Der Zerfall der Sowjetunion führte zu einer radikalen Änderung der Rahmenbedingungen amerikanischer Weltpolitik. Sie war vom Ost-West-Konflikt geprägt, und die Politik gegenüber der Sowjetunion blieb bis an deren Ende in der einen oder anderen Form im Grunde immer Eindämmungspolitik („Containment“). Mit dem Erfolg dieser Politik standen die USA vor der Herausforderung, Interessen und Mittel in einem Konzept für eine Rußlandpolitik zusammenzufügen. Wie sieht der Entwurf dieser Politik bislang aus, wie seine Umsetzung nach dem ersten Amtsjahr von Präsident Clinton? Welches sind die Konfliktfelder in den Beziehungen zu Rußland, das nicht mehr der weltpolitische Gegner ist, der die Sowjetunion einst war, das aber auch noch nicht der sichere demokratische Partner ist, den sich die USA erhoffen? Welches sind die Probleme und Dilemmata der amerikanischen Rußlandpolitik, welches ihre Perspektiven angesichts der unsicheren Entwicklung in Rußland und der dadurch ausgelösten Reaktionen in den USA?
I. Die Konzeption amerikanischer Rußlandpolitik
Als die Sowjetunion sich auflöste, wurde unter Präsident Bush die feste Integration der sowjetischen Nachfolgestaaten in die „Euro-Atlantic Community and the democratic Commonwealth of nations“ zum langfristigen Ziel amerikanischer Politik Im Verhältnis zu den früheren sowjetischen Republiken, insbesondere zu Rußland, strebte die Bush-Administration eine partnerschaftliche Beziehung, ja eine Allianz an Die Clinton-Administration knüpfte daran nahtlos an; sie will die Entwicklung der amerikanisch-russischen Beziehungen weg von der Gegnerschaft hin zu einer Partnerschaft weiter vorantreiben Auf diese langfristige Perspektive sind die beiden unmittelbaren Ziele amerikanischer Rußlandpolitik ausgerichtet: die Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Reformen und der Abbau der konfrontativen Altlasten, insbesondere der nuklearen. 1. Unterstützung für Demokratie und Marktwirtschaft Als Voraussetzung für ein dauerhaft kooperatives bilaterales Verhältnis gilt auf amerikanischer Seite der Erfolg der russischen Reformpolitik. Mit dem Gelingen der Demokratisierung in Rußland, mit dem Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Reformen verbindet sich die Hoffnung, für immer die jahrhundertealte Bedrohung für den Westen zu beseitigen, wie sie einst von der „zaristischen Autokratie“ und dann vom „sowjetischen Totalitarismus“ ausgegangen sei Diese Begründung entspringt der im amerikanischen politischen Denken tief verwurzelten, vor allem auf Kant und auf die Federalist Papers zurückgehenden, dann besonders von Woodrow Wilson vertretenen liberalen Sicht internationaler Politik. Danach hängt die Friedfertigkeit von Staaten von ihrer Herrschaftsstruktur ab. Die meisten Administrationen in diesem Jahrhundert teilten die Überzeugung des liberalen Internationalismus, daß eine Welt demokratischer Staaten daher nicht nur den Wertvorstellungen der USA entspreche, sondern zugleich ihrem Sicherheitsinteresse Die Welle der Demokratisierung seit den siebziger Jahren und das Ende des Ost-West-Konflikts haben diesem traditionellen, oft von realpolitischen Erwägungen überlagerten Ziel amerikanischer Außenpolitik Auftrieb verliehen. Die wissenschaftliche Diskussion der letzten zehn Jahre hat den Kern der liberalen Überzeugung bestätigt, wie er von der Bush-und der Clinton-Administration immer wieder artikuliert wurde: daß liberale Demokratien keine Kriege untereinander führen
In ihrer Strategie des „enlargement", der Erweiterung der Zone demokratischer Staaten, hat dieClinton-Administration den demokratischen Liberalismus zum organisierenden Prinzip ihrer Außenpolitik und damit zum Nachfolger des „Containment“ erhoben Vorrang bei der Erweiterung der Gemeinschaft demokratischer Staaten hat Rußland. Hier haben die USA zwar das stärkste Sicherheitsinteresse an einer erfolgreichen Demokratisierung, jedoch nur sehr begrenzten Einfluß auf die Entwicklung -im Unterschied zu manch anderen Fällen einer wirkungsvollen amerikanischen Hilfe bei der Konsolidierung von Demokratien.
Verstärkt wird dieses Problem auch dadurch, daß es innenpolitisch schwerfällt, im Falle Rußlands Mittel für eine Unterstützung des Transformationsprozesses zu mobilisieren. Sicher, die Förderung der Demokratie in Rußland als außen-politisches Ziel trifft auf breite Zustimmung innerhalb der außenpolitischen Elite. Grundsätzliche Skepsis gegenüber einem solch ehrgeizigen Ziel amerikanischer Politik findet sich nur auf dem semi-isolationistischen Flügel Das amerikanische Interesse an der Entwicklung in der früheren Sowjetunion beschränkt sich aus dieser Sicht im wesentlichen auf die Sicherheit vor den dortigen Nuklearwaffen. Die amerikanische Öffentlichkeit teilt indes mehrheitlich die von Semi-Isolationisten artikulierte Skepsis im Hinblick auf die Praktikabilität und die Kosten einer demokratieorientierten Politik
In dieser Situation fiel und fällt es nicht leicht, den Kongreß zur Bewilligung von Wirtschaftshilfe zu gewinnen. Unerläßlich und entscheidend ist in einer solchen Situation das starke Engagement des Präsidenten. Präsident Bush schreckte im Wahljahr 1992 davor zurück. Als Reaktion auf die wachsende Kritik an ihrer Bewegungslosigkeit brachte die Bush-Administration zwar den Freedom Support Act im Kongreß ein, der einige bereits laufende und einige neue Hilfsprogramme für Rußland und die anderen Republiken der früheren Sowjetunion zusammenfaßte. Doch weder die Administration noch führende Politiker des Kongresses wagten es, sich in einem Wahljahr für Auslandshilfe zu engagieren. Der in seinem finanziellen Umfang bescheidene Freedom Support Act -an direkter Hilfe sah er 470 Mio. US-Dollar vor -ließ sich nur mit großen Schwierigkeiten im Kongreß durchsetzen
An dieser für Auslandshilfe ungünstigen innenpolitischen Situation hat sich auch unter Präsident Clinton nichts geändert Im Unterschied zu George Bush zeigt er jedoch eine größere Bereitschaft, die Lücke zwischen dem ehrgeizigen Ziel und dem Anspruch einer internationalen Führungsrolle auf der einen Seite und den zugewiesenen Mitteln auf der anderen Seite etwas zu verringern. Innenpolitisch und international im Rahmen der G-7 und des Internationalen Währungsfonds machte sich die Clinton-Administration für eine stärkere Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Transformation in Ruß-land stark.
Doch inzwischen ist es fraglich, ob dem im Frühjahr 1993 beschlossenen internationalen Hilfsprogramm mit neuen Zusagen in Höhe von 22 Mrd. US-Dollar ein anderes Schicksal zuteil werden wird als dem im Jahr zuvor verkündeten. Dieses war unzureichend vorbereitet und schlecht koordiniert; von den 1992 zugesagten 24 Mrd. US-Dollar waren bis April 1993 etwa 13 Mrd. (nach einer anderen Berechnung nur neun Mrd.) eingesetzt worden, das meiste in Form kurzfristiger Kredite, nur wenig in Form einer an Strukturreformen gekoppelten Unterstützung für den Transformationsprozeß. Die sechs Mrd. US-Dollar, die für den Fonds zur Stabilisierung des Rubels vorgesehen waren, wurden nicht bereitgestellt, da Rußland die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds nicht erfüllte, das heißt, nicht genügend die Währung stabilisierte und die Inflation reduzierte Der Währungsfonds weigerte sich trotz starken amerikanischen Drucks, die Bedingungen für Kredite in dem gewünschten Maße zu lockern -und wurde deswegen von der Clinton-Administration öffentlich kritisiert Die Kritik der Clinton-Administration an den Konditionen des Währungsfonds und der Vernachlässigung sozialer Aspekte wuchs im Winter 1993 nach dem Wahlerfolg der Rechtsextremen in Ruß-land. Die Auflagen des Währungsfonds und die hohen Erwartungen der Geberländer an eine Stabilisierungspolitik wurden für das gute Abschneiden der reformfeindlichen und antiwestlichen Kräfte mitverantwortlich gemacht: „Weniger Schock und mehr Therapie“ hieß es in der kaum verhüllten Kritik am IWF aus den Reihen der Clinton-Administration Sehr bald jedoch suchte die Administration dem Eindruck entgegenzusteuern, daß für sie nun eine langsamere Gangart bei den wirtschaftlichen Reformen akzeptabel geworden sei. „Mehr Reform, mehr Therapie“ hieß nun auf Drängen des Finanzministeriums die Konsequenz aus dem Ergebnis der russischen Wahlen und das Motto für das Moskauer Gipfeltreffen im Januar 1994 Die Clinton-Administration versprach, sich beim Währungsfonds und anderen westlichen Gebern für die Freigabe der bereits zugesagten Gelder zu engagieren, sobald die russische Regierung überzeugende Pläne für eine Restrukturierung des Budgets (Kürzung der Subventionen für unprofitable Industrien, Nutzung der freiwerdenden Mittel für die soziale Sicherheit) vorlegt und ihre ernsthafte Absicht deutlich macht, diese auch umzusetzen. Neu an diesem Konzept war, daß die Clinton-Administration nicht mehr auf einer Probezeit für die Umsetzung bestand. Daß diese amerikanischen Erwartungen erfüllt werden, dürfte mit dem Ausscheiden profilierter Reformer aus der russischen Regierung bald nach dem Moskauer Gipfeltreffen noch ungewisser geworden sein.
Zusätzliche direkte amerikanische Hilfe über die bereits vom Kongreß bewilligten Mittel hinaus steht ohnehin nicht zur Diskussion. Schaut man nur auf den finanziellen Umfang des amerikanischen Hilfsprogramms, so wird leicht sein durchaus innovativer Ansatz übersehen Der finanzielle Umfang ist insgesamt bescheiden. Seit der ersten internationalen Konferenz über die Koordinierung der Hilfe für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion im Januar 1992 haben die USA für alle diese Staaten folgendes zugesagt: rund drei Mrd. US-Dollar an direkter bilateraler technischer, wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe, 1, 7 Mrd. vor allem für die Vernichtung nuklearer und chemischer Waffen und 900 Mio. an Nahrungsmittelhilfe. Der Großteil dieser Mittel wurde ausgegeben. Rußland erhält rund die Hälfte der Mittel.
Bei diesen Programmen geht es nicht nur um die Flankierung und Stützung der wirtschaftlichen Transformation „von oben“, sondern auch um die Unterstützung wirtschaftlicher und politischer Veränderung „von unten“. Dabei können die USA auf eine in den achtziger Jahren vor allem im Hinblick auf den Demokratisierungsprozeß in Lateinamerika entwickelte, gezielt auf die Förderung der politischen Entwicklung ausgerichtete Infrastruktur von Stiftungen und anderen Einrichtungen zurückgreifen. Zu den von staatlicher Seite über das 1983 gegründete National Endowment for Democracy geförderten Einrichtungen gehören das der Republikanischen Partei nahestehende International Republican Institute und sein Pendant, das National Democratic Institute, das Free Trade Union Institute der Gewerkschaften und sein Gegenstück auf Unternehmerseite, das Center for International Private Enterprise, sowie zahlreiche private Stiftungen und Beratungsfirmen Vor allem außerhalb der großen Städte soll das Democracy Corps tätig werden, ein Projekt, das vom Repräsentantenhaus ins Leben gerufen und von der Clinton-Administration aufgenommen wurde. Schließlich ist besonders noch der von ihr favorisierte Russian-American Enterprise Fund zu nennen, der an der russischen Bürokratie vorbei kleinere und mittlere neue Privatunternehmen unterstützen soll.
Die Einschaltung privater oder halbprivater Institutionen und Initiativen, um die politische und wirtschaftliche Entwicklung an den „grassroots" zu fördern, läuft auf eine Transnationalisierung der amerikanischen Rußlandpolitik hinaus. Ein solches in die russische Innenpolitik hineinreichendes Engagement ist nicht ohne Probleme; die bereits zu findende Abneigung gegen eine „Yankeeization“ könnte sich in Rußland noch weiter verbreiten. 2. Abbau der konfrontativen Altlasten Noch sind die mit der Struktur und Doktrin der nuklearen Streitkräfte gegebenen Altlasten in den amerikanisch-russischen Beziehungen bei weitem nicht beseitigt. Der START I-Vertrag blieb der Logik traditioneller Rüstungskontrolle zwischen zwei antagonistischen Mächten verhaftet. Er erlaubte parallel zur Reduzierung auf 1600 strategische Trägersysteme und 6000 Gefechtsköpfe die qualitative Rüstungsmodernisierung. Beim START II-Vertrag hingegen handelt es sich tatsächlich um eine kooperative Abrüstung und eine die strategische Stabilität erhöhende Umstrukturierung der nuklearen Arsenale Werden gemäß START II bis zum Jahr 2003 alle landgestützten Interkontinental-raketen mit Mehrfachgefechtsköpfen eliminiert, dann entfällt das auf amerikanischer Seite als am bedrohlichsten geltende Element des russischen Nukleararsenals Nach einer Umsetzung der Vereinbarung würden beide Seiten zusammen noch etwa über 7 000 Gefechtsköpfe verfügen -statt der gegenwärtig rund 22 500.
Noch ist der START Il-Vertrag nicht ratifiziert. In Kraft treten könnte er ohnehin nur, wenn d 500.
Noch ist der START Il-Vertrag nicht ratifiziert. In Kraft treten könnte er ohnehin nur, wenn dieses zunächst mit START I geschieht. Und hier liegt das Problem; denn das russische Parlament hat das Inkrafttreten von START I an den Nuklear-verzicht Weißrußlands, Kasachstans und der Ukraine geknüpft. Diese hatten sich im Lissaboner Protokoll zu START I im Mai 1992 verpflichtet, als Nichtkernwaffenstaaten dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und die auf ihrem Territorium lagernden strategischen Atomwaffen aufzugeben (die taktischen Nuklearwaffen waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Rußland verbracht worden) 21. Dies war ein erster Erfolg der amerikanischen Politik, die mit der beginnenden Auflösung der Sowjetunion darauf zielte, die Zahl der Nuklearwaffenstaaten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion auf einen, d. h. auf Rußland zu begrenzen 22. Doch sehr bald zeigte sich die Ukraine immer weniger geneigt, die 1240 Gefechtsköpfe auf Interkontinentalraketen und die 564 Marschflugkörper auf strategischen Bombern aufzugeben.
Die Bush-Administration reagierte darauf mit einer harten Linie; sie band die weitere Entwicklung der amerikanisch-ukrainischen Beziehungen an die nukleare Abrüstung. Als Geheimdienst-einschätzungen nahelegten, die Ukraine könnte in 12 bis 18 Monaten die „positive operative Kontrolle“ über die Interkontinentalraketen erlangen und damit eine russisch-ukrainische Konfrontation heraufbeschwören, änderte die Clinton-Administration im Frühjahr 1993 die Taktik gegenüber der Ukraine Zu den Sanktionen kamen Anreize hinzu, die Politik blieb nicht mehr allein auf die Nuklearfrage konzentriert, die Administration bot sich als Vermittler in den ukrainisch-russischen Konflikten an. Die amerikanisch-russisch-ukrainischen Verhandlungen-führten im Januar 1994 zu einer komplexen, in einigen Punkten bewußt vage gehaltenen trilateralen Vereinbarung. Danach erhält die Ukraine von Rußland und den USA politische Garantien und wirtschaftliche Kompensationen im Austausch für die allmähliche Vernichtung der Nuklearwaffen in einem Prozeß, der in einem Zeitraum von sieben Jahren zu einer nuklearwaffenfreien Ukraine führen soll
Wird die in der Ukraine höchst umstrittene Vereinbarung eingehalten und umgesetzt, dann wäre eine der politischen Vorbedingungen für die weitreichende „kooperative Denuklearisierung“ in der Perspektive des START Il-Vertrages geschaffen. Eine weitere Voraussetzung ist die Ratifizierung durch das russische Parlament. Sollte dies geschehen, bedürfte die Umsetzung des Vertrages eines Jahrzehnts, während dessen ein instabiles Rußland einer innenpolitisch umstrittenen Abrüstungsverpflichtung nachkommen müßte -Grund genug für Skeptiker, am Erfolg des Abrüstungsprogramms zu zweifeln.
Zu der ein beträchtliches Maß an Kooperation voraussetzenden Denuklearisierung gehören die zentrale, sichere Lagerung der Atomwaffen, ihre Zerstörung, ein international überwachtes Uranium-und Plutoniumlager und der Ankauf von hochangereichertem Uran und von Plutonium durch die USA. Finanzielle Mittel für den Abbau der nuklearen (und der chemischen) Altlasten stehen längst bereit; hier hatte der Kongreß unter Führung der Senatoren Sam Nunn und Richard Lugar im Zusammenspiel mit politiknahen Experten gegen einen zögernden Präsidenten George Bush die Initiative ergriffen. Von den bewilligten 800 Mio. US-Dollar wurden bis zum Frühjahr 1993 nur 25 Mio. ausgegeben und -die Angaben schwanken -130 bzw. 303 Mio. US-Dollar bestimmten Projekten zugewiesen. Bürokratische Trägheit auf amerikanischer, Mißtrauen und Geheimhaltungsbestreben auf russischer Seite trafen zusammen Unter Präsident Clinton wurde das Verteidigungsministerium personell so besetzt und so organisiert, daß die kooperative Denuklearisierung größeres Gewicht erhalten sollte. Anfang Dezember 1993 waren im Rahmen des Cooperative Threat Reduction Program in der früheren Sowjetunion Projekte in Höhe von 439 Mio. US-Dollar im Gange und weitere 109 Mio. für bestimmte Projekte zur Verfügung gestellt Doch längst kamen die Initiativen nicht so voran wie geplant
Der kooperative Abbau der Nukleararsenale wäre zusammen mit begleitenden Maßnahmen ein wichtiger Schritt bei der Beseitigung der konfrontativen Elemente zwischen dem russischen und dem amerikanischen Militärestablishment. In der amerikanisch-russischen Charta vom Juni 1992 wurden dazu eine Reihe von Initiativen vereinbart: darunter die Verdichtung der militärischen Kontakte auf allen Ebenen und eine größere Transparenz der Doktrinen und Operationen. Im Frühjahr 1993 wurden zudem Gespräche über die Änderung der nuklearen Zielplanung aufgenommen Sie führten auf dem Moskauer Gipfeltreffen im Januar 1994 zu einer Vereinbarung über das „de-targeting“ der strategischen Nuklearwaffen bis spätestens Ende Mai 1994 Danach sollen die amerikanischen und russischen Raketen nicht mehr länger auf das jeweils andere Land gerichtet sein. Dabei handelt es sich um eine vertrauensbildende Maßnahme, die in erster Linie symbolischen Wert hat. Nur bei einem ungewollten Abschuß wäre das „de-targeting“ von konkreter praktischer Bedeutung. Denn die Raketen können innerhalb von Minuten wieder auf die alten Ziele eingestellt werden.
Daneben gibt es offenbar intensive Gespräche über weitere stabilisierende Maßnahmen in der Strategie Stability Working Group, die aus Vertretern der beiden Verteidigungsministerien zusammengesetzt ist. Eine private amerikanisch-russische Expertengruppe, zu der auf amerikanischer Seite prominente frühere „Falken“ gehörten, hat inzwischen vorgeschlagen, die meisten Raketen auf beiden Seiten aus dem Alarmzustand zu nehmen Vorschläge dieser Art werden sicherlich Eingang in die grundsätzliche Revision der amerikanischen Nukleardoktrin finden, die Verteidigungsminister Aspin im Herbst 1993 ankündigte. Diese war längst überfällig, die Nukleardoktrin hinkt den weltpolitischen Veränderungen hinterher und ist noch dem strategischen Kalkül des Kalten Kriegs verhaftet
Die nukleare Frage wird auf absehbare Zeit auch weiterhin im Brennpunkt amerikanischer Rußlandpolitik stehen. Die Instabilität in der früheren Sowjetunion und die Ungewißheit über die weitere Entwicklung Rußlands werden die im amerikanischen „Sicherheitsstaat“ tief verwurzelte Sensibilität für potentielle militärische Bedrohungen nähren. Völlig wird die Bedrohungswahrnehmung in den USA erst bei einer erfolgreichen demokratischen Entwicklung in Rußland verschwinden. In diesem Falle wäre die wichtigste Voraussetzung für eine „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ (Karl W. Deutsch) zwischen den USA und Rußland gegeben, in der die Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt auch in Zukunft völlig ausgeschlossen wäre. Solange ein derartiges Verhältnis noch nicht besteht und eine latente nukleare Gegnerschaft zwischen den beiden Staaten fortdauert, wird die Frage nach solchen nuklearen Doktrinen und Streitkräften virulent bleiben, die die politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten möglichst wenig belasten.
II. Konfliktmanagement in den amerikanisch-russischen Beziehungen
Die amerikanisch-russischen Beziehungen sind weiterhin vor allem von der „strategischen Interdependenz“ wechselseitiger Vernichtungsfähigkeit gekennzeichnet. Noch sind sie weit von der „komplexen Interdependenz“ entfernt, die das Verhältnis zwischen den westlichen Industriestaaten kennzeichnet: einem Beziehungsgefüge, in dem das militärische Element keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, Fragen militärischer Sicherheit die Beziehungen nicht dominieren und die Gesellschaften durch vielfältige transnationale Verflechtungen verbunden sind
Nicht minder weit ist das Verhältnis zwischen den USA und Rußland inzwischen jedoch auch von jener antagonistischen Beziehung entfernt, die unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion herrschte. Mit der Verabschiedung des Friendship Act im November 1993 beendete der US-Kongreß in einem symbolkräftigen Akt endgültig den Kalten Krieg: So tilgte er auf Ersuchen der Clinton-Administration die Hinweise auf die „weltweite kommunistische Verschwörung“ und den „internationalen Kommunismus“ aus den Gesetzen und Verordnungen. Die aus der Zeit des Ost-West-Konflikts stammenden Restriktionen im Verhältnis der beiden Staaten sind weitgehend gefallen, wenn auch nicht vollständig verschwunden. So ist das Jackson-Vanik-Amendment zum Handelsgesetz von 1974, das die Meistbegünstigung, Kredite und Kreditgärantien mit der freien Auswanderung verknüpfte, noch nicht endgültig aufgehoben, sondern seit Juni 1992 für jeweils ein Jahr ausgesetzt.
Auch die Exportkontrollen aus der Zeit des Kalten Krieges sind noch nicht völlig beseitigt. Daß sie in weit reduziertem Umfang fortbestehen, liegt jedoch so gut wie nicht mehr an der Sorge, das russische Militärpotential könnte gestärkt werden, sondern in erster Linie an der Befürchtung, sensitive westliche Technologie könnte wegen der bislang noch schwach entwickelten Exportkontrollen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion in problematische Länder der „Dritten Welt“ weitergeleitet werden. Die Auflösung des Coordinating Committee for East-West Trade Policy (CoCom), in dem die westlichen Staaten mehr als vierzig Jahre lang ihre Exportkontrollen im Handel mit den kommunistischen Staaten koordinierten, ist beschlossen; in die Nachfolgeorganisation, die ganz auf die Nichtverbreitung ausgerichtet ist, soll Rußland aufgenommen werden. Die Zusammenarbeit bei der Einrichtung wirkungsvoller Exportkontrollen in Rußland steht deshalb mittlerweile auf der Tagesordnung der amerikanisch-russischen Beziehungen.
Die amerikanisch-sowjetisch-russischen Beziehungen seit Mitte der achtziger Jahre waren von einem zunehmenden Maße an Kooperation geprägt. Diese Kooperation geschah jedoch weithin zu Bedingungen, die die USA setzten: vor allem in den Regionalkonflikten und in der Rüstungskontrolle Dies trug dazu bei, daß in Rußland seit Ende 1992 der Vorwurf einer Vernachlässigung der eigenen „nationalen Interessen“ lauter wurde; die auf Kooperation mit den USA ausgerichtete Linie Außenminister Kosyrews, die russisches Entgegenkommen mit der Hoffnung auf wirtschaftliche Unterstützung und Integration Rußlands in die vom Westen geführten internationalen Institutionen verbindet, geriet unter Druck und in die Defensive. Das zweite Jahr russischer Außenpolitik war, wie ein westlicher Rußlandkenner feststellte, nicht mehr länger von der unzweideutig „euro-atlantischen“ Linie dominiert, sondern von einer „gemäßigt eurasischen“ geprägt Längst sind aus russischer Sicht die „Flitterwochen“ in den russisch-amerikanischen Beziehungen vorbei Einiges spielte hier mit: die Enttäuschung der hochgesteckten Erwartungen im Hinblick auf die westliche Hilfe, eine als zu proamerikanisch gewertete, die eigenen „nationalen“ Interessen angeblich nicht genügend beachtende Außenpolitik und die amerikanische Politik in einigen der Bereiche, die sich als konflikthaltig für die amerikanisch-russischen Beziehungen herauskristallisiert haben. 1. Nonproliferation und russische Rüstungs-und Technologieexporte Zu den Konflikten im amerikanisch-russischen Verhältnis gehört insbesondere der Export sensitiver Technologie. Den Widerspruch der USA riefen eine Reihe solcher geplanter oder getätigter Geschäfte hervor: die Lieferung russischer Raketen-und Nukleartechnologie an China der Verkauf von U-Booten an Iran die russische Bereitschaft, chemische Substanzen an Libyen zu verkaufen, die für die Herstellung von Raketen-treibstoff verwendet werden können vor allem jedoch der Export von Raketentechnologie nach Indien
Der Konflikt über das Geschäft mit Indien entstand im Frühjahr 1992, als Rußland trotz amerikanischer Warnungen nicht Abstand nehmen wollte vom Verkauf fortgeschrittener Raketentechnologie an die indische Weltraumagentur -aus amerikanischer Sicht ein Verstoß gegen das Missile Technology Control Regime (MTCR), dessen Einhaltung Rußland den USA zugesagt hatte Wie nach amerikanischen Nonproliferationsgesetzen gefordert, verhängte die US-Administration Sanktionen -ein zweijähriges Export-und Importverbot -gegen die am geplanten Geschäft beteiligten Weltraumbehörden Rußlands und Indiens. Der Kongreß stellte zudem im Freedom Support Act ein Junktim zwischen der Einhaltung des Raketentechnologie-Kontrollregimes und der Gewährung von Wirtschaftshilfe her, ließ aber der Administration Entscheidungsspielraum. Die Clinton-Administration konnte Rußland im Sommer 1993 dazu bringen, zumindest auf einige problematische Teile des Geschäfts zu verzichten und sich dem MTCR anzuschließen Neben der Drohung mit Sanktionen (auf die dann verzichtet wurde) setzte die Clinton-Administration als positiven Anreiz die Aussicht auf gemeinsame russisch-amerikanische Weltraumprojekte und damit zusammenhängende Aufträge für Rußland ein. Im November 1993 gab die Clinton-Administration den Plan bekannt, das amerikanische und das russische Welt-raumprogramm zusammenzuführen und gemeinsam an einer internationalen Raumstation zu arbeiten. 2. Die russische Politik im „nahen Ausland“
Zum Konfliktpotential in den amerikanisch-russischen Beziehungen gehört auch die Politik Rußlands auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, im sogenannten „nahen Ausland“. Eine der Fragen dabei ist der Abzug der russischen Truppen aus den baltischen Staaten. In der Forderung der Clinton-Administration nach einem „frühen, bedingungslosen und schnellen Rückzug“ der russischen Truppen -mit Angabe einer genauen Frist -spiegelt sich auch der Druck des Kongresses. Dieser hatte in der Endphase der Sowjetunion die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten verknüpft und in der Folge den Großteil der amerikanischen Hilfe mit dem zügigen Abzug der russischen Truppen Der Rückzug aus Litauen war zwar im August 1993 abgeschlossen, der aus Estland und Litauen sollte jedoch nach Zusage Jelzins erst Ende 1994 beendet sein. Nach Ansicht der Clinton-Administration soll er ohne Bedingungen erfolgen, also nicht mit dem Status der russischen Minderheit und der ausreichenden Versorgung mit Wohnungen für die abziehenden Truppen verknüpft sein.
Einer der noch eher latenten Konflikte in den amerikanisch-russischen Beziehungen und ein Problem amerikanischer Außenpolitik liegt in der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die USA stillschweigend oder offen eine besondere Interessen-und Einflußsphäre Rußlands auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion akzeptieren sollen. Kritiker der gegenwärtigen amerikanischen Rußlandpolitik in den USA bemängeln, daß die Clinton-Administration sich öffentlich nicht entschieden genug gegen Rußlands Anspruch gewandt habe, der Garant von Stabilität und Menschenrechten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion zu sein -und damit in Rußland dem Eindruck Vorschub geleistet habe, eine Art russische „Monroedoktrin“ anzuerkennen
Unter russischen Konservativen wird dies freilich anders gesehen. Dies zeigte die an die Zeit des Kalten Krieges erinnernde Reaktion auf den im Sommer 1993 bekanntgewordenen Entwurf der Presidential Decision Directive 13, die die Rolle der USA bei friedenstiftenden und friedendurchsetzenden Operationen behandelt. In dem Abschnitt über Peacekeeping in der früheren Sowjetunion wurde deutlich, daß sich die USA einer Beauftragung der GUS mit solchen Aufgaben auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion widersetzen. Zudem hatten Presseberichte über den Entwurf nahegelegt, die Clinton-Administration wolle die Wirtschaftshilfe an Rußland mit der Bereitschaft zur friedlichen Lösung der regionalen Konflikte verknüpfen Letzteres war jedoch keineswegs Absicht der Clinton-Administration, und sie berichtigte die falsche Interpretation auch umgehend. Der Kongreß indes stellte im Herbst 1993 eine Verknüpfung her: Wenn irgendeiner der Staaten der früheren Sowjetunion die Souveränität eines anderen verletzt, wäre die Hilfe zu beenden.
Sicher hat die Clinton-Administration das Recht Rußlands auf die von Jelzin beanspruchte Ordnungsrolle nicht anerkannt. Sie hat jedoch ihr Verständnis für Rußlands Sorge um die Stabilität an seinen Grenzen und das Schicksal der russischen Minderheiten deutlich gemacht, und faktisch wurde Rußland die Ordnungsrolle auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion überlassen. Die Clinton-Administration bietet zwar im multilateralen Rahmen ihre guten Dienste in den dortigen Konflikten an, falls die beteiligten Parteien dies wünschen; an eine formelle Vermittlerrolle oder eine Beteiligung amerikanischer Truppen an Peacekeeping-Operationen auf dem Boden der früheren Sowjetunion ist jedoch nicht gedacht. Implizit scheint die Clinton-Administration eine besondere Ordnungsrolle der Großmacht Ruß-land unter Präsident Jelzin in der Region zu akzeptieren, solange dabei die Unabhängigkeit, Souveränität und die territoriale Integrität anderer Staaten beachtet wird -und solange dies nicht Teil einer imperialen Politik wird. Die Clinton-Administration wird sich jedoch schon aus innenpolitischen Gründen hüten, eine besondere russische Interessensphäre anzuerkennen. Denn sie würde sich damit der Kritik aussetzen, einer neo-imperialen russischen Politik den Mantel internationaler Legitimität zu verleihen. 3. Die Erweiterung der NATO Enormes Konfliktpotential für das amerikanisch-russische Verhältnis enthält natürlich die Frage der Erweiterung der NATO nach Osten. Nun steht die Clinton-Administration einer Ausdehnung der NATO keineswegs nur aus Rücksichtnahme auf Rußland reserviert gegenüber. Für die Allianz selbst wäre gegenwärtig die Übernahme neuer Verpflichtungen und die Wende zum „neo-containment“ ein Belastungsfaktor ersten Ranges, ungeachtet der Tendenz in Deutschland zugunsten einer Osterweiterung der NATO Innenpolitisch wäre ein solcher Schritt in den USA von enormer Problematik, da er zum Kristallisationspunkt der bislang noch nicht in aller Schärfe entbrannten außenpolitischen Grundsatzdebatte zwischen Internationalisten und Semi-Isolationisten werden könnte Außerdem käme der Senat ins Spiel, der im Falle einer Erweiterung voraussichtlich eine Neuinterpretation der ursprünglichen Absicht des NATO-Vertrages sehen würde Selbst wenn sich diese Auffassung nicht durchsetzen sollte und keine Zustimmung des Senats mit Zweidrittelmehrheit notwendig wäre, müßte sich jede Administration vor der Übernahme neuer Verpflichtungen eines breiten Rückhalts im Kongreß versichern. Mit dieser Rückendeckung ließe sich gegenwärtig kaum rechnen. In einer solchen Situation bedurfte es kaum der wiederholten Warnungen von russischer Seite, um die Clinton-Administration zur Zurückhaltung zu bewegen.
Die Administration war zunächst in der Frage der NATO-Erweiterung gespalten Sicherheitsberater Anthony Lake scheint am offensten für eine Ausdehnung der NATO gewesen zu sein. Das Pentagon wandte sich gegen eine schnelle Erweiterung und die Übernahme neuer Verpflichtungen zu einer Zeit, in der das Verteidigungsbudget und die Präsenz in Europa schrumpfen. Außerdem wäre, so sah es Verteidigungsminister Les Aspin, Rußland selbst im Falle eines baldigen Scheiterns der Reformpolitik erst in einem Jahrzehnt eine militärische Bedrohung für Osteuropa; bestehende Konflikte unter osteuropäischen Ländern legten dagegen Vorsicht vor der Übernahme von Sicherheitsgarantien nahe. Im State Department scheint die Führungsspitze in der Frage der NATO-Erweiterung uneins gewesen zu sein. Zwar forderte niemand die schnelle Aufnahme neuer Mitglieder, doch einige drängten auf eine klare Botschaft, daß bei Erfüllung gewisser Kriterien die NATO für neue Mitglieder offenstehe. Einigen osteuropäischen Staaten sollte eine assoziierte Mitgliedschaft angeboten werden. Außenminister Christopher ließ sich dann jedoch im Oktober 1993 von den Argumenten Strobe Talbotts überzeugen, damals Sonderberater des Präsidenten für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, inzwischen designierter stellvertretender Außenminister und als enger Freund des Präsidenten der eigentliche Architekt der amerikanischen Rußlandpolitik. Die Öffnung der NATO würde die russische Furcht verstärken, die Allianz betreibe die Eindämmung russischer Macht und wolle Rußland isolieren. In Europa würde eine neue militärische Trennlinie geschaffen.
Was sich am Ende in den Diskussionen der Clinton-Administration herausschälte, war ein sorgfältig abgewogener Kompromiß zwischen der Rücksichtnahme auf Rußland und den russischen Reformprozeß und dem Drängen der osteuropäischen Staaten in die NATO: das Konzept einer „Partnerschaft für den Frieden“, die allen europäischen Staaten offensteht. Im Frieden werden gemeinsame Übungen und Koordination mit der NATO angeboten; in Krisen sind Konsultationen zugesagt, jedoch keine Sicherheitsgarantien; die spätere Mitgliedschaft ist prinzipiell bei Erfüllen einiger Kriterien in Aussicht gestellt, jedoch auch dann nicht garantiert
III. Probleme und Perspektiven
Die Clinton-Administration setzt wie zuvor auch die Bush-Administration auf die Integration eines sich demokratisierenden Rußland in die bestehenden internationalen Institutionen. Mit einem demokratischen Rußland verbindet sich die Hoffnung, daß es nicht zur Rückkehr Europas in die Vergangenheit einer alten Macht-und Gegenmachtpolitik kommen muß. Ein demokratisches Rußland würde die Struktur europäischer und internationaler Politik verändern; ein sich integrierendes Europa wäre aus der in der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Clinton vorherrschenden liberal-internationalistischen Sicht die sicherste Garantie dafür, daß die alte geopolitisch-realistische Sorge vor der Hegemonie einer Macht in Europa und ihrer Kontrolle über die militärisch-industriellen Ressourcen des Kontinents gegenstandslos würde
Die Clinton-Administration setzt in ihrer Rußlandpolitik nach wie vor auf Präsident Jelzin als Garanten einer demokratischen Entwicklung und einer kooperativen Außenpolitik. Solange er diese Erwartungen erfüllt, dürfte sich die Clinton-Administration mit ihrem Ansatz in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit befinden -trotz der ihrer Politik immer wieder entgegengebrachten Kritik einer Personalisierung der amerikanisch-russischen Beziehungen.
Nun ist auch bei einem fortgesetzten Demokratisierungsprozeß in Rußland nicht auszuschließen, daß er von einer imperialen Wende in der Außenpolitik begleitet sein könnte. Größerer Pluralismus und größere Partizipation der Bevölkerung müssen in einer institutionell und politisch-kulturell schwach entwickelten Demokratie nicht notwendigerweise auch zu einer weniger konfrontativen, friedfertigen Außenpolitik führen -dann nämlich nicht, wenn militaristische, imperialistische Eliten die Massen für ihre Ziele einspannen Der Wahlerfolg Schirinowskijs in Rußland hat diese Möglichkeit vor Augen geführt -und damit die große Herausforderung nicht nur der amerikanischen Rußlandpolitik Einerseits soll der prekäre Reformprozeß gestützt werden und die außenpolitische Kursbestimmung zwischen den verschiedenenStrömungen zugunsten der liberal-internationalistischen, auf die Integration in die Weltgemeinschaft setzenden Sicht russischer Interessen beeinflußt werden; andererseits muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß die nationalistisch-geopolitische Richtung, die auf Distanzierung vom Westen und auf Konfrontation mit den Vereinigten Staaten drängt, die Oberhand gewinnt
Sollte die Hoffnung auf ein demokratisch verfaßtes kooperatives Rußland sich nicht erfüllen, dann könnten die latente nukleare Gegnerschaft und die geringe transnationale Verflechtung die „russische Frage“ erneut für den amerikanischen „Sicherheitsstaat“ virulent werden lassen -virulenter vielleicht, als eine nüchterne Analyse möglicher Bedrohungen und Risiken nahelegen würde. Die Warnung der Clinton-Administration vor den Risiken bei einem Verfall Rußlands in Anarchie oder einem Rückfall in die Diktatur und der Hinweis auf die dann erneut gegebene nukleare Bedrohung und die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben ist zwar als Mittel verständlich, die Zustimmung der amerikanischen Öffentlichkeit und des Kongresses für die Unterstützung des russischen Transformationsprozesses als der „größten strategischen Herausforderung unserer Zeit“ zu mobilisieren
Diese Argumentation könnte jedoch Rückwirkungen haben und den Boden für harte Kontroversen und vielleicht überzogene Reaktionen in den USA bereiten, sollte der Reformprozeß in Rußland scheitern. Noch ist ein entsprechender Resonanz-boden in der amerikanischen Öffentlichkeit vorhanden Sollte die neo-imperiale Richtung der russischen Außenpolitik die Oberhand gewinnen, könnte dieser Resonanzboden von jenem Teil der außenpolitischen Elite in den USA genutzt werden, der den Konflikt mit der Sowjetunion nicht so sehr in deren totalitärer Herrschaftsstruktur und in der kommunistischen Ideologie verwurzelt sah, sondern in traditioneller russischer Großmacht-politik und russischem „Nationalcharakter“ Die Wiederkehr des geopolitischen Machtkonflikts wäre aus dieser Sicht nach Überwindung der gegenwärtigen russischen Schwächephase durchaus nicht auszuschließen, ja zu erwarten. Die im Laufe des Jahres 1993 zu beobachtende Behauptung nationaler Interessen in der russischen Außenpolitik kann aus einer solchen Sicht leicht als Vorbote der Rückkehr zur alten Machtpolitik wahrgenommen werden
Solange Rußland im „fernen Ausland“ sich kooperativ verhält, dürfte die Clinton-Administration kein Interesse daran haben, das russische Verhalten im „nahen Ausland“ -mit Ausnahme der baltischen Staaten -zu einem schwerwiegenden Belastungsfaktor für die amerikanisch-russischen Beziehungen werden zu lassen -es sei denn, diese Politik wäre klares Indiz für weiter gespannte neo-imperiale Ambitionen. Eine solche Wende russischer Politik gilt der Clinton-Administration keineswegs als ausgemacht. In ihrer Haltung gegenüber einer Ausdehnung der NATO zeigte sie, wie sehr sie trotz des ihrer Politik bereits entgegengebrachten Vorwurfs des „appeasement“ weiterhin auf die Integration Rußlands in Europa setzt und wie sehr sie bemüht ist, eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung künftiger Konfrontation“ zu vermeiden Die Entscheidung zwischen Integration oder Isolation ist Rußland überlassen. Noch bleiben der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Clinton die mit einer Kehrtwende russischer Außenpolitik verbundenen schwierigen Entscheidungen erspart.