I. Die Leitlinien
In seinem am 25. Januar 1994 vorgelegten ersten „Bericht zur Lage der Nation“ konnte Präsident Clinton mit Recht und mit Stolz eine bedeutende Erfolgsbilanz präsentieren. Innenpolitisch hatte er sein Fünfjahresbudget durchgesetzt, das bis 1997 das Haushaltsdefizit auf 200 Mrd. US-Dollar senken soll. Seine Steuerreform kehrte die von den Präsidenten Reagan und Bush betriebene Umverteilung von unten nach oben in der Richtung wieder um. Ein Vorschlag zur Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung liegt dem Kongreß bereits vor.
Clintons außenpolitische Erfolge sind noch größer. Er konnte den Kongreß bewegen, die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) zu ratifizieren, er trieb den Abschluß der Uruguay-Runde des GATT mit solcher Verve voran, daß der Vertrag pünktlich am letzten Tag, zum 15. Dezember 1993, unterschrieben werden konnte. Im September 1993 wurde im Rosengarten des Weißen Hauses der Friedensvertrag zwischen Israel und der PLO unterzeichnet, der das Ende eines der wichtigsten und blutigsten Konflikte im Nahen Osten einläutete. Im November 1993 veranstaltete Clinton die erste politische Gipfelkonferenz asiatisch-pazifischer Staats-und Regierungschefs überhaupt; im Januar 1994 folgte der überaus pompöse und erfolgreiche NATO-Gipfel in Brüssel. Wenige Tage später, am 14. Januar 1994, unterschrieb Präsident Clinton zusammen mit seinen Kollegen aus Ruß-land und der Ukraine den Vertrag, mit dem sich die Ukraine, der letzte der drei Nuklearwaffen-erben der Sowjetunion, auf die Ablieferung und Vernichtung seiner Nuklearsprengköpfe verstand. Eine solche Palette von bedeutenden Erfolgen hat keiner von Clintons Vorgängern nach einjähriger Amtszeit vorzuweisen gehabt Es hatte sich be-währt, daß erstmals wieder nach vielen Jahren Präsidentenamt und Kongreßmehrheit in der Hand der gleichen Partei waren. Positiv war vor allem, daß mit Bill Clinton und Al Gore die Repräsentanten einer neuen Generation ans Ruder gekommen waren, die den Kompaß ihrer Politik nicht mehr auf die Entfaltung äußerer Macht des Staates, sondern auf die Verbesserung der Entfaltungschancen des einzelnen Amerikaners legten, auf Arbeitsplatzbeschaffung, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, Bekämpfung von Inflation, Verbrechen und Drogen, auf die Verbesserung der Umwelt und der Infrastruktur.
Zwar beruhten Clintons innenpolitische Siege auf hauchdünnen Mehrheiten und, wenigstens in einem Fall, auf wechselnden Koalitionen: NAFTA wurde vornehmlich von den Republikanern im Kongreß durchgesetzt, zum Ärger von Demokraten und Gewerkschaften, der eigentlichen Clinton-Basis. Die Steuerreform entstammte dem alten, das Dienstleistungsjahr, mit dem sich junge Menschen ihr Studium verdienen können, dem neuen, dem Clinton-Programm der Demokratischen Partei. Clinton mußte seine Programme gegen Ross Perot durchsetzen, den außerparlamentarischen Oppositionellen, der unermüdlich gegen den Präsidenten focht. Er konnte erst durch ein von Vizepräsident Gore meisterhaft geführtes Fernsehduell wenigstens zeitweise außer Gefecht gesetzt werden. Clinton hatte sich aber auch gegen den radikalen Konservativismus zu verteidigen, der sich mit den persönlichen Feinden des Präsidenten zu einer unheiligen Allianz verband.
Daß Clinton dennoch sein beeindruckendes innen-wie außenpolitisches Programm durchsetzen konnte, verdankt er neben seiner und Gores Standfestigkeit seinem Führungsteam, das nach der Behebung kleinerer Pannen ebenso kooperativ wie effektiv die Regierungsgeschäfte führte. Wie sich im Pentagon die Ablösung von Les Aspin, dem früheren Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses des Repräsentantenhauses, auswirken wird, muß man abwarten. Das Avancement von Strobe Talbott zum stellvertretenden Außenminister wird mit Sicherheit dafür sorgen, daß Clinton weiterhin auf eine friedliche, positive Entwicklung in Rußland setzt, sie jedenfalls nicht durch verfrühtes Säbelrasseln der NATO behindern wird. AbB warten muß man wiederum, ob sich die Ministerialbürokratie von den Erfolgen des ersten Jahres der Clinton-Regierung motivieren lassen wird, ihr auf ihrem Kurs zu folgen. Der Test in dieser Frage, man weiß es aus der Amtszeit Carters, kommt in der Regel zum Ende des zweiten Amtsjahres.
Die außenpolitischen Erfolge Clintons sind um so höher zu veranschlagen, als das Augenmerk des Präsidenten in diesem ersten Jahr auf der Innenpolitik gelegen hat. Anders als Bush, der in der ersten Hälfte seines ersten Amtsjahres bereits drei Auslandsreisen hinter sich gebracht hatte, war Clinton nur zum G-7-Gipfel nach Tokio gefahren. Dafür hatte er in diesem ersten Jahr 32 der amerikanischen Bundesstaaten bereist, davon achtmal Kalifornien. Damit löste Clinton nicht nur ein Wahlkampfversprechen ein; er bereitete auch, vor allem in Kalifornien, frühzeitig den Boden seiner Wiederwahl 1996.
Daß Clinton trotz dieser Aufmerksamkeitskonzentration auf das gesellschaftliche Umfeld der USA so viele Erfolge in den Beziehungen mit der internationalen Umwelt aufzuweisen hat, ist auf die von ihm vorgenommene Veränderung im Ziel-MittelBereich zurückzuführen. Clinton schob den Akzent von der Sicherheits-auf die Außenwirtschaftspolitik Ihr gab er den Vorzug, nachdem durch die Selbstauflösung der Sowjetunion die Sicherheit der USA überhaupt nicht mehr und die der europäischen Alliierten auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist. NAFTA und dem GATT-Abschluß galt seine Politik, ebenso der Vertiefung von APEC, der Asiatisch-pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Sie sollen, wie die Verbesserung der amerikanischen Wettbewerbsposition im Innern, Arbeitsplätze schaffen und damit das interne Arbeitsbeschaffungsprogramm ergänzen.
Clinton nahm aber auch eine bedeutende Veränderung der Mittel der amerikanischen Außenpolitik vor. Hatten alle seine Vorgänger auf den Bilateralismus gesetzt, die klassische Strategie des hegemonialen Internationalismus, so legte Clinton den Kurs auf den Multilateralismus um, der vom liberalen Internationalismus bevorzugt wird. Deswegen berief er die Gipfelkonferenz von Seattle ein, deswegen öffnete er die Führungsstrukturen der NATO für die Zusammenarbeit mit der WEU und mit Nichtmitgliedern. Hatte sich noch Bush -wie alle seine Vorgänger -gegen die zunehmende sicherheitspolitische Identität der Europäer und vor allem gegen die Westeuropäische Union als Rivalin der NATO gesträubt, so nahm Clinton beides gelassen zur Kenntnis.
Nicht, daß er den Führungsanspruch der USA aufgegeben hätte. Er und Außenminister Christopher haben ihn immer wieder betont. Aber sie haben, ganz offenkundig angeleitet vom Sicherheitsberater Anthony Lake, registriert, daß Führung in einer Welt, die an Wohlstand und Demokratie interessiert ist, ganz anders aussehen muß, als die, die zur Verteidigung der freien Welt gegen die Sowjetunion und den Kommunismus erforderlich (und möglich) war. Einerseits ist mit der Notwendigkeit des nuklearen Schutzes der Hebel entfallen, mit dem die westlichen Allierten in den amerikanischen Führungsorbit eingeordnet und dort gehalten werden konnten. Andererseits sind die Westeuropäer als Alliierte entbehrlich geworden, was die amerikanische Handlungsfreiheit erheblich erhöht hat.
Führung in der Gesellschaftswelt 3, die regionalisiert, demokratisiert und ökonomisiert ist, kann also sehr viel weniger aufwendig gestaltet werden, als die Hegemonie in der Staatenwelt. Sie erlaubt die Rücknahme des direkten amerikanischen militärischen Engagements, was Clinton in Somalia vorexerziert und in Bosnien-Herzegowina von Anfang an berücksichtigt hat. Diese Führung erlaubt es, in multilateralen, also prinzipiell auf Kooperation und Kompromiß ausgerichteten Prozessen das eigene Schwergewicht zur Meinungsbildung und zur Folgeleistung der Alliierten einzusetzen. Nicht kommandieren und anordnen, sondern kooperieren und, wenn konkrete Interessen der USA betroffen sind, sie punktuell durchsetzen -nach diesem Prinzip verfährt die Clinton-Administration.
Eine solche Form der Führung ermöglicht auch eine ganz neue Form der Lastenteilung. Sie kann unter den veränderten Bedingungen der Nachkonfliktszeit ohnehin nicht mehr durchgesetzt werden, ohne daß auch die Verantwortung geteilt werden würde. Aber wenn es diese Gesamtverantwortung nicht mehr gibt, weil die USA darauf gar keinen Anspruch mehr erheben, dann muß die Lasten ohnehin derjenige tragen, der mit ihnen etwas erreichen will. Wenn Europa Frieden in Ex-Jugoslawien erzwingen will, dann muß es selbst dafür sorgen. Wenn es aber um Entscheidungen geht, an denen die USA interessiert sind, wie zum Beispiel um die Osterweiterung der NATO, dann genügt der Momenteinsatz des amerikanischen Gewichtes, um die gewünschte Entscheidung herbeizuführen.Von Clinton und seiner Administration wird man also zu erwarten haben, daß sie angesichts der so grundlegend veränderten Weltlage ein grundlegend verändertes Führungskonzept der USA praktizieren. Es wird am ehesten noch der Doktrin Nixons ähneln sich aber von ihr durch eine stärkere Betonung des kooperativen Elementes unterscheiden. Vielleicht kann man diesen Führungsstil mit dem in einer multinationalen Firma vergleichen: Die einzelnen Unternehmen im Ausland arbeiten weitgehend selbständig, sind aber kooperativ mit der Zentrale verbunden, die die Direktiven ausgibt und, falls erforderlich, Letztentscheidungen trifft. Jedenfalls kann man Clintons Ansatz als „Führung durch selektive multinationale Kooperation“ bezeichnen.
II. Sicherheit in der atlantischen Region
Clintons Idee, analog zum APEC-Gipfel eine Spitzenkonferenz der NATO-Länder im Januar 1994 anzuberaumen, geriet unversehens zu einer Weg-scheide der amerikanischen Politik in der atlantischen Region. Sie war vierzig Jahre lang vom Ost-West-Konflikt beherrscht worden. Als er zusammenbrach, hatten die USA nicht wie 1945 auf ein fertiges politisches Konzept zur Nachkonfliktszeit zurückgreifen können. Sie waren, wie der Westen insgesamt, völlig unvorbereitet in den Frieden entlassen worden.
Aber auch danach wurde kein außenpolitisches Programm entwickelt. Das Wort Präsident Bushs von der „Neuen Weltordnung“ war ein Schlagwort geblieben, kein Schlüsselwort geworden. Vielmehr benutzten die USA unter Bush die alten bewährten Instrumente weiter. In der atlantischen Region wurde vor allem die Militärallianz der NATO eingesetzt, um die Beziehungen zu Westeuropa und die partnerschaftlich gewordenen Beziehungen zu Osteuropa, zu Rußland und den anderen Staaten der GUS voranzutreiben. Auf diese Weise war 1991 der NATO-Kooperationsrat (NAKR) entstanden, in dem die Militärs der früheren Gegner zusammenarbeiteten, um die Abrüstung und die Rüstungskontrolle weiterzuführen. Neu war freilich die Umwandlung der KSZE im November 1990 aus einer Konferenzfolge in eine regelrechte internationale Organisation. Die damals verabschiedete „Charta von Paris für ein neues Europa“ enthielt ein wirklich innovatives, modernes Konzept für eine europäische Neuordnung. 1991 und 1992 wurden der KSZE noch besondere Institutionen für das Krisenmanagement beigegeben. Danach versank sie wieder in der Nichtbeachtung. Alte Vorurteile auf amerikanischer Seite gegen diese Organisation und neue Hinweise auf ihre operative Schwäche trugen dazu bei.
Statt sich der KSZE zu bedienen, fielen die USA wieder auf den alten Dual multilateraler Kooperation in der NATO und bilateraler Kooperation mit Rußland zurück. Diese Politik wurde von Bill Clinton fortgesetzt. Auch er hält die NATO für die wichtigste Verbindung zwischen Nordamerika und Westeuropa und für den besten Weg, mit den früheren Warschauer-Pakt-Staaten zusammenzuarbeiten Sehr viel stärker aber als sein Vorgänger Bush vertritt Clinton die These, daß die beste Sicherheitsstrategie der USA in der Stärkung der Demokratie und der liberalen Marktwirtschaft in Rußland, den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und auch in Ostmitteleuropa liegt
Hatte die Clinton-Administration die Errichtung und Verfestigung der Demokratie und der Marktwirtschaft in Rußland sowie den anderen Staaten der GUS also richtig als oberste Priorität einer neuen Sicherheitspolitik ausgegeben, so geriet deren Umsetzung in der Praxis immer mehr zu einer Kooperation der politischen Systeme zugunsten einer strategischen Partnerschaft. Statt die Wirtschaft und die Gesellschaft Rußlands durch ausreichend große Politik-und Wirtschaftshilfe zu stärken, konzentrierte sich Washington auf die Unterstützung von Präsident Jelzin sowohl in den Wahlen des Frühjahrs wie nach dem Putschversuch im Herbst 1993. Clinton setzte damit in der Praxis die Politik fort, die sein Vorgänger Bush gegenüber Gorbatschow betrieben hatte. In ihr schlug sich die Schwierigkeit nieder, von außen in den Demokratisierungs-und Liberalisierungsprozeß Rußlands einzugreifen, aber auch der Wunsch, die Großmacht Rußland als strategischen Partner sowohl gegenüber Asien und der Welt generell, wie auch gegenüber Westeuropa weiterhin zu behalten. Ohne das Widerlager einer zweiten Großmacht würde auch der Weltführungsanspruch der Vereinigten Staaten in einen Begründungsnotstand geraten.
Clinton setzte deswegen sehr rasch die Pflege der Beziehungen zu Jelzin fort, die Bush in der Camp-David-Erklärung vom 1. Februar 1992 und in der„Charta der amerikanisch-russischen Partnerschaft und Freundschaft“ vom 17. Juni 1992 begonnen hatte. Bei dem Treffen mit Präsident Jelzin in Vancouver, Anfang April 1993, beschworen beide erneut die gemeinsamen Interessen an der Inkraftsetzung des START-I-und der Ratifizierung des START-II-Vertrages; sie unterstrichen besonders die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nichtweiterverbreitung der Massenvernichtungswaffen
Die amerikanische Wirtschaftsbeihilfe hingegen fiel mager aus. Clinton versprach -und der Kongreß bewilligte -1, 6 Mrd. US-Dollar, die später noch einmal um 1, 3 Mrd. US-Dollar erhöht wurden Selbst wenn man zu diesen rund 3 Mrd. US-Dollar Hilfe der Vereinigten Staaten die auf dem G-7-Gipfel in Tokio vereinbarten 28, 4 Mrd. US-Dollar rechnet, kann man kaum von einer angemessenen Unterstützung der wirtschaftlichen Liberalisierung und politischen Demokratisierung Rußlands sprechen. Erhalten hat Rußland 1993 ganze 2 Mrd. US-Dollar.
Der Ansatz war gar nicht schlecht. Die US-Regierung half privaten Organisationen dabei, ihre Partner in Rußland zu unterstützen, Investitionsfonds anzulegen. Siebzig Freiwillige des Peace Corps unterrichteten russische Wirtschaftler in westlichem Geschäftsgebaren. Die Overseas Private Investment Corporation (OPIC) unternahm oder versicherte wirtschaftliche Investitionen Aber der Umfang dieser Maßnahmen war im Vergleich mit der riesigen Aufgabe doch recht klein. Die Regierung in Moskau erhielt im Endeffekt mehr amerikanische Aufmerksamkeit als die Bevölkerung Rußlands. Der am 17. Juni 1993 verabredeten „Gemeinsamen Kommission für Energie-und Raumfragen“ folgte am 8. September die Unterzeichnung eines „Memorandum of Understanding“ zwischen den USA und Rußland. Es verabredete einen institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen dem Militär beider Seiten
Etwas abweichend von der Praxis ihrer Vorgängerin hat die Clinton-Administration die Politik gegenüber den anderen Staaten der früheren Sowjetunion intensiviert. Das Hauptinteresse galt natürlich den drei Nuklearwaffenstaaten Ukraine, Weißrußland und Kasachstan. Sie hatten zwar im Mai 1992 in Lissabon die Ratifizierung von START-I, die Liquidierung ihrer Kernwaffenbestände und den Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag beschlossen, mit der Umsetzung aber nur ganz zögerlich begonnen. Mit seiner veränderten Strategie gelang es Clinton, im Dezember 1993 Kasachstan und im Januar 1994 die Ukraine zum Verzicht auf ihre Nuklearwaffen zu bewegen.
Dem Vorschlag der Senatoren Nunn und Lugar folgend, hatte der Kongreß im Herbst 1992 aus dem Verteidigungsetat 800 Mio. US-Dollar bereitgestellt, um den Abbau und die Zerstörung der Nuklearwaffen finanziell zu erleichtern. Die Clinton-Administration verbesserte die Kooperationsbereitschaft der Kernwaffenstaaten, indem sie sie als Verhandlungspartner akzeptierte und die Abrüstungshilfe von der Bindung an den vorherigen Beitrag zum Nichtverbreitungsvertrag befreite. Mit Weißrußland und mit der Ukraine wurden, ähnlich wie mit Rußland selbst, Memoranda of Understanding geschlossen, die den Kooperationsrahmen institutionalisierten.
Weißrußland, das als erstes der drei Länder START ratifiziert, den Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag vollzogen und mit dem Transport seiner mobilen SS-25 nach Rußland begonnen hatte, erhielt 60 Mio. US-Dollar Hilfe, um die Konversion der Raketenindustrie zur friedlichen Produktion zu erleichtern. Die Ukraine wird 175 Mio. US-Dollar für den Abtransport ihrer 176 ICBMs (Intercontinental Ballistic Missiles) mit ca. 1500 Sprengköpfen nach Rußland erhalten, wo sie verschrottet werden. Den Verkaufserlös des Plutoniums teilen sich die Ukraine und Rußland; die Ukraine wird nochmals 155 Mio. US-Dollar im Jahr 1994 erhalten, möglicherweise sogar das Doppelte, wenn sie ihre wirtschaftlichen Reformen vorantreibt
Der Vertrag mit der Ukraine, den Präsident Clinton am 14. Januar 1994 in Moskau zusammen mit Jelzin und Krawtschuk unterschrieb, stellte einen bedeutenden außenpolitischen Erfolg in einer äußerst sensitiven Angelegenheit dar. Die Entstehung dreier neuer Nuklearstaaten war verhindert, die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zwischen Rußland und der Ukraine beseitigt worden. Die Nicht-Weiterverbreitung der Nuklearwaffen, Hauptziel aller US-Administrationen und ein Spitzenziel der Clinton-Administration, war einen großen Schritt vorangekommen. Clinton versprach sich von ihm entsprechend positive Auswirkungen auf das Verhalten anderer nuklearer Schwellen-staaten. Diesem bedeutenden Erfolg seiner Europareise im Januar 1994 hatte Präsident Clinton auf der NATO-Gipfelkonferenz vom 10. und 11. Januar einen weiteren vorgeschaltet: die Verabschiedung des Programms der „Partnerschaft für den Frieden“. Im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsverschiebung des Westens von der KSZE weg und hin zur NATO hatte sich im Sommer 1993 das Interesse der osteuropäischen Staaten belebt, ihre Verankerung im Westen durch einen NATO-Beitritt zu betreiben. Sie wurden darin insbesondere durch den deutschen Verteidigungsminister Rühe sowie durch den NATO-Generalsekretär Wörner unterstützt.
Im amerikanischen Interesse lag ein solcher Schritt keinesfalls. Mit richtiger Rücksicht auf Rußland, aber auch auf die baltischen Staaten, auf die Ukraine und Weißrußland, hatten die Vereinigten Staaten auf dem NATO-Treffen in Travemünde im Oktober 1993 den deutschen Vorstoß gebremst, den osteuropäischen Staaten die NATO-Mitgliedschaft anzubieten. Verteidigungsminister Aspin regte als Ausweg eine „Partnerschaft für den Frieden“ an, in der die NATO mit dem Militär der NAKR-Staaten in gemeinsamen Übungen und Manövern Zusammenarbeiten soll Diese neue Partnerschaft war dazu bestimmt, die osteuropäischen Staaten zu beruhigen, Rußland und die baltischen Staaten nicht zu verprellen und die Osterweiterung des deutschen Einflusses wieder zurückzudrängen.
So wurde sie am 10. Januar 1994 auf dem NATO-Gipfel in Brüssel auch verabschiedet so hat sie Präsident Clinton auf seiner Weiterreise in Osteuropa und in Moskau schmackhaft gemacht Die „Partnerschaft für den Frieden“ beseitigt nicht alle Ängste in Osteuropa, schafft aber keine neuen in Rußland, stört also dort nicht den Prozeß der Demokratisierung und marktwirtschaftlichen Liberalisierung. Von ihm verspricht sich Präsident Clinton mit Recht die einzige Sicherheit erzeugende Struktur in Europa
Deswegen hat er gerade beim NATO-Gipfel in Brüssel wiederholt gesagt, daß Demokratie und Marktwirtschaft die Aggressivität vermindern hat er davor gewarnt, „eine neue Linie zwischen Ost und West zu ziehen, die die self-fulfilling prophecy zukünftiger Konfrontationen schaffen würde“
Zugunsten der notwendigen sozioökonomischen Strukturbildung gab Präsident Clinton in Brüssel neue Förderungsprogramme für die mittel-und osteuropäischen Staaten bekannt. Darunter befinden sich auch 30 Mio. US-Dollar für ein treffend so bezeichnetes „Democracy Network“ Dieses Netzwerk soll gesellschaftliche Akteure der USA in den Stand setzen, mit ihren Partnern in Ost-und Mitteleuropa gemeinsame Handlungszusammenhänge aufzubauen. Sie sollen lokalen Gruppen zugute kommen und dazu beitragen, daß die Gesellschaftsreform, die Rechtsentwicklung und das Erziehungswesen gefördert werden. Mit ihnen sollen „die Wurzeln der Demokratie gestärkt werden“. Die Clinton-Administration praktiziert damit die „Vergesellschaftung der Außenpolitik“, die sich in politikwissenschaftlicher theoretischer Sicht zwingend-aus den veränderten weltpolitischen Bedingungen im OECD-Raum ergibt Solche Demokratisierungsstrategien tragen dazu bei, daß die wichtigste Gewaltursache, nämlich die autoritärdiktatoriale Verfassung von Herrschaftssystemen, verläßlich -wenn auch langsam -abgebaut wird. Über die zweitwichtigste Ursache der Gewalt, das aus der Anarchie des internationalen Systems resultierende Sicherheitsdilemma ist Clinton offenbar von seinen Beratern nicht unterrichtet worden. Dieses Manko trägt der amerikanische Präsident freilich nicht allein. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zeigte der gesamte Westen in erschreckender Weise, daß die Grenze zwischen Politik und Politikwissenschaft noch immer hermetisch geschlossen ist. Politikwissenschaftliche Forschungsergebnisse finden kaum Eingang in die Vorbereitungen der Entscheidungen der politischen Praxis. Präsident Clinton steht mit seiner der Politikwissenschaft entnommenen Erkenntnis, daß Demokratien keine Kriege untereinander geführt haben und demokratische Herrschaftssysteme demzufolge die verläßlichste Friedenssicherung darstellen, ohnehin einsam an der Spitze westlicher Staatschefs.
Die ergänzende Einsicht in die Notwendigkeit, das Sicherheitsdilemma abzubauen, läßt aber auch Clinton vermissen. Sonst hätte er zusätzlich zur Beibehaltung der NATO, zusätzlich zum NATO-Kooperationsrat und zur „Partnerschaft für den Frieden“ auch die Aktivierung der KSZE angemahnt und betrieben. Als internationale Organisation ist sie wie kein anderes Instrument geeignet, das gefährliche Sicherheitsdilemma, dessen Folgen sich in Rußland wie auch im Westen schon wieder zeigen, zu beheben. Daß sie in einem Schwächezustand gehalten wird, haben hauptsächlich die Europäer zu verantworten. Sie hätten allen Anlaß zu begreifen, welche bedeutenden Leistungen diese Organisation erbringen kann -zumal sie inderen Gründungsurkunde alle richtig aufgelistet sind. Die Europäer haben die Organisation zuerst mit dem Konflikt im früheren Jugoslawien überfordert und schließlich durch die Marginalisierung dann wieder unterfordert.
Würde sie, die seit 1992 als regionale Unterorganisation der Vereinten Nationen fungiert, statt dessen von der westlichen Politik ernst genommen und genutzt, so könnte sie das politische Vertrauen zwischen allen europäischen Staaten fördern, das Sicherheitsdilemma gar nicht erst aufkommen lassen und damit einen substantiellen Beitrag zur Vermeidung neuer Konflikte in Europa liefern Der ihr später eingebaute Krisenmechanismus könnte nicht nur wie gegenwärtig bei den entlegenen Konflikten in der früheren Sowjetunion, sondern generell in der atlantischen Region eingesetzt werden.
Die KSZE stellt an sich noch keine europäische Staatenordnung dar sie könnte aber die Vertrauensbildung und die Abrüstung, die Erzeugung von Sicherheit, die jetzt der NATO als ihr eigentlich fremde Zusatzleistungen abverlangt werden, sehr viel besser erbringen. Sie würde auch sichtbar werden lassen, daß die drängendsten Bedürfnisse der osteuropäischen Staaten nicht auf dem Gebiet der militärischen Verteidigung, sondern auf dem der wirtschaftlichen Wohlfahrt liegen; daß sie den ungehinderten Zugang zu den Märkten der OECD-Staaten brauchen -statt gemeinsame Manöver als Versicherung gegen eine gegenwärtig nicht existente und auf absehbare Zeit auch nicht zu erwartende Bedrohung aus Rußland. Auf Dauer wird sich die Verweigerung des notwendigen wirtschaftlichen Entgegenkommens nicht mehr mit dem Angebot militärischer Kooperation kompensieren lassen. Präsident Clinton hat in Brüssel zu Recht die Europäer ermahnt, ihre Handelsbarrieren gegenüber den früheren kommunistischen Staaten abzubauen und dort mehr zu investieren.
Ein Konzept für die machtfigürliche Neuordnung Europas hat Präsident Clinton in Brüssel nicht angedeutet. Es fehlt offenbar das Problembewußtsein dafür, daß der Kontinent, nachdem er vierzig Jahre lang durch das Gegenüber zweier Militärblöcke „geordnet“ worden war, eine neue Gestalt braucht. Er kann nicht als willkürlich zusammengewürfeltes Konglomerat von Staaten und Staaten-zusammenschlüssen in die Zukunft entlassen werden.
Das gilt auch für die Atlantische Gemeinschaft. Sie kann nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr gut nur durch eine Militärallianz geordnet werden. Ein neuer, zeitgemäßer und umfassender Vertrag zwischen Westeuropa und Nordamerika, wie er von Außenminister Kinkel und Bundeskanzler Kohl schon angeregt worden ist, würde den Westen endlich von der Notwendigkeit entbinden, ein ausreichend großes Maß von auswärtigen Bedrohungen registrieren oder perzipieren zu müssen, um nicht mit der Verteidigungsallianz die einzige organisierte Verbindung in der Atlantischen Gemeinschaft zu verlieren. Die westliche Politik könnte viel flexibler, viel politischer agieren, müßte sie nicht um des inneren Zusammenhalts willen immer wieder die Militärallianz in den politischen Vordergrund schieben. Aber auch Präsident Clinton hält am Verteidigungsbündnis als der einzigen organisierten Verbindung zwischen Nordamerika und Westeuropa fest. 1. Die Reform der NATO Die NATO hatte gerade erst im Sommer 1993 ihre Reorganisation in multinational zusammengesetzte Corps beendet. Sie fördern nicht nur die neue, auf schnelle Reaktionen abgestellte Strategie der NATO sie sind auch dazu bestimmt, zumindest die militärische Macht des wiedervereinigten Deutschlands in kleine, mit westeuropäischen Partnern oder der USA zusammengesetzte Einheiten aufzuteilen und damit als Faktor der Besorgnis in Europa zu eliminieren. Aus diesem Grund war die deutsch-französische Brigade, die eigentlich der europäischen Verteidigungsidentität zugute kommen sollte, erst mit anderen multinationalen Einheiten, darunter auch einer deutsch-amerikanischen, umstellt und dann im November 1993 offiziell als erstes „Eurocorps“ in Dienst genommen worden.
Weil für Clinton die Sicherheit der USA untrennbar mit der Europas verbunden bleibt, beläßt er Amerikas Engagement für die Sicherheit und die Stabilität Europas „so stark wie je“ Hatten er und sein Sicherheitsberater Lake schon früher als Strategie für das überragende Ziel der Sicherheit der USA die Förderung von Marktwirtschaft und Demokratie genannt, so erwähnte Clinton in Brüssel jetzt zusätzlich und an erster Stelle die „militärische Stärke und Kooperation“ Er schränkte sie allerdings wieder ein mit dem Hinweis darauf, daß militärische Gewalt bei Konflikten in und zwischenden Staaten schwierig einzusetzen und es daher besser sei, solchen Konflikten vorzubeugen. Aber man interpretiert Clinton sicher nicht falsch, wenn man seinen beiden Hauptstrategien, der Demokratisierung und der marktwirtschaftlichen Liberalisierung, die dritte, die Beibehaltung ausreichend großer militärischer Gewalt, hinzurechnet. Für den europäischen Friedensprozeß, sagte Clinton in Brüssel, „muß die NATO, der Geschichte größte Militärallianz, zentral sein“ 100000 amerikanische Soldaten sollen daher in Europa bleiben. Konsequent stellt das Brüsseler Kommunique fest, daß die NATO das „wesentliche Forum der Konsultation“ der Mitglieder ist.
Allerdings wurden in der Arbeitsteilung wesentliche Verschiebungen verabredet. Präsident Clinton hat expressis verbis den Widerstand seiner Vorgänger gegen eine größere Freizügigkeit und Selbständigkeit der Europäer im Sicherheitsrat aufgegeben. Weil sich die Sicherheitsherausforderung in neuer Form präsentiert, „hat unsere Administration mit vorausgehenden amerikanischen Administrationen gebrochen .. .“ Clinton unterstützt dementsprechend die Europäische Union und ihre gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, er unterstützt Europa auch bei dem Versuch, der Westeuropäischen Union eine stärkere Rolle bei der Gewährleistung der Sicherheit in Europa zuzuweisen.
Diesem Konzept folgend, wurde auf dem NATO-Gipfel im Januar beschlossen, daß die Allianz ihre Stäbe und Einrichtungen der Westeuropäischen Union zur Verfügung stellen und sie darüber hinaus auch der Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Mitgliedern öffnen wird
War letzteres die logische Folge aus der „Partnerschaft für den Frieden“, so wies ersteres, wie Clinton sagte, den Europäern eine größere Bedeutung zu. Daraus soll in der Atlantischen Gemeinschaft ein „besseres Gleichgewicht der Verantwortlichkeit“ entstehen. Ob aus eigener Entscheidung, im Auftrag der Vereinten Nationen oder der KSZE -die NATO wird künftig auch agieren können, ohne daß amerikanische Truppen daran teilnehmen. Sie wird ihre Institutionen, ihre Truppen und militärischen Installationen der Westeuropäischen Union zur Verfügung stellen, damit auch diese Allianz operativ aktiv werden kann.
Eine solche Politik bricht in der Tat mit der aller vorausgegangenen amerikanischen Administrationen. Präsident Bush hatte noch 1992 mehrfach in den europäischen Hauptstädten interveniert, um vor größerer Aktivität der Westeuropäischen Union und vor eigenen europäischen Truppen wie dem Eurocorps zu warnen. In den Augen der USA hatte bis 1992 der Idealzustand darin bestanden, daß „die Europäer ständig an ihrer Einheit arbeiten, aber sie niemals erreichen“ Um so leichter konnten die Vereinigten Staaten Europa gegenüber in der Rolle des „balancer" verweilen die ihnen auch von einigen Europäern gern zugedacht wurde
Zugunsten seiner Neuinterpretation amerikanischer Führung hat Clinton dieses Residuum des hegemonialen Internationalismus aufgegeben. Er weist den Europäern mehr Gleichberechtigung zu, weil er nur dann von ihnen eine wirkliche Lasten-verteilung und eine entsprechende Entlastung der USA erwarten kann. Seine Zurückhaltung im Bosnien-Konflikt bildete diese Politik schon vor. Der amerikanische Stellvertretende Außenminister Peter Tarnoff hatte sie im Mai 1993 frühzeitig skizziert. Dieses Ausmaß des Wandels rechtfertigt es durchaus, von einer außenpolitischen Clinton-Doktrin zu sprechen.
In gewisser Weise war dieser Wandel unausweichlich, setzte er eine Entwicklung fort, die schon seit den fünfziger Jahren erkennbar war Das Ende des Ost-West-Konfliktes und die sich verstärkende Integration Westeuropas hatten schon Präsident Bush und seinen Außenminister Baker bewogen, in der „Gemeinsamen Erklärung“ zu den Beziehungen zwischen der EG und den Vereinigten Staaten vom November 1990 Europa auch politisch stärker als Partner anzuerkennen. Es bedurfte aber erst einer neuen Führungsgeneration in den USA und ihrer Einsicht in die veränderte Weltsituation, in die Prävalenz ökonomischer gegenüber den sicherheitspolitischen Interessen, um den sicherheitspolitischen Hegemonialanspruch der USA kappen zu können. Wer wie Clinton und Gore der Wirtschaft das Hauptaugenmerk zuwendet, betrachtet die Europäische Gemeinschaft schon seit langem als gleich starken Partner. Die GATT-Verhandlungen zeigten es überdeutlich; sie wären ohne amerikanische Konzession in letzter Minute nicht erfolgreich abgeschlossen worden. Von dieser Einsicht in die Äquivalenz zwischen den USA und Westeuropa war es nur ein kleiner Schritt, den Europäern auch sicherheitspolitisch mehr Gleichberechtigung zuzugestehen, Kennedys Grand Design endlich zu verwirklichen.
Der Schritt fällt um so leichter, als er das Privileg der amerikanischen Führung keineswegs antastet. Er verringert den Aufwand der USA, behält ihnen aber das letzte Wort in der Allianz vor. Bei begrenzten Konflikten wie dem in Bosnien-Herzegowina kommen die USA, wenn sie die Europäer frei gewähren lassen, aus der politischen Schußlinie. Die Polizistenrolle in Europa kann in der Tat bequem den Europäern überlassen werden; sicherheitspolitische Interessen der USA werden erst betroffen, wenn Rußland ins Spiel kommt. Hier übernehmen, wie bei der Osterweiterung der NATO, die USA sowieso und sofort den Vorsitz und die Führung.
Darüber hinaus können sie die auch von Bill Clinton sorgsam gepflegte Direktbeziehung zu Moskau weiterhin für ihre Führungsinteressen benutzen. Immerhin ist es bemerkenswert, daß Präsident Clinton auf seinen Staatsbesuch in Rußland genau-soviel Zeit verwendete wie auf die Gipfelkonferenz mit den fünfzehn NATO-Staaten. Clinton begrüßte Rußland als „gleichberechtigten Partner“ und ließ sich von Jelzin bescheinigen, daß das amerikanisch-russische Verhältnis eine „reife strategische Partnerschaft“ und eine „globale Allianz“ darstelle Seit den Tagen Präsident Nixons hatte es diese Zweigleisigkeit der amerikanischen Europapolitik gegeben; sie wird von der Kompetenz-verschiebung zwischen den USA und Westeuropa nicht betroffen.
Dieser Wandlung baute man zwei Sicherungen ein: Auch diejenigen NATO-Operationen, die ohne die USA ausgeführt werden, müssen vom NATO-Rat beschlossen werden, also mit den Stimmen der Vereinigten Staaten. Und: Wenn die Westeuropäische Union sich der NATO-Arsenale bedienen kann, dann braucht sie keine eigenen. Das alte Ziel vergangener US-Administrationen wurde also keineswegs ganz aufgegeben. Auf sanfte Weise wird auch künftig die Westeuropäische Union daran gehindert, eine eigene europäische Militär-allianz zu werden. Gerade mit der Offerte größerer Selbständigkeit wird sie dazu verlockt, ein unselbständiger Subunternehmer der NATO zu bleiben.
Clintons Führungskonzept wird hier deutlich sichtbar. Es variiert erneut den von Richard Nixon erstmals unternommenen Versuch, durch Mediatisie-rung der Führung deren Lasten unter Amerikas Freunden und Alliierten besser zu verteilen. Ronald Reagan hatte versucht, gegen diesen Trend zu schwimmen; es gelang ihm nur noch für knapp zwei Jahre. Bush praktizierte mit dem von ihm geführten und von anderen bezahlten Golfkrieg ein halbes Extrem der Nixon-und einen halben Rückfall in die Reagan-Strategie.
Clinton wird das nicht wiederholen. Er verteilt die Lasten, aber auch die Verantwortlichkeiten, behält sich die nukleare Kompetenz und die globalen Endentscheidungen vor. Was in den Regionen passiert, bleibt den Alliierten überlassen. Amerika spricht dort mit und behält aufgrund seiner eigenen Machtfülle das letzte Wort. Was global passiert, was insbesondere die amerikanisch-russische Zusammenarbeit tangiert, wird von den Vereinigten Staaten weitgehend allein bestimmt. 2. Wirtschaftliche Wohlfahrt in Asien Diese neue Handlungsfreiheit versetzt die Clinton-Administration in die Lage, sich stärker als bisher im asiatisch-pazifischen Raum zu engagieren. Außenminister Christophers Feststellung, daß „keine Region der Welt für Amerikas Interessen wichtiger sein wird als die asiatisch-pazifische“ hat in Europa viel Aufsehen erregt, zumal der Außenminister sie häufig wiederholt hat. Sie enthält aber eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten hatte stets zwei Gesichter, deren eines nach Europa, das andere aber nach Asien blickte. Mit ihrer langen pazifischen Küste sind die Vereinigten Staaten immer eine pazifische Macht gewesen. Das Ende des Ost-West-Konflikts, der sein Zentrum in Europa hatte, gibt ihnen lediglich die Gelegenheit, die pazifische Seite wieder stärker zu berücksichtigen.
Für die Clinton-Administration, die den politischen Akzent auf die Steigerung der wirtschaftlichen Wohlfahrt setzt, verstand sich das sowieso. Die Strategie, mit der sie die Führung im Sachbereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt an sich zu ziehen gedenkt, besteht aus drei Teilen: Clinton will die Wettbewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten durch wirtschaftliche Reformen zu Hause stärken; er will seine Außenwirtschaftspolitik auf die Weltregion mit dem größten wirtschaftlichen Wachstum richten und er will, drittens, die internationalen Beziehungen so gestalten, daß sie den USA und ihren Partnern ökonomisch zugute kommen Diese strategische Absicht lenkt die Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten sofort auf den asiatisch-pazifischen Raum, die dynamischste Region der Gegenwart.
Außenminister Christopher und Präsident Clinton reflektieren damit nur die Realität, wenn sie Asien als den größten amerikanischen Handelspartner und, unter diesem Aspekt, als die wichtigste Region der amerikanischen Außenpolitik bezeichneten. Darin liegt keine Zurückstufung Europas, sondern nur eine Höherbewertung Asiens. Die Clinton-Doktrin, die Multilateralisierung der amerikanischen Weltpolitik, gibt mit der darin liegenden Entlastung den USA die Möglichkeit, sich stärker als bisher auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten des asiatisch-pazifischen Raumes einzulassen.
Sie wenden auch dabei den neuen Multilateralismus an, brechen mit der alten, noch von Baker und Bush überbetonten Strategie des Bilateralismus. Baker hatte sich noch in mehreren Reden im Zusammenhang mit dem Tokio-Besuch Präsident Bushs gegen den Multilateralismus und energisch für den Bilateralismus ausgesprochen Clinton und Christopher schalteten unter der Anleitung des zuständigen Unterstaatssekretärs Winston Lord energisch auf den Multilateralismus um. Seiner Praktizierung diente die große APEC-Gipfelkonferenz im November 1993 in Seattle; erstmals traf der amerikanische Präsident mit allen asiatischen Regierungschefs gemeinsam zusammen.
Dieser multilaterale Regionalismus tritt an die Stelle des bisherigen ausschließlichen Bilateralismus. Er löst ihn zwar nicht vollends ab; mit den beiden wichtigsten Staaten der Region, mit Japan und mit China, werden die Vereinigten Staaten ihre bilateralen Beziehungen weiter besonders pflegen. Aber sie ergänzen sie mit dem „regional approach“, mit der regionalen Kooperation in einem multilateralen Kontext mit allen asiatisch-pazifischen Staaten. Sic soll zu einer „Neuen Pazifischen Gemeinschaft“ (New Pacific Community) führen Auf diese Weise vom bisherigen direkten Engagement mit jedem einzelnen Staat der Region entlastet, wollen sich die Vereinigten Staaten auf diejenigen Probleme und Prozesse konzentrieren, die ihnen den größten Gewinn versprechen. Sie haben keine Lust mehr, wie Präsident Clinton in Seattle sagte, die Kosten ihrer militärischen Präsenz in Asien und die Lasten regionaler Führung zu tragen, nur um von den Wohltaten wirtschaft-liehenWachstums ausgeschlossen zu werden, die aufgrund dieser Stabilität produziert werden Ein besseres Mischungsverhältnis zwischen der Erzeugung politisch-militärischer Stabilität und der Teilhabe am wirtschaftlichen Profit sieht die Clinton-Administration in der Multilateralisierung ihrer Politik.
Sie wendet sie auch auf den Sicherheitsbereich an. Zwar wird die Multilateralisierung die bilateralen Bündnisverpflichtungen und Kooperationen nicht ersetzen, sie wird sie aber ergänzen. Auf diese Weise bricht Clinton mit der Tradition der bisherigen amerikanischen Pazifikpolitik, die diesen Multilateralismus strikt abgelehnt hatte. 1992 war es auf amerikanischen Einfluß zurückzuführen, daß die Pläne der, ASEAN-Staaten, ein Sicherheitsforum einzurichten zerfielen. Die ausdrückliche Ermunterung der Clinton-Administration bewirkte jetzt, daß die ASEAN-Staaten zusammen mit den USA im Juli 1993 das „ASEAN Regional Security Forum“ gründeten. Es soll dazu beitragen, Spannungen zu senken und Rüstungswettläufe zu vermeiden. An dem Forum sollen nicht nur die sieben Gründungsstaaten, sondern auch Japan, Kanada, Südkorea, Australien, China, Rußland und Vietnam teilnehmen
Diese Wende hin zum Multilateralismus auch in sicherheitspolitischen Fragen, die Winston Lord schon im Sommer 1993 angekündigt hatte stellt das asiatisch-pazifische Pendant zur Bereitschaft der USA dar, eine stärkere Verselbständigung der Europäer zu fördern. Auch in Asien praktiziert die Clinton-Administration jene neue Form multilateraler Führung, die auf die Kooperation der Partner setzt und sie zu beeinflussen sucht.
Grundlage dafür bildet auch in Asien eine kontinuierliche militärische Präsenz der USA. Sie wird sich auf 100000 Soldaten stützen, die gleiche Anzahl -wie man in Asien mit Befriedigung registriert -, wie sie die USA auch in Europa unterhalten. Sie werden vornehmlich im Nordostpazifik stationiert sein, dort, wo sich die strategischen Interessen der USA mit denen Rußlands begegnen und wo sich Japan, Amerikas stärkster und wichtigster Verbündeter im Pazifik, befindet. Die Achse Washington-Tokio dient nicht nur der amerikanischen Sicherheitspolitik, sondern auch den amerikanischen wirtschaftlichen Interessen. In der im Sommer 1993 eingesetzten Regierung Hosokawa hofft die Clinton-Administration einen aufgeschlosseneren Partner gefunden zu haben, der die von Amerika noch immer diagnostizierten japanischen Wettbewerbsverzerrungen letztendlich beseitigen wird.
Mit China, der mächtig aufsteigenden militärischen und wirtschaftlichen Supermacht in Asien, will die Clinton-Administration aus sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen Zusammenarbeiten; sie will gleichzeitig das Land zu einer Verbesserung seiner Menschenrechtspolitik veranlassen. Im Mai 1993 hatte Clinton die Gewährung der Meistbegünstigung für ein Jahr lang verlängert, ihre Weitergewährung dann aber von einer nachweislichen Besserung dieser Lage abhängig gemacht. China hatte auch 1993 mit der Lieferung von Raketenteilen an Pakistan gegen amerikanische Interessen verstoßen; das Haupthindernis bildet nach wie vor der Staatsterror gegen Dissidenten. Im Winter 1993/94 versuchte Clinton, China auf zahlreichen administrativen Ebenen zu einer nachweisbaren Veränderung seiner Menschenrechtspolitik zu veranlassen 45. Immerhin stellt das Land den am schnellsten wachsenden Markt für amerikanische Produkte dar; deren Export erreichte 1992 die Rekordmarke von 33 Mrd. US-Dollar
Mit Indien, der ebenfalls aufsteigenden wirtschaftlichen und militärischen Supermacht am Westausgang des Pazifischen Ozeans, verbessern sich die amerikanischen Beziehungen langsam aber stetig. Im Frühjahr 1993 gelang es Washington, eine erneute Krise um Kaschmir durch gutes Zureden in Delhi zu beruhigen. Daß sowohl Indien wie Pakistan über Atomwaffen verfügen dürften, ist und bleibt Washingtons Hauptsorge. Sie gilt auch Nordkorea, der nächsten Schwellenmacht. Zwar gelang es Clinton im Januar 1994, die nordkoreanischen Kernenergieanlagen wieder der internationalen Inspektion zu öffnen. Das Mißtrauen gegenüber den Absichten der Volksrepublik ist aber geblieben; es wurde durch den Kauf von 40 russischen U-Booten im Januar 1994 noch verstärkt.
Im asiatisch-pazifischen Raum vertraut die Clinton-Administration darauf, daß die Stabilität des Winters 1993/94 weiter anhalten wird. Deren Grundlage bilden die drei Dyaden: Washington-Tokio, Tokio-Beijing, Beijing-Washington. Die erste muß, wie man in Washington sagt, hervorragend, die zweite sehr gut, die dritte mindestens erträglich sein. Dann ist die Basis gegeben, auf der die Clinton-Administration auch in diesem Raum den Multilateralismus praktizieren kann, jenes bessere Mischungsverhältnis von politisch-sicherheitspolitischem Aufwand und ökonomischem Ertrag, das das Kennzeichen der Clinton-Doktrin ausmacht.