Die Friedenssicherung der Vereinten Nationen in der Krise? Eine Zwischenbilanz
Winrich Kühne
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Zusammenfassung
Bilder von den blutigen Auseinandersetzungen in Mogadischu sowie über die Hilflosigkeit britischer, französischer und anderer Blauhelme im früheren Jugoslawien haben die Stimmung im Hinblick auf die Vereinten Nationen (VN) Umschlagen lassen. In Politik und Publizistik herrscht die Meinung vor, daß die VN bei dem Versuch, den Einsatz von Blauhelmen in der Ära nach dem Ost-West-Konflikt zu einem schlagkräftigen Instrument der internationalen Friedenssicherung auszubauen, gescheitert seien. Dieses Urteil ist nach Auffassung des Autors vorschnell und undifferenziert. Obwohl Kritik im Detail berechtigt ist, werden die VN zu Unrecht zum internationalen Prügelknaben gemacht. Eine sachliche Bestandsaufnahme der Erfolge und Mißerfolge von VN-Einsätzen ist allerdings dringend geboten. Vier Einsätze der letzten Jahre -nämlich UNAVEM II in Angola, UNTAC in Kambodscha, UNOSOM II in Somalia und UNPROFOR im früheren Jugoslawien -werden unter diesem Gesichtspunkt erörtert. Ihre Betrachtung ergibt, daß die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts unternommene Fortentwicklung des Peacekeeping zwar in Schwierigkeiten, nicht aber grundsätzlich gescheitert ist. Zahlreiche Lehren sind jedoch zu ziehen -dies gilt insbesondere für (1) die Verbesserung der Ausbildung von Blauhelmen, (2) die Bereitstellung von Truppen für VN-Einsätze auf einer zuverlässigen Basis, (3) die mögliche Errichtung einer mehrere tausend Mann starken schnellen VN-Eingreiftruppe, (4) eine funktionsfähige und politisch akzeptable Regelung der politischen und militärischen Kontrolle von Einsätzen sowie (5) Mechanismen für eine gesicherte Finanzierung etc. An einer Fortentwicklung der Blauhelmeinsätze geht angesichts zunehmender ethnischer, religiöser und ähnlicher Konflikte kein Weg vorbei. Blauhelme dürfen nicht mehr als eine exotische Randerscheinung der internationalen Politik betrachtet werden. Sie müssen vielmehr zu einem tragenden Pfeiler der internationalen Friedens-und Sicherheitspolitik weiterentwickelt werden.
I. Einleitung
Bilder über die blutigen Auseinandersetzungen zwischen amerikanischen Soldaten und Anhängern des Clanführers Aidid in Mogadischu sowie über die Hilflosigkeit britischer, französischer und anderer Blauhelme gegenüber den Brutalitäten der serbischen und kroatischen Soldateska haben den Hoffnungen, in eine neue Ära der internationalen Friedenssicherung unter dem Dach der Vereinten Nationen (VN) zu gelangen, einen schweren Rückschlag versetzt. Der amerikanische Kongreß hat Präsident Clinton gezwungen, den Abzug der amerikanischen Truppen für das Frühjahr 1994 anzukündigen. Frankreich, Italien, Belgien und andere westliche Staaten haben einen solchen Schritt schon vorher angekündigt. Nunmehr hat auch die Bundesregierung beschlossen, in Abstimmung mit den Vereinten Nationen die Mission der Bundeswehr in Somalia zum 31. März dieses Jahres zu beenden. Da ihr eigentlicher Auftrag, die Versorgung indischer Truppen, nie relevant wurde, mag man das mit Gelassenheit sehen. Im November vergangenen Jahres war die Zahl der Soldaten bereits reduziert worden.
In Politik und Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, daß die VN offenbar prinzipiell mit ihrem Konzept gescheitert seien, den Einsatz von Blauhelmen zu einem schlagkräftigen Instrument der internationalen Friedenssicherung auszubauen.
Trifft diese Auffassung zu? Oder handelt es sich um ein vorschnelles Urteil? Entsprechende Leitartikel und Kommentare in der veröffentlichten Meinung sind in der Regel zu augenblicksbezogen, als daß man ihnen trauen könnte. In den Bildmedien dominierte eine Berichterstattung mit vornehmlich nach ihrem Sensationswert ausgesuchten Bildern. Und „unterhaltsam“ sind vor allem Bilder über Gewalt, Zerstörung und von Blutvergießen.
Die Politik tut sich mit einer sachlichen Bestandsaufnahme ebenfalls schwer. Die Fehlschläge der VN-Soldaten in Mogadischu zum Beispiel sind begleitet von wahllosen Schuldzuweisungen. Die Clinton-Administration -innenpolitisch in Schwierigkeiten geraten -beschuldigt die VN, Washington in Somalia in eine völlig falsche, viel zu stark militärisch ausgerichtete Strategie hineingezogen zu haben, und vergißt dabei, daß an die Spitze dieser Operation ein pensionierter amerikanischer Admiral, Jonathan Howe, gestellt wurde. Er und seine Berater sind für diese Militarisierung maßgeblich mitverantwortlich. Die Verbindungen zwischen ihnen und den Kommandostellen in den USA waren zu jedem Zeitpunkt eng. Die amerikanische Presse selbst hat das beeindruckend klar nachgewiesen Der französische Verteidigungsminister Löotard seinerseits hat das amerikanische Vorgehen in Somalia heftig kritisiert und für die Schwierigkeiten von UNOSOM II (UN Operation in Somalia) verantwortlich gemacht. Dem war bereits heftige Kritik der Italiener vorausgegangen. Das fatale Vorgehen der italienischen Diplomatie in früheren Phasen der Somalia-Politik blieb dabei allerdings unerwähnt.
In bezug auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist das Bild ähnlich. Zwischen den USA und den Europäern sowie unter den Europäern selbst findet ein heftiges Hin-und Herschieben der Verantwortung für das Scheitern aller Friedensbemühungen statt. Letzter Ausweg bleibt auch in diesem Falle häufig, die VN verantwortlich zu machen, obwohl Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali seinerzeit vor diesem Einsatz ausdrücklich gewarnt hat. Die VN sind in diesem Spiel des Weiterschiebens von Verantwortung der schwächste Partner. Mehr noch:'Eine VN in dem Sinne, wie sie in Öffentlichkeit und Politik behandelt werden, gibt es nicht. In Sachen Friedenssicherung hat die Organisation nur eine geringe eigenständige Handlungskompetenz. Sie ist im wesentlichen das, was die Mitglieder des Sicherheitsrates, vor allem die ständigen Mitglieder (USA, Rußland, China,Großbritannien, Frankreich) beschließen. In den meisten Fällen der Kritik müßte es deswegen richtigerweise heißen: Wir, die führenden Mächte im Sicherheitsrat, haben etwas falsch gemacht; wir, die internationale Öffentlichkeit, haben nicht für die richtige Politik gesorgt Es ist höchste Zeit, daß das „blame game“, wie es ein amerikanischer Kommentator genannt hat, ein Ende findet
Es ist also an der Zeit, eine differenzierte Bestandsaufnahme über Erfolge und Mißerfolge vorzunehmen. Das kann hier nur ansatzweise geschehen, indem vier Einsätze der letzten Jahre, nämlich UNAVEM II (UN Angola Verification Mission) in Angola, UNTAC (UN Transitional Authority for Cambodia) in Kambodscha, UNOSOM II in Somalia und schließlich UNPRO-FOR (UN Protection Forces) im ehemaligen Jugoslawien, genauer betrachtet werden. Insgesamt sind VN-Blauhelme gegenwärtig an siebzehn Krisenpunkten der Welt eingesetzt.
II. Angola -ein „Spareinsatz“ mit blutigen Folgen
Im Mai 1991 gelang es nach jahrelangen Verhandlungen, den Bürgerkrieg in Angola zu beenden. In Portugal wurde von den Bürgerkriegsparteien (MPLA-Regierung -Movimento Populär de Libertagäo de Angola -und UNITA -Uniäo Nacional para a Independencia Total de Angola) das Friedensabkommen von Estoril feierlich unterzeichnet. Der Sicherheitsrat wandelte daraufhin die im Lande bereits präsenten VN-Operationen UNAVEM in UNAVEM II um und stockte ihr Personal von rund 70 Soldaten auf über 400 Militärs und Polizisten auf Sie sollten die Umsetzung des in den vier Protokollen des Abkommens von Estoril festgelegten Friedensprozesses überwachen, der seinen krönenden Abschluß in international überwachten Wahlen finden sollte. Diese wurden auf den 29. und 30. September 1992 festgesetzt.
UNAVEM II stand ganz im Schatten der Euphorie über die Erfolge von UNTAG (UN Transitional Assistance Group) in Namibia und ONUVEN (UN Observer Mission to verify the electoral process in Nicaragua) in Nicaragua. An einer erfolgreichen Durchführung auch dieser Operation wurde deswegen wenig gezweifelt. Eine halbwegs zufriedenstellende Einhaltung des Waffenstillstandes in der Anfangsphase schien diesem Optimismus recht zu geben. Hinweise, daß UNAVEM II im Vergleich zu UNTAG in Namibia personell hoffnungslos unterbesetzt sei, wurden mit dem Argument entkräftet, daß in Angola ein anderes, sehr viel „sparsameres“ Modell verfolgt werde. Denn der Friedensprozeß läge weitgehend in den Händen der Angolaner selbst. Deswegen sei hier viel weniger Personal als in Namibia notwendig. Die führenden Mächte im Sicherheitsrat hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß sie einem „kostspieligen“ Einsatz nicht zustimmen würden.
Der Optimismus war nicht gerechtfertigt. Denn in Angola befanden sich zum Zeitpunkt der Wahl nur 350 VN-Militärs und 400 zivile Wahlbeobachter, obwohl das Land über 12 Mio. Einwohner hat; in Namibia waren es in der Endphase dagegen über 7500 Militärs, Polizisten und zivile Wahlbeobachter bei nur ca. 1, 2 Mio. Einwohnern. In Angola also betrug das Pro-Kopf-Verhältnis zwischen VN-Personal und Bevölkerung 1: 16000; in Namibia dagegen ca. 1: 150. Die Zahlen sprechen für sich.
Unmittelbar nach den Wahlen begann der Absturz UNAVEMs II und Angolas. Er konnte bis heute nicht aufgehalten werden. Als klar wurde, daß nicht Jonas Savimbi, der Führer der UNITA, sondern MPLA-Präsident dos Santos die Mehrheit der Stimmen bekommen würde, verschärften sich die Spannungen in Luanda. Savimbi erklärte, daß er das Wahlergebnis nicht anerkennen werde. Die Wahlen seien nicht frei und fair verlaufen. Er sei um seinen Sieg betrogen worden. In Luanda ging die MPLA mit ihrer para-militärischen Polizei gegen UNITA-Vertreter vor, im ganzen Lande brachen Kämpfe aus. Angola fiel in einen Krieg zurück, der schlimmer war als alles, was das Land zuvor erlebt hatte. Die Präsenz von UNAVEM wurde auf einen Restposten von etwas mehr als 100 Militärbeobachtern, VN-Polizisten und internationalem Zivilpersonal zurückgenommen
Der Fehlschlag von UNAVEM II war nicht zwangsläufig. Die wesentlichen Gründe lassen sich nennen: Der wichtigste ist, daß „Spareinsätze“, also Einsätze mit einem Minimalbestand an Personal, außerordentlich riskant sind. Denn die sichtbare Präsenz von VN-Personal ist ein wichtiger psychologischer Faktor, um die Konfliktparteien zur Mäßigung zu veranlassen und das Vertrauen der Bevölkerung in den Friedensprozeß zu stärken. Diese Wirkung war in Namibia auf eindrucksvolle Weise zu beobachten.
Wichtiger noch aber waren für das Scheitern der Operation wohl zwei weitere Gründe. Erstens waren die VN aufgrund der eklatanten Unterbesetzung von UNAVEM II nur sehr begrenzt in der Lage, gegen Manipulationen, Einschüchterungen etc. in der Phase des Wahlkampfs vorzugehen. Dieser Mangel spielte Savimbis Behauptung in die Hände, daß die Wahlen nicht frei und fair gewesen seien (schon vor den Wahlen hatte er allerdings wiederholt zu verstehen gegeben, daß er jede Wahl, die gegen ihn ausgehen würde, als manipuliert betrachten würde). Zweitens, schlimmer noch: Die im Abkommen von Estoril festgelegte Demobilisierung der Streitkräfte von UNITA und MPLA-Regierung sowie der Aufbau einer neuen, integrierten Armee erfolgten nur ansatzweise. In einem Bericht stellt der Generalsekretär fest, daß Ende Juni 1992, also nur drei Monate vor der Wahl, lediglich 13 Prozent der Regierungstruppen und vier Prozent der Truppen Jonas Savimbis demobilisiert worden seien Dennoch beschloß die Leitung von UNAVEM II, nicht zuletzt aufgrund massiven Drucks seitens der führenden Mächte des Sicherheitsrates, die Wahlen zum angesetzten Zeitpunkt durchzuführen. Das Resultat ist bekannt. Es war für Jonas Savimbi und die MPLA-Regierung ein leichtes, ihre Truppen wieder zu mobilisieren und noch heftiger als zuvor Krieg zu führen. Lehre: Eine VN-Operation, die scheitert, ist unter Umständen schlimmer als keine
Der Einsatz in Angola hat noch ein weiteres Problem an den Tag gebracht, das hier nur angedeutet werden kann: Freie, faire und international überwachte Wahlen zu einem Mehrparteiensystem sind als Modell zur Beendigung eines Bürgerkriegs nicht so unproblematisch, wie das auf den ersten Blick erscheinen mag. In Gesellschaften, die in solchen Wahlen ungeübt und zudem ethnisch stark politisiert und polarisiert sind, besteht eine starke Wahrscheinlichkeit, daß die unterlegene Gruppierung ihre Niederlage als weit mehr als nur eine Wahlniederlage empfindet und deswegen erneut zu den Waffen greift. Das gilt insbesondere dann, wenn -wie in Angola -Demobilisierung und Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien nicht und der Aufbau wichtiger demokratischer Grundeinrichtungen nur in Ansätzen erfolgt sind, die Wahlen also voreilig angesetzt wurden.
ONUSAL (UN Observer Mission in El Salvador) stellt in dieser Hinsicht zweifellos eine interessante Alternative dar. Dort stehen Wahlen erst ganz am Ende eines langwierigen und umfassenden Prozesses internationaler Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte, Restrukturierung der Armee, des Rechtssystems, des Aufbaus einer völlig neuen Polizei, der Reintegration der Ex-Kombattanten in ein ziviles Leben, der Landreform im Rahmen eines National Reconstruction Plan etc. „Der Fall El Salvadors ist“, wie der VN-Generalsekretär zu Recht schreibt, „ein Musterbeispiel dafür, daß die Aufgaben der Friedenskonsolidierung in Ländern, in denen ein langjähriger bewaffneter Konflikt zu Ende geht, durch das gesamte System der VN im Rahmen eines voll integrierten Ansatzes bewältigt werden müssen.“ Das Leiden in Angola hat somalische Ausmaße angenommen. Im Herbst 1993 starben über 1000 Angolaner täglich an den Folgen des Krieges. Dennoch, im Dezember 1993 gibt es einen Hoffnungsschimmer. UNITA und MPLA-Regierung scheinen zum Abschluß eines Waffenstillstandes bereit zu sein. Dieser Durchbruch ist maßgeblich dem VN-Sonderbeauftragten A. Blondin Beye zu verdanken.
III. Kambodscha -mit Glück und Geduld zum Erfolg
UNTAC (UN Transitional Authority for Cambodia) in Kambodscha unterschied sich im Hinblick auf Modell und Personalumfang grundsätzlich vom Einsatz in Angola. Über 20000 VN-Soldaten und zivile Mitarbeiter wurden in das Land geschickt, obwohl es nur eine Bevölkerung von ca. zehn Millionen hat. Im Oktober 1991 war nach jahrelangen Verhandlungen in Paris ein Friedensabkommen abgeschlossen worden, das eine quasi-treuhänderische Übernahme des Landes durch die VN vorsah. Denn anders als bei UNAVEM, deren Angehörige im wesentlichen nur beobachtende Funktionen hatten, lag die Durchführung des Friedensprozesses in Kambodscha weitgehend in den Händen von UNTAC. Ihr Personal hatte nicht nur die Aufgabe, die Demobilisierung und Kasernierung der verschiedenen Streitkräfte sowie die Wahlen zu organisieren. Darüber hinaus wurden für die Souveränität des Landes zentrale Bereiche der direkten Kontrolle UNTACs unterstellt, darunter die auswärtigen Angelegenheiten, nationale Verteidigung, Finanzen und die öffentliche Sicherheit. Insgesamt bestand UNTAC aus sieben verschiedenen Komponenten.
Die Erfolgsaussichten von UNTAC wurden, trotz dieser im Prinzip günstigen Voraussetzungen, überwiegend skeptisch beurteilt. Grund dafür war die bei zahlreichen Experten vorherrschende Ansicht, daß es UNTAC nicht gelingen Würde, die Roten Khmer zu entwaffnen. Diese Voraussage sollte sich als richtig erweisen. Die Roten Khmer entzogen sich jeder Kontrolle durch die VN. Ihre Entwaffnung und Demobilisierung unterblieb. Dazu hätte es eines Kampfeinsatzes der VN im großen Umfang bedurft. Er wurde mehrfach diskutiert, vom Sicherheitsrat aber zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Erwägung gezogen. UNTAC-Mitarbeitern war es in der Regel nicht einmal möglich, die von den Roten Khmer beherrschten Gebiete zu betreten. Zahlreiche Versuche endeten mit ihrer Gefangennahme. Die Freilassung erfolgte häufig erst nach mühsamen Verhandlungen.
Anfang Juni 1993, dem Zeitpunkt der Wahlen in Kambodscha, war die Nervosität entsprechend groß. Die Roten Khmer hatten wenig Zweifel daran gelassen, daß sie die Wahlen nicht nur boykottieren, sondern auch mit Gewaltaktionen stören würden. Die Zahl der Gewaltanschläge stieg in der Phase vor den Wahlen kontinuierlich an. Ihnen waren auch UNTAC-Mitarbeiter zum Opfer gefallen. In den Medien überstürzten sich Kommentare, die das Scheitern der Mission voraussagten. Das Auswärtige Amt wies die deutschen Wahlbeobachter bei ihrer Vorbereitung in Bonn auf die besonderen Risiken dieses Einsatzes hin -zu Recht.
Zur allgemeinen Überraschung kam es ganz anders. Am Wahltag blieben Gewaltakte der Roten Khmer fast völlig aus. Knapp 90 Prozent der kambodschanischen Bevölkerung konnten ihre Stimme abgeben, nicht zuletzt aufgrund der guten Vorbereitungsarbeit der VN. Das Land erhielt -obwohl die Bildung einer neuen Regierung schwierig war und sich mit der in der kambodschanischen Politik bekannten Undurchsichtigkeit vollzog -die Chance zu einem neuen Start. Diese Chance mag verspielt werden. Alte Intrigen, Rivalitäten und korrupte Praktiken treiben ihr Unwesen, und die nicht erfolgte Entwaffnung und Demobilisierung der Roten Khmer sind eine schwere Hypothek. Mehr als die Chance zu einem neuen Start kann die Bevölkerung von einem internationalen Friedenseinsatz aber legitimerweise nicht erwarten.
Warum also war UNTAC -obwohl die Entwaffnung der Roten Khmer nicht erfolgte -im Gegensatz zu UNAVEM II erfolgreich? Insgesamt dürfte ausschlaggebend gewesen sein, daß die Nichtentwaffnung der Roten Khmer durch die im Vergleich zum Angola-Einsatz zahlenmäßig sehr viel größere Präsenz und die weitgehenden Eingriffsmöglichkeiten der VN in alle Aspekte des Friedensprozesses ausgeglichen werden konnte. Letztere blieben allerdings, vor allem im zivilen Bereich, weit hinter dem zurück, was im Friedensvertrag vorgesehen war. Der Erfolg in Kambodscha ist deswegen ein Beispiel auch dafür, daß dem Verlauf von Friedensmissionen immer ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit innewohnt. Auch Blauhelme kommen nicht ohne das gewisse Quentchen Glück aus!
IV. Somalia -ein neues Modell auf Abwegen
Die Einsätze in Namibia, Nicaragua, El Salvador und Kambodscha stellen innerhalb der ersten Generation von Blauhelmeinsätzen eine wesentliche Fortentwicklung dar. Denn sie sind nicht mehr auf die Stillegung von Konflikten durch die Entsendung von Militärbeobachtem begrenzt -UNFICYP (UN Peace-keeping Force in Cyprus) in Zypern ist dafür ein Beispiel -, sondern auf die zügige Lösung von Konflikten durch einen dynamischen und multidimensionalen Ansatz militärischer und nicht-militärischer Elemente ausgerichtet. Der Einstieg in die zweite (man könnte auch sagen dritte) Generation des Peacekeeping erfolgte durch UNOSOM II (UN Operation in Somalia) Dasneue, in der Resolution 814 des Sicherheitsrates vom 26. März 1993 festgelegte Element dieser Ope-ration ist, daß die VN-Truppen autorisiert wurden, zur Durchsetzung ihres Mandats gegebenenfalls auch militärische Gewalt einzusetzen Rechtsgrundlage ist Kap. VII der VN-Charta, das dem Sicherheitsrat erlaubt, militärische und andere Zwangsmaßnahmen gegen diejenigen zu verhängen, die den „internationalen Frieden bedrohen“. Der Resolution 814 war bereits die Resolution 794 vorausgegangen: Sie war die Basis der Operation Recover Hope bzw. UNITAF (Unified Task Force) im Dezember 1992, ausgeführt vor allem von amerikanischen Truppen. UNITAF stellte, wie Boutros-Ghali betont, einen Präzedenzfall in der Geschichte der VN dar. Erstmals beschloß der Sicherheitsrat, „aus ausschließlich humanitären Gründen“ zu intervenieren Die verzweifelte Lage von Millionen Somalis wurde als Bedrohung des Friedens betrachtet. Eine zwischenstaatliche Friedensgefährdung gab es nicht. Über die Fehler, die seit dem Sturz Siad Barrds 1991 in bezug auf Somalia gemacht wurden, ließe sich schon jetzt ein ganzes Buch schreiben. An dieser Stelle müssen einige Anmerkungen genügen. Zuvor soll jedoch an die Gründe für den Einsatz erinnert werden. Im Dezember 1992 war die Zahl der in Somalia an Hunger gestorbenen Menschen auf fast eine halbe Million angestiegen. Die Gefahr, daß ihre Zahl in Kürze die Grenze von einer Million überschreiten würde, galt beim Internationalen Roten Kreuz als so gut wie sicher (Bevölkerung Somalias insgesamt ca. 7 Mio.). Denn die Sicherheitslage hatte sich inzwischen so sehr verschlechtert, daß eine Fortsetzung der humanitären Hilfe praktisch nicht mehr möglich war. Verschiedene Hilfsorganisationen verlangten einen besseren Schutz durch die VN. Außerdem waren zu diesem Zeitpunkt sämtliche internationalen Vermittlungsversuche gescheitert. Die Aussichten, auf diesem Wege weiter voranzukommen, waren gleich Null. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, daß bei diesen Vermittlungsbemühungen schwerwiegende Fehler gemacht wurden. So hat unter anderem die VN-Bürokratie dem von Boutros-Ghali als Sonderbeauftragten eingesetzten algerischen Diplomaten Mohammed Sahnoun unverständlich große Schwierigkeiten gemacht. Sahnoun trat deswegen im November 1992 zurück, obwohl er sich als ein beeindruckend erfolgreicher Vermittler erwiesen und dem Clanführer und „Warlord“ Aidid die Zustimmung zur Anwesenheit von 500 pakistanischen und eventuell weiteren Blauhelmen abgerungen hattet Weitere Zugeständnisse konnte auch er nicht erreichen. Aidid verweigerte strikt die für eine Absicherung der humanitären Hilfe notwendige Bewegungsfreiheit der Blauhelme im Lande sowie eine Erhöhung ihrer Zahl auf über 3000. Die Verhandlungen waren völlig festgefahren.
Im Dezember 1992 stand die internationale Gemeinschaft also vor einer äußerst schwierigen Wahl -nämlich sich entweder aus Somalia zurückzuziehen und Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen ihrem Schicksal zu überlassen oder durch eine militärische Absicherung der humanitären Aktionen und erneute Vermittlungsversuche diesem tragischen Verlauf eine Wende zu geben. Die Entscheidung fiel für letzteres. Der Vorwurf Boutros-Ghalis, daß der Westen sich nur um die Kriege der „Reichen im Norden“ kümmern würde, d. h. um die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien, fand vor allem in Washington Resonanz. Die amerikanische Öffentlichkeit verlangte angesichts der Schreckensbilder aus Somalia Taten. Von Anfang an war klar, daß dieser Einsatz, der in seinem militärischen Teil nur wenig auf die Erfahrungen früherer Einsätze zurückgreifen konnte, kein Spaziergang werden würde.
Schnell, viel zu schnell sind viele Stimmen in Politik und Öffentlichkeit zu dem Urteil gelangt, daß UNOSOM II gescheitert sei. Das ist zumindest voreilig. Eindrucksvoll ist immerhin, daß im ganz überwiegenden Teil des Landes die Gewaltakte in wenigen Monaten auf ein Minimum zurückgegangen waren und der Hunger beendet wurde. Die in ihren längerfristigen Auswirkungen gefährliche Nahrungsmittelhilfe (was häufig vergessen wird) konnte weitgehend eingestellt werden. Die Landbevölkerung konnte aufgrund der besseren Sicherheitslage wieder selbst für die Nahrungsmittel sorgen. Unzutreffend ist auch der gängige Vorwurf, die VN hätten sich keine Vorstellungen darüber gemacht, wie das Land zu befrieden sei. Diejenigen, die das behaupten, haben versäumt, die Resolution 814 des Sicherheitsrates und den dazugehörigen Bericht S/25354 des Generalsekretärs vom 3. März 1993 zu lesen. Man mag nicht mit jedem Punkt in diesem Bericht übereinstimmen. Eindeutig ergibt sich aus ihm jedoch der Plan, parallel zur Beendigung des Hungers und der Entwaffnung der Konfliktparteien schrittweise wieder ein funktionierendes Politik-, Verwaltungs-und Rechtssystem aufzubauen, angefangen auf der lokalen über die Bezirksebene bis schließlich hin zur nationalen Ebene. Beim Wiederaufbau der lokalen und regionalen Selbstverwaltungsstrukturen wurden Anfangserfolge erzielt. UNICEF, das World Food Programme (WFP) und private Hilfsorganisationen machten möglich, daß über 40000 Kinder ihren Schulbesuch wiederaufnehmen konnten. Der Generalsekretär und vereinzelt auch die Zeitungen haben darüber berichtet Bildmedien jedoch sind an einer Darstellung dieser Erfolge wenig interessiert; das trifft auch für die vielfältigen Hilfsmaßnahmen seitens der Bundeswehr zu.
Auf ein völlig schiefes Gleis ist jedoch der militärische Einsatz in Mogadischu geraten. In einer umfassenden Studie zu diesem Thema wurde bereits früher darauf hingewiesen, daß es bei dem erweiterten, mit Elementen der militärischen Durchsetzung angereicherten Peacekeeping eine der Hauptanforderungen an Militärs und Politik sein würde, grundlegend umzulernen und nicht einseitig in den traditionellen Kategorien Krieg und Frieden, Freund und Feind, militärisch und nichtmilitärisch zu denken Es geht eben nicht um Sieg, sondern um die Aufrechterhaltung des Friedens-und Verhandlungsprozesses. Das muß, anders als bei Kriegsführung, mit einem Minimum an Verlusten nicht nur bei den eigenen Truppen, sondern auch bei den Konfliktparteien und ihren Anhängern geschehen. Sie sollen nicht vernichtet, sondern zur Rückkehr an den Verhandlungstisch und zur Einhaltung des Mandats bewegt werden.
Der US-Sonderbeauftragte Robert Oakley ist bei der Operation Recover Hope im Dezember 1992 in diesem Sinne vorgegangen. Dem Einsatz der amerikanischen Truppen gingen Besuche bei und intensive Gespräche mit allen maßgeblichen Clanführem voraus. Der ihm nachfolgende amerikani-sehe VN-Sonderbeauftragte Admiral a. D. Howe jedoch schlug alle Ratschläge, ebenfalls entsprechend vorzugehen, in den Wind. Er vermied, ja verweigerte sogar ausdrücklich einen Dialog mit Aidid. Statt dessen stilisierte er ihn einseitig zum Verbrecher und Aggressor (was unter somalischen Bedingungen ein relativer Begriff ist) und begann -wie im Falle Saddam Husseins -gegen ihn einen persönlichen Krieg zu führen. Die Aussetzung einer Kopfprämie von 25 000 US-Dollar für die Ergreifung Aidids und der Einsatz der US-Rangers in einem für sie kulturell und sprachlich völlig fremden Umfeld trieben dieses Vorgehen ins Absurde. Für den cleveren und machthungrigen Aidid war es daher ein leichtes, den VN einen Kleinkrieg aufzuzwingen und seinen Clan hinter sich zu solidarisieren.
Der Amerikaner Tom Farer, zeitweise Berater von UNOSOM II und dann vom Sicherheitsrat mit der Untersuchung des Mordes an über 20 pakistanischen Blauhelmen durch Anhänger Aidids beauftragt, hat sich -wie andere Stimmen in Washington -in diesem Sinne sehr kritisch über das Vorgehen Howes geäußert und damit wohl zum Schwenk der amerikanischen Somalia-Politik im Oktober 1993 beigetragen Robert Oakley wurde erneut als US-Sonderbotschäfter des Weißen Hauses nach Mogadischu geschickt. Eine Abberufung Howes als VN-Sonderbotschafter erfolgte jedoch nicht. Ende Oktober 1993 erklärte Boutros-Ghali vor dem Sicherheitsrat, daß die VN bezüglich ihres Vorgehens in Somalia und anderen Krisengebieten eine „Neuorientierung“ suchten nach dem Grundsatz, Frieden zu bewahren und ihn nicht zu erzwingen. Unausgesprochen liegt darin wohl auch das Eingeständnis, daß er für das Debakel in Mogadischu mitverantwortlich ist. Statt Howe zu bremsen, hat er ihn in seinem Vorgehen bestärkt. Boutros-Ghali ist für seine persönliche Abneigung gegenüber Aidid bekannt. Stimmen aus der vielgescholtenen VN-Bürokratie, die vor einem einseitigen Vorgehen gewarnt hatten, schenkte er kein Gehör. Boutos-Ghali und Howe beziehungsweise die betreffenden amerikanischen Stellen müssen sich die Verantwortung für das Debakel in Süd-Mogadischu teilen.
Die Entwaffnung der Clans und Banden wird ein Hauptproblem der Friedenssicherung in Somalia bleiben. Zumindest bei dem gegenwärtigen Ausmaß der Bewaffnung kann man sich kaum vorstellen, daß die verschiedenen Ansätze im Bereich der politischen Konsolidierung des Landes Bestand haben werden. Nachträglich kann man sogar spe-kulieren, ob eine energische Entwaffnung gleich zu Beginn, also während des Einsatzes von UNITAF, nicht besser gewesen wäre. Boutros-Ghali hatte das gefordert. Denn zu diesem Zeitpunkt war der Schrecken des Hungers und der sinnlosen Gewaltausübung noch voll im Bewußtsein der somalischen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit. Das Verständnis für ein energisches Vorgehen wäre deswegen größer gewesen als Monate später. Außerdem war die militärische Präsenz der amerikanischen Truppen mit fast 30 000 Mann übermächtig und die Gefahr von Gegenwehr geringer. Völlig ohne Blutvergießen wäre eine Entwaffnung aber auch zu diesem Zeitpunkt wohl nicht abgegangen.
Die amerikanische Führung wollte Verluste bei ihren Truppen -wer könnte ihr das gerade von deutscher Seite verdenken -weitestmöglich vermeiden. Oakley und seine Mitarbeiter schlossen deswegen, wie die Truppen anderer Länder auch, mit Aidid und seinen Milizen eine Art Stillhalteabkommen ab. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Die Verluste kamen später auf bittere Weise und vielleicht höher als bei einem energischen Vorgehen am Anfang. In einem Punkt trifft der Vorwurf der mangelnden Vorausplanung des Einsatzes aber zu: Eine ausreichend klare Vorstellung, wie die Entwaffnung ohne größeres Blutvergießen durchzuführen sei, gab es nicht.
Die Liste der Fehler und Schwierigkeiten, die im militärischen wie auch im nichtmilitärischen Bereich des VN-Einsatzes offenbar geworden sind, ließe sich fortsetzen. African Rights, eine Menschenrechtsorganisation, hat zahlreiche Übergriffe durch VN-Soldaten gerügt, die nicht aufgeklärt worden seien Auch der Rechtsstatus von Einheimischen, die von den VN verhaftet wurden, ist ungeklärt. Für beides bedarf es wohl der Einrichtung eines Verfahrens beziehungsweise einer unabhängigen Appellationsinstanz oder eines Ombudsmanns, um der Bevölkerung das Gefühl zu nehmen, den VN-Truppen wie einer Besatzungsarmee ausgeliefert zu sein. Der Vorwurf der „Rekolonisierung“ durch die VN fällt sonst auf allzu fruchtbaren Boden. Auf die Liste der Fehler gehört natürlich auch die Tatsache, daß die über 4 000 indischen Soldaten, für deren Nachschub die beiden Bundeswehrbataillone in Seiet Huen sorgen sollten, dort nie erschienen. Wer auch immer für diese Fehlorganisation im einzelnen verantwortlich zu machen ist: Sie verweist auf die grundsätzlichen organisatorischen Schwierigkeiten, die nach wie vor zwischen der VN-Bürokratie und den VN-Staaten im Hinblick auf die zügige Bereitstellung und den abgestimmten Einsatz von Truppen bestehen.
In der Mehrzahl sind die Fehler in Somalia jedoch darauf zurückzuführen, daß es sich um eine Einsatzform handelt, für die vielen Offizieren und Soldaten die entsprechende Ausbildung fehlt. Gemeint ist damit nicht nur eine entsprechende technische Vorbereitung, sondern auch die systematische Umstellung auf eine Einsatzform, die eben nicht mit der traditionellen Militärmentalität durchgeführt werden darf. Außenminister Kinkel hat bei seiner Rede vor der Generalversammlung der VN im Herbst 1993 die Notwendigkeit einer besser organisierten und koordinierten Ausbildung und Vorbereitung von VN-Truppen mit Recht zu einem vorrangigen Punkt gemacht: „Die spezifischen Aufgaben der Friedenserhaltung erfordern eine völlig neue Ausbildung. Die nationale Vorbereitung der Blauhelme auf ihre Einsätze sollte von den VN stärker koordiniert werden. Dazu bedarf es gemeinsamer Ausbildungsrichtlinien. Die VN sollten auch eine eigene Ausbildungskapazität aufbauen.“ Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß die im NACC (North Atlantic Cooperation Council) zusammengefaßten Staaten des früheren Warschauer Pakts und die NATO die Ausarbeitung gemeinsamer Grundprinzipien und Ausbildungsleitlinien zum wichtigsten Punkt ihrer neuen sicherheitspolitischen Kooperation gemacht haben. Es wäre gut, wenn sie das im engen Zusammengang mit entsprechenden Bemühungen in den VN täten.
Die Zukunft Somalias jedoch sieht düster aus. Als ein besonderes Ärgernis muß gewertet werden, daß der überhastete Abzug der Truppen der USA und anderer Staaten aller Voraussicht nach nicht das Ende einer Kette von Fehlem ist, sondern nur der nächstfolgende, möglicherweise sogar der schlimmste von allen. Beim Somalia-Einsatz sind die Bildmedien mit ihrem wenige Abende, bestenfalls wenige Wochen andauernden Unterhaltungsinteresse und die insbesondere in der amerikanischen Politik bestehende Neigung zum „quick fix“ eine unheilige Allianz eingegangen. Konflikte wie der in Somalia, in Kambodscha, die auf dem Balkan, in Angola etc. benötigen für ihre Lösung einen langen Atem. Das ist in der Literatur und der Praxis eine hinreichend bekannte Tatsache, weniger jedoch bei den die Politik beeinflussenden Medien. Es ist kaum vorstellbar, daß in Somalia bis Anfang Frühjahr 1994 ein Aufbau der Strukturen gelingt, der aus sich heraus stabil ist. Im Dezember 1993 scheiterte in Addis Abeba ein weiterer Versuch des äthiopischen Präsidenten, der VN, der Amerikaner und anderer Akteure, zwischen Aidid und zwölf Bürgerkriegsparteien unter der Führung seines Gegenspielers Ali Mahdi Mohammed zu vermitteln. Die Angola-Variante, also der Rückfall in einen noch schlimmeren Bürgerkrieg als vorher, ist wahrscheinlicher. Obwohl seit der Wiederaufnahme der Vermittlungsbemühungen durch Oakley in Mogadischu eine gewisse Beruhigung eingetreten ist, gibt es klare Anzeichen, daß sich die Clans auf die Zeit danach bereits jetzt militärisch einrichten. Die VN dagegen hat mit ihren verzweifelten Bemühungen, Ersatz für die westlichen Truppen zu finden, nur wenig Erfolg (immerhin werden die Belgier im südlichen Soma-lia von indischen Einheiten ersetzt). Damit haben auch an sich kluge Überlegungen in den VN, das Schwergewicht des Einsatzes aus Mogadischu in die Regionen zu verlegen, die einen ernsthaften Friedenswillen zeigen, nur geringe Erfolgschancen. Ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges ist wahrscheinlicher. Die humanitäre Hilfe wird dann erneut ihre vergeblichen Versuche aufnehmen, das Unheil abzuwenden. Erreichen wird sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Denn sie wird denjenigen, die im Besitz der Waffen und Macht sind, beträchtlichen Tribut entrichten müssen. Das wiederum macht die Fortführung des Kampfes möglich und lohnend. Offenbar ein Teufelskreis: Je umfangreicher die humanitäre Hilfe ist, desto länger dauern die Kämpfe.
Wie wird die Weltöffentlichkeit auf erneute Bilder des Hungers und der Gewalt aus Somalia reagieren? Oder wird es sie gar nicht mehr geben, weil der weitere Niedergang dieses Landes als Nachrichtenstory nicht mehr interessant ist und das Fernsehen seine Kamera auf andere Spektakel der Weltpolitik gerichtet hat?
V. Bosnien-Herzegowina -zu groß für Blauhelmeinsätze?
Die Tatsache, daß UNPROFOR (UN Protection Forces) im Hinblick auf eine Eindämmung -gar nicht zu reden von einer Beendigung -des Alptraums auf dem Balkan erfolglos geblieben ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Diese Einschätzung schmälert jedoch nicht die Erfolge und die Courage, die verschiedene VN-Einheiten bei der Absicherung humanitärer Transporte und dem Schutz der Zivilbevölkerung geleistet haben.
Zu Bosnien wurde mehr noch als zu Somalia eine Flut von Artikeln geschrieben, die sich damit beschäftigten, was alles falsch gemacht wurde. Ein einheitliches Bild oder gar eine relativ klare Analyse, wie sie im palle Somalias möglich ist, ergibt sich jedoch nicht. So wurde zeitweise heftig darüber gestritten, ob eine frühere Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens die Ausweitung der Gewalt hätte verhindern können oder nicht. Intensität und Dynamik des im ehemaligen Jugoslawien angestauten Konfliktpotentials waren Ende der achtziger Jahre jedoch so groß, daß auf dieser Ebene des Völkerrechts und der Diplomatie wohl nur noch wenig zu retten war. Der Streit stellt in weiten Teilen eine Ersatzhandlung dar und verdeckt die Tatsache, daß Europäer und Amerikaner gleichermaßen nicht die Kosten und Risiken eines energischen Vorgehens eingehen wollten. Der mangelnde Handlungswille beziehungsweise der Mangel an Handlungsmöglichkeiten mit überschaubaren Risiken, nicht aber die frühere oder spätere Anerkennung, sind das Problem. Der Sicherheitsrat war nicht gut beraten, diese Tatsache mit einer Inflation von inzwischen über 40 Resolutionen zu überspielen. Das hat dem Ansehen der VN geschadet, denn gemäß Art. 14 der VN-Satzung soll der Sicherheitsrat, im Unterschied zur Generalversammlung, „schnell“ und „wirksam“ handeln.
Umstritten ist die Auffassung, daß alles viel besser verlaufen wäre, wenn schon früher eingegriffen worden wäre, spätestens 1989 oder 1990. Diese Feststellung ist im Zweifel immer richtig. Präventive Diplomatie und Konfliktverhütung sind populäre Themen. Auch in der Publizistik -ähnlich wie in der Politik -kommen die meisten Beiträge aber nur im Nachhinein zur Einsicht, daß man bei diesem oder jenem Konflikt hätte früher eingreifen müssen. Die Zahl der Artikel, die im voraus und rechtzeitig gesagt haben, an welchen Plätzen wie und wann hätte gehandelt werden sollen, ist gering Recht unwahrscheinlich ist schließlich die Annahme, daß der Krieg um Bosnien zu irgendeinem Zeitpunkt allein durch Wirtschaftssanktionen zu bändigen gewesen wäre. Eine der ernüchternden Lektionen der Geschichte des Konfliktmanagements der letzten Jahrzehnte ist, daß deren Wirksamkeit weit geringer ist, als vielfach angenommen wird. Die Sanktionen wirken nur längerfristig. Die Intransigenz, die selbst Diktatoren so kleiner und schwacher Länder wie Haiti (und seinerzeit Panama unter Noriega) ihnen gegenüber zeigen, ist bezeichnend. Warum auch sollten derartige Diktatoren oder Führer in ethnisch-religiösen Konflikten, die -wie in Bosnien, Somalia oder Haiti -bereit sind, für ihre Ziele notfalls ein ganzes Land und seine Bevölkerung mit in den Abgrund zu ziehen, durch wirtschaftliche oder ähnliche Sanktionen besonders beeindruckbar sein? Deren Auswirkungen sind zumindest kurz-und mittelfristig vergleichsweise harmlos, selbst wenn sie energisch durchgeführt werden. Sie helfen Menschen, deren Leben hier und jetzt bedroht ist oder die mit Vergewaltigung, Vertreibung und anderen Brutalitäten zu rechnen haben, wenig.
Aussicht auf Erfolg hätte also vermutlich nur eine Kombination von diplomatischen Maßnahmen, Androhung und gegebenenfalls Durchführung von Wirtschaftssanktionen sowie ein frühes preventive diployment von einigen tausend Blauhelmen in der Frühphase eines Konflikts, um genau dieses Umkippen in eine irrationale Dynamik von Gewalt und Blutvergießen zu verhindern. Denn wenn einmal Blut geflossen ist, entwickeln insbesondere ethnische und religiöse Konflikte eine Dynamik, die kaum noch zu kontrollieren ist.
Ein solches preventive deployment, wie es Boutros-Ghali in seiner Agenda für den Frieden vom Juni 1992 zu einem wichtigen Programmpunkt gemacht hat, wäre wegen der Quantität und Qualität der Bewaffnung der Konfliktparteien auf dem Balkan -bekanntlich verfügte das ehemalige Jugoslawien über eine der größten Streitkräfte in Europa -nur zu vertreten gewesen, wenn zugleich eine weitere grundsätzliche Entscheidung gefallen wäre: nämlich eine größere, hunderttausend Mann übersteigende internationale Streitmacht bereitzustellen, um den Einsatz der Blauhelme abzusichern. Zur Entsendung einer solchen internationalen Streitmacht konnte man sich bis heute nicht durchringen. Zu dem Zeitpunkt jedoch, an dem der Einsatz der ersten Blauhelme im Rahmen von UNPRO-FOR schließlich erfolgte, war bereits klar: Mit den Mitteln des traditionellen Peacekeeping allein würde sich der Konflikt in Bosnien nicht mehr bändigen lassen. Die VN und Boutros-Ghali haben sich dementsprechend gegen einen solchen Einsatz gewehrt. Der Sicherheitsrat beschloß ihn dennoch. In der Praxis ist UNPROFOR, obwohl ihr(e) Mandat(e) die Anwendung militärischer Gewalt zugelassen hätte(n), nie über das traditionelle Peacekeeping hinausgegangen. Die Kommandanten von UNPROFOR vor Ort ebenso wie die Regierungen der Entsenderstaaten wissen sehr wohl, daß ein energisches Vorgehen für ihre Truppen militärisch mit unkalkulierbaren Risiken verbunden ist. Denn anders als in Somalia sind ihre Einheiten den lokalen Kräften militärisch zumeist unterlegen. Handlungsfähig würden sie nur durch eine massive militärische Absicherung (siehe oben).
Es ist also vor allem die militärische Lage, die erklärt, warum der Einsatz von UNPROFOR so erfolglos geblieben ist und ihre Einheiten in vielen Fällen auf eine für das Ansehen der VN gefährliche Weise zum Spielball der Konfliktparteien geworden sind. Zugleich ist bei UNPROFOR -ähnlich wie bei UNOSOM II -zu beklagen, daß nur die Einheiten weniger Staaten in bezug auf Ausbildung und Ausrüstung den hohen Anforderungen gewachsen sind, die das moderne Peacekeeping stellt. Die Schwierigkeiten und Entgleisungen ukrainischer, nigerianischer und sogar französischer Soldaten gingen durch die Presse. Für die Zukunft wirft das ein schwieriges Problem auf. Peacekeeping sollte im Sinne seiner universalen Überzeugungskraft und Legitimität eine Angelegenheit möglichst vieler Staaten sein. De facto verfügen jedoch kaum mehr als ein Dutzend Staaten über entsprechende Streitkräfte. Nur wenige Länder aus der Dritten Welt sind dabei. Blauhelmeinsätze dürfen jedoch nicht einseitig eine Angelegenheit des Nordens werden. Dessen Unterstüzung für die Ausbildung der Streitkräfte von Entwicklungsländern für Peacekeeping-Einsätze sollte deswegen ein wichtiger Programmpunkt sein.
Insgesamt erscheint eine Schlußfolgerung wohl zwangsläufig: Konflikte, wie die im ehemaligen Jugoslawien, lassen sich allein mit Mitteln des Peacekeeping -sei es das traditionelle oder in seiner erweiterten, robusten Form -kaum bewältigen. Diese Konflikte sind militärisch eine Nummer zu groß. Die Unterstützung der Blauhelme in Bosnien und den umliegenden Gebieten wirft vielmehr weitergehende Fragen wie die des Einsatzes von strategischen Luft-, Land-und Seestreitkräften im Rahmen eines fortentwickelten europäischen kollektiven Sicherheitssystems beziehungsweise einer engen sicherheitspolitischen Kooperation auf. Auf die entsprechenden Diskussionen in der NATO, im NATO-Kooperationsrat, in der KSZE und der WEU wird verwiesen. Immerhin ist zu verzeichnen, daß die von der NATO angebotene und vom Sicherheitsrat beschlossene Luftunterstützung positive Wirkungen zeitigt. In mehreren Fällen, in denen NATO-Kampfflugzeuge auf Anforderung von Blauhelmeinheiten am Boden durch Tiefflüge Einsatzbereitschaft demonstrierten, haben sich serbische und kroatische Einheiten nachgiebig gezeigt. Insgesamt stehen die Blauhelme im früheren Jugoslawien weiter auf verlorenem Posten.
Ein wichtiger Punkt bei der Diskussion der europäischen Sicherheitsarchitektur wird bleiben, wie die Aktivitäten der NATO, KSZE etc. mit denen der VN zu vernetzen sind. Die Europäer wären schlecht beraten, die Bedeutung der VN auch für die Friedenssicherung in Europa zu unterschätzen. Denn nur die VN und insbesondere der Sicherheitsrat haben die Autorität und Macht, friedenssichernden Einsätzen die für ihre lokale und internationale Akzeptanz so wichtige universale Legitimität zu verleihen. Immerhin hat die NATO ihre Vorbereitungen für einen eventuellen Einsatz von bis zu 50 000 Mann in Bosnien in einem relativ engen Dialog mit den VN in New York vorangetrieben.
Gegenwärtig jedoch ist ein Friedensplan, den die führenden Mächte zur Vorbedingung für einen solchen Einsatz gemacht haben, nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Verhandlungen sind zusammengebrochen. Bosnien bleibt die offene Wunde Euro-pas. Dem Land steht ein tragischer Winter bevor. Das Fernsehen wird reich an Schreckensbildern, die Politik arm an tragfähigen Konzepten zur Abwendung dieser Tragödie sein. Die deutsch-französische Initiative, den Serben Zugeständnisse im Hinblick auf die Sicherheit und Bewegungsfreiheit von humanitären Transporten durch das Aussetzen von Wirtschaftssanktionen abzutrotzen, ist nur ein kleiner Hoffnungsschimmer.
VI. Schlußfolgerungen
Eine Gesamtbetrachtung der in diesem Beitrag behandelten Einsätze der VN jüngeren Datums ergibt ein anderes Bild, als es gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit vorherrscht. Die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts unternommene Fortentwicklung der VN-Friedenseinsätze ist zwar in Schwierigkeiten; sie ist aber nicht grundsätzlich gescheitert. An der Fortentwicklung des Peacekeeping führt angesichts zunehmender ethnischer, religiöser und ähnlicher Konflikte kein Weg vorbei.
Zahlreiche Lehren sind jedoch zu ziehen -dies betrifft insbesondere (1) die Verbesserung der Ausbildung, (2) die Bereitstellung von Truppen für VN-Einsätze auf einer zuverlässigen Basis, (3) die mögliche Errichtung einer mehrere tausend Mann starken VN-Truppe, wie sie einer der Väter des Peacekeeping, Sir Brian Urquhart, vorgeschlagen hat, (4) eine funktionsfähige und politisch akzeptable Regelung der politischen und militärischen Kontrolle von VN-Einsätzen zwischen dem Sekretariat des Generalsekretärs in New York und den jeweils ausführenden Akteuren, (5) Mechanismen für eine gesicherte Finanzierung sowie (6) die Rolle der regionalen Sicherheitseinrichtungen. Dem Verhältnis zwischen NATO, NATO-Kooperationsrat, KSZE und VN kommt insoweit besonders große Bedeutung zu.
Demgegenüber sollte jedoch nicht vergessen werden, daß es in außereuropäischen Regionen ebenfalls interessante und wichtige Fortschritte bei der regionalen Friedenssicherung gibt. Die GAS (Organisation Amerikanischer Staaten) hat bei der Friedenssicherung vor allem in Zentralamerika Beachtliches geleistet und sich dabei zunehmend enger mit den VN abgestimmt. Den Westafrikanern scheint mit dem Einsatz ihrer zeitweilig auf 17 000 Mann angewachsenen Peacekeeping-Streitmacht ECOMOG (Economic Community of West Sahara States Monitoring Group) in Liberia nach zahlreichen Rückschlägen ein Erfolg beschieden zu sein, auf den sie -gerade im Vergleich zum europäischen Scheitern in Bosnien -stolz sein können. Das sollte die Staaten im Norden nachdenklich machen.
Winrich Kühne, Dr. jur., geb. 1944; Studium der Rechtswissenschaft und Politik an den Universitäten in Kiel, München und Mexico City; seit 1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Ebenhausen bei München; Mitglied der Leitung; Gastprofessor am Bologna Center der John Hopkins University, School of Advanced International Studies (SAIS). Veröffentlichungen u. a.: Die Politik der Sowjetunion in Afrika, Baden-Baden 1983; Südafrika und seine Nachbarn: Durchbruch zum Frieden?, Baden-Baden 1985; Blauhelme in einer turbulenten Welt -Beiträge internationaler Experten zur Fortentwicklung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen, Baden-Baden 1993.
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