deutsch-Nationale zusammenmit den Industriellen und Bankiers.. das waren für mich die Büffel.“ Tiefbetroffen habe ich mir selber vorgehalten: „Auch du hast die Sakramente der Büffel gegessen“, denn ich wußte (nein, ich ahnte mehr als ich wußte), daß ich mich selber in den Dienst einer Macht begeben hatte, die nicht identisch sein konnte mit dem, was wir uns unter dem Begriff „Sozialismus“ ersehnt hatten.

Damals begann bei mir (besser: kündigte sich bei mir an), was Peter Behder über die DDR formuliert hat: „... sie war auch der Versuch eines sozialistischen deutschen Staates. Dieser Versuch wurde nicht von der Mehrheit der Ostdeutschen getragen, aber er war von der Minderheit, die ihn unternahm, ernst gemeint. Der Versuch ist gescheitert, dennoch hingen an ihm die Hoffnungen und Träume deutscher Sozialisten und Kommunisten.“ (Peter Bender, „Die sieben Gesichter der DDR“, in: MERKUR, [1991] 4, S. 294.)

Von der Frankfurter Buchmesse 1959, an der ich als Mitglied der Standbesatzung teilnehmen durfte, brachte ich ein Buch mit, das mich wie kein anderes vorher betraf und traf: „Stiller“ von Max Frisch. Alle Vernunft sagte mir, daß es in den „Giftschrank“ gehörte, aber der „bewährte“ Mechanismus der Trennung von „offizieller“ und „intimer“ Meinung wollte diesmal nicht funktionieren, zumal mich Hadermann ermutigte und Hans Mayer bereit war, ein absicherndes Nach-wort zu schreiben. Leider half alles nichts. Dieses Buch ging von Instanz zu Instanz, soll sogar in der Kulturabteilung des ZK der SED kontroverse Diskussionen ausgelöst haben, ist dann von der Ideologischen Kommission des ZK (eine sehr seltene, hohe „Ehre“) verworfen worden und konnte erst 1975, nach den KSZE-Konferenzen, in der DDR erscheinen.

Zu jener Zeit, 1975, ist in der Zeitschrift „Text und Kritik“ (Nr. 47/48, S. 7-12) ein, wenn mich nicht alles täuscht, viel zu wenig beachteter kleiner Essay von Christa Wolf erschienen: „Max Frisch, beim Wiederlesen oder: Vom Schreiben in IchForm“. Dieser Text liefert die Erklärung für das auf den ersten Blick nur schwer verständliche „Stiller“ -Verbot von 1964 und markiert zugleich Weg und Leistung von Christa Wolf selbst, denn was sie dankbar an Frisch preist, war nach der Mauer ihr Vorbild. Auch sie hat sich gewehrt „gegen das stillschweigende Übereinkommen mit den gegebenen Verhältnissen, gegen das Verschlungenwerden“. Sie selbst hat erfahren, was sie an „Stiller“ und Frisch beobachten konnte: „Paradoxerweise führt gerade seine Weigerung, an einen Sinn, also eine innere Notwendigkeit des So-und-nicht-anders zu glauben, nicht zu Überdruß, Ekel, Langeweile, sondern zu einer Nüchternheit, die Energie freisetzt, und zu Einsicht in eine Aufgabe, der er sich nun als seinem Auftrag unterzieht: Gegenbilder aufzustellen gegen die ungeheuerlichen Deformationen von Menschen in dieser Zeit.“ Nur wenige Zeilen später hebt sie das hervor, was dann, seit der Mauer, viele in der DDR versucht haben: „Den Entwurf, sinnvoll zu leben in bezug auf den anderen.“

In den anderthalb Jahrzehnten nach dem Bau der Mauer hat es ein Nebeneinander und vermutlich auch ein Gegeneinander mancher Konferenzen und Maßnahmen gegeben, das noch erforscht werden müßte. So ist 1965 dem 11. Plenum des ZK der SED mit seinen rigiden Folgen im Frühjahr ein Internationales Schriftstellertreffen in Berlin und Weimar vorausgegangen, von dem heute niemand mehr Notiz nimmt. Die einheimischen Teilnehmer waren aber von den ungewohnt offenen Gesprächen sehr angetan. In einer Studie über die Intellektuellen in jener Zeit schreibt Jens-Peter Krüger: „Die parteistaatliche Diktatur mußte von ihr widersprechenden Modernisierungspotentialen leben, an denen sie zugrunde ging... Das eigenartigste Modernisierungspotential der DDR wuchs in den Menschen selbst heran. Sie entwickelten eine Kultur sich selbst widersprechender Individuen.“ (Jens-Peter Krüger, „Ohne Versöhnung handeln, nur nicht leben“, in: Sinn und Form, [1992] 1, S. 46.)

Die Widersprüche in uns waren auch Spiegelbilder des großen Widerspruches zwischen Vision und Wirklichkeit. Den Trost, den wir selbst in Büchern fanden -mit den Namen Thomas Bernhard und Peter Weiss kann ich hier eine sehr lange Liste nur andeuten -, versuchten wir immer auch weiterzugeben, indem wir uns (unter Berufung auf das zu bewahrende Erbe) für die Veröffentlichung der Werke solcher Autoren einsetzten. Nicht ausgeschlossen, daß wir damit manchem das Leben in der DDR ein Weilchen erträglicher gemacht haben. Mit der Wahrnehmung von Autoren wie Anouilh und Aragon, Beckett und Behan, Michel Tournier oder John Updike, Thornton Wilder oder William Carlos Williams hat die in der DDR lange nur in „kleinen Dosen“ zugelassene Literatur des 20. Jahrhunderts den neuen Besinnungsprozeß, der schließlich die „Wende“ vorbereitet hat, aber eher gefördert als behindert.

Fussnoten

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Roland Links, Dipl, phil., geb. 1931; Germanist und Literaturhistoriker; seit 1954 Lektor im Verlag Volk und Welt, Berlin; übernahm 1979 die Leitung der Verlagsgruppe Kiepenheuer in Leipzig, dort maßgeblich an der Edition „Internationale Literatur des 20. Jahrhunderts“ beteiligt. Veröffentlichungen u. a.: Alfred-Döblin-Biographie, Berlin 1964 und München 1981; Herausgeber bzw. Mitherausgeber von Anthologien, Auswahlbänden und Werkausgaben (u. a. Alfred Döblin, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Karl Kraus, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky); Kritiker und Publizist.