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Wandel und Brüche in Lebensentwürfen von Frauen in den neuen Bundesländern | APuZ 6/1994 | bpb.de

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APuZ 6/1994 Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt: Ökonomische und soziologische Erklärungsansätze Frauen auf dem Weg in Spitzenpositionen der Wirtschaft? Frauenerwerbslosigkeit in den neuen Bundesländern Folgen und Auswege Wandel und Brüche in Lebensentwürfen von Frauen in den neuen Bundesländern

Wandel und Brüche in Lebensentwürfen von Frauen in den neuen Bundesländern

Lisa Böckmann-Schewe/Christine Kulke/Anne Röhrig

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schon kurz nach der Wende im Herbst 1989 zeichnete sich ab, daß vor allem die Situation im Erwerbsbereich negative Auswirkungen für Frauen haben würde: Eingeschränkte Arbeitsmarktchancen, diskriminierende Arbeitsmarktpolitik und die Risiken der Arbeitslosigkeit sind für Frauen in den neuen Bundesländern neue Erfahrungen, die in der zukünftigen Lebensgestaltung Berücksichtigung finden müssen und individuelle Gestaltungsanforderungen notwendig machen. Wie Frauen nun vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebens-und Arbeitserfahrungen im Gesellschaftssystem der DDR den Umbruch und die Notwendigkeit und Möglichkeit von Neuorientierungen erleben und gestalten und welchen Stellenwert die Arbeit im Lebenskonzept der Frauen einnahm und einnimmt, sind Fragen, denen wir im Rahmen eines empirischen Forschungsprojektes nachgegangen sind. Veränderungen und Kontinuitäten in der Erwerbstätigkeit und -Orientierung von Frauen in den neuen Ländern lassen sich in ihren differenzierten Ausprägungen nur unter Einbeziehung ihrer Sozialisationserfahrungen und -bedingungen, ihrer gesamten Lebensrealität im Gesellschaftssystem der DDR erfassen. Im hier vorliegenden Beitrag wird deshalb auf eine wesentliche Rahmenbedingung des Frauenlebens in der DDR, nämlich die staatliche Gleichstellungspolitik, Bezug genommen, um im Anschluß daran einige ausgewählte empirische Ergebnisse zur individuellen Gestaltung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie darzustellen. Daran anknüpfend werden zentrale Veränderungen der Beschäftigungssituation und veränderte subjektive Handlungsorientierungen skizziert und entsprechende empirische Ergebnisse vorgestellt. Abschließend wird unter strukturtheoretischen Gesichtspunkten den Veränderungen von sozialer Identifikation in der Berufsarbeit nachgegangen.

L Vorbemerkung

Schon kurz nach der Wende in der DDR im Herbst 1989 zeichnete sich ab, daß die veränderte Situation im Erwerbsbereich negative Auswirkungen vor allem für Frauen haben würde: Eingeschränkte Arbeitsmarktchancen, geschlechtsdiskriminierende Personalpolitik und die Risiken der Arbeitslosigkeit sind für Frauen in den neuen Bundesländern neue Erfahrungen, die in der zukünftigen Lebensgestaltung Berücksichtigung finden müssen und individuelle Strategien der Bewältigung notwendig machen.

Wie Frauen vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebens-und Arbeitserfahrungen im Gesellschaftssystem der DDR den Umbruch sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit der Neuorientierung erleben und welchen Stellenwert die Arbeit im Lebenskonzept der Frauen einnahm und einnimmt, sind Fragen, denen wir im Rahmen eines empirischen Forschungsprojektes nachgegangen sind In die qualitative Untersuchung wurden Frauen verschiedener Berufsbereiche und mit unterschiedlichen formalen Qualifikationsniveaus einbezogen Im Forschungsprojekt sind insgesamt 60 Interviews mit erwerbstätigen Frauen geführt worden; 40 in Berlin (Ost) und 20 mit einer Vergleichsgruppe in Dessau im Bundesland Sachsen-Anhalt. ,

Veränderungen und Kontinuitäten in der Erwerbstätigkeit und -Orientierung von Frauen in den neuen Ländern lassen sich in ihren differenzierten Ausprägungen nur unter Einbeziehung ihrer Sozialisationserfahrungen und -bedingungen sowie ihrer gesamten Lebensrealität im Gesellschaftssystem der DDR erfassen. Im folgenden wird deshalb auf eine wesentliche Rahmenbedingung des Frauenlebens in der DDR, die staatliche Gleichstellungspolitik, Bezug genommen, um im Anschluß daran einige ausgewählte empirische Ergebnisse zur individuellen Gestaltung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie darzustellen. Daran anknüpfend werden zentrale Veränderungen der Beschäftigungssituation und veränderte subjektive Handlungsorientierungen skizziert und entsprechende empirische Ergebnisse vorgestellt. Abschließend wird unter strukturtheoretischen Gesichtspunkten den Veränderungen von sozialer Identifikation in der Berufsarbeit nachgegangen.

II. Gleichstellungspolitik als Mütterpolitik

Die Gleichberechtigung der Geschlechter war in der 1949 gegründeten DDR Verfassungsgrundsatz und Staatsauftrag; die entsprechende Politik führte im Bereich der Erwerbsarbeit zu beeindruckenden Resultaten: Ende 1989 waren in der DDR ca. 90 Prozent der erwerbsfähigen Frauen berufstätig oder absolvierten eine Ausbildung. Doch nicht nur der Umfang der Erwerbsbeteiligung der Frauen hatte sich in 40 Jahren DDR-Sozialismus sukzessive erhöht, auch die Qualifikation nahm zu. Eine qualifizierte berufliche Erstausbildung, Fach-oder Hochschulstudium sowie Fort-und Weiterbildung im Berufsverlauf waren für Frauen in der DDR zunehmend normale Etappen ihrer Berufsbiographie.

Gleichzeitig war die Frauenerwerbstätigkeit auch in der DDR durch eine geschlechtsspezifische Segmentierung von Ausbildung und Berufstätigkeit charakterisiert. Frauen arbeiteten hauptsächlich in den sogenannten frauentypischen Berufen, und sie waren kaum auf den höheren betrieblichen Hierarchieebenen vertreten -auch wenn sich ihr Qualifikationsniveau ständig erhöht hat Entwicklungen, die diese Geschlechtstypik in der Erwerbs-arbeit aufbrechen wie hätten können, z. B. die Orientierung von Frauen auf technische Berufe in den sechziger Jahren, wurden bald wieder gestoppt. So setzte sich seit Beginn der siebziger Jahre eine „planmäßige“ Lehrstellenvergabe durch, die Mädchen vorwiegend Ausbildungsmöglichkeiten in Bereichen offerierte, die bereits einen hohen Frauenanteil aufwiesen und mithin die geschlechtsspezifische Segmentierung der Berufs-tätigkeit festschrieb

Trotz der nahezu vollständigen Einbeziehung der Frauen ins Arbeitsleben hat sich in der DDR nur wenig an der traditionellen Geschlechterrollenzuweisung geändert: Hauptverantwortlich für die Reproduktion der Familie, also für familiäre Belange, Kinderbetreuung und -erziehung, blieben die Frauen, was auf den Bereich der Erwerbsarbeit zurückwirkte.

Angelegt war diese Entwicklung in der Gleichstellungspolitik der DDR, die in mehreren Etappen verlief und sich unterschiedlicher Frauenleitbilder bediente: Die erste Phase der Frauenpolitik kann als „Frauenarbeitspolitik“ charakterisiert werden. Die Gleichstellungspolitik richtete sich in ihren Anfängen auf die weitestgehende Einbeziehung der Frauen in die Sphäre der Erwerbsarbeit. Das entsprach nicht nur der sozialistischen Ideologie, die als wichtigste Voraussetzung für die Gleichstellung der Frau deren möglichst umfassende Einbindung in die Erwerbsarbeit sieht, sondern auch der ökonomischen Situation des Landes: Die voll-erwerbstätige Frau wurde zum Leitbild. Um diese Vorstellung gesellschaftlich zu realisieren, wurden Familienaufgaben partiell von gesellschaftlichen Institutionen übernommen (Kinderbetreuung, Schulspeisung, Kantinenversorgung, Serviceleistungen im Haushaltsbereich etc.). Diese Politik führte zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Stellung der Frau, zu ihrer formalen Gleichstellung und zur relativen Selbstverständlichkeit der Frauenerwerbstätigkeit. Neben der generellen Einbindung in die Erwerbssphäre wurde in den sechziger Jahren die berufliche Qualifizierung Qualifizierung innerhalb (Erstausbildung oder der Erwerbstätigkeit) von Frauen gefördert. Zu den verschiedenen Qualifizierungsmaßnahmen gehörten die zeitweilige Öffnung bislang männerdominierter Bereiche und die damit verbundene spezielle Förderung von Frauen in bzw. für technische Berufe, das Frauensonderstudium und betriebliche Frauenförderpläne sowie die Gewinnung von Frauen für Leitungspositionen.

Mitte der sechziger Jahre erfuhr diese „Frauenarbeitspolitik“ mit der Verabschiedung des Familien-gesetzbuches der DDR eine erste Veränderung: Formuliert wurde jetzt erstmals ein sozialistisches Familienleitbild und damit einhergehend erfolgte eine Modifizierung des Frauenleitbildes. Familiale Erziehungsleistungen wurden nun gesellschaftlich anerkannt, und die Reproduktionsarbeit erhielt eigenständige Bedeutung neben der Berufstätigkeit. Diese familienpolitische Orientierung fand ihre Fortsetzung in einer Akzentsetzung auf bevölkerungspolitische Zielstellungen. Mittels einer an die Frauen adressierten Familienpolitik sollten die Sicherung der Bevölkerungsreproduktion und die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit erreicht werden. Da materielle Anreize allein nicht den gewünschten Anstieg der Geburtenrate zur Folge hatten, wurde bei der weiteren Gestaltung der Politik Gewicht auf gesetzliche Regelungen gelegt, die die Vereinbarkeit und Gleichzeitigkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit zum Ziel hatten. Festlegungen wie Arbeitszeitverkürzungen ab einer bestimmten Kinderzahl, Freistellungen und Lohnfortzahlungen bei Krankheit der Kinder und die Einführung des Babyjahres bei weiterem Ausbau der gesellschaftlich organisierten Kinder-betreuung sollten sowohl die Reproduktion der DDR-Bevölkerung sicherstellen als auch die volle Einbeziehung der Frauen ins Erwerbsleben gewährleisten Gleichstellungspolitik wurde somit zur Familienpolitik, die wiederum nahezu ausschließlich an Frauen als Mütter gerichtet war und Männer als Väter unberücksichtigt ließ Entsprechend veränderte sich das bisherige Frauenleitbild: Propagiert wurde jetzt die beruflich engagierte Frau, die gleichzeitig „liebevoll sorgende Mutter mindestens zweier Kinder“ war und im Idealfall auch gesellschaftliche Arbeit leistete bzw. sich politisch engagierte. Das Bild der berufstätigen und gesellschaftlich aktiven Frau entsprach dem des voll-erwerbstätigen Mannes, also männlichen Mustern, die Rolle, die die Frau in der Familie und im Reproduktionsbereich ausfüllen sollte, orientierte sich letztendlich am traditionellen Rollenverständnis.

Diese hauptsächlich an Frauen in ihrer Funktion als Mutter adressierte Politik hatte verschiedene Auswirkungen, die sich gegenseitig negativ verstärkten': -Als alleinige Adressatin der Familienpolitik blieb die Frau die Hauptverantwortliche für die familiale B’eziehungs-und Reproduktionsarbeit;

eine Auseinandersetzung über eine entsprechende Rollen-und Aufgabenverteilung wurde nicht in Gang gesetzt. Vielmehr wurden traditionelle Rollenzuweisungen festgeschrieben und reproduziert.

-Die im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung gegebenen Rechtsansprüche ließen Frauen aus betrieblicher Sicht zum Risikofaktor werden.

Längere Ausfallzeiten der Frauen wurden von Seiten der Betriebe eingeplant, mit der Folge, daß ihre beruflichen Entwicklungs-und Aufstiegschancen geringer waren.

-Die Zuweisung der Verantwortung für die Familie führte bei den Frauen häufig zu einer Berufswahl und -ausübung, die sich primär an familialen Erfordernissen orientierte.

Die Gleichstellungspolitik der DDR war weder dazu geeignet noch explizit darauf gerichtet, den Widerspruch zwischen den Interessen am und den Anforderungen des Berufslebens und denen im familialen Bereich zu lösen. Auch in der DDR waren Frauen somit auf individuelle Lösungen verwiesen, wenn sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollten.

Bei aller berechtigten Kritik muß jedoch gesagt werden, daß die Gleichstellungspolitik der DDR den ostdeutschen Frauen einen „Gleichstellungsvorsprung“ brachte: Durch die Selbstverständlichkeit der Erwerbstätigkeit und die damit verbundene relative ökonomische Eigenständigkeit waren Frauen in ihrer Lebensplanung und -gestaltung von Männern partiell unabhängig.

Der gesellschaftspolitische Entwurf der DDR mit der Selbstverständlichkeit der Teilnahme der Frauen am Erwerbsleben bei gleichzeitiger Verantwortung für die Familie findet seine Entsprechung auch in den Berufs-und Lebensverläufen der von uns interviewten Frauen. Die signifikantesten Motive für berufliche Veränderungen waren die familiären Anforderungen der Kinderbetreuung und -erziehung. Von den von uns befragten Frauen wurde -unabhängig von Alter und Anzahl der zu betreuenden Kinder -nie in Erwägung gezogen, künftig nicht mehr kontinuierlich erwerbstätig sein zu wollen. Die überwiegende Mehrheit der Interviewten hat die Berufstätigkeit nur für die Dauer des Babyjahres unterbrochen -dies war seit 1976 nach der Geburt des zweiten und seit 1986 auch nach der Geburt des ersten Kindes möglich. Darüber hinausgehende Unterbrechungen oder gar eine Aufgabe der Erwerbsarbeit waren für DDR-Frauen keine Alternativen zur Doppel-und Dreifachbelastung durch Berufstätigkeit, Familienverantwortung und Mutterschaft. Die damit verbundenen Probleme versuchten sie individuell zu lösen: So wurde etwa vermittels eines Arbeitsplatzwechsels eine Reduzierung der täglichen Wegzeiten zwischen Wohnung, Betrieb und Kinderbetreuungseinrichtung angestrebt, in ein günstigeres Schichtsystem bzw. in Normalarbeitszeit gewechselt oder ein Arbeitsplatz mit geringeren beruflichen Anforderungen gesucht. Eine andere Möglichkeit lag in der -zeitlich befristeten -Arbeitszeitverkürzung, womit einige der Frauen auch den Anspruch zum Ausdruck brachten, die Kinderbetreuung und -erziehung nicht gänzlich in öffentliche Einrichtungen zu verlagern. Weniger Stunden am Arbeitsplatz verbringen zu müssen bedeutete, mehr Raum für die Beschäftigung mit den Kindern zu haben, war aber häufig auch mit einer Intensivierung der Arbeit verbunden.

Solcherart motivierte Arbeitsplatzwechsel und Arbeitszeitverkürzungen gingen manchmal mit Dequalifizierung oder der Aufnahme unbefriedigenderer Tätigkeiten einher. Diese Etappen in der Berufsbiographie wurden aus der Sicht der Frauen „vorübergehend“ in Kauf genommen; sie sahen die Möglichkeit, ihre Arbeitssituation in abseh-barer Zeit wieder ändern zu können. Der bruchlose Verlauf der eigenen Berufsbiographie konnte also durch die Geburt von Kindern und entsprechende Betreuungsanforderungen und -ansprüche zumindest erschwert werden, wenn nicht sogar gänzlich unmöglich werden. Mitunter wurde die eigene Qualifizierung auch zugunsten der beruflichen Entwicklung des Partners zurückgestellt oder ganz aufgegeben.

Bei allen Friktionen der Berufsbiographien mit den Anforderungen von Mutterschaft und Erwerbsarbeit war jedoch eines immer klar: Die Frauen in der DDR wollten erwerbstätig bleiben, und sie hatten auch die Möglichkeiten dazu. Dies war für sie normal und findet seinen Ausdruck in einer subjektiven, biographisch angeeigneten Erwerbsorientierung als festem Bestandteil des Lebenskonzeptes der Frauen in den neuen Bundesländern, wobei jedoch die Realisierungsmöglichkeiten für eine weitere Erwerbstätigkeit seit 1989 zunehmend eingeschränkt sind. Die Entwicklungen im Bereich der Erwerbsarbeit und der Beschäftigungssituation werden im folgenden für unsere Untersuchungsbereiche Berlin (Ost) und Dessau skizziert.

III. Arbeitsmarktentwicklung in Berlin (Ost) und Dessau

In den neuen Bundesländern hat sich inzwischen (von 1989 bis Mitte 1993) die Zahl der Erwerbstätigen um beinahe vier Millionen verringert, die Zahl der Arbeitslosen ist auf 1, 2 Millionen angestiegen; dem entspricht eine Arbeitslosenquote von derzeit 15, 9 Prozent -ohne den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen läge die Quote bei etwa 30 Prozent. Von Anfang an war die Arbeitslosenquote der Frauen höher als die der Männer, der Frauenanteil an allen Arbeitslosen ist ständig angestiegen: Lag er im Februar 1990 noch bei 40 Prozent, so ist er seitdem kontinuierlich gewachsen und hatte Mitte 1993 65 Prozent erreicht. Mit annähernd 22 Prozent ist die Arbeitslosenquote der Frauen doppelt so hoch wie die der Männer. Frauen stellen zudem den größeren Teil der Langzeitarbeitslosen (ein Jahr und länger arbeitslos), nämlich 69Prozent, d. h., sie werden nicht nur häufiger arbeitslos, sondern haben auch größere Schwierigkeiten, ein neues Arbeitsverhältnis zu finden. Im folgenden soll gezeigt werden, wie sich die Arbeitsmärkte in Berlin (Ost) und in Dessau seit der Wende verändert haben und welche Auswirkungen dies für die Frauen dieser Regionen hat 1. Berlin (Ost)

Ende 1989 waren in Berlin (Ost) insgesamt 345 900 Frauen erwerbstätig, darüber hinaus gab es 9500 weibliche Auszubildende. Damit stellten die Frauen rund die Hälfte aller Erwerbstätigen (insgesamt: 697100 Berufstätige und 23800 Auszubildende). Sie arbeiteten größtenteils in den nichtproduzierenden Bereichen, im Handel und -an dritter Stelle -in der Industrie. In diesen Wirtschaftsbereichen stellten sie Ende 1989 gut 60 Prozent (nicht-produzierende Bereiche), ca. 70 Prozent (Handel) bzw. knapp 30 Prozent (Industrie) der Gesamtbeschäftigten.

Der Zenit der Arbeitslosigkeit wurde in Ostberlin im Januar 1992 erreicht: Lag Mitte 1990 die Arbeitslosenquote der Frauen noch bei 6, 8 Prozent, so war sie Anfang 1992 auf 18, 8 Prozent angestiegen -insgesamt hat sie sich in diesem Zeitraum von 6, 1 auf 17, 2 Prozent erhöht. Seit ihrem Höchststand im Januar 1992 ist die weibliche Arbeitslosenquote etwas zurückgegangen; sie lag Ende Juni 1993 bei 14, 6 Prozent -dies entsprach absolut 43 210 arbeitslosen Frauen und einem Anteil an allen Arbeitslosen des Ostteils Berlins von 55, 1 Prozent. Nicht enthalten sind die Frauen, die derzeit von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen -also Vorruhestand, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Fortbildung und Umschulung (FuU) -profitieren, nach deren Beendigung sie voraussichtlich wieder vor einer ungesicherten beruflichen Perspektive stehen werden. So befanden sich in Berlin (Ost) z. B. im Juni 1993 nahezu 11000 Frauen in AB-und rund 2000 Frauen in FuU-Maßnahmen.

Den höchsten Prozentsatz arbeitsloser Frauen hatten im Juni 1993 in Berlin (Ost) die Organisations-, Verwaltungs-und Büroberufe (12925, das entspricht einem rd. 80prozentigen Anteil an allen Arbeitslosen dieser Berufsgruppe) sowie die Warenkaufleute (6783 bzw. rd. 85 Prozent an den Arbeitslosen dieser Berufsgruppe) zu verzeichnen. Hier zeigt sich erstens, daß in den traditionellen Beschäftigungsdomänen der Frauen eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, und zweitens, daß Frauen’in diesen Berufsbereichen überproportional unter den Arbeitslosen zu finden sind.

Von den 4507 Frauen, die in Berlin (Ost) im Juni 1993 neu in die Arbeitslosigkeit einmündeten, kamen 13, 7 Prozent aus dem Handel und 37Prozent aus den übrigen Dienstleistungsbereichen, d. h., daß über 50 Prozent der Neuzugänge an arbeitslosen Frauen im tertiären Sektor beschäftigt waren. Entgegen ersten Prognosen ist der Dienstleistungssektor nicht vor rapiden Beschäftigungsverlusten verschont geblieben, und auch in den Verwaltungseinheiten von Staat und Industrie gingen die Beschäftigtenzahlen zurück. Der wirtschaftliche Strukturwandel hat also in ehemals von Frauen dominierten Berufsbereichen besonders negative Auswirkungen. Von den im Juni 1993 2146 neuvermittelten Arbeitsverhältnissen entfielen insgesamt nur 810 auf Frauen, wobei sie zu 67, 5 Prozent in Dienstleistungsberufe vermittelt wurden. Gemessen an allen Vermittlungen im Dienstleistungsbereich des Monats Juni 1993 stellen Frauen allerdings nur noch ca. 50 Prozent. 2. Arbeitsamtsbezirk Dessau Ende 1989 waren im Amtsbezirk Dessau 73047 Frauen erwerbstätig, darüber hinaus gab es 2328 weibliche Auszubildende. Damit stellten die Frauen nahezu die Hälfte aller Erwerbstätigen im jetzigen Arbeitsamtsbezirk (insgesamt 152127 Berufstätige und 5634 Auszubildende). Die Mehrzahl der Frauen arbeitete in der Industrie, in den nichtproduzierenden Bereichen und im Handel. Sie stellten Ende 1989 fast 80 Prozent der in den nichtproduzierenden Bereichen und im Handel bzw. rund 38 Prozent der in der Industrie Beschäftigten. Im Juni 1991 lag die Arbeitslosenquote im Arbeitsamtsbezirk Dessau bei 8, 8Prozent, im Dezember desselben Jahres war sie bereits auf 10, 7 Prozent gestiegen und betrug im Juni 1992 schon 14, 3 Prozent.

Anders als in Berlin (Ost) ist die Arbeitslosenquote in Dessau kontinuierlich angestiegen und liegt inzwischen (September 1993) insgesamt bei 21, 1 Prozent. Die Arbeitslosenquote der Frauen in Dessau beträgt 28, 4 Prozent, was einem Frauenanteil an allen Arbeitslosen der Stadt von ca. 64 Prozent entspricht; sie ist damit nahezu doppelt so hoch wie die vergleichbare Zahl in Berlin (Ost). Ausschlaggebend dafür dürfte neben der extremen wirtschaftlichen Strukturschwäche der Region auch sein, daß Dessau nicht wie Berlin (Ost) durch einen „vor der Tür“ liegenden westlichen Arbeitsmarkt entlastet wird.

In Dessau befanden sich im Juni 1993 2267 Beschäftigte in AB-Maßnahmen, davon ca. 47 Prozent Frauen, und 7 958 Personen in FuU-Maßnahmen, davon 70, 6 Prozent Frauen. Zu den im Juni 1993 insgesamt 14778 arbeitslos gemeldeten Frauen kommen also nochmals 6625 Frauen in AB-und FuU-Maßnahmen hinzu, deren Beschäftigungsperspektive nach Beendigung der Maßnahmen unsicher ist.

Von den rd. 1900 Beschäftigten, die in den ersten zehn Monaten des Jahres 1993 in der Stadt Dessau arbeitslos wurden (sie kamen hauptsächlich aus den Wirtschaftsbereichen Chemie, Leichtmetall-und Stahlbau, Maschinenbau, Textil, Nahrungsund Genußmittel), sind rd. 900 weiblich (ca. 48Prozent). Der Frauenanteil an den Zugängen in die Arbeitslosigkeit im Handel, Gesundheitswesen und in den übrigen Dienstleistungsbereichen lag bei etwa 64 Prozent -bei den Arbeitsvermittlungen in den letztgenannten Bereichen errechnet sich für die Vermittlungen des Jahres 1993 bislang ein Frauenanteil von ca. 88 Prozent. In den industriellen und verarbeitenden Berufsgruppen entfielen von allen Vermittlungen im Jahr 1993 lediglich ca. 20 Prozent auf Frauen.

IV. Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit als neu erlebte gesellschaftliche Realität

Aufgrund der oben skizzierten Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern -hier dargestellt am Beispiel von Berlin (Ost) und Dessau -stellt die hohe Arbeitslosigkeit ein zentrales Problem dar. Frauen sind davon überproportional betroffen. Sie erfahren in bislang nicht gekannter und erlebter Art und Weise Ausgrenzungen aus dem Bereich der Erwerbsarbeit und werden aufgrund gegebener oder auch nur möglicher Mutterschaft mit frauendiskriminierendem Verhalten im Berufsleben konfrontiert. Entsprechend war die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ein zentraler Aspekt, der im Kontext der Wende von den in Berlin (Ost) und Dessau interviewten Frauen thematisiert wurde. In unserem Material hat sich gezeigt, daß von den Interviewten in Dessau das Thema Arbeitslosigkeit und ihre Folgen vergleichsweise häufiger und ausführlicher angesprochen wurde als im Berliner Sample, was der realen Situation entspricht.

Die Ängste und Verunsicherungen der Frauen sind generell begründet durch im sozialen Umfeld erlebte Ausgrenzungen vom Arbeitsmarkt, aber auch durch zukünftig eingeschränktere Möglichkeiten der Verwirklichung von arbeitsinhaltlichen und sozial-kommunikativen Ansprüchen im eigenen beruflichen Werdegang. „Eine Menge an der Gesamtsituation (hat sich im Zuge der Wende verändert, d. Verf.), beruflich hauptsächlich. Keine Arbeit mehr, zumindest die Aussicht dafür, und auch keine Aussicht, wieder irgendwo welche zu bekommen, denn bei uns in der Umgebung sind sämtliche Betriebe tot und mit der Berufsausbildung ist nichts zu machen, es bleibt eigentlich nur eine Umschulung.“ (Frau Gold, geb. 1962, POS, FA Maschinenbauzeichnerin, Fachschulstudium Maschinenbauingenieurin, ledig, 2 Kinder im Alter von 4 Jahren) „[... ] was wir hier überhaupt nicht kennen, diese Angst um den Arbeitsplatz. Auch nicht als Frau. Das kannten wir nicht. Das ist das, was uns natürlichdie größte Angst bereitet. “ (Frau Braun, geb. 1952, POS, FA Mechanikerin, verheiratet, 2 Kinder im Alter von 17 und 20 Jahren) „Aber ich wüßte ganz genau, wenn ich jetzt arbeitslos würde, und ich würde mich als Frau irgendwo bewerben, daß ich als Frau fast keine Chance hab’, aus dem Erfahrungsgespräch mit anderen. Davor habe ich schon ein bißchen Angst, wenn das mit unserem Betrieb doch mal zu Ende geht und sich nicht so entwickelt, wie wir es hoffen, daß man dann vielleicht eine Arbeit machen müßte, um Geld zu verdienen, aber nicht, weil es einem Freude macht. Und das wird so kommen zu 90 Prozent. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich noch einmal eine Arbeit finde, die mir auch Spaß macht. Dann wahrscheinlich irgend etwas, das ein Mann nicht machen will oder wo sie sagen, das ist nicht qualifiziert genugfür einen Mann, also irgend etwas in dieser Art.

So stell’ ich mir das vor. “ (Frau Meyer, geb. 1957, POS, Wirtschaftskauffrau, Fachschulstudium Öko-nomie, verheiratet, 2 Kinder im Alter von 6 und 12 Jahren)

Die von uns interviewten Frauen waren zum Zeitpunkt der Befragung erwerbstätig, dennoch wird häufig ein möglicher bzw. wahrscheinlicher Arbeitsplatzverlust antizipiert. Bei der Analyse der Strategien und Handlungsmuster, die die Frauen vor diesem Hintergrund entwickeln, lassen sich zwei wesentliche Gruppen ausmachen: --Frauen, bei denen eine berufliche Veränderung als Folge der Wende notwendig war und die ein starkes Engagement zeigen, weiterhin auf qualitativ hohem Niveau berufstätig sein zu wollen, bzw. Frauen, die mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen und Vorstellungen zur weiteren Berufstätigkeit entwickelt haben.

Frauen, die sich durch Arbeitslosigkeit bedroht sehen oder wissen, daß sie kurz-bzw. mittelfristig ihren Arbeitsplatz verlieren werden, z. T. auch schon gekündigt wurden, aber noch keine Vorstellungen zur weiteren Berufstätigkeit formulieren können. Sie wollen zwar auch künftig erwerbstätig sein, haben aber offenbar Schwierigkeiten, sich neu zu orientieren.

Diese beiden Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Qualifikationsstufe und Weiterbildungserfahrungen sowie Mobilität im bisherigen Berufs-verlauf: Frauen mit einem starken Engagement für eine Berufstätigkeit auf weiterhin hohem qualitativen Niveau verfügen i. d. R. über einen Fachschul-bzw. Hochschulabschluß; für sie gehörte die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen und Qualifizierungen in der Vergangenheit zur Berufs-realität. Für einige von ihnen ist der bisherige, zu DDR-Zeiten innegehabte Arbeitsplatz durch Betriebsschließungen oder betriebliche Umstrukturierungen weggefallen. Sie haben sich aber entweder schon in neuen Bereichen etabliert oder haben Vorstellungen darüber entwickelt, wie sie Sich -anknüpfend an eigene Interessen und Arbeitserfahrungen -auf dem Wege der Fortbildung qualifizieren wollen. Sie lassen erkennen, daß sie für sich -auch unter den veränderten und schwierigeren Bedingungen -Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sehen, wobei sie auch deutlich machen, daß es zu deren Realisierung nicht unerheblicher individueller Anstrengungen bedarf. Entscheidend erscheint uns hier, daß es sich um Frauen handelt, die auch in der Vergangenheit ihre Berufsbiographien flexibel und interessengeleitet gestaltet haben und über ein hohes Maß an orientierten Bildungsbestrebungen verfügen. Sie erschließen sich Zusammenhänge, um sich neues, für die Berufstätigkeit notwendiges Wissen anzu38 eignen. Ihr Berufsverlauf ist u. a. dadurch gekennzeichnet, daß für sie auch zu DDR-Zeiten vergleichbare Handlungsmuster zum Tragen kamen. Die hier skizzierten Fähigkeiten, auch unter den „Nach-Wende-Bedingungen“ die eigene Berufs-biographie zu gestalten, setzen sich aus verschiedenen Faktoren zusammen: Entscheidend ist eine Kombination aus Qualifikationsstufe, Weiterbildungserfahrung und bisheriger Mobilität im Berufsverlauf, die positiv wirksam wird; das Qualifikationsniveau allein scheint nicht ausschlaggebend zu sein für die Handlungsfähigkeit im Berufs-bereich.

Diejenige Gruppe von Frauen mit weitgehend fehlenden Vorstellungen zur weiteren beruflichen Zukunft, die um die Unsicherheit bzw.den Wegfall ihres Arbeitsplatzes weiß, rekrutiert sich im wesentlichen aus Frauen mit Facharbeiterabschluß. Diese hauptsächlich im Produktionsbereich Beschäftigten sehen bei einer Betriebsschließung keine Chancen für eine Neubeschäftigung und sind auf eine Umschulung verwiesen. Was sie künftig tun können bzw. wollen -darüber herrscht bei ihnen zumeist Unklarheit und Unsicherheit. Differenzierte Informationen über mögliche Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und über die verschiedenen Angebote des Weiterbildungsmarktes scheinen nicht vorhanden zu sein, was z. T. auch daran liegt, daß sie sich noch ungenügend orientiert haben.

Die Analyse der berufsbiographischen Verläufe zeigt, daß diese Frauen bislang selten den Arbeitsplatz und das Tätigkeitsfeld gewechselt haben und daß ihnen Weiterbildungs-und Qualifizierungserfahrungen im Berufsverlauf weitestgehend fehlen. Begründet wird dies mit fehlenden Veränderungs-und Qualifizierungsmöglichkeiten, aber auch mit nicht vorhandenem Eigeninteresse an Veränderung oder Qualifizierung.

Die Entwicklung und Umsetzung von alternativen Entwürfen in der Berufstätigkeit korreliert also positiv mit einem höheren Qualifikationsniveau sowie mit den konkreten Mobilitäts-und Flexibilitätserfahrungen. Diese Aspekte des Berufsverlaufes, sei es die Realisierung von Qualifizierungen oder ein Arbeitsplatzwechsel, wirken positiv beim Umgang mit den wendebedingten Anforderungen in der Erwerbsarbeit und bei der Entwicklung von Handlungsstrategien. Das ist ein Ergebnis, das für beide Regionen -Berlin (Ost) und Dessau -zutrifft. Signifikante regionalspezifische Unterschiede in Orientierungs-und Handlungsmustern lassen sich an diesem Punkt nicht ausmachen.

V. Neue Anforderungen und Zwänge als Folge der Transformation des Gesellschaftssystems

Im Transformationsprozeß -dem seit der Wende laufenden Prozeß des Überganges von der Plan-zur Marktwirtschaft -wird die gesamte Gesellschafts-und Sozialstruktur der DDR, einschließlich ihres rechtlich-institutionellen Grundgerüstes und ihrer kulturell-normativen Orientierungsmuster, zur Disposition gestellt Eine Folge ist, daß es für die in dieser Gesellschaft erworbene und weiterhin vorhandene hohe Erwerbsorientierung der Frauen nur noch eingeschränkte Realisierungsmöglichkeiten gibt. Durch die oben beschriebene Frauen-und Familienpolitik waren der Berufsverlauf und die Umsetzung individueller Interessen in der Berufsarbeit in der Vergangenheit gestalt-und planbar. Mit der Anpassung an das Gesellschaftsund Wirtschaftssystem der Bundesrepublik war die Rücknahme sozialpolitischer Maßnahmen -der Verlust des monatlichen Haushaltstages, eine Verringerung der freien Tage bei Krankheit des Kindes, eine Reduzierung der Kindertagesstätten-plätze durch Schließung der Betriebskindertagesstätte, der Wegfall der organisierten Kinderferienreisen etc. -verbunden. Waren die Frauen in der DDR durch eine nahezu flächendeckende Versorgung im Betrieb (Kantine) oder in der Schule (Schulspeisung) entlastet, so sehen sie sich jetzt -unter Bedingungen, unter denen diese Leistungen nicht oder zu erheblich höheren Preisen angeboten werden -mit einem entsprechend größeren Organisationsaufwand konfrontiert. Aber auch die institutioneilen Veränderungen, etwa des Schulsystems, stellen vor allem die Frauen vor neue Entscheidungsnotwendigkeiten. Ein neuer Belastungsfaktor ist in diesem Zusammenhang die Sorge um die Zukunft der Kinder. Diese und andere Veränderungen der Rahmenbedingungen des Lebens der ostdeutschen Frauen führen dazu, daß neue Wege zur Alltagsbewältigung gesucht und ausgehandelt werden müssen. „Zum Beispiel auch die Umgewöhnung auf das neue Schulsystem. Wir hatte noch nie darüber Einblick, über Real-, Grundschule und Gymnasium. Das wurde uns in einer Elternversammlung mit einem Riesenlichtbild, da wurde im Schnelldurch-11 lauferklärt und dann geht man als Mutter raus, und so, nun entscheide dich, in welche Schule du dein Kind gibst. So wurde das mit allen Dingen hier bei uns so gemacht, und das finde ich überhaupt nicht fair, man muß doch die Leute besser vorbereiten. “ (Frau Huhn, geb. 1956, POS, FA Schreibtechnik, geschieden, 2 Kinder im Alter von 11 und 14 Jahren) „Die ganze Einstellung zum Leben ist anders geworden. Die Sicherheit, die man in der früheren DDR hatte, als Familie, ist weg. Man hat eben Angst um seinen Arbeitsplatz, man hat Angst um seine Wohnung. Man hat mehr Angst, daß mit den Kindern das nicht so gerade geht, wie man sich das gerade wünscht, also es ist schwerer geworden für uns. Früher war doch der Weg vorgezeichnet eben. Wenn man geheiratet hat, irgendwann hat man mal seine Wohnung bekommen, die Berufsausbildung, die Qualifizierung, man bekam sie eben, wenn man sich drum bemühte und nicht negativ auf Arbeit aufgefallen ist. “ (Frau Krause, geb. 1955, FA Diät-köchin, Fachschulfernstudium Ökonomie, verheiratet, 2 Kinder im Alter von 4 und 16 Jahren)

An die Stelle der plan-und überschaubaren Lebensgestaltung mit ihrer Sicherheit bietenden, aber auch Begrenzungen enthaltenden Ausrichung ist Unsicherheit getreten. Bisherige Normen und Werte gelten nicht mehr, Neuorientierungen sind notwendig, und in vielen Lebensbereichen -auch außerhalb der Erwerbsarbeit -ist zunehmend individuelle Gestaltungsfähigkeit gefragt.

VI. Selbstverständlichkeit der Frauenerwerbstätigkeit -Wandel bewährter Lebensmuster

Die Selbstverständlichkeit der Frauenerwerbstätigkeit in der DDR wird nicht nur brüchig durch die überproportional hohe Frauenarbeitslosigkeit, sondern Erwerbstätigkeit erfährt generell eine neue Wertigkeit. Die bislang zum Lebenskonzept gehörende Arbeit ist nun ein Bereich, in dem für die Umsetzung der eigenen Interessen gekämpft werden muß, und dies in einer Situation, in der die Frauen häufig befürchten (müssen), von vornherein chancenlos zu sein. „Ein sehr großes Problem für mich als Frau oder für alle Frauen so in meiner Altersgruppe ist, daß man genau weiß, wenn ich heute als Frau mit drei Kindern in meinem Betrieb die Arbeit verliere, dann muß ich sehr, sehr strampeln und sehr, sehr viel Glück haben, daß ich noch einmal woanders Fuß fasse, damit meine ich nicht, irgendwo so einen Paar-Stunden-Job, um ein paar Pfennige dazuzuverdienen, sondern einen wirklichen Beruf oder eine Stelle zu finden, die ein ausgefülltes Berufsleben mir bietet. Das ist dann, wenn man so um die 40 ist, die 40 überschritten hat, schon eine Angst, die kann man nicht von heute auf morgen überwinden. [... ] Das ist ein Problem, worüber wir uns früher nie den Kopf machen brauchten. Das war überhaupt kein Thema. Wir waren in diesem Berufsleben, sage ich mal, gleichberechtigte Partner, zumindest bis zu einer gewissen Leitungsebene. [... ] Es ist nie so gewesen, daß man das Gefühl hatte, du kannst bestimmte Arbeiten nicht machen, weil du eine Frau bist, und das hat man heute. [... ] Heute ist es aber so, daß man manchmal, ja Minderwertigkeitskomplexe ist nun wieder ein ganz starkes Wort, das ist vielleicht übertrieben, aber daß die Frauen doch ein bißchen zurückgesetzt werden, ja. Du bist eben eine Frau, du hast zwarjetztjahrelang, nehmen wir mal gerade in der Technik, in der Konstruktion bei uns, einen Posten innegehabt, aber plötzlich gibt es da einen qualifizierten Mann, da muß der eben die Stelle kriegen und die Frau geht. Das ist eine ziemlich eindeutige Tendenz.“ (Frau Brinkmann, geb. 1962, POS, FA Laborantin mit Abitur, Hochschulstudium Chemie, verheiratet, 3 Kinder im Alter von 12, 12 und 15 Jahren) „Die Situation der Frauen ist deprimierend, die ist jetzt echt deprimierend. Erstens mal sind die Frauen diejenigen, [... ], die schlecht wieder vermittelt werden. Also, die kommen überhaupt nicht an Jobs ran, sie müssen sich immer gegen die Männer durchsetzen. Ich habe das nie empfunden, als Frau mich gegen einen Mann behaupten zu müssen. In den ganzen Jahren nicht." (Frau Kuhn, geb. 1956, POS, FA Schneiderin. FA Schlosserin, Fachschulfernstudium Staats-und Rechtswissenschaften, Fachhochschulfernstudium Betriebs-und Leitungsorganisation, verheiratet, 2 Kinder im Alter von 10 und 16 Jahren)

Als eine Reaktion auf die eingeschränkten Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind die derzeit auszumachenden neuen Orientierungs-und Handlungsmuster hinsichtlich des Kinderwunsches zu werten. Da Mutterschaft die Chancen auf dem Arbeitsmarkt vermindert, also ein „Ausschlußgrund“ vom Arbeitsmarkt zu sein scheint, wird die Orientierung auf gleichzeitige Mutterschaft und Erwerbsarbeit brüchig; die Arbeit rückt bei der Lebensgestaltung und -planung partiell in den Vordergrund. Hier könnte sich eine Veränderung in den gewohnten Lebensrealitäten und in der Ausgestaltung individueller Lebenskonzepte abzeichnen: Die Frage der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft taucht nun als neu zu berücksichtigende und bewußter zu gestaltende „Größe“ in den Lebens-entwürfen auf. [... ] und wenn ich heute in dem Alter wäre, also am Anfang wäre, um eine Familie zu gründen, würde ich mir das auch überlegen, schaffe ich mir ein Kind an, schaffe ich mir überhaupt kein Kind an, also, ich glaube schon, daß es problematisch ist, in der heutigen Zeit damit klarzukommen, weil ja dann dranne steht, verdiene ich genug Geld, wie geht es danach weiter, komme ich in den Beruf rein? Wird ja auch danach gesehen, ist das eine Frau mit kleinen Kindern oder nicht. War vorher kein Thema. Man hatte eben die Chance, irgendwo eine Arbeit zu bekommen. Ob es die richtige war oder nicht, dann hat man sich halt was anderes gesucht, bis man das Richtige gefunden hat, heute hat man keine Auswahl, und in dem Falle sehe ich schon, daß es problematisch ist." (Frau Weber, geb. 1958, EOS, Fachschulfemstudium Ökonomie, verheiratet 2 Kinder im Alter von 6 und 14 Jahren) „Was mich selbst persönlich betrifft, ich war ja vor der Wende noch alleinstehend und hatte den Wunsch nach einem Baby und bin, eigentlich wünsche ich es mir heute immer noch, [... ] heute habe ich eben Angst davor aufgrund derfinanziellen und sozialen Situation, daß ich dann praktisch, wenn ich ausfallen würde, ich weiß nicht, was mit mir passiert, [... ] wenn es passieren sollte, daß ich dann meinen Job abschreiben kann. Also, das wäre für mich in der Situation ein Aus, und davor habe ich natürlich auch Angst, und deswegen auf der einen Seite der Wunsch, aber auf der anderen Seite die Vernunft zu sagen, eigentlich nein. Das ist natürlich ein riesengroßer Unterschied, denn damals war das selbstverständlich, und heute ist dasfast ein Luxus geworden, möchte ich sagen, wenn man sich ein Kind leisten kann.“ (Frau Schütz, geb. 1959, EOS, Dipl. -Juristin, ledig, keine Kinder) „Also, ich muß selber sagen, wenn die Wende nicht gekommen wäre, ich hatte eigentlich immer so gedacht, ach naja, Mensch, so ein Geschwisterkindfür meinen Sohn wäre nicht schlecht. [... ] Aber jetzt wüßte ich genau, daß ich kein zweites Kind mehr kriegen würde, ja, und ich bin davon überzeugt, daß es vielen Frauen hier in der DDR oder auch bei Ihnen, also man überlegt sich ja genau, ob man nun überhaupt ein Kind möchte, und wenn man eins hat, ob man noch ein zweites haben möchte.“ (Frau Herbst, geb. 1958, POS, Medizinisch-Technische Assistentin, Fach-MTA, verheiratet, IKind im Alter von 8 Jahren)

Zwar zeigt sich keine generelle Abkehr von der Familienorientierung, doch die Erwerbstätigkeit erhält einen neuen Stellenwert, rückt stärker ins Zentrum des Lebenskonzeptes. Frauen, die ihren Kinderwunsch zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht realisiert hatten, nehmen erst einmal Abstand davon, auch die vormals geplante Geburt eines zweiten oder dritten Kindes Wird verschoben oder aufgehoben. Sowohl Arbeit als auch Kinder waren feste Bestandteile des Lebenskonzeptes der Frauen der DDR. Berufstätigkeit und Mutterschaft wurden in der bisherigen Lebensgestaltung nicht als Gegensätze, als einander ausschließende Lebensbereiche erfahren sie ließen sich i. d. R. vereinbaren. Interessant ist, daß die veränderte, für die Frauen katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt bislang nicht zu einem freiwilligen Rückzug aus der Erwerbsarbeit geführt hat. Das wird sich möglicherweise ändern, denn für jüngere Frauen könnten sich die Familien-und Erwerbsorientierung als einander ausschließende Alternativen darstellen.

Noch gibt es keine verbindlichen Antworten auf die Fragen, wie Frauen die Umbruchprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft bewältigen und welche Neuorientierungen sie letztendlich vornehmen werden. Fest steht bislang nur, daß für Frauen in den neuen Bundesländern eine nach wie vor hohe Erwerbsorientierung charakteristisch ist. Die staatlicherseits gewünschte und deshalb geförderte Erwerbstätigkeit und die Sozialisationserfahrungen unter den spezifischen Bedingungen der DDR haben offensichtlich zu einer subjektiven -biographisch angeeigneten -Erwerbsorientierung geführt, die nun als fester Bestandteil im Lebenskonzept der Frauen verankert ist.

Es hat sich aber auch gezeigt, daß unterschiedliche objektive Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt - hier am Beispiel von Berlin (Ost) und Dessau -sowie differenzierte subjektive Voraussetzungen vorhanden sind, um den Wunsch nach weiterer Erwerbstätigkeit realisieren zu können. Bei der zukünftigen Gestaltung des Erwerbsbereiches, aber auch der vielfältigen beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, muß verstärkt den oben skizzierten unterschiedlichen subjektiven Voraussetzungen und Bedürfnissen Rechnung getragen werden, um Ausgrenzungen aus dem Berufsleben nicht festzuschreiben.

VII. Soziale Identifikation und Berufsarbeit im Wandel

Kontinuitäten und Brüche in den Orientierungen, Leitbildern und Handlungsmustem von Frauen in den neuen Bundesländern korrespondieren und kontrastieren auf unterschiedliche Weise mit den weitreichenden Veränderungen des weiblichen Lebenszusammenhangs seit der Wende. In diesen Veränderungen von Orientierungen drücken sich, wie bereits an unserem Material gezeigt werden konnte, unterschiedliche individuelle Verarbeitungsprozesse sozialer Transformationen aus. Die Zeit seit der Wende kann als Konzentration von Brennpunkten gesehen werden, an denen sich traditionell bewährte Orientierungen, Erfahrungen und Handlungsstrategien mit neuen Ereignissen und Anpassungszwängen innerhalb realer Strukturen brechen Dieses Bild ist geeignet, widersprüchliche Entwicklungen sichtbar zu machen und anhand von Wandlungen und Kontinuitäten von psychischen Dispositionen auf Veränderungen von individuellen und sozialen Identifikationen zu verweisen. Gemeint sind solche Identifikationen, die Einfluß haben auf die Integration der Berufsbiographie in den gesamten Lebensentwurf. Um diesen nachzugehen, soll jetzt die Untersuchungsperspektive verlagert werden in die Richtung einer eher strukturtheoretischen Zugangsweise

Für die Frauen in der DDR war Arbeit von zentraler Bedeutung für ihre soziale und politische Integration und Identifikation. Berufsarbeit ist in modernen Industriegesellschaften (noch immer) ein wirksamer Indikator für soziale Integration und Identifikationen Einer These folgend, die besagt, daß in der DDR eine besondere soziale Wertigkeit des Arbeitsprozesses als strukturspezifisch gelten kann werden sich die weiteren Überlegungen zur Veränderung von Identifikationeu auf vornehmlich soziale Dimensionen des Arbeitsprozesses konzentrieren.

Berufsarbeit hielt für die Individuen in der DDR relevante soziale Dispositionen für eine Vielfalt an Kommunikation und Interaktion bereit. Arbeitskollektive bildeten den Rahmen für sozial-kommunikative Aktivitäten, die auch außerhalb der Arbeit durch betriebliche Organisationen gestaltet wurden, wie z. B. gemeinsame gesellige und kulturelle Unternehmungen. Das Arbeitskollektiv stellte zudem ein Beziehungsnetz für die Beschaffung von und die Versorgung mit raren Gütern und Leistungen für den privaten Bedarf dar, so daß sich die Bedeutung der sozialen Interaktionen auch aus diesen „marktähnlichen“ Sozialbeziehungen und offiziellen wie auch halb-offiziellen Verteilungsmodi im Betrieb erklärt. Schließlich war ein annähernd tragfähiges Netzwerk zwischen Kollegen und Kolleginnen auch für die Aufrechterhaltung der Produktionsvorgänge angesichts mangelnder moderner Technologien und Infrastrukturen erforderlich.

Arbeitskollektive hatten sich zu bestimmten Produktionsleistungen zu verpflichten und galten als „der soziale Ort, durch den man (im Betrieb, d. Verf.) die politisch-ideologische Steuerung der Individuen am stärksten versuchte.. .“ Gleichzeitig wird auf die „Puffer“ -Funktion der Kollektive zwischen den Individuen und den „höheren Ebenen der politischen Hierarchie“ verwiesen, die häufig zur Konfliktvermeidung und zu einem habitualisierten „Als-ob-Verhalten“ geführt habe. Dies implizierte Lydia Lange zufolge die Tendenz, offizielle Vorgaben „von oben“ mit „konspirativer Ironie“ zu unterlaufen. Eine solche war jedoch nur mit „Kommunikationspartnern“ zu pflegen, die „den gleichen Zeichenvorrat“ besaßen, sie führte zu Zusammengehörigkeitsgefühl und psychischer Entlastung Das Beziehungsgeflecht am Arbeitsplatz und im Arbeitskollektiv war also ein komplexes soziales Gebilde und der Arbeitsprozeß damit ein markanter sozialkommunikativer Bezugsrahmen Diese Strukturen sind nur schwerlich mit sozialen Interaktionen in Arbeitsprozessen der Marktwirtschaft unter Bedingungen rationalisierter und formalisierter Pro-duktionsabläufe und Leistungsnormen zu vergleichen. Die entscheidende Rolle der Interaktionen im Arbeitskollektiv für soziale Identifikationen läßt sich nicht geschlechtsneutral betrachten. Für Frauen hatte die Berufsarbeit einen besonderen Stellenwert als zentrales soziales Terrain für Interaktionen und Identifikationen. Hier sind nicht die den Frauen oft zugeschriebenen sozialen Interessenprioritäten und Kompetenzen im Arbeitsprozeß gemeint, sondern es geht um geschlechter-unterschiedliche Interaktionen im Arbeitskollektiv und sich unterschiedlich herausbildende Identifikationen. Diese werden auch im Theorem der doppelten Vergesellschaftung aufgezeigt und an der doppelten Sozialisation von Frauen festgemacht

Widersprüchlichkeiten, Unvereinbarkeiten und Ungleichzeitigkeiten, denen das komplexe Arbeitsvermögen von Frauen auf den strukturell miteinander verschränkten Ebenen von Berufs-und Reproduktionsarbeit ausgesetzt ist, und die damit verbundenen Heraus-bzw. Anforderungen ermöglichen es Frauen, ihre Kommunikations-und Interaktionserfahrungen aus beiden Sozialisationsbereichen im jeweiligen situativen Kontext zu konstituieren, zu relativieren und zu flexibilisieren, oftmals entsprechend problembelastet. Es läßt sich daher begründen, daß die gesellschaftliche Integration durch Berufsarbeit geschlechterunterschiedlich verläuft und auch auf unterschiedliche Weise auf individuelle Identifikationsprozesse zurückwirkt. Weiter läßt sich zeigen, daß sich durch Interaktionen im Arbeitsprozeß und partizipative Aktivitäten innerhalb des Arbeitskollektivs wie auch in verschiedenen betrieblichen Institutionen soziale Identitäten herausgebildet haben, die nicht (allein) das Ergebnis von proklamierten Werten, Normen und offizieller Ideologie sind

Im Arbeitsprozeß artikulierte sich immer auch ein bestimmtes Maß an Kritik an betrieblichen Abläufen wie auch an sozialen Unzulänglichkeiten allgemein, und es fanden Auseinandersetzungen über betriebspolitische Interessendifferenzen statt. Im sozialen Bezugsrahmen von Erwerbsarbeit lassen sich für die Entwicklung sozialer Identifikationen noch zusätzliche Ebenen öffentlicher bzw. betriebsöffentlicher Interaktionen ausmachen.

Hier sind Kristallisationsflächen für soziale Identifikationen zu suchen, die sich zu politischen ausweiten bzw. entwickeln (konnten) Das wird auf der strukturellen Ebene einmal mehr durch die enge Verzahnung von Wirtschaft und Politik unterstrichen. In den Wahrnehmungen der von uns befragten Frauen hatte das Arbeitskollektiv nicht vorrangig den Status einer im Wettbewerb um Leistung konkurrierenden Gruppe, deren Prioritäten durch formale Rationalität und Kosten-Nutzen-Kalküle bestimmt sind. Es zeichnete sich vielmehr eine Tendenz zugunsten eher informeller und gemeinschaftsorientierter Seiten des sozialen Verhältnisses von Arbeit ab. Die sozialen Interaktionen im Arbeitsprozeß wurden in unserer Untersuchung wahrgenommen als durch informelle personale Parameter bestimmt und hatten den Status von solidarischer Beziehung, Vertrautheit und Empathie. Demgegenüber scheinen diejenigen „öffentlichen“ Kristallisationsflächen, an denen sich Institutionenhandeln und organisierte Initiativen bilden, in der Retrospektive nicht die entscheidenden Funktionen für soziale Identifikationen gehabt zu haben. Die Kommunikationen und Interaktionen haben in diesen Deutungen Konnotationen relativer Harmonie, Geborgenheit und Gemeinschaftlichkeit, mit denen sich die Frauen identifizierten und worin sie sich engagierten. Das bedeutet freilich nicht, daß durch die Betonung der informellen, flexiblen und „privat“ orientierten Seite Konflikte am Arbeitsplatz nicht existierten bzw. nicht wahrgenommen worden wären.

Die soziale Identifikation mit und über Arbeit vollzog sich in der DDR zwar auch auf der Ebene der Entwicklung eigener Fähigkeiten und von sozialer Anerkennung, aber vermittelt über kollektive soziale Normen von Gemeinschaft und Vorstellungen von Solidarität. Die über diese Normen und Erwartungen hinausgehende Realität zeigte indessen zunehmend notwendig werdende Zwänge zur formalen Rationalität moderner Produktionsabläufe an. Dennoch verwiesen die schwieriger werdenden Produktionsbedingungen gerade auf den personalen, flexiblen Einsatz am Arbeitsplatz und auf die informellen Beziehungsaspekte und Kontakte zur gegenseitigen Unterstützung. Damit wurde gleichsam ein Konzept von Arbeit alsgemeinschaftsorientiertes Sozialgebilde genährt Auch bei den von uns befragten Frauen besteht die Tendenz, die beziehungs-und gemeinschaftsorientierte Seite des Arbeitsverhältnisses retrospektiv überzubetonen. Es scheint, als ob die Aspekte von Vertrautheit, Nähe, Wärme und Verbundenheit angesichts der aktuellen (eisigen) marktwirtschaftlichen Verunsicherungen und Gefährdungen überhöht würden und zur Legendenbildung benutzt werden könnten

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß es unter den von uns befragten Frauen eine Tendenz gibt, Arbeit als soziales Beziehungsgeflecht unter den Bedingungen der DDR eher in einem'Verständnis von Gemeinschaft zu formulieren bzw. eher als lebensweltlichen Zusammenhang auszudrücken und weniger als systemische Größe -einer solchen wird der Arbeitsprozeß in der Marktwirtschaft zugeordnet. Auch unsere Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, daß sich soziale Identifikationen -wenngleich sehr allgemein -mit diesen Kategorien erfassen lassen: Die gegensätzlichen, aber aufeinander verweisenden Paradigmen Lebenswelt und System sind geeignet, nicht nur den funktionalen Charakter von Arbeit -auch in seinen subjektiven Bedeutungsgehalten -zu bezeichnen, sondern legen damit zugleich auch offen, was der Verlust von Arbeit für die Individuen, hier besonders für Frauen, bedeuten kann.

Wenn mit der Erwerbsarbeit auch Bewußtsein und Erfahrung der eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und sozialen Bestätigung sowie die relativen sozialen Beziehungen und damit das zentrale Terrain von sozialen Identifikationen wegbrechen, hat dies für die Individuen entscheidende Folgen, die noch tiefer gehen als der Verlust der materiellen und ökonomischen Basis und des sozialen Status. Der Wegfall der Zugehörigkeit zu einem Arbeitskollektiv wird gleichbedeutend mit der Zerstörung von Gemeinschaft und zwischenmenschlicher Verbundenheit; das ganze Ausmaß von Lebensbedrohung durch die Zerstörung von humanen Ansprüchen und Bedürfnissen wird nun erfahrbar.

Die Skepsis gegenüber marktwirtschaftlichen, strikt gewinnorientiert ausgerichteten Arbeitsverhältnissen läßt sich jetzt auf eine neue Weise lesen: Ängste entstehen nicht nur durch materielle Verunsicherungen, sondern auch durch formale Rationalität und systemische Mechanismen von Instrumentalität und Funktionalisierbarkeit, die in der Tendenz als grundsätzlich gemeinschaftsbedrohend wahrgenommen werden (können). Demgegenüber tritt das Bewußtsein von Arbeitslosigkeit als Verlust materieller Ressourcen, aber auch als Grenzerfahrung und Herausforderung für neue Identifikationen erst allmählich in den Vordergrund. Die Bedrohung, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist begleitet von Ängsten vor aufgezwungenen hochformalisierten sozialen Systemen.

Dabei läge eine Herausforderung in der Korrektur und Dekonstruktion des Gemeinschaftsparadigmas von Arbeit, d. h. in einem kritischen Umgang mit Verheißungen sozialer Identifikationsmöglichkeiten. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit der Übernahme eines Systemparadigmas im Sinne einer Anpassung an Formalisierungs-bzw. Rationalisierungszwänge, sondern könnte die Möglichkeit der Veränderung von Arbeitsbeziehungen im Sinne einer -wenn auch nur partiellen -Transformation der Geschlechterbeziehungen enthalten und Arbeitsprozesse ohne Diskriminierung anvisieren.1

Berichtigung:

Der Beitrag „Kulturell geprägte Wirtschaftsdynamik und politischer Wandel in China“ von Carsten Herrmann Pillath in der Beilage B 51/93 vom 17. Dezember 1993 enthält bei den Literaturangaben leider einen Fehler: Der auf Seite 8, Anmerkung 28 zitierte Autor ist nicht wie angegeben Günter Schucher, sondern Gunter Schubert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Artikel basiert auf empirischen Ergebnissen aus dem Forschungsprojekt „Frauenerwerbsarbeit im Umbruch. Wertorientierungen, Interessen und Handlungsmuster von Frauen in den neuen Bundesländern.“ Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Schwerpunktprogramm „Sozialer und politischer Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft“ seit Februar 1992 gefördert und ist angesiedelt am Institut für Politikwissenschaft der TU Berlin. Projektleiterin ist Prof. Dr. Christine Kulke, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen sind Dipl. -Soz. Lisa Böckmann-Schewe und Dipl. -Soz. Anne Röhrig. Weiterhin sind Cornelia Betz und Aglaja Romanowskaja als studentische Beschäftigte im Projekt tätig; Birgit Kunz und Renate Bäuerlein haben die Projektarbeit als studentische Beschäftigte in der Vergangenheit unterstützt.

  2. Vertreten waren hauptsächlich Frauen aus dem Gesundheits-und Sozialwesen, aus Produktion und Verwaltung der Industrie, aus Dienstleistungsbereichen und öffentlicher Verwaltung. Berücksichtigt wurden Hoch-bzw. Fachschulabschlüsse und Facharbeiterausbildungen. Die Interviewten gehörten den Geburtsjahrgängen 1950-1965 an. Ca. 90 Prozent der Frauen haben Kinder (i. d. R. zwei), die am häufigsten der Altersgruppe unter 12 Jahren angehören. Der überwie-

  3. Vgl. Friederike Maier, Patriarchale Arbeitsmarktstrukturen. Das Phänomen geschlechtsspezifisch gespaltener Arbeitsmärkte in Ost und West, in: Feministische Studien, 10 (1991) 1, S. 107-116, und Elke Holst/Jürgen Schupp, Umbruch am ostdeutschen Arbeitsmarkt benachteiligt auch die weiterhin erwerbstätigen Frauen -dennoch anhaltend hohe Berufsorientierung, in: DIW-Wochenbericht, 59 (1992) 18, S. 235-241.

  4. Vgl. Hildegard Maria Nickel, „Mitgestalterinnen des Sozialismus“ -Frauenarbeit in der DDR, in: Gisela? Helwig/Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 318, Bonn 1993.

  5. Vgl. Ulrike Enders/Susanne Weigandt, Von der Frauenarbeitspolitik zur Familien-und Bevölkerungspolitik der DDR, in: Osteuropa-Info, (1986) 67, S. 8-21.

  6. Vgl. Myrra Marx Ferree, The Rise and Fall of „Mommy Politics“: Feminism and Unification in (East) Germany, in: Feminist Studies, 21 (1993) 1, S. 89-115.

  7. Vgl. Rainer Geißler, Die ostdeutsche Sozialstruktur unter Modernisierungsdruck, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/92, S. 15-28.

  8. Die in diesem Kapitel aufgeführten Zahlen basieren auf Statistiken des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg bzw.des Arbeitsamtes Dessau. Zum Teil handelt es sich um eigene Berechnungen der Autorinnen, auch auf der Grundlage von unveröffentlichten Statistiken. Vgl. Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg, Referat Statistik, Der Arbeitsmarkt im Landesarbeitsamtsbezirk, Juni 1993; Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg, Referat Statistik, Strukturmerkmale der Arbeitslosen im Ostteil Berlins und im Land Brandenburg. Ergebnisse der Sonderuntersuchung der Bestände an Arbeitslosen von Ende September 1992; Presseinformation des Arbeitsamtes Dessau, Der Arbeitsmarkt im Monat, laufende Statistiken; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Generaldirektion Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und Soziale Angelegenheiten (Hrsg.), Beschäftigungsobservatorium Ostdeutschland. Arbeitsmarktentwicklungen und Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern, (1993) 9.

  9. Zum Arbeitsamtsbezirk gehören Dessau, Roßlau, Aken und Bernburg. Die Interviews im Projekt wurden im Arbeitsamtsbezirk überwiegend in der Stadt Dessau geführt.

  10. Die Namen der Interviewten sind von uns geändert worden. Die Abkürzung FA steht für Facharbeiterabschluß, POS für Polytechnische Oberschule, EOS für Erweiterte Oberschule. Ledige bzw. geschiedene Frauen unseres Samples leben überwiegend in Partnerschaften/Lebensgemeinschaften.

  11. Vgl. Peter A. Berger, „Was früher starr war, ist nun in Bewegung“ -oder: Von der eindeutigen zur unbestimmten Gesellschaft, in: Michael Thomas, Abbruch und Aufbruch, Berlin 1992.

  12. Vgl. Toni Hahn, Erwerbslosigkeitserfahrungen von Frauen in den neuen Bundesländern, in: Gisela Mohr (Hrsg.), Ausgezählt. Theoretische und empirische Beiträge zur Psychologie der Frauenerwerbslosigkeit, Bd. 6: Psychologie sozialer Ungleichheit, Weinheim 1993.

  13. Vgl. Christine Kulke/Heidi Kopp-Degethoff/Ulrike Ramming (Hrsg.), Wider das schlichte Vergessen. Der deutsch-deutsche Einigungsprozeß: Frauen im Dialog, Berlin 1992.

  14. Vgl. Ursula Beer/Jutta Chalupsky, Vom Realsozialismus zum Privatkapitalismus. Formierungstendenzen im Geschlechterverhältnis, in: Brigitte Aulenbacher/Moni Gold-mann (Hrsg.), Transformationen im Geschlechterverhältnis. Beiträge zur industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung, Frankfurt am Main 1993.

  15. Vgl. Martin Baethge, Arbeit, Vergesellschaftung, Identität -Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: Soziale Welt, 42 (1991) 1, S. 6-19.

  16. Vgl. Lutz Marz, Dispositionskosten des Transformationsprozesses. Werden mentale Orientierungsnöte zum

  17. Vgl. L. Lange (Anm. 16).

  18. Vgl. ebd.

  19. Vgl. L. Marz (Anm. 16).

  20. Zweifellos läßt sich diese Beobachtung -auch gestützt auf unser Material -nicht für alle Bevölkerungsgruppen verallgemeinern und trifft nicht zu bei Gruppen, die das offizielle Wertesystem in der DDR nicht mittrugen.

  21. Vgl. Regina Becker-Schmidt, Die doppelte Vergesellschaftung -die doppelte Unterdrückung. Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften, in: Lilo Unterkirchner/Ina Wagner (Hrsg.), Die andere Hälfte der Gesellschaft. Österreichischer Soziologentag 1985, Wien 1987, S. 10-25.

  22. Vgl. zur Entwicklung von Identitäten durch Interaktionen auch Sabine Hark, Vom Subjekt zur Subjektivität: Feminismus und die Zerstreuung des Subjekts, Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der Freien Universität Berlin (Hrsg.), Reihe „Wissenschaftlerinnen stellen sich vor“, Berlin 1992.

  23. Diese Perspektive kann hier nur angedeutet werden, ist aber als Thema weiterer Untersuchungen durchaus relevant.

  24. Vgl. auch L. Marz (Anm. 16).

  25. Soziologische Forschungen wie auch literarische Arbeiten zeigen noch zu DDR-Zeiten die realen Konfliktstrukturen im Arbeitsprozeß auf, auch diejenigen, die der Geschlechterpolitik geschuldet sind. Vgl. Barbara Bertram u. a. (Hrsg.), Typisch weiblich -typisch männlich?, Wissenschaftlicher Rat für Soziologische Forschung in der DDR, Berlin 1989; Irmtraud Morgner, Leben und Abenteuer der Trobadora Beatrix nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, Darmstadt 1978; Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, München 19782.

Weitere Inhalte

Lisa Böckmann-Schewe, Dipl. -Soz.; Studium der Soziologie in Berlin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der TU Berlin. Christine Kulke, Dr. rer. pol., Dipl. -Soz.; Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der TU Berlin; Mitarbeit in der Arbeitsstelle Frauenforschung der TU Berlin; Gastdozentin an der South-West-University in Chengdu, VR China; Mitglied der Intern. Society of Political Psychology. Veröffentlichungen zu Theorie und Forschung politischer Sozialisation, zu Geschlechterdifferenz und politischer Kultur, zu Wissenschaftstheorie und -kritik. Letzte Buchveröffentlichungen: (Hrsg. zus. mit Elvira Scheich) Zwielicht der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung aus der Sicht von Frauen, Pfaffenweiler 1992; (Hrsg. zus. mit Heidi Kopp-Degethoff und Ulrike Ramning) Wider das schlichte Vergessen. Der deutsch-deutsche Einigungsprozeß: Frauen im Dialog, Berlin 1992. Anne Röhrig, Dipl. -Soz.; Studium der Soziologie in Berlin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der TU Berlin.