Es mangelte nicht an Analysen, an Schuldsuche und Prognosen, als die Grünen am 2. Dezember 1990 von den Wählern aus dem Bundestag zwangs-verabschiedet wurden. Joschka Fischer, der in diesen jammervollen Tagen nicht nur an das Nächst-hegende dachte -die bevorstehende hessische Landtagswahl -, konnte sich ein Comeback in vier Jahren nur mit einer „völlig neuen Partei“ vorstellen.
Die Partei trägt heute einen neuen Namen: Bündnis 90/Die Grünen. Ansonsten hielt sich der Reformeifer in Grenzen. In aller Stille haben die Dezember 1990 von den Wählern aus dem Bundestag zwangs-verabschiedet wurden. Joschka Fischer, der in diesen jammervollen Tagen nicht nur an das Nächst-hegende dachte -die bevorstehende hessische Landtagswahl -, konnte sich ein Comeback in vier Jahren nur mit einer „völlig neuen Partei“ vorstellen.
Die Partei trägt heute einen neuen Namen: Bündnis 90/Die Grünen. Ansonsten hielt sich der Reformeifer in Grenzen. In aller Stille haben die Grünen ihre Kleider etwas gelüftet, schöne Wahl-erfolge in die Scheuer gefahren, in den Ländern das Regieren geübt, das Bündnis mit dem Bündnis 90 geschlossen. Doch ganz Boshafte könnten durchaus behaupten, daß die Partei mit dem amtlichen Kürzel „Grün“ 1 weniger den eigenen Taten, als denjenigen anderer die guten Aussichten auf eine ordentliche Fraktion im nächsten Bundestag verdankt.
Der Austritt der Radikalökologin Jutta Ditfurth, Ex-Bundessprecherin und Medienattraktion, beendete den grünen Dauerkonflikt. Der linke Fundamentalismus, das Denken in schroffen Alternativen und die Frontstellung zum Rechtsstaat Bundesrepublik und zur parlamentarischen Demokratie hat die letzte Protagonistin bei den Grünen verloren. Die Partei, nach Jahren häßlicher Flügelkämpfe ist das nicht ganz unwichtig, macht seither einen besseren Eindruck.
Oskar Lafontaine, der liebste Feind aller Grünen, hatte der Öko-Partei im Bundestagswahlkampf 1990 rund 600000 Stimmen abgejagt. Er mußte trotzdem eine Wahlniederlage einstecken und machte danach nicht nur für neue sozialdemokratische Kanzlerkandidaten Platz. Neben Engholm, erst recht neben dem neuen Parteivorsitzenden Rudolf Scharping, haben die Grünen mehr Spielraum, jedenfalls als Oppositionspartei.
Und die Altparteien im Bundestag frustrierten das Wahlvolk anhaltend. Während das Regierungslager und die sozialdemokratische Opposition die allgemeine Politikverdrossenheit bei (fast) jeder Wahl zu spüren bekommen, scheinen die Grünen gegen das Risiko gefeit, in diesen Sog zu geraten. Die Wahlforscher sehen sie nach dem Tief der Wahl von 1990 komfortabel über fünf Prozent, neuerdings blitzt in den Prognosen sogar eine mögliche Mehrheit für Rot-Grün auf.
Vielleicht liegt das einfach daran, daß die Fehler und Unzulänglichkeiten der Grünen im öffentlichen Bewußtsein so wenig wahrgenommen werden wie die Partei selbst. Denn wann, wenn nicht gerade gewählt oder über Koalitionen verhandelt wird, und mit welchen Themen ist diese Partei für das große Publikum eigentlich präsent?
Die Arbeit der acht ostdeutschen Abgeordneten des Bündnis 90 kann das politische Potential der früheren Bundestagsfraktion nicht aufwiegen. Wer im Parlament so schwach vertreten ist, kann die Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung nur noch schlecht bedienen und kommt zu kurz. Diese zutreffenden Befunde werden gern herangezogen, um beunruhigende Fragen zu verdrängen: Was wollen die neuen, die gesamtdeutschen Grünen denn eigentlich? Welche spezifischen politischen Beiträge kommen von ihnen in den neunziger Jahren, deren Agenda so ganz anders aussieht als die der späten achtziger?
Drei Jahre nach dem Debakel vom Dezember 1990 und weniger als ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl hat sich die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ für das Superwahljahr passabel hergerichtet. Die „hausgemachten“ Gründe für die Niederlage sind bearbeitet. Doch ganz kräftig haben die grünen Akteure ihre Augen vor den allgemeinen Entwicklungen verschlossen, auf die die Niederlage von 1990 wie ein Menetekel hingewiesen hat 2. Ob die Grünen die Krise als Chance annehmen oder der Wucht von Massenarbeitslosigkeit, Sparzwang und Sozialabbau nur die Opposition entgegenstellen können, diese Diskussion hat erst ganz zaghaft begonnen. So bleibt ein geringes Restrisiko, ob am Wahlsonntag mehr als fünf Prozent der Wählerinnen und Wähler den Grünen eine wichtige Rolle in der Bundespolitik beimessen wollen.
I. Mit Anstand gesamtdeutsch
Als im Mai 1993 der erste ordentliche Parteitag der neuen Organisation Bündnis 90/Die Grünen in Leipzig stattfand, galten die westdeutschen Alternativen und die ostdeutschen Bürgerrechtler im öffentlichen Bewußtsein schon längst als eine Partei. Doch am Ende hat sich ausgezahlt, daß die beiden Organisationen sich soviel Zeit für diesen Prozeß genommen haben. Es bleibt bemerkenswert, daß ausgerechnet den Einheitsskeptikern des Jahres 1990 glückte, worin alle anderen Parteien gründlich versagt haben: Sie wurden mit Anstand gesamtdeutsch.
Die großen Hoffnungen mußten im Lauf der mehrjährigen Prozedur den praktischen Zwängen allerdings weichen. Das Zusammengehen mit den Bürgerrechtlern aus dem Osten hat keine „neue“ Partei entstehen lassen, die sich im politischen Spektrum der Bundesrepublik anders einordnen ließe als die alten Grünen. Während die Bürgerbewegten aus dem Bündnis 90 sich jenseits von rechts und links sehen, wird die neuentstandene Organisation dem linken Spektrum zugerechnet wie die alte grüne Partei seit eh und je. Zu einem neuen Profil hat sich „das Erbe der 68er der alten Bundesrepublik“ und der „Erfahrungsanspruch antitotalitären Widerstandes“ nicht gefügt.
Denn zusammengeschlossen haben sich hier Menschen, die sich nach 1990 eher mit Enttäuschungen und Selbsttäuschungen abzufinden hatten, als zum großen Wurf in die Zukunft auszuholen. „Ich weiß, Bruder, ich hatte die besseren Karten gezogen. Amis, BRD, Demokratie, Wirtschaftswunder, Freiheit. Ich hätte gern mit dir geteilt, alles geteilt und werde gern mit dir teilen. Aber muß es denn gleich wieder Deutschland einig Vaterland sein?“ fragte Joschka Fischer kurz vor dem 3. Oktober 1990. Ein knappes Jahr später, im September 1991, schlossen sich die wichtigsten Bürgerrechtsinitiativen der Ex-DDR zur parteiförmigen Organisation Bündnis 90 zusammen. Mit Deutschland hatten auch die Revolutionäre von 1989 ihre Schwierigkeiten. Ihre Bereitschaft, hinter sich zu lassen, was sich als Illusion erwiesen hatte, war allerdings erheblich größer als bei vielen Grünen. Der Bundestagsabgeordnete Werner Schulz warb vor den Versammelten für einen realistischen Blick auf die Entwicklung: „Vielleicht hätten wir allein in der DDR die Demokratie aufbauen können. Aber die Wirtschaft allein sanieren, das hätten die Bürgerbewegungen nicht gekonnt. Eine Alternative, die keine war, ist zerbrochen.“ Die Bürgerbewegten wurden Partei, schließlich Teil einer ursprünglich westdeutschen.
Die Enttäuschungen der Ostdeutschen waren andere als die der Westdeutschen, und die Positionen in der gesamtdeutschen Gegenwart unterscheiden sich beträchtlich. Marianne Birthler (Ost), neben Ludger Volmer (West) Bundessprecherin der neuen Organisation, antwortete noch im Herbst 1993 auf die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten ziemlich drastisch: „Uns ist gemeinsam, daß wir beide in der Opposition Erfahrung gesammelt haben. Uns trennt, was das . ganze Volk noch trennt: jahrzehntelang unterschiedliche Verhältnisse.“ Rückblickend ist kaum verwunderlich, daß sich unter dem Strich das Motto aus dem Memorandum des grünen Bundesvorstandes (Ende 1991) durchgesetzt hat, daß das wahlarithmetische Motiv „das zwingendste“ für den Zusammenschluß sei.
Während die politischen Grundsatzpapiere der Parteigründung getrost zu den Akten genommen werden können und dort verstauben dürfen, zählen die vereinbarten formalen Regeln auf Dauer. Die Bürgerrechtler aus dem Osten, die keinen „Beitritt nach Artikel 23“ wollten, konnten sich organisatorisch große Einflußmöglichkeiten sichern Daß sie von den zahlenmäßig weit überlegenen Grünen schnell aufgesaugt werden könnten, ist unwahrscheinlich. Bei den Grünen zählen mit Marianne Birthler, Werner Schulz oder Wolfgang Ullmann Ostdeutsche zu den Politikerinnen und Politikern in der ersten Reihe. Das wahlarithmetische Motiv verweist übrigens Grüne und Bündnis 90 nicht nur auf den Zwang zur Gemeinsamkeit, sondern auch auf tatsächliche Gemeinsamkeiten. Die potentiellen Wählerinnen und Wähler der Partei denken, fühlen und hoffen in Ost und West beinahe gleich. Überhaupt darf vermutet werden, daß die gemeinsame Wirklichkeit von Wahlkämpfen und Parlamentsarbeit schneller als innerparteiliche Diskussionsprozesse aus den beiden alten eine neue Organisation zimmern werden. II. Professionelle Politikerinnen am Werk
Die grünen Spitzengremien beschäftigen sich neuerdings mit ihren Wählerinnen und Wählern. Eine Banalität? Keineswegs. Dazu war der Schock von 1990 nötig. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Hubert Kleinert und der Hamburger Politikwissenschaftler Joachim Raschke berichten undementiert, daß die grünen Bundesvorstände die Ergebnisse der Wahlforschung und damit alle Anzeichen für das aufziehende Debakel konsequent ignoriert haben. Der rettende Schritt einer formell gemeinsamen Kandidatur mit dem ostdeutschen Bündnis 90/Die Grünen wurde erst in letzter Minute versucht und kam dann nicht mehr zustande. Die (West-) Grünen haben ihre Bundestags-sitze also auch aus Schlampigkeit verloren. Professionalisierung, Schluß mit den basisdemokratischen Kindereien, lautete der Ruf vor allem aus dem Lager der Realos, dem sich auch der aus dem linken Forum kommende Bundessprecher Ludger Volmer nicht verschloß. Die fast geräuschlos und für grüne Verhältnisse außerordentlich seriös geführten Verhandlungen um den Zusammenschluß mit den Ostgrünen machten Volmer zum unangefochtenen Sprecher Eine zaghafte Parteireform schaffte den stets chaotischen Bundeshauptausschuß zugunsten des Länderrats ab, was geordneteren Abläufen dienlich war. An der generellen Schwäche, daß die Partei keine professionelle und interventionsfähige Führung auf Bundesebene besitzt, hat sich bisher nichts geändert. So dürfte diese Rolle erneut der künftigen Bundestagsfraktion zufallen: Die Gefahr von Posten-gerangel und Machtkämpfen nach alten Mustern wird damit nicht eben kleiner.
Doch zunächst einmal müssen die Plätze im Parlament erobert werden. Auch in der abgeschiedenen grünen Parteizentrale, im Haus Wittgenstein vor den Toren Bonns, wurde nunmehr zur Kenntnis genommen, daß trotz günstiger Umfrageergebnisse das grüne Stammwählerpotential unterhalb der Fünf-Prozent-Marke liegt Ob die Grünen „Milieupartei“ sind, wie groß das Segment der postmaterialistisch orientierten Wählerschaft ist, das bleiben zweitrangige Fragen neben der Feststellung, daß die Anhängerschaft der Grünen Wahlfragen mit einem hohen Grad an taktischer Flexibilität behandelt. Sie hat insbesondere keine fundamentalen Differenzen zur SPD. Raschke formulierte bei der Vorstellung seines Buches vor der Bonner Presse die optimistische These: „Die Partei repräsentiert ein politisch aktives, qualifiziertes, kritisches Segment der Gesellschaft. Das Viertel der Wählerschaft, das postmaterialistisch orientiert ist, verfügt mit den Grünen über eine selbständige Vertretung, auch gegenüber der SPD.“ In seinem Buch wird indessen auch nüchtern festgehalten: „Zentral für die Aussichten der Grünen ist das jeweilige Angebot der SPD.“ Und: „Grüne-Wähler/-innen brauchen von Wahl zu Wahl ein spezifisches Motiv für ihre Stimmabgabe.“ Nicht zufällig nimmt die -übrigens auch ein Novum -für den Wahlkampf engagierte Werbeagentur neben den Stammwählern die „Sympathisanten aus dem Bereich der SPD-Wähler“ als wichtigste Zielgruppe ins Visier.
III. Warum eigentlich Grüne wählen?
Auf der Suche nach den spezifischen Motiven für die Stimmabgabe zugunsten der eigenen Partei bei der Bundestagswahl 1994 wird man schnell fündig: Erstens sind die anderen Parteien allzu schlecht, zweitens sind nur die Grünen wirklich immun für nationalistische und anti-republikanische Stimmungen. Gewichtige Faktoren -aber das ist auch schon alles.
Die spannungsgeladene Vision einer rot-grünen Bundesrepublik ist in mancher Hinsicht leer geworden. Erwiesenermaßen wird rot-grün in den Ländern genauso gut oder schlecht regiert wie Christ-oder sozialliberal. Wahlarithmetisch scheint Rot-Grün kein Ausbaumodell, sondern ein Nullsummenspiel zu sein. Die Bundestagswahl und die hessische Kommunalwahl zeigten der SPD, daß sie dabei nicht viel zu gewinnen hat. Die niedersächsische Landtagswahl könnte für das Wahljahr Weichen stellen, denn hier geht es um die Frage: Kann die SPD von Rot-Grün profitieren?
Der neue SPD-Vorsitzende hält sich mit Koalitionsaussagen Richtung Grün nicht nur aus wahl-taktischen Gründen zurück. Die Wahlergebnisse spiegeln nämlich nur wider, daß die Konjunktur für das Reformprojekt des ökologischen Umbaus schlecht geworden ist. Wenn es darum geht, in Bonn Opposition zu sein, dann ist diese Konstellation für die Grünen allerdings gar nicht schlecht: Eine SPD, die eher rechts als links von der Mitte angeln geht, läßt Raum. Aber die mobilisierende Perspektive, die Grünen könnten als regierende Partei in Bonn einziehen, kann unter diesen Vorzeichen kaum entstehen. Wie viele potentielle Grünen-Wähler sich zum Beispiel davon überzeugen lassen, die SPD müsse auf jeden Fall stärker werden als die Union, wird sich erst am Wahlabend herausstellen.
Rot-Grün, die Ampel, selbst Schwarz-Grün ist keine Frage mehr, die Aufschreie provoziert. Die ersten schwarz-grünen Abtastversuche -wie nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg -werden selbst vom Fraktionsvorsitzenden der Union billigend in Kauf genommen. Eine neue Perspektive eröffnen diese Versuche allem Anschein nach nicht: Für Koalitionen, sieht man von der kommunalen Ebene ab, ist es zu früh. Und die Grünen werden zu eindeutig als „links“ wahrgenommen, um als Auffangbecken für die Erosionserscheinungen im konservativen Lager in Frage zu kommen. Die beginnende Diskussion um die „sechste Partei“ läuft an den Grünen vorbei.
Auch wenn Koalitionen für die Grünen keine Prinzipienfrage mehr sind, mögen die meisten Grünen sich nur dann in der Bonner Regierungsverantwortung sehen, wenn sie an einen echten reformerischen Aufbruch gebunden ist. Joschka Fischer gab in einem Interview mit „der tageszeitung“ vor dem Leipziger Parteitag erhebliche Zweifel daran zu erkennen, ob die Zeit für eine rot-grüne Konstellation auf Bundesebene reif ist. Er fürchtet ein Debakel, wenn die Grünen vor der Zeit an die Regierung kommen. „Eins ist klar: Eine wie immer geartete Regierungsbeteiligung der Grünen darf nicht in einem Fiasko enden. Das wäre fatal für dieses Land und diese Partei.“ Der hessische Umweltminister, der 1994 wieder nach Bonn kommen will, traut der grünen Verantwortungsbereitschaft nur in Maßen: „Wer Reformpolitik machen will, der kann nicht nur die Honigseiten einer Reform-politik für sich beanspruchen.“
Die Grünen tun sich schwer damit, unterhalb des Großvorhabens vom ökologischen Umbau Botschaften zu entwickeln, die sie nicht nur als demokratisches Korrektiv und umweltpolitisches Gewissen, sondern als regierende, gestaltende Partei überzeugend darstellen. Einstimmig, also ungewöhnlich glatt, hat der Länderrat über die vorläufigen Wahlkampfplanungen entschieden. Fünf Arbeitsgruppen bearbeiten die fünf festgelegten Leitfragen: innere Einheit und Lastenverteilung, Ökonomie, Gleichstellung, Demokratie und Außenpolitik. Gesucht, vor allem in der ÖkoArbeitsgruppe: ökologische Konzepte und Ideen, die volkswirtschaftlich kompatibel und nicht abseits der Standortdiskussion rangieren.
Einen New Deal, ein Interessenbündnis zwischen den ökologisch interessierten Mittelschichten mit dem unteren Drittel der Gesellschaft, stellt sich Ludger Volmer vor: „Der Verzicht der neuen Mittelschichten auf weiteren materiellen Zuwachs kann ökologische und soziale Umbauprozesse finanzieren, die gleichermaßen die soziale Lebenslage der armen Schichten verbessern und allein ein Mehr an ökologischer Lebensqualität bieten.“ Fischer bietet Scharping etwas Ähnliches, gewissermaßen eine Arbeitsteilung, an: die Grünen zuständig für das Mittelschichtenmilieu, die SPD für die kleinen Leute. Doch die Grünen werden sich ganz von der Vorstellung befreien müssen, alle Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Die konfliktreichen Hamburger Koalitionsverhandlungen, bei denen zeitweilig der Eindruck aufkommen mußte, hier verhandelten Partner, die blind und taub füreinander sind, haben durchaus bundesweite Aussagekraft: grüne und sozialdemokratische Sichtweisen haben sich wieder auseinanderentwickelt.
Wenn die Grünen regieren wollen, dann müssen ihre Standortkonzepte eben auch Fragen beantworten, die andere stellen. Man muß wahrhaftig nicht der Meinung sein, daß die Standortkrise vor allem Folge der Lohnkostenentwicklung ist. Aber die Problematik der Lohnkostenentwicklung erledigt sich nicht mit der Forderung nach einer ökologisch innovativen Standortpolitik. Auf so holperige Wege mit unvollkommenen Antworten begeben sich die Alternativen freilich ungern. Die Partei mit dem Trend zum Realpolitischen beharrt im Zweifel auf Grundsätzen, wie der Sonderparteitag zur Außen-und Friedenspolitik zeigte.
IV. Weltanschauung kontra Wirklichkeit
Die Debatte um Pazifismus, Bellizismus und die künftige Rolle Deutschlands in der Welt mündete nach einem überraschenden, für die Mehrheit der Grünen nicht nachvollziehbaren Beschluß des Länderrats, der die militärische Option im Konflikt des ehemaligen Jugoslawien offenhielt, im Oktober 1993 in einen Sonderparteitag. Joschka Fischer behielt recht mit seinem Verdacht, daß „ein überwiegender Teil der Grünen von ihrem objektiven Empfinden her 1994 noch als Protest-parteiantreten wird“ Der heimliche Vorsitzende der Grünen fand sich am Ende so deutlich in der Minderheit, daß es schon besser war, daß Stimmenzahlen gar nicht mehr ausgezählt wurden. Weniger bemerkenswert als die Beschlüsse, mit denen sich die Grünen als pazifistische Partei ausweisen, war der Ablauf der. Veranstaltung in der Bonner Beethovenhalle. Mit beträchtlicher Energie wurde die Vorstellung abgewehrt, es könnte den seltenen Fall geben, wo militärische Gewalt als ultima ratio unvermeidlich sei. Stets waren die Verfechter dieser Meinung in Gefahr, ins Lager der Militaristen und Abenteurer einsortiert zu werden. Und bis zur Abschaffung der Bundeswehr frönten die Delegierten der bekannten grünen Neigung, auf Parteitagen und in Programmen eine Welt nach ihren Vorstellungen zu bauen -und dabei die wirkliche Welt zu vergessen.
Weil der Jugoslawienkonflikt bei den Grünen die Frage hat aufbrechen lassen, ob elementare Menschenrechtsverletzungen auch gewaltsame Lösungen legitimieren können, sehnten sich die Delegierten nach sicheren Überzeugungen. Für einen Moment, im Schutzraum der geschlossenen Veranstaltung, wollte sich die Partei vergewissern, daß ihr Standpunkt klar geblieben ist. Daß das nicht sehr weit reichen kann, machte Daniel Cohn-Bendit mit einer Bemerkung besonders deutlich. Er sei jetzt schon auf die Versammlung gespannt, auf der Ludger Volmer den Delegierten erklären würde, daß er mit der Forderung nach Abschaffung der Bundeswehr in den Koalitionsverhandlungen leider gescheitert sei, aber trotzdem Minister in der Regierung werden wolle.
Die Grünen möchten zu gern etwas Besonderes sein. Es mutet schon seltsam an, wenn das professionelle PR-Team, das der Bundesvorstand für das Wahljahr engagiert hat, seine „Basisüberlegungen“ so einleitet: Die Existenz von Bündnis 90/Die Grünen basiert auf dem Anderssein.