I. Globale Entwicklungen
Die Welt steht heute vor größeren Herausforderungen als je zuvor, denn mit dem Ende des „Kalten Krieges“ gerieten sowohl die internationalen Strukturen als auch die globale Werteordnung in eine enorme Schieflage. Die lange Zeit gehegten Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung erfüllten sich nicht. Zum einen hatte der Ost-West-Konflikt für vier Jahrzehnte Megatrends wie die Bevölkerungsexplosion, die weltweite Umweltverschmutzung, die Verknappung der Ressourcen und andere ökologische Katastrophen im Bewußtsein überlagert Zum anderen beherrschen anstelle der von US-Präsident Bush verkündeten „Neuen Weltordnung“ in nicht wenigen Regionen Krisen und Chaos das Bild. Die überaus grausamen Banden-und Bürgerkriege in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien, die neu aufflammenden Konflikte am Golf und in Haiti sowie die kaum übersehbare Zahl der tatsächlichen und potentiellen Krisenherde auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion schockieren die Öffentlichkeit und stellen die politischen und militärischen Führungen vor schwierigste, zum Teil kaum lösbare Probleme.
So gesehen sind wir zur Jahrtausendwende Zeuge eines Wettlaufes zwischen dem Anwachsen globaler Probleme und den Versuchen ihrer Lösung, dessen Ausgang noch ungewiß ist. Wie ist vorzugehen? Im ehemaligen Jugoslawien hat sich gezeigt, daß Diplomatie ohne Militär angesichts zu allem entschlossener Kriegsherren zum Scheitern verurteilt ist. Somalia steht dafür, daß umgekehrt auch der Einsatz einer überwältigenden Militärmaschinerie nur dann zweckmäßig ist, wenn er in ein diplomatisch-politisches Konzept eingebunden ist.
Die gleichzeitig mit den genannten Konflikten aufkeimende Hoffnung, die UNO werde die akuten Krisen als eine Art „Weltpolizei“ rasch beenden können, erfüllte sich nicht. Vielmehr ziehen die Vereinten Nationen aus den beobachteten (Fehl-) Entwicklungen den Schluß, den Schwerpunkt künftig stärker als bisher auf die Prävention zu legen, wie Boutros-Ghali es in seiner „Agenda für den Frieden“ von Juni 1992 formulierte Um eine Überdehnung der UNO zu vermeiden, ist künftig die Machbarkeit und Erfolgsaussicht eines Einsatzes genauer zu prüfen.
II. Deutschlands künftige Rolle in der Welt
Eine weitere Erkenntnis kristallisiert sich immer klarer heraus: Es gibt keine Inseln des Friedens und des Wohlstandes mehr und keine unüberwindbaren Mauern, mit denen man sich umgeben kann. Die Welt ist in einem Maße interdependent geworden, wie dies noch vor wenigen Dekaden nicht vorstellbar war. Heute lernen wir, stärker in Kreisläufen zu denken und das Prinzip von Ursache und Wirkung auf alle Bereiche anzuwenden. Globales Denken ist künftig unabdingbar.
Dies gilt in besonderem Maße für die Bundesrepublik Deutschland. Selbst wenn man das notorisch geringe Interesse der Bundesdeutschen an Außen-und Sicherheitspolitik in Rechnung stellt das durch die gegenwärtige Rezession und natürlich die gewaltige Aufgabe der Wiedervereinigung noch verstärkt wird, kann sich ein Land von der Größe Deutschlands nicht isolieren. Unumstritten ist, daß die Bundesrepublik künftig mehr Verantwortung in der Welt übernehmen muß, wenn auch über deren Form und Umfang noch heftig gerungen wird.
Vor der Wiedervereinigung sprachen sich nur einzelne Autoren für eine aktive Beteiligung der Bundesrepublik und damit auch für Einsätze der Bundeswehr „out-of-area“ im Sinne einer verantwortungsvollen Machtpolitik aus Nach 1989/90 nahmen solche Stellungnahmen zu, beispielsweise: „Macht ist uns unheimlich, internationale Verantwortung zu übernehmen sind wir nicht gewohnt“, doch sei Deutschland schließlich „alles andere als ein militärischer Zwerg“ Andere jedoch sehen nach 1989/90 eher die Gefahr des wiedererstarkenden Wilhelminismus und einer „Militarisierung“ der bundesdeutschen Außenpolitik Will die Bundesrepublik auf der internationalen Bühne entsprechend ihrem Gewicht agieren, so kann sie es sich nicht länger erlauben, entlang von festgefahrenen Parteilinien zu argumentieren. Insbesondere die „classe politique“ muß die Gräben von 1968 verlassen. Das antiquierte Denken in den Kategorien von „links“ und „rechts“ hilft bei der Komplexität der neuen internationalen Politik nicht weiter.
Erforderlich ist eine fundierte Debatte, um endlich den gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen oder zumindest einen tragfähigen Kompromiß. Gedankliche Offenheit ist das Gebot der Stunde. Weder darf eine Zivilmacht wie die Bundesrepublik Deutschland das Spektrum auf das Thema „Kampfeinsätze“ verengen, noch kann sie unliebsame Wahrheiten einfach ausblenden. Hanns W. Maull schreibt hierzu: „Zivilmacht ist nicht das Gegenteil von militärischer Macht.“ Ihm zufolge gehören militärische Instrumente und militärische Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung, ja selbst „Mittel zur Durchsetzung gemeinschaftlicher Prinzipien und Interessen“ durchaus noch zu Zivil-macht. Entscheidend sei, daß eine Zivilmacht keine autonomen militärischen Handlungsoptionen suche, ja, sie sogar bewußt vermeide. Sie sei skeptisch gegenüber den konstruktiven Gestal-tungsmöglichkeiten militärischer Gewaltanwendung und sie werde sie -außerhalb des Bereichs der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung -nur im Sinne internationaler Polizeimaßnahmen anwenden, d. h. nur nach einer klaren Legitimation durch die internationale Staatengemeinschaft und ausschließlich zusammen mit anderen Staaten
Wenn jedoch selbst die einzige Weltmacht USA heute in vielen Fällen zögert, sich militärisch zu engagieren und Ex-Kolonialmächte wie Großbritannien und Italien sich künftig stärker zurückhalten wollen, soll dann ausgerechnet Deutschland bei „Kampfeinsätzen“ in die Bresche springen? Unsere Stärken hegen auf anderen Feldern. Die Bundesrepublik sollte sich ihrer in fast viereinhalb Jahrzehnten erarbeiteten Werte und Traditionen immer bewußt sein und diese in Zukunft, wenn möglich, eher in eine präventive Politik umsetzen, wie es zunehmend auch von den Vereinten Nationen gefordert wird.
Auch gibt es deutsche Besonderheiten, die es ratsam erscheinen lassen, eher nach Japan oder Österreich als nach Paris oder London zu schauen. Die nationalsozialistische Vergangenheit legt uns eine besondere Zurückhaltung auf, ist jedoch kein Freibrief für Nichteinsätze zum Wohle der Weltgemeinschaft. Doch gilt es, innerhalb jenes Territoriums, das von Hitlers Truppen erobert und besetzt wurde -sowohl, was die Entsendung von UN-Kontingenten als auch, was die bundesdeutsche Diplomatie angeht -, besondere Vorsicht walten zu lassen. Alte Wunden sind tief. An Versuchen, sie zu instrumentalisieren, fehlt es nicht. Serbische Zeitungen entwarfen zu Beginn des jugoslawischen Bürgerkrieges das Zerrbild vom „Vierten Reich“. Doch selbst Minister eng befreundeter Staaten in der NATO und der Europäischen Union beschwören mitunter die Geister der Vergangenheit. Kaum war die Polemik des Londoner Kabinettsmitgliedes Nicholas Ridley, den Helmut Kohl an Adolf Hitler erinnerte, vergessen, schlug die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher in eine ähnliche Kerbe Jüngstes Beispiel sind die Äußerungen ausgerechnet des griechischen Europa-Ministers, der „vor dem Wiedererwachen germanischer Großmachtphantasien“ warnte und Deutschland unterstellte, es sei „ein Riese mit der Kraft eines Monstrums und dem Gehirn eines Kindes“
Vor diesem Hintergrund gesteigerter Erwartungen an das wiedervereinigte Deutschland bei gleichzeitiger Furcht vor seiner gewachsenen Macht ist es ratsam, außenpolitisch sensibel und differenziert zu agieren, also zunächst alle anderen Mittel auszuschöpfen, bevor Bonn Truppen für Kampfeinsätze entsendet. Außerdem gilt: Je stärker sich Deutschland (immerhin der drittgrößte Beitragszahler der UNO und das mit Abstand größte Geberland für die Stabilisierung Ostmitteleuropas und der GUS) humanitär, politisch und finanziell engagiert und dies auch nach außen hin deutlich macht, desto geringer wird der auf der Diskussion lastende Druck. Bis zu einem gewissen Grad könnten auf diese Weise „Kampfeinsätze“ durch „Nicht-Kampfeinsätze“ kompensiert werden.
In der Diskussion über künftige Aufgaben der Bundeswehr wird nach Ansprenger überdies „höchst undifferenziert“ mit dem Begriff „Blau-helme“ im Widerspruch zu „Kampfeinsätzen“ operiert.
III. Blauhelme
„Auf die Gefahr hin, mühsam erreichte Bonner Kompromisse wieder zu stören“, kategorisiert Ansprenger die Aufgaben von Blauhelmen wie folgt: -VN-Personal als „Stolperdraht“ in einer Puffer-zone zwischen Waffenstillstandslinien kriegs-führender Parteien, wenn alle am Konflikt beteiligten Staaten zustimmen; -Blauhelme als Stabilisator eines Regimes, wobei man keineswegs auf Zustimmung aller Konfliktparteien angewiesen sei. Im Gegenteil: Hier gehe es oft um die Niederwerfung von Feinden der Regierung; -Einsatz von Blauhelmen, um einen Prozeß der Entkolonialisierung abzusichern und dadurch eine legitime Staatsgewalt zu etablieren, sowie -Mischformen
Vielfach spricht man bereits von „robustem Peacekeeping“ Maull unterscheidet dagegen -kollektive Sicherheit als Operationen entsprechend Kapitel VII der UN-Charta nach dem Muster des Golfkrieges, -„klassische“ Blauhelm-Operationen beiden neuen Bereiche und die -„humanitäre Intervention“ (wie am Beispiel Jugoslawien aufgezeigt) sowie -„nation-building“, definiert als die Übernahme von der Anarchie verfallenen Staaten durch die Vereinten Nationen (Beispiel Somalia).
Bonn muß bei der Frage der Truppenentsendung dieses gesamte Spektrum im Blick behalten. Nicht Kampfeinsätze allein bilden die Herausforderung, sondern ein weites Aufgabenfeld tut sich auf. Dabei hat jede Krise ihr eigenes Profil.
Sinnvoll ist es, nur bei einer gewissen Aussicht auf Erfolg zu agieren. Es ist völlig legitim, die Machbarkeit einer Operation abzuschätzen. Abenteurertum und martialische Töne sind nicht gefragt. Vielmehr ist es erforderlich, im schwierigen Spannungsverhältnis zwischen „Machtvergessenheit und Machtversessenheit“ die Balance zu wahren und ein modernes, zukunftsweisendes Krisenmanagement zu betreiben. Bei jedem Konflikt gilt es, neu zu überlegen, welche aufgezeigte Option für die operative Politik am geeignetsten ist:
1. Krisenverhinderung und -Vermeidung im Sinne einer vorausschauenden, präventiven Diplomatie.
2. Technisch-humanitäre Einsätze bei akuten Notfällen, also „out-of-area“ auf Bitten der betroffenen Regierung, geleistet durch ein global ersetzbares „Technisches Hilfswerk“. Bis zu dieser Stufe könnten Maßnahmen ziviler Institutionen wie der Entwicklungshilfe ideal mit denen der Bundeswehr koordiniert und Kampf-einsätze durch Nicht-Kampfeinsätze, also umfassende politische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe, kompensiert werden. 3. Unterstützende, „friedenserhaltende“ Maßnahmen wie der Adria-oder der AWACS-Einsatz, logistische und andere nicht-kombattante Hilfe bis hin zu Maßnahmen wie der Überwachung oder Durchsetzung eines Embargos, wobei Kampfeinsätze noch bis zu einem gewissen Grad kompensiert, aber nicht mehr definitiv ausgeschlossen werden können. 4. Sind alle anderen Möglichkeiten wirklich ausgeschöpft, kann der von der Weltgemeinschaft legitimierte Einsatz militärischer Mittel in soge-nannten „friedensschaffenden“ Maßnahmen als Ultima ratio im Verbund mit der UNO, KSZE, NATO oder WEU notwendig werden. 5. Da die Krise mit dem militärischen Sieg über den Aggressor in der Regel nicht ihr Ende gefunden hat, sollte ein Schwerpunkt künftiger UN-Arbeit auf der Nachbereitung von Konflikten liegen, bei der der Wiederaufbau eines betroffenen Landes oder einer Region im Vordergrund steht, wenn möglich das „nation-building“.
Ungeachtet der Legitimität von „peace enforcement“ -Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta sollte die Bundesrepublik hier jedoch eher Zurückhaltung üben und den Schwerpunkt ihrer Politik auf die Prävention und die „Friedensnachsorge“ legen, die bisher in der UN-Charta noch nicht vorgesehen war, aber ein breites Betätigungsfeld darstellt. Auch Japan, das auf internationaler Ebene so häufig mit Deutschland in einem Atemzug genannt wird, scheint sich eher in diese Richtung zu orientieren.
IV. Der „Zivile Friedensdienst“ (ZF)
Die Frage, wie die von der Weltgemeinschaft an die Bundesrepublik herangetragene Verantwortung konkret umzusetzen sei, hat eine breite Palette von Antworten hervorgebracht. Sie wird begrenzt von zwei idealtypischen Positionen, dem „Zivilen Friedensdienst“ auf der einen und der „Europäischen Legion“ auf der anderen Seite.
Kritisiert wird in Deutschland häufig nicht nur, daß sich die Bundesrepublik außerhalb des NATO-Territoriums („out-of-area“) engagiert, sondern auch, daß Militär überhaupt zum Zuge kommt, insbesondere bei „humanitären“ Einsätzen. So hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, und hier insbesondere der Berliner Friedensforscher Theodor Ebert, auf der „Suche nach einer Alternative zur Entsendung von bewaffneten Blauhelmen oder von Interventions-Truppen“ den Aufbau eines „Zivilen Friedensdienstes“ vorgeschlagen *D*ie*ser soll zunächst aus kleineren Versuchseinheiten aufgebaut werden und aus beruflichen Mitgliedern und für diesen Dienst optierenden Wehrpflichtigen bestehen. „In einigen Jahren könnte der , Zivile Friedensdienst in seinem Umfang einer Armee von Berufssoldaten, Wehrpflichtigen und Reservisten durchaus vergleichbar sein.“
Soll hier eine Gegenorganisation zur Bundeswehr errichtet werden? Ist eine Überlappung von Aufgaben erwünscht, gar angestrebt? Wächst hier ein ziviles Konkurrenzunternehmen heran?
Das Ausbildungsziel, so der Beschluß vom 23. Oktober 1992, sei es, „vielfältige Einsätze“ zu ermöglichen, weil die künftigen Konflikte sich nicht vorhersehen lassen. Der Zivile Friedensdienst weist sowohl eine innen-wie eine außenpolitische Komponente auf. Im Ausland könnten erfahrene und vornehmlich hauptamtliche Mitarbeiter des Zivilen Friedensdienstes in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen Aufgaben übernehmen, „für die bisher nur bewaffnete , Blauhelme zur Verfügung standen“. Den Schwerpunkt seiner möglichen Aufgaben definiert der Zivile Friedens-dienst im aktiven Vermitteln bei und in der Deeskalation von Konflikten, etwa bei der Überwachung des demokratischen Charakters von Wahlen.
Dabei soll sich der Zivile Friedensdienst bei auswärtigen Einsätzen a) selbständig ein Bild der Lage verschaffen und b) im Ausland nur tätig werden, „wenn er dies im Einverständnis mit Einheimischen tun kann“, die dazu noch „tunlichst“ derselben Philosophie der Gewaltfreiheit verpflichtet sein sollten. Um der Gefahr der Instrumentalisierung oder Parteiergreifung vorzubeugen, muß der Zivile Friedensdienst zudem über das Konfliktfeld im voraus genau informiert sein. Eine „einzige hochmobile Spezialistengruppe“ ohne Beziehung zu den jeweiligen Konfliktfeldern wird abgelehnt, da es auf das Verständnis von Kultur und vor allem der Sprache des betroffenen Landes ankomme. „Dies bedeutet, daß man für Einsätze in Guatemala, Südafrika oder im Vorderen Orient wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf dieselben Personen zurückgreifen kann.“
V. Eine „Europäische Legion“
Am anderen Rand des gedanklichen Spektrums findet man Vorstellungen einer Institution sowie vor allem eines Soldatentypus, die nicht weniger zu denken geben. Der Hamburger Senator a. D. Hans-Joachim Seeler entwickelte die Vision einer „Europäischen Legion“ im Rahmen der nach Maastricht geforderten Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) der (West-) Europäer Er bezeichnet die Europäische Gemeinschaft ohne GASP als abseitsstehenden, „zahnlosen Löwen“, der sich nunmehr dringend eigene Instrumente zur Durchsetzung seiner Politik und auch zur Teilnahme an UN-Aktionen schaffen müsse. Auf Dauer sei dies unumgänglich, wenn die Gemeinschaft ihre Position als Welthandelsmacht behaupten wolle.
Selbst wenn man die Forderung mitträgt, die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee, die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Rüstung und auch eine gemeinsame Außenpolitik seien unabdingbar, so erheben sich zumindest zwei zentrale Fragen: erstens, wie gestaltet sich demnach das durch die Diskussion um den „europäischen Pfeiler“ in der NATO, das „Eurokorps“ und die Rolle der WEU ohnehin sehr kompliziert gewordene Verhältnis zu den USA und zweitens, wie würde der von Seeler geforderte Soldatentypus aussehen?
Der ehemalige Senator schlägt als Lösung „die Schaffung einer eigenständigen Berufsarmee der Europäischen Gemeinschaft, bestehend aus Freiwilligen, nach dem Vorbild der französischen Fremdenlegion“ vor. Voraussetzung für die Zuge-hörigkeit zur Legion wäre die Staatsangehörigkeit in einem EG-Mitgliedsland. Die Legion „müßte eine Größe von etwa 100000 Mann haben, gegliedert in selbständige und unabhängig voneinander einsatzfähige Einheiten. Wichtig wäre nicht nur eine hochqualifizierte Ausbildung, sondern auch eine anspruchsvolle Ausrüstung, die die Mobilität dieser Legion sicherstellt, d. h. beispielsweise moderne Transportmittel für den Lufttransport in die Einsatzgebiete.“ Es folgen Vorschläge zur Überwachung der Mittelvergabe und zur Einsatz-und Befehlsstruktur. Man vermißt indes Vorstellungen zu den vom „Legionärstypus“ verkörperten und vertretenen Werten. Selbst Autoren, die in der Konfliktprävention und im Krisenmanagement die zentralen Herausforderungen der Zukunft sehen und ihre ad hoc abrufbare „Eurolegion“ in überaus komplexe „neue Denkmuster“ integrieren, befassen sich nicht eingehend genug mit der wertmäßigen Orientierung der einzusetzenden Soldaten und scheinen die hieraus resultierenden Gefahren nicht einzukalkulieren
Daneben tritt die Vorstellung, Einheiten im Stile der „Söldner“ oder „Legionäre“ innerhalb einer zu modifizierenden Bundeswehr anzusiedeln. Anlaß für den Umbau sei die Unfähigkeit einer „normalen großen Armee“, mit neuen Formen des Krieges und der Konflikte -wie etwa in Bosnien und Somalia -fertig zu werden. Dafür brauche man „eine andere Art von Armee. Eine Sondereinsatztruppe wie Bundesgrenzschutz oder... eine Art Polizei“. Für die neuen Einsatzarten benötige man Einzelkämpfer, Berufssoldaten, „die nur das lernen und nichts anderes“. Es könne sein, daß die Bundesrepublik dafür „eine Wehrpflichtarmee plus“ brauche, aber für dieses Plus bedürfe es eines neuen Typs von Soldaten. „Und der muß nicht Maschinenbau studiert haben.“
VI. Militär und Friedensförderung
So unterschiedlich die aufgezeigten Positionen zwischen Zivilem Friedensdienst und Europäischer Legion auch sein mögen -eines ist ihnen gemeinsam: das Militär soll aus der Friedensförderung bzw.dem Friedensprozeß verdrängt werden. Entweder es wird überflüssig, oder es degeneriert zu einer reinen Kampftruppe Dabei weisen die verschiedenen UN-Missionen bereits ein breites Verwendungsspektrum auf, das, so der UN-Generalsekretär, weit über „den herkömmlich militärischen“ Aufgabenplan hinausreicht. Neben der Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen und Truppenentflechtungen gehören dazu auch zivile Aufgaben wie die akute Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln, aber auch die Wiedererrichtung einer gewissen Infrastruktur, die Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen oder die Reintegration von Flüchtlingen.
So gesehen wäre es ein Fehler, im Militär lediglich eine „Feuerwehr“ oder die sprichwörtliche „Brechstange“ zu sehen. Wenn selbst Hilfsorganisationen der UNO sich die Erkenntnis zu eigen machen mußten, „daß unter besonders schwerwiegenden Umständen kein Weg an einer... , Milita risierung 6 der Nothilfe vorbeiführt“ sollte auch in der Bundesrepublik darüber nachgedacht werden, wie die Bundeswehr konstruktiv in den internationalen Friedensprozeß integriert werden könnte. Wäre es nicht ratsamer, auf die human resources und das technische Know-how der Bundeswehr zurückzugreifen und sie gedanklich zu öffnen, als unter den mühsamen Bedingungen der Trial-and-error-Methode Parallelinstitutionen aufzubauen, die sich im Ernstfall nicht einmal selbst schützen können bzw. wollen?
Einen vielversprechenden Ansatz für das Wesen und den künftigen Gebrauch von Streitkräften westlich orientierter Demokratien liefert der Züricher Publizist Gustav Däniker. Seiner Ansicht nach rücken zukünftig Präventions-, Interventionsund Ordnungsfunktionen an erste, Abschrekkungs-und Kampfaufgaben an die zweite Stelle. Umfassende, auf Dauer angelegte Friedensregelungen seien höher zu bewerten als militärische Siege. Nicht die „Vernichtung“, sondern das „Lahmlegen“ feindlicher Streitkräfte sei das Ziel, so daß eine spätere Aussöhnung möglich bleibe. Deshalb sei die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu betonen. „Militärisches Denken und Handeln in rein militärischen Kategorien darf es künftig nicht mehr geben.“ Vielmehr heiße die Mission des Soldaten im 21. Jahrhundert: „Schützen, Helfen, Retten. Sein Leitbild ist sein immer gezielterer und wirksamerer Beitrag an die Friedenswahrung, Friedenswiederherstellung sowie an die Sicherung eines lebenswerten Daseins der Völker.“
Namentlich die letztgenannte These bezieht Däniker auf die Entstehung eines neuen Soldatentypus, den er -in Analogie zum spätmittelalterlichen „miles christianus“, dem Kämpfer für die gute und gerechte Sache -den „miles protector“ nennt. Dieser könne eine Voraussetzung für eine menschenwürdigere Zukunft der Völker schaffen.
Diese Ansicht vertritt auch Maull, wenn er in den arbeitsteiligen UN-Blauhelmoperationen ein Beispiel dafür sieht, wie „Zivilisierungsprozesse in den internationalen Beziehungen mit einer gewissen Chance auf Erfolg vorangetrieben werden kön-nen“ Manfred Knapp vertritt die These, „daß die Förderung eines friedlichen Wandels durch friedenserhaltende oder friedenssichemde Maßnahmen der UN in der Tradition des klassischen, liberal-aufklärerischen Denkens steht“ und auch als Grundidee in der traditionellen friedenspolitischen Konzeption der internationalen Organisation enthalten ist Diese Ansicht kann mit Kants Idee eines „Weltbürgerrechts“ begründet werden, wonach aufgrund der zunehmenden Begegnungsmöglichkeiten der Menschen zwischen den verschiedenen Weltteilen eine Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt werde. Er ergänzt damit das klassische Staats-und Völkerrecht durch ein friedensstiftendes Weltbürgerrecht, wobei der einzelne Mensch zum Rechtssubjekt einer zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Friedensordnung wird
VII. Weltbürger in Uniform
Auch die Idee des „Staatsbürgers in Uniform“, die die Wehrpflicht in der Bundesrepublik auf das engste mit der demokratischen Gesellschaft verflicht, kann sich unter anderem auf Kants „Bürger in Waffen“ berufen. Nur die Vision eines demokratischen „Staatsbürgers in Uniform“ ermöglichte nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt die Aufstellung bundesdeutscher Streitkräfte -in bewußter Abgrenzung und Ablehnung von Wilhelminismus und „Drittem Reich“. Warum meint man, nach der Zäsur von 1989/90 auf eine erneute Grundsatzdiskussion verzichten oder sogar noch vor den Stand der von Wolf Graf von Baudissin entwickelten Prinzipien zurückgehen zu können? Angesichts des globalen Einsatzspektrums der Bundeswehr sollte der „Staatsbürger“ in Uniform -unter Anlehnung an Kants Gedanken einer Verantwortung des Einzel nen für die Welt -nicht kleingeschrieben, sondern konzeptionell weiterentwickelt werden. Der „Staatsbürger in Uniform“ muß im Dienste der UN zum „Weltbürger in Uniform“ werden.
In den vergangenen Jahrzehnten gingen sowohl die Bundeswehr-Planer der Inneren Führung als auch die bundesdeutsche Gesellschaft davon aus, der Soldat sei wertemäßig integriert. Der Frieden galt als der Ernstfall und wenn überhaupt, dann wäre Deutschland bzw. Mitteleuropa Kriegsschauplatz gewesen. Gedanken zu einem deutschen Soldaten-typus „out-of-area“ bzw. im UN-Einsatz brauchte man nicht. Das Verhältnis einer deutschen Verteidigungsstreitkraft mußte lediglich „kompatibel“ zur (zivilen) deutschen Gesellschaft und zu den westlichen Bündnispartnern gestaltet werden. Also lag der Schwerpunkt auf der Innensicht. Der „Staatsbürger in Uniform“ war perfekt auf die damaligen bundesdeutschen und nordatlantischen Verhältnisse zugeschnitten.
Heute steht die Außenwirkung im Vordergrund. Es muß nicht nur noch das Verhältnis der in Somalia oder Kambodscha eingesetzten Soldaten zu Bundeswehr, Bundesrepublik und NATO geklärt werden, sondern darüber hinaus auch erstmals zu den anderen UNO-Kontingenten, in Somalia also zu Soldaten aus 30 Nationen, gestellt von der Welt-macht USA bis zu den Fidschi-Inseln. Ebenso entscheidend wie die Weltmeinung sind die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung vor Ort, wo durch mangelnde Sensibilität die für den Wiederaufbau des Krisengebietes unabdingbare Vertrauensbasis zerstört werden kann. „Vertrauensschwund und Autoritätsverlust sind auch unvermeidlich, weil die Angehörigen der intervenierenden Truppen oft auf ihre Aufgabe nicht ausreichend vorbereitet werden können. Ein militärischer Schnellkurs über Kampfmethoden im Wüstensand genügt nicht für einen verständnisvollen Umgang mit einer islamisch-afrikanischen Bevölkerung... Denn -anders als viele glauben -ist jede Nothilfe-aktion in einem fremden Land auf Kooperation mit der Bevölkerung und damit auf Vertrauen und Autorität angewiesen.“ Oder anders formuliert: Kurzfristig geplante Nothilfeaktionen ohne Berücksichtigung der Besonderheiten eines Landes und ohne ein präzise formuliertes Ziel laufen Gefahr, entweder zu einer Daueraktion zu werden oder ein Chaos, Enttäuschung und Orientierungslosigkeit zu hinterlassen. Welcher Soldatentypus jedoch würde dieses auch vom UN-Generalsekretär geforderte hohe Leistungsprofil erfüllen? Deutschland kann sich keinesfalls Soldaten mit der Mentalität eines Fremdenlegionärs leisten. Deutsche Soldaten wird man aufgrund der Geschichte auf der internationalen Bühne mit sehr kritischen Maßstäben messen. Sie dürfen nie in den Verdacht geraten, nach vierzigjähriger Machtvergessenheit nun wieder Macht-besessenheit zu verkörpern.
Im Idealfall sollte eine im Dienste der Vereinten Nationen operierende deutsche Einheit aus Soldaten bestehen, die alle positiven Werte und Traditionen der alten Bundeswehr verkörpern, die aber auch auf den vielfältigsten Gebieten „Macher“ sind. Das Anforderungsprofil des „Weltbürgers in Uniform“ ist sehr viel komplexer als das des bisherigen Soldaten. Er muß höher qualifiziert und flexibler sein und mit einer größeren Bandbreite operieren. Selbstverständlich haftet diesem „Weltbürger“ nichts Mondänes an. Er ist vielmehr die Inkarnation bundesdeutscher Verantwortung in der internationalen Politik. Für ihn gelten höhere Maßstäbe, wobei die Verpflichtung des „Weltbürgers in Uniform“ auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Respektierung der Menschenwürde unbedingt erforderlich sind. Der „Weltbürger in Uniform“ muß global denken, juristisch und psychologisch vorbereitet sein, jedoch auch in kürzester Zeit die zu seinem Überleben notwendigen Schritte ergreifen können.
Was seine Ausbildung betrifft, so führt der Weg dahin einzig über die Qualität. Die Bundesrepublik muß mehr in den Ausbildungsstand ihrer UN-Soldaten investieren. Dies ist aufgrund der absehbaren Größenordnung durchaus machbar Bevor ein junger Soldat in einer ihm unbekannten Region der Welt eingesetzt werden kann, muß er nicht nur vom Ausbildungsstand her, sondern auch mental auf alles vorbereitet sein. Das Prinzip von Befehl und Gehorsam ist hier zu ergänzen durch eine modifizierte Innere Führung und die bestmögliche Aufklärung über die Hintergründe und Perspektiven des Einsatzes.
VIII. Plädoyer für militärisch-zivile Zusammenarbeit
Die entscheidende Frage lautet nicht, ob der Soldat künftig noch gebraucht wird, sondern ob er sich dem oben skizzierten Ideal des „miles protector“ bzw.des „Weltbürgers in Uniform“ annähem kann, ohne seine Einsatzbereitschaft zu schmälern. „Hier liegt demnach eine wesentliche geistig-moralische Führungsaufgabe vor.“ Das Anforderungsprofil des „Weltbürgers in Uniform“ beinhaltet neben den klassisch militärischen auch zivile, zum Beispiel technische und humanitäre Aufgaben. Diese sollten Teil seines Auftrages sein und keine herangetragene Notlösung (etwa, weil ein zu versorgendes indisches Kontingent nicht rechtzeitig in Somalia eintrifft). Eine solche Auffassung würde die Glaubwürdigkeit humanitärer Einsätze der Bundeswehr im UN-Rahmen in dem jeweiligen Land, in der Bundesrepublik und nicht zuletzt gegenüber zivilen Hilfsorganisationen enorm erhöhen und Bonn „manche Erklärungsnöte über den Einsatz der Bundeswehr“ ersparen, so der Direktor von „Brot für die Welt“ Ein dahingehend veränderter Auftrag würde es auch ermöglichen, frühzeitig mit zivilen Organisationen Hand in Hand zu arbeiten, zumal dies -so die gewachsene Einsicht der UNO -bei allen in der Praxis auftauchenden Problemen heute unverzichtbar geworden ist. Beispielsweise haben die Vereinten Nationen mit dem Nothilfekoordinator 1992 ein ausbaufähiges Instrument geschaffen, um die Kräfte der vielfältigen zivilen UN-Unterorganisationen und der autonomen Organisationen zu bündeln und Überlappungen sowie dadurch unweigerlich entstehende Reibungsverluste zu minimieren. Dieselben Synergieeffekte gilt es durch die Zusammenarbeit von zivilen Hilfsorganisationen und des Militärs zu erzielen. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist, daß beide Seiten endlich ihre gegenseitige Vorbehalte überwinden, um durch die Konzentration der Kräfte eine gemeinsame Aufgabe besser und effektiver zu bewältigen.