Problemgruppen der Sozialpolitik im vereinten Deutschland
Detlef Landua/Roland Habich
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden anhand der Umfragedaten der Wohlfahrtssurveys 1988 bis 1993 Basisinformationen über das Niveau und über die Entwicklung objektiver und subjektiver Problemlagen in Deutschland seit der Wiedervereinigung präsentiert. Dabei steht auch die Frage im Vordergrund, ob im ostdeutschen Transformationsprozeß breite Bevölkerungsgruppen in ihren Lebensbedingungen beeinträchtigt waren beziehungsweise sind oder ob sozial Benachteiligte noch weiter marginalisiert wurden. Es zeigt sich, daß die Größenordnung der Problemlagen in einzelnen Lebensbereichen sowie zwischen Ost-und Westdeutschland zum Teil beträchtlich variiert. Als gravierend erweisen sich jedoch vor allem die Unterschiede der Betroffenheit bei einzelnen Bevölkerungsgruppen. Unter anderem wird dabei auf die soziale Lage von Alleinerziehenden, Arbeitslosen und älteren Menschen sowie auf deren Entwicklung bis 1993 eingegangen. Wie die Menschen in Ost und West die Leistungen der Sozialpolitik bewerten und wie sich diese Bewertungen im Rahmen der deutschen Einheit verändert haben, ist ein weiterer Gegenstand der Untersuchung. Die Gefahr einer wachsenden sozialen Marginalisierung größerer Bevölkerungsteile durch die zunehmende Kumulation einzelner Problemlagen zeichnet sich in West-und Ostdeutschland bis heute nicht ab. Für die meisten Problemgruppen ist bis 1993 ein Rückgang an Problemkumulationen zu erkennen. Dennoch wird die subjektive Wohlfahrt der Betroffenen durch die Benachteiligung in einzelnen Lebensbereichen erheblich eingeschränkt.
I. Einleitung: Die wieder aktuellen Funktionen der Sozialpolitik
Geht man auch gegenwärtig von der Vorstellung aus, daß Sozialpolitik im weitesten Sinne in modernen Wohlfahrtsgesellschaften nach wie vor als eine letztlich auf „empirische Forschung gegründete Gesellschaftspolitik“ zu verstehen ist, so treten unmittelbar zwei Fragestellungen in den Vordergrund: Die erste Frage setzt auf der gesellschaftspolitischen Ebene an und zielt auf die sozialpolitisch relevanten Dimensionen bzw. konkreter auf die zu betrachtenden zentralen Lebensbereiche ab; die zweite Frage bringt die empirische Ebene ins Spiel und meint die systematische und regelmäßige Dokumentation sozialpolitisch relevanter Basis-informationen.
Eine umfassende wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik beschränkt sich immer weniger auf die klassischen Mechanismen der Einkommensumverteilung durch staatlich garantierte Sicherungssysteme; die „Schutzfunktion“ und die „Ausgleichsfunktion“ als die beiden Kemelemente einer aktiven Sozialpolitik stellen darüber hinaus die gesamte Lebenslage der Bürger in den Mittelpunkt des politischen Handelns. Die Folgen und sozialen Probleme im Zuge des deutschen Wiedervereinigungsprozesses stellen dabei gerade für die Ausgleichsfunktion eine neue und in ihrer Breite bisher ungekannte brisante Herausforderung dar. Die politisch versprochene Schaffung einer „Angleichung der Lebensverhältnisse“ kann nicht allein den viel-beschworenen und überforderten Marktkräften überlassen werden; eine umfassende, auf die Lebenslage der Familien und Haushalte abzielende staatliche Sozialpolitik ist hier gefordert.
Die geforderte Sozialpolitik, die über die unmittelbare Daseinsvorsorge hinausgehend darauf ausgerichtet ist, auf der einen Seite die Lebenslage und somit das erreichte hohe Niveau an Lebensqualität der Bürger in Westdeutschland zu sichern und auf der anderen Seite zugleich die gesamten Lebensverhältnisse in Ostdeutschland erheblich zu verbessern, um damit das nach wie vor erhebliche 1
Wohlfahrtsgefälle zwischen Ost und West abzubauen, könnte sich unter Umständen als aktiver Teilnehmer in einem Null-Summen-Spiel erweisen, in dem Verbesserungen auf der einen nur noch durch Einschränkungen auf der anderen Seite möglich wären. Wir sehen durchaus ein solches mögliches Dilemma für das sozialpolitische Handeln. Um so wichtiger ist es, auf der Grundlage empirischer Daten die betroffenen Bürger, aber auch die politischen Entscheidungsträger frühzeitig und umfassend über die relevanten Sachverhalte zu informieren.
Die soziale Schichtung moderner Gesellschaften ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß es nicht nur eine einzige homogene Randschicht oder benachteiligte Gruppe gibt. Vielmehr lassen sich verschiedene Bevölkerungsgruppen identifizieren, die in unterschiedlichen Lebensbereichen Defizite aufweisen. Vertikale Ungleichheit und „horizontale Disparitäten“ sind gleichermaßen strukturelle Elemente unserer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des Konzeptes der Lebenslage können dabei zwei Dimensionen unterschieden werden: Neben den Benachteiligungen oder den Privilegierungen in objektiven Lebensbedingungen kommt den Beeinträchtigungen des subjektiven Wohlbefindens eine eigenständige Rolle zu. Bevölkerungsgruppen, die in einem oder mehreren Bereichen hinsichtlich ihrer objektiven Lebensbedingungen unter den vorhandenen oder allgemein akzeptierten Standards der Mehrheit der Bevölkerung liegen oder deren subjektives Wohlbefinden im Vergleich zum Durchschnitt stark beeinträchtigt ist, können als sozialpolitisch relevante „Problemgruppen“ einer Gesellschaft verstanden werden.
Mit schlechten Lebensbedingungen ist die Unter-versorgung in wohlfahrtsrelevanten Lebensbereichen gemeint; sie werden hier als „objektive Problemlagen“ bezeichnet. Starke Beeinträchtigungen des Wohlbefindens werden entsprechend als „subjektive Problemlagen“ bezeichnet. In einer groben Klassifizierung verstehen wir die Schutzfunktion der Sozialpolitik als Vermeidung der eher einkommensabhängigen Unterversorgung; die Ausgleichsfunktion hat darüber hinaus auch das Ziel, nicht primär einkommensbezogene Benachteiligungen und Risiken abzubauen. Die sozialpolitischen Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates richten sich nicht zuletzt auf die Aufgabe, die Wohlfahrt insbesondere jener Bürger zu sichern bzw. wiederherzustellen, die in wichtigen Lebensbereichen solche Defizite aufweisen. Diese Aufgabe schließt seit der deutschen Einheit die Probleme und Versorgungsdefizite der Bevölkerung in den neuen Bundesländern mit ein. In vielen Lebensbereichen können für die alten Bundesländer durch die Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen in den achtziger Jahren insgesamt zweifellos Verbesserungen festgestellt werden allerdings konnten davon keineswegs alle betroffenen Gruppen gleichermaßen profitieren. Auch in Westdeutschland ist die Situation vieler Bürger nach wie vor durch erhebliche Wohlfahrtsdefizite gekennzeichnet.
Im folgenden werden wir auf der Grundlage unserer repräsentativen Bevölkerungsumfragen der „Wohlfahrtssurveys“ Basisinformationen über das Niveau und über die Entwicklung ausgewählter objektiver und subjektiver Problemlagen seit der Wiedervereinigung vorstellen. Dabei steht nicht zuletzt die Frage im Vordergrund, ob im ostdeutschen Transformationsprozeß breite Bevölkerungsgruppen in ihren objektiven Lebensbedingungen bedroht waren und sind oder ob gar sozial Benachteiligte noch weiter marginalisiert worden sind.
Im einzelnen werden empirisch begründete Antworten auf folgende Fragen gegeben:
-Welche Größenordnungen haben einzelne Problemgruppen in Ost-und Westdeutschland?
-Können bestimmte Bevölkerungsgruppen als besonders benachteiligt identifiziert werden?
-Sind solche Bevölkerungsgruppen systematisch über mehrere Lebensbereiche hinweg benachteiligt -wie groß also ist das Risiko der Kumulation von objektiven und subjektiven Problem-lagen? -Wie bewertet die Bevölkerung die soziale Sicherung in Deutschland?
II. Objektive und subjektive Problemlagen in West-und Ostdeutschland
Abbildung 2
Schaubild 1: Objektive und subjektive Problemlagen; besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen
Quellen: s. Tabelle 1.
Schaubild 1: Objektive und subjektive Problemlagen; besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen
Quellen: s. Tabelle 1.
Im folgenden werden ausgewählte objektive und subjektive Problemlagen im vereinten Deutschland dargestellt. Neben der Beschreibung für das Jahr 1993 werden wir zeitliche Vergleiche präsentieren: für Westdeutschland den Vergleich zu 1988, und für Ostdeutschland den Vergleich zum Spätherbst 1990, also zum Zeitraum kurz nach der Wiedervereinigung. Die objektiven Problemlagen betreffen die Lebensbereiche Einkommen, Wohnung,
Bildung, Sozialbeziehungen und Gesundheit.
Die subjektiven Problemlagen beziehen sich auf die Dimensionen Einsamkeit, Glück sowie Ängste und Sorgen.
Im Einkommensbereich betrachten wir Personen mit niedrigem Haushaltseinkommen, wobei wir für die Gesamtbevölkerung eine relative Armutsquote ausweisen und danach Personen betrachten, deren Haushaltseinkommen in der untersten Einkommens-Zehnergruppe („Dezil") der gesamten Einkommensverteilung liegt. Unterversorgung im Wohnungsbereich ist dann gegeben, wenn die Familie bzw.der Haushalt über weniger als einen Raum pro Haushaltsmitglied verfügt oder wenn kein Bad innerhalb der Wohnung vorhanden ist. Das Fehlen eines beruflichen Ausbildungsabschlusses begreifen wir als Benachteiligung im Bereich der Bildung, weil unter anderem dadurch Arbeitsmarktchancen vermindert und damit auch die Einkommenssituation beeinträchtigt werden kann. Personen, die alleine leben und zugleich ohne enge Freunde sind, zählen zur Problem-gruppe mit mangelnden Sozialbeziehungen. Dauerhaft krank oder behindert zu sein ist eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung. Als subjektive Problemlagen verwenden wir psychosoziale Beeinträchtigungen und Belastungen: geäußerte Einsamkeit; das Gefühl, „immer wieder von Ängsten und Sorgen“ geplagt zu werden; das Ausmaß an Niedergeschlagenheit.
Die Größenordnung dieser objektiven und subjektiven Problemlagen variiert beträchtlich in den einzel- nen Lebensbereichen, in den betrachteten Dimensionen sowie zwischen Ost-und Westdeutschland (vgl. Tabelle 1). In Westdeutschland ist dabei für die Gesamtbevölkerung die Unterversorgung im Wohnungsbereich zurückgegangen. Diese Entwicklung kann an beiden ausgewiesenen Indikatoren -Belegungsdichte und Wohnungsausstattung -abgelesen werden. Im Jahre 1978 galten nach dem damals allgemein akzeptierten Standard der Belegungsdichte einer Wohnung -ein Wohnraum pro Person -noch rund 17 Prozent der Bundesbürger als mit Wohnraum unterversorgt Dieser Anteil hat sich bis 1988 auf rund 7 Prozent verringert; 1993 ist allerdings wie-der ein leichter Anstieg erkennbar. Ebenso deutlich hat sich in diesem Zeitraum die Wohnungsausstattung im Durchschnitt verbessert; nur noch weniger als 2 Prozent aller westdeutschen Haushalte verfügten 1993 über kein eigenes Bad innerhalb ihrer Wohnung.
In den neuen Bundesländern dagegen waren 1990 im Wohnungsbereich noch erhebliche Versorgungsdefizite vorhanden: Über 17 Prozent aller Haushalte wiesen eine Belegungsdichte unter dem Standard auf, der seit Mitte der achtziger Jahre für Westdeutschland als überholt gilt -ein Anteil, der im übrigen der westdeutschen Situation im Jahre 1978 entspricht. Eine Verbesserung dieser Situation zeichnete sich bis 1993 nicht ab. Angelaufene Wohnungsbau-und Sanierungsprogramme werden hier erst in einiger Zeit zu einer spürbaren Entlastung beitragen können; dies allerdings unter der Voraussetzung, daß die Kostenentwicklung für Wohnungen die finanziellen Möglichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung nicht übersteigt. Die hohe Unterversorgung vieler Haushalte in den neuen Bundesländern dokumentiert sich auch in dem niedrigen sanitären Ausstattungsgrad der Wohnungen: Jede sechste Wohnung verfügte 1990 über kein eigenes Bad. Dieses Defizit konnte aller-5 dings innerhalb von zwei Jahren durch zahlreiche Einbaumaßnahmen bereits deutlich reduziert werden.
Auch die Ausbildungssituation hat sich in den alten Bundesländern nennenswert verbessert: 1988 hatten noch 23, 7Prozent der Bundesbürger keine abgeschlossene Berufsausbildung; dieser Anteil ist bis 1993 insgesamt auf rund 18 Prozent zurückgegangen. Nur noch jeder sechste Westdeutsche im erwerbsfähigen Alter (18-60 Jahre) verfügt über keinen beruflichen Ausbildungsabschluß; dennoch handelt es sich hierbei um eine nach wie vor bedeutende Gruppe. Für diese Personen stellt die fehlende Ausbildung eine erhebliche Beeinträchtigung dar, da sie in Zeiten anhaltend hoher Arbeitslosigkeit mit immer mehr qualifizierteren Arbeitskräften konkurrieren müssen. Das Qualifikationsniveau der erwerbstätigen Bevölkerung stieg in der Bundesrepublik und in der DDR in den letzten Jahrzehnten deutlich an. Einzelne Schübe der Höherqualifizierung erfolgten in der DDR jedoch früher und zahlenmäßig umfangreicher als in der Bundesrepublik Das formale Ausbildungsniveau in Ostdeutschland liegt deshalb deutlich über dem in Westdeutschland. Nur 6 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung war ohne beruflichen Abschluß. Die Qualität der Bildungsabschlüsse wird durch rein quantitative Entwicklungen formaler Qualifikationen aber nur ungenügend erfaßt. Die Probleme bei der Umgestaltung der Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern zeigen, daß häufig eine veraltete Arbeitsplatzstruktur mit veralteten Qualifikationen der Erwerbstätigen einher-ging. Dem entspricht, daß viele Erwerbstätige in der DDR für ihre Tätigkeit gar keine Ausbildung oder nur eine kurze Einweisung gebraucht haben. Ostdeutsche Berufstätige waren häufiger unter-qualifiziert eingesetzt als Westdeutsche
Gesundheitliche Beeinträchtigungen und mangelhafte Sozialbeziehungen scheinen nur auf den ersten Blick eine weniger große Rolle zu spielen. Insgesamt lebten bis zu 6 Prozent der Deutschen zwischen 1988 und 1993 in einer gewissen sozialen Isolation, da das Bedürfnis nach engen sozialen Bindungen weder in einer Partner-noch in einer Freundschaftsbeziehung realisiert werden konnte. Eine soziale Beeinträchtigung sehen wir jedoch vor allem deshalb, weil solche Isolationen überaus dauerhaft sind. Im Gesundheitsbereich sind ebenso nicht unbedeutende Beeinträchtigungen vorhanden: Fast jeder achte Befragte in den alten und neuen Bundesländern berichtete 1988 bzw. 1990 von einer Krankheit oder Behinderung, die ihn gezwungen hat, den Beruf zu wechseln oder das Leben ganz umzustellen. Die ausschließlich in der Erhebung im Jahre 1993 gestellte Frage nach der eigenen, dauernden Pflegebedürftigkeit ergibt für Ost-und Westdeutsche ebenfalls ein vergleichbares Bild. Jeweils etwa jeder zwanzigste Befragte gibt an, dauerhaft pflegebedürftig zu sein.
Bei den untersuchten subjektiven Problemlagen zeichnet sich alles in allem auch für Westdeutschland ein beträchtliches Ausmaß an Betroffenheit ab. So hatte im Jahre 1988 trotz eines insgesamt sehr hohen und dauerhaften Wohlfahrtsniveaus immerhin fast jeder fünfte Westdeutsche „immer wieder Ängste und Sorgen“; jeder zehnte fühlte sich „gewöhnlich unglücklich oder niedergeschlagen“, und jeder siebte fühlte sich „oft einsam“. In Ostdeutschland schlagen sich die verbreiteten Unsicherheiten in der Umbruchsituation des Jahres 1990 -unmittelbar nach der deutschen Einheit -deutlich im Ausmaß subjektiver Problemlagen nieder. Vor allem mit Ängsten und Sorgen sahen sich viele Ostdeutsche zu diesem Zeitpunkt konfrontiert (28 Prozent). Nicht zuletzt bildeten die beginnenden eigenen wirtschaftlichen und beruflichen Probleme den Hintergrund für die hohe Betroffenheit. Bis 1993 läßt sich allerdings bei allen angeführten Indikatoren -trotz der dramatisch gestiegenen Arbeitslosigkeit und der anhaltenden Wirtschaftskrise -im Bevölkerungsdurchschnitt eine leichte Verbesserung erkennen. Hierzu hat nicht nur der Abbau von Versorgungsdefiziten in einzelnen Lebensbereichen beigetragen. Vielmehr spiegelt sich in dieser Verbesserung zum Teil auch eine „psychische Stabilisierung“, ein subjektiver Verarbeitungsprozeß der ostdeutschen Bevölkerung nach dem „Transformationsschock“ im ersten Jahr nach der deutschen Einheit wider
III. Problemlagen einzelner Bevölkerungsgruppen
Abbildung 3
Tabelle 2: Die Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen
Quellen: s. Tabelle 1.
Tabelle 2: Die Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen
Quellen: s. Tabelle 1.
Problemlagen sind bei einem breiten Spektrum von Bevölkerungsgruppen festzustellen. Einzelne Gruppen unterscheiden sich aber deutlich in der Art und im Umfang ihrer Probleme. Darüber hinaus hat sich das Ausmaß der Betroffenheit im Laufe der letzten Jahre teilweise unterschiedlich entwickelt. Schaubild 1 zeigt im Überblick, welche sozio-demographischen Gruppen in welchen Lebensbereichen benachteiligt sind. 1. Niedrigeinkommen und Armut Die von Armut betroffenen Gruppen lassen sich im wesentlichen durch die Haushaltsform und den Erwerbs-bzw. Berufsstatus der Betroffenen charakterisieren. Anhand von sozio-demographischen Merkmalen lassen sich vier besonders benachteiligte Gruppen identifizieren: kinderreiche Familien; unvollständige Familien; Arbeitslose und, als besondere Problemgruppe in der ehemaligen DDR, die Haushalte von nichterwerbstätigen Rentnern.
Da Mütter mit zunehmender Kinderzahl oft auf eine Erwerbstätigkeit verzichten (müssen), ist das Armutsrisiko von kinderreichen Familien ziemlich hoch. Diese Problemlage konzentriert sich auf eine längere Phase im Lebenszyklus, die mit dem Ausscheiden der Kinder aus dem Haushalt aber oft beendet wird. Rund ein Fünftel der Angehörigen kinderreicher Familien (drei und mehr Kinder) fielen in der Bundesrepublik 1988 bzw. in Ostdeutschland Ende 1990 unter die hier gewählte relative Armutsgrenze. Bis 1993 hat sich an dieser Situation in Westdeutschland wenig geändert; das Armutsrisiko dieser Gruppe hat sich in den neuen Bundesländern -nicht zuletzt durch die zunehmende Frauenarbeitslosigkeit -sogar etwas erhöht.
Wenig verändert hat sich die schlechte finanzielle Lage eines Großteils der Arbeitslosen: 1988, 1990 und 1993 muß in Ost-und Westdeutschland bei jeweils rund 30 Prozent von einer problematischen Einkommenssituation ausgegangen werden. Arbeitslose sind eine Risikogruppe, deren Umfang in den alten Bundesländern bereits in den achtziger Jahren und in Ostdeutschland seit 1990 erheblich zugenommen hat. Eine besondere Rolle spielen dabei vor allem Formen der Langzeitarbeitslosigkeit. Kurzfristige Arbeitslosigkeit ist in Westdeutschland seit fast zwei Jahrzehnten eine Massenerscheinung. Für die überwiegende Mehrheit der Betroffenen in den alten Bundesländern ist Arbeitslosigkeit eine harte, aber relativ schnell vorübergehende Erfahrung Problematischer stellt sich die Situation momentan in Ostdeutschland dar; hier ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen größer als in Westdeutschland. Ihre Problem-lage könnte sich deshalb möglicherweise zu einem Element der Sozialstruktur verfestigen.
Als schwierig ist auch die Situation unvollständiger Familien zu bezeichnen. Diese hat -zumindest in den alten Bundesländern -ihre Ursachen unter anderem in der unzureichenden Versorgung durch die Väter sowie in den Arbeitsmarktproblemen und den niedrigen Einkommen der Frauen. Allein-erziehende Frauen bestreiten seltener als der Durchschnitt der Haushalte ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit und sind oft auf Sozialhilfe angewiesen. Es war abzusehen, daß sich mit der Einführung der westdeutschen Systeme der sozialen Sicherung Umschichtungen am Rand der ostdeutschen Gesellschaft vollziehen und daß das Armutsrisiko in den neuen Bundesländern Gruppen treffen würde, die in der DDR nicht den Rand-gruppen zuzurechnen waren. Neben Arbeitslosen zählen möglicherweise hierzu auch alleinerziehende Mütter. Unmittelbar nach der deutschen Einheit fiel rund die Hälfte von ihnen unter die hier gewählte Armutsgrenze. Dieser Anteil ging bis 1993 zwar deutlich auf 39 Prozent zurück, liegt damit aber immer noch viermal so hoch wie der Anteil der Gesamtbevölkerung.
Eine besondere Problemgruppe der DDR waren alte Menschen. Die Sozialpolitik der DDR verteilte ihre Leistungen gewissermaßen „produktionsorientiert“. Staatliche Hilfen kamen vor allem den Erwerbstätigen zugute; benachteiligt wurden jene Gruppen, die aus Altersgründen oder wegen Krankheit aus dem Erwerbsleben ausscheiden mußten. Die Einkommenssituation der Rentner in der DDR war im Vergleich zum Durchschnitt der Arbeitnehmer erheblich schlechter als in der Bundesrepublik; viele bezogen nur eine bescheidene „Mindestrente“ von wenigen hundert Mark Unmittelbar nach der deutschen Einheit fielen deshalb noch über 18 Prozent aller Ostdeutschen über64 Jahren unter die relative Armutsgrenze. Dieser Anteil ist bis 1993 weitgehend auf das westdeutsche Niveau gesunken und liegt sichtbar unter dem ostdeutschen Bevölkerungsdurchschnitt. Ostdeutsche Rentner konnten durch die staatliche Sozialpolitik der Rentenanpassungen die höchsten Einkommenssteigerungen verzeichnen; darauf bezogen sind sie durchaus als „Gewinner“ im Wiedervereinigungsprozeß anzusehen. 2. Schlechte Wohnbedingungen Defizite bezüglich der Wohnungsausstattung und des Wohnraums konzentrieren sich vor allem auf kinderreiche Familien und auf die Gruppe der un-und angelernten Arbeiter. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Unterversorgung mit Wohnraum ist aber auch bei den 18-bis 25jährigen festzustellen. In den alten Bundesländern ist dabei zwischen 1988 und 1993 sogar eine Verschlechterung der Wohnraumsituation in dieser Altersgruppe zu erkennen. In Ostdeutschland liegt das Ausmaß der Betroffenheit in allen angeführten Gruppen erheblich über dem westdeutschen Niveau. So lebten 1990 noch mehr als drei Viertel aller Ehepaare mit drei und mehr Kündern in beengten Wohnverhältnissen. Dieser Anteil ist bis 1993 zwar auf 69 Prozent gesunken, liegt aber nach wie vor weit über dem von vergleichbaren westdeutschen Familien.
Die Versorgung mit Wohnraum bei kinderreichen Familien hat sich in den alten Bundesländern zwischen 1988 und 1993 insgesamt deutlich verschlechtert. Fast die Hälfte der betroffenen Haushalte erreicht mittlerweile nicht mehr den Standard von mindestens einem Wohnraum pro Haushaltsmitglied. Untere Einkommensgruppen sind in Westdeutschland dabei stärker benachteiligt als höhere. Da unter den größeren Familien aber auch die oberen Einkommensgruppen mit Wohnraum unterversorgt sind kann gefolgert werden, daß zur Beseitigung dieser Defizite finanzielle Maßnahmen allein nicht ausreichen, sondern daß darüber hinaus ein besseres Wohnungsangebot erforderlich ist. 3. Fehlende berufliche Qualifikation Bildung beeinflußt direkt oder indirekt die Chancen von Individuen in vielen Lebensbereichen. Für die Erwerbschancen, das Erreichen guter Berufs-positionen und die damit verbundenen Möglichkeiten der Einkommenserzielung und Altersversorgung hat Bildung eine zentrale Bedeutung. Die Unterschiede im Ausbildungsniveau von Männern und Frauen haben sich im Laufe der Zeit verringert, ohne daß sie bei der heutigen Generation ganz beseitigt wären. Eine fehlende berufliche Ausbildung stellte 1988 für mehr als ein Drittel der Frauen in den alten Bundesländern ein Problem dar; 1993 hatte nur noch jede vierte keinen Ausbildungsabschluß. In Ostdeutschland war die formale Qualifikation von Frauen demgegenüber bereits zu DDR-Zeiten kein Problem mehr; 1993 verfügte nur noch jede zehnte über keinen beruflichen Abschluß.
Auch ein Großteil der un-und angelernten Arbeiter kann erwartungsgemäß keine berufliche Ausbildung vorweisen. Der entsprechende Anteil ist allerdings bis 1993 stark zurückgegangen. „Nur“ noch etwas über ein Drittel sind in Westdeutschland 1993 unqualifizierte Arbeitskräfte. Eine fehlende Berufsausbildung ist für die meisten Betroffenen zwar eine dauerhafte, im Zeitablauf jedoch unterschiedlich schwerwiegende Problemlage. In der gegenwärtigen Arbeitsmarktkrise sind Personen ohne Berufsausbildung deshalb vor allem in den neuen Bundesländern eine Problemgruppe. Noch drastischer als im Westen fallen hier die Veränderungen aus. 1993 sind nur noch 3 Prozent der un-und angelernten Arbeiter ohne beruflichen Abschluß. Der Rückgang um fast 20 Prozent dokumentiert vor allem die kritische Situation unqualifizierter Arbeiter in der ostdeutschen Transformation; sie waren bis 1993 bekanntlich in hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen oder schieden über die Vorruhestandsregelung aus dem Erwerbsleben aus
Für die fehlende berufliche Qualifikation sind auch generationsspezifische Unterschiede im Bildungsverhalten von Bedeutung. Der Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung liegt bei älteren Befragten über 64 Jahren in Ost-und Westdeutschland weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Nachrückende und besserqualifizierte Jahrgänge prägen hier allerdings zunehmend das Bild. Die durchschnittliche Ausbildungsdauer hat sich in Westdeutschland im Laufe der letzten 15 Jahre deutlich erhöht. Eine Folge davon ist, daß fast die Hälfte der 18-bis 25jährigen 1993 noch keine abgeschlossene Berufsausbildung hatte. Nachdem mit der deutschen Vereinigung in den neuen Bundesländern die früheren staatlichen Zu-lassungsbeschränkungen zur Abiturstufe und zu den Hochschulen abgeschafft wurden, ist mit einem Annäherungsprozeß der ostdeutschen Abiturienten-und Studentenquoten an das westdeutsche Niveau zu rechnen. Es lassen sich Hinweise für verlängerte Ausbildungszeiten finden: Der Anteil der 18-bis 25jährigen Ostdeutschen, die noch über keinen beruflichen Bildungsabschluß verfügen, ist zwischen 1990 und 1993 von 12 Prozent auf über 27 Prozent gestiegen. 4. Alleinlebend und ohne Freunde; dauerhaft krank, behindert oder pflegebedürftig Das Problem sozialer Isolation betrifft bis 1993 zwar nur etwas über 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, es ist aber insofern von großer Tragweite, als es das allgemeine Wohlbefinden relativ stark beeinträchtigt. Gute Sozialbeziehungen sind für die meisten Menschen ein Bedürfnis von hoher Priorität, und sie tragen wesentlich zu einem hohen Wohlbefinden bei Die Situation, allein zu leben und keine engen Freunde zu haben, tritt vorwiegend in späteren Phasen des Lebensverlaufes auf. Da der Anteil alter Menschen in der Bevölkerung zunehmen wird, besteht die Gefahr, daß Probleme sozialer Isolation auch im Hinblick auf das Ausmaß der Betroffenheit zukünftig ein größeres Gewicht haben werden.
Das Problem, dauerhaft gesundheitlich beeinträchtigt zu sein, trifft ebenfalls überwiegend alte Menschen. 1993 waren den eigenen Angaben der Befragten zufolge rund 12 Prozent aller Westdeutschen und 16 Prozent aller Ostdeutschen über 64 Jahren „dauerhaft behindert oder pflegebedürftig“. 5. Oft einsam; niedergeschlagen; voller Ängste und Sorgen Subjektive Problemlagen treten vergleichsweise bei solchen sozialen Gruppen auf, die auch schon von objektiven Problemlagen betroffen sind, insbesondere aber dann, wenn sie ein Defizit an Sozialbeziehungen haben. Es fallen besonders die älteren Bundesbürger über 64 Jahren auf, die neben ihren teilweise schlechteren Lebensbedingungen auch stark psychisch beeinträchtigt sind. Entsprechend dem Defizit vieler alter Menschen bei engen Sozialbeziehungen sind sie häufig von Gefühlen der Einsamkeit betroffen und fühlen sich unglücklich oder niedergeschlagen.
Die überdurchschnittliche Verbreitung von Ängsten und Sorgen deutet bei alten Menschen nicht notwendigerweise auf das Vorhandensein materieller Notlagen hin; auch die mit zunehmendem Alter steigenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen können zu Ängsten und Sorgen Anlaß geben. Das Ausmaß der Betroffenheit von diesen Problemlagen liegt in den neuen Bundesländern allgemein über dem westdeutschen Niveau. Zwischen 1990 und 1993 zeichnete sich dabei -trotz der massiven Wirtschaftskrise -entgegen vielen Vermutungen keine Verschlechterung der subjektiven Befindlichkeit einzelner Problemgruppen ab.
IV. Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen und Leistungen
Abbildung 4
Tabelle 3: Kumulation von Problemlagen
Quellen: s. Tabelle 1.
Tabelle 3: Kumulation von Problemlagen
Quellen: s. Tabelle 1.
Einige der für die Bundesrepublik typischen Problemgruppen des Sozialstaates existierten in der DDR nur in geringem Umfang. Das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Arbeit reduzierte die Zahl der Arbeitslosen auf ein verschwindend kleines Maß. Auch die Gruppe der Sozialfürsorgeempfänger war in der DDR quantitativ kaum von Bedeutung. Die staatlich hoch subventionierten und daher niedrigen Mieten garantierten die quantitativ ausreichende Wohnungsversorgung. Die „Opfer“ der sozialistischen Sozialpolitik waren die alten Menschen. Mit dem Übergang in die soziale Marktwirtschaft, mit dem Abbau staatlicher Subventionsleistungen im Wohnungs-und Kinderbetreuungsbereich und mit der stufenweisen Einführung des westdeutschen Systems der sozialen Sicherung war davon auszugehen, daß sich Umfang und Struktur der Empfänger sozialstaatlicher Leistungen in Ostdeutschland erheblich verändern würden.
Seit 1990 ist die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern dramatisch angestiegen und viele der (noch) bestehenden Beschäftigungsverhältnisse werden nur durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (ABM, Kurzarbeit etc.) gestützt. Die Reduzierung von Kinderbetreuungseinrichtungen traf vor allem die Erwerbsmöglichkeiten alleinerziehender Mütter und kinderreicher Familien. Auf der anderen Seite war zu erwarten, daß mit der Einführung der westdeutschen Altersversorgung sich die soziale Lage vieler älterer Menschen in den neuen Ländern insgesamt verbessern würde. Wie bewerten angesichts dieser Situation die Ostdeutschen das für sie neue System der sozialen Sicherung seit 1990? Wie schätzen die Westdeutschen die Leistungen dieses Systems heute ein? Und wie beurteilen einzelne Bevölkerungsgruppen die Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen beispielsweise im Falle von Arbeitslosigkeit?
Der Vergleich der jeweiligen Bewertungen zeigt dabei deutlich, daß in Ostdeutschland unmittelbar nach der deutschen Einheit eine erhebliche Unzufriedenheit mit dem Netz der sozialen Sicherung vorhanden war (vgl. Tabelle 2). Als ausgesprochen ungenügend wurde von einer überwiegenden Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung (69 Prozent) zu diesem Zeitpunkt auch die finanzielle Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit eingeschätzt. Diese schlechte Bewertung konzentrierte sich dabei keineswegs nur auf die „klassischen“ Gruppen der Leistungsempfänger der Sozialpolitik wie Arbeitslose, Alleinerziehende oder Rentner. Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen wurde in Ostdeutschland auch in hohem Maße von vielen Erwerbstätigen in regulären Beschäftigungsverhältnissen geäußert.
Angesichts der schwerwiegenden Folgen der Wirtschaftskrise in den neuen Ländern ist festzuhalten, daß hier 1993 sowohl die finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit als auch das Netz der sozialen Sicherung aufgrund der eigenen Erfahrungen insgesamt besser beurteilt werden als 1990. Dies gilt für alle Gruppen der „Betroffenen“ und dies gilt sogar für die in ihrem Umfang stark gewachsene Gruppe der Arbeitslosen. Vor allem aber Rentner, deren Zufriedenheit mit dem Netz der sozialen Sicherung 1990 noch weit unter dem Gesamtdurchschnitt lag, bewerten dieses System mittlerweile erheblich besser. Dennoch finden sich auch Teilgruppen in den neuen Ländern, die die sozialpolitischen Maßnahmen in der Bundesrepublik 1993 schlechter bewerten. Hierzu zählen insbesondere Personen in irregulären Beschäftigungsverhältnissen und die Gruppe der un-und angelernten Arbeiter. Die Ursachen für die vorhandene Unzufriedenheit mit den Leistungen der Sozialpolitik sind also nicht nur in dem zunehmenden Ausmaß an persönlicher Betroffenheit zu finden, sondern auch im Zusammenhang mit Unsicherheiten und Ängsten zu sehen, in Zukunft auf solche Leistungen angewiesen zu sein.
In Westdeutschland ist hinsichtlich der Einschätzung der Sozialpolitik eine andere Entwicklung zu erkennen. Die finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit wird zwar nach wie vor von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als „ausreichend“ oder „gut“ bezeichnet, dennoch finden sich mittlerweile Gruppen, die die Leistungen des Sozialstaates in diesem Bereich als „ungenügend“ einstufen. Dies trifft vor allem für die Gruppe der direkt betroffenen Arbeitslosen zu (59 Prozent), aber auch für die bislang noch relativ kleine Gruppe der westdeutschen Arbeitnehmer in irregulären Beschäftigungsverhältnissen artikulierte 1993 angesichts drohender Arbeitslosigkeit die unzureichende Sicherung vor deren finanziellen Folgen.
Die Zufriedenheit mit dem Netz der sozialen Sicherung ist seit der deutschen Einheit in den alten Ländern deutlich zurückgegangen. Rentner, Arbeitslose, aber auch viele Erwerbstätige bewerteten 1993 die entsprechenden Leistungen der Sozialpolitik erheblich schlechter als vor der Vereinigung. Allerdings sind auch (wenige) Teilgruppen identifizierbar, die das sozialstaatliche Sicherungssystem heute besser als 1988 bewerten. Hierzu zählen Alleinerziehende, Schüler und Studenten sowie kinderreiche Familien -also Gruppen, die in höherem Maße auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Es ist davon auszugehen, daß sich in diesen Veränderungen insgesamt Anzeichen für ein beginnendes „Problemklima“ in Westdeutschland widerspiegeln: Auch im Westen werden nunmehr die Belastungen der Vereinigung zunehmend sichtbar.
V. Kumulation von Problemlagen
Abbildung 5
Schaubild 2: Kumulation von Problemlagen bei Problemgruppen
Quelle: s. Tabelle 1.
Schaubild 2: Kumulation von Problemlagen bei Problemgruppen
Quelle: s. Tabelle 1.
Wir konnten bisher zeigen, daß in West-und Ostdeutschland zum Teil erhebliche Anteile bestimmter Bevölkerungsgruppen durch objektive und subjektive Problemlagen benachteiligt sind. Die Nicht-Teilnahme am gesellschaftlichen Wohlstand erweist sich allerdings erst dann als systematische Ausgrenzung, wenn die betroffenen Personen in mehreren Lebensbereichen gleichzeitig benachteiligt sind. Wir betrachten im folgenden die damit angesprochene Kumulation von Problemlagen; zunächst getrennt für die objektive und für die subjektive Dimension. 1988 mußte bei mehr als der Hälfte der Bundesbürger mindestens ein Aspekt der hier betrachteten objektiven Lebensbedingungen oder des subjektiven Wohlbefindens als unzureichend oder unbefriedigend bezeichnet werden (vgl. Tabelle 3). Etwa jeder dritte wies irgendein subjektives und jeder zweite mindestens ein objektives Defizit auf. Kumulationen von einzelnen Benachteiligungen waren jedoch eher selten. Objektive oder subjektive Problemlagen konzentrierten sich bei einzelnen Personen meist nur in einem Bereich; kaum jemand war von vier oder mehr Problemen gleichzeitig betroffen. Der Anteil der Bundesbürger, die solche Kumulationen aufweisen, war darüber hinaus von 1978 bis 1988 deutlich zurückgegangen Diese positive Entwicklung hat in Westdeutschland bis 1993 angehalten; von Kumulationen einzelner Defizite sind nur noch eine kleine Minderheit der Bevölkerung betroffen. Gestiegen ist hingegen der Anteil derer, die überhaupt keine der angeführten Problemlagen aufweisen. Eine systematische Ausgrenzung kann somit nicht festgestellt werden.
Die Verhältnisse in der Umbruchgesellschaft in den neuen Bundesländern unterscheiden sich erwartungsgemäß auch hier von denen in Westdeutschland. Nur ein Drittel der Bevölkerung war 1990 von keiner der angeführten Beeinträchtigungen betroffen. Erstaunlich hoch war in diesem Jahr das Ausmaß der Kumulation einzelner Problemlagen: 37 Prozent der Befragten wiesen in mehr als einem Bereich Defizite auf; fast jeder zehnte war sogar von vier und mehr objektiven oder subjektiven Problemlagen betroffen. Bis 1993 zeichnete sich hier zumindest bei den objektiven Lebensbedingungen eine deutliche Besserung ab. Der Anteil der Ostdeutschen mit keiner entsprechenden Beeinträchtigung stieg von 48 auf 63 Prozent an. Nahezu unverändert zeigen sich nach wie vor die Beeinträchtigungen bei einzelnen Aspekten des subjektiven Wohlbefindens; eine allgemeine Zunahme der Kumulation subjektiver Problemlagen ist allerdings nicht zu erkennen. Die These, im Zuge des ostdeutschen Transformationsprozesses hätten breite Bevölkerungskreise Verschlechterungen hinnehmen müssen, kann vor dem Hintergrund dieser empirischen Fakten zurückgewiesen werden.
Anders als bei der Gesamtbevölkerung findet sich bei einzelnen Problemgruppen (vgl. Schaubild 2) ein teilweise sehr hohes Ausmaß an Betroffenheit von Kumulationen. In West-und Ostdeutschland sind vor allem die alleinstehenden Rentner aus der Arbeiterschicht von mehreren Defiziten gleichzeitig betroffen. Rund die Hälfte bzw. zwei Drittel von ihnen wies 1988 bzw. 1990 mindestens drei der hier untersuchten objektiven oder subjektiven Problemlagen auf. Auch „Arbeiter-Hausfrauen“, alleinstehende Rentner der Mittelschicht, Arbeitslose und unqualifizierte Arbeiter zeigen in Ost-und Westdeutschland ein erkennbar höheres Ausmaß an Betroffenheit als der Bevölkerungsdurchschnitt. Ebenso auffällig sind aber auch erkennbare Unterschiede zwischen einzelnen Problemgruppen in Ost-und Westdeutschland. Vor allem die Situation alleinerziehender Mütter war 1990 in den neuen Bundesländern besorgniserreB gend. Mehr als die Hälfte von ihnen war von drei und mehr Beeinträchtigungen gleichzeitig betroffen. Die Entwicklung zwischen 1988 und 1993 verlief für einzelne Gruppen recht unterschiedlich. Entgegen der rückläufigen Entwicklung in der Gesamtbevölkerung finden sich einzelne Gruppen, deren Betroffenheit von Kumulationen zugenom-men hat. Hierzu zählen die nichterwerbstätigen Hausfrauen aus der Arbeiterschicht, bei denen vor allem eine Zunahme der Betroffenheit von subjektiven Beeinträchtigungen zu erkennen ist. Für die meisten der angeführten Problemgruppen in Ostdeutschland ist allerdings bis 1993 ein Rückgang von hohen Kumulationen zu erkennen.
VI. Auswirkungen von Problemlagen auf die Zufriedenheit
Abbildung 6
Tabelle 4: Durchschnittliche Bereichszufriedenheiten in einzelnen Problem-und Wohlfahrtslagen in Ost-und Westdeutschland
Quelle: Wohlfahrtssurveys 1988, 1990-Ost und 1993.
Tabelle 4: Durchschnittliche Bereichszufriedenheiten in einzelnen Problem-und Wohlfahrtslagen in Ost-und Westdeutschland
Quelle: Wohlfahrtssurveys 1988, 1990-Ost und 1993.
Kumulationen von einzelnen Problemlagen sind in Ost-und Westdeutschland insgesamt zwar nur bei wenigen Personen und Haushalten zu finden, dennoch haben bereits einzelne Mangellagen in verschiedenen objektiven Lebensbedingungen erhebliche negative Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen (vgl. Tabelle 4).
Diese erheblichen Wohlfahrtsbeeinträchtigungen werden dann besonders deutlich, wenn die Zufriedenheit in einzelnen Problemlagen nicht nur mit dem Bevölkerungsdurchschnitt, sondern mit den jeweiligen Extremgruppen, die besonders gute Lebensbedingungen aufweisen -den „Wohlfahrtslagen“ -verglichen werden. Die häufig niedrigeren Zufriedenheiten der Ostdeutschen liefern darüber hinaus Hinweise auf das nach wie vor bestehende Ost-West-Gefälle hinsichtlich der Aus-stattung und Versorgung in materiellen Lebensbereichen. So erreichen die ostdeutschen gutsituierten Wohlfahrtslagen auch 1993 im Wohnungs-und Einkommensbereich lediglich ein Zufriedenheitsniveau, das eher mit dem westdeutschen Bevölkerungsdurchschnitt als mit entsprechenden westdeutschen Wohlfahrtspositionen vergleichbar ist. Und die durchschnittlichen Zufriedenheiten der ostdeutschen Gesamtbevölkerung erreichen hier ein Niveau, das sich von dem westdeutscher Problemlagen nur wenig unterscheidet. Dennoch werden seitens der Bevölkerung in diesen Bereichen seit 1990 deutliche Verbesserungen wahrgenommen. Auch Personen im untersten Einkommensbereich bewerten ihre finanziellen Verhältnisse sichtlich besser als unmittelbar nach der Vereinigung Deutschlands. In anderen Bereichen (Ausbildung, Familie, Gesundheit) sind die Unterschiede in der Zufriedenheiten zwischen Ost-und Westdeutschen mittlerweile erheblich schwächer ausgeprägt als zwischen den jeweiligen Problem-und Wohlfahrtslagen.
Detlef Landua, Dipl. -Soz., geb. 1959; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sozial-berichterstattung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) für Sozialforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wohlfahrtsforschung, zuletzt: Veränderungen von Zufriedenheitsangaben in Panelbefragungen. Eine Analyse über nicht beabsichtigte Effekte des Längsschnittdesigns, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993) 3. Roland Habich, Dr. phil., geb. 1953; Koordinator der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) für Sozialforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wohlfahrts-und Sozialstrukturforschung, u. a. Mitherausgeber des Datenreports 1992. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992.