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Zurück zur Mitte: Die SPD zu Beginn des Superwahljahres 1994 | APuZ 1/1994 | bpb.de

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Zurück zur Mitte: Die SPD zu Beginn des Superwahljahres 1994

Eckhard Fuhr

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die SPD will die Macht in Bonn. Um dieses Ziel zu erreichen, wirft sie unter ihrem neuen Vorsitzenden Rudolf Scharping Ballast ab. Was die Partei in den achtziger Jahren bewegte, die Suche nach neuen Mehrheiten links von der Mitte, die neuen sozialen Bewegungen und die weichen Themen, ist in den Hintergrund getreten. Statt dessen sollen die Bindungen an die traditionelle Wählerklientel wieder gefestigt werden. Die rot-grüne Option verblaßt.

130 Jahre ist sie jetzt alt, die deutsche Sozialdemokratie. Nur etwas mehr als 16 Jahre lang regierten in dieser Zeit in Deutschland sozialdemokratische Kanzler. Niemand würde bestreiten, daß Staat, Sozialverfassung und Gesellschaft der Bundesrepublik stark sozialdemokratisch geprägt sind. Doch die Frage nach der „Regierungsfähigkeit“ der SPD beschäftigt immer wieder nicht nur ihre Gegner. Selbstbewußtsein, ja ein Gefühl von Größe bezieht die Partei vor allem aus der Vergegenwärtigung ihrer eigenen Geschichte.

Die Zeiten, in denen sie die Geschicke Deutschlands als Regierungspartei im Reich oder im Bund bestimmte, gelten vielen Sozialdemokraten gerade nicht als ruhmreiche Zeiten. Nur in knapp fünf Jahren der Kanzlerschaft Willy Brandts scheint es so etwas wie einen freudigen, optimistischen Machtwillen der SPD gegeben zu haben. Damals, in den ersten Jahren der Reformära, erschien das Regieren als Arbeit an einem „sozialdemokratischen Projekt“ -die Stichworte hießen „Mehr Demokratie wagen“ und „Ostpolitik“. In der Weimarer Republik und in der Ära Schmidt dagegen empfanden große Teile der Partei die Regierungsverantwortung eher als Bürde und als Zwang, den Hafen „sozialdemokratischer Identität“ zu verlassen und für die ganze Nation zu handeln.

Zum ersten Mal nach zwölf Jahren Opposition besteht für die SPD im Herbst dieses Jahres eine realistische Chance, wieder Regierungspartei in Bonn zu werden. Ihr neuer Vorsitzender Rudolf Scharping möchte alles vermeiden, was diese Chance verkleinern könnte. Das ist der Kern seines politischen Programms. Regierungswechsel werden durch die Schwäche der Regierung bewirkt, nicht durch die programmatische Überzeugungskraft der Opposition. Von ihr verlangen *die Wähler nicht visionäre Gegenentwürfe, sondern das glaubwürdige Versprechen, „es besser zu machen“.

Der Wiesbadener Parteitag der Sozialdemokraten im vergangenen November war ein denkwürdiges Ereignis. Er verband Machtwillen mit Bescheidenheit. Das Wichtige an einem Parteitag sind nicht die wortreichen Beschlüsse und die Stöße an bedrucktem Papier, die schließlich in den Partei-gremien hin und her geschoben werden. Das interessiert die Wähler kaum. Wichtig sind atmosphäB rische Botschaften, wichtig ist, ob im Geräusch der Debatten so etwas wie eine Hauptmelodie hörbar wird. In Wiesbaden bestand diese Melodie aus der Variation eines biederen Dreiklanges: Wir wollen die Macht, weil wir die Besseren sind; wir versprechen euch nicht das Blaue vom Himmel, weil die Zeiten nicht danach sind; wir behelligen euch nicht mit den Qualen, die wir in den Tiefen unserer sozialdemokratischen Psyche zu erleiden haben. „Also habe ich zu Beginn an Euch eine Bitte“, rief Scharping in Wiesbaden den Delegierten zu, „daß uns bei jeder einzelnen Entscheidung bewußt bleibt, daß wir hier nicht wortreiche und folgenlose Oppositionspolitik formulieren, sondern die Grundlagen dafür legen, daß die Sozialdemokratie in Deutschland regieren kann und regieren soll.“ Wortreiche und folgenlose Oppositionspolitik -diese Formulierung enthält auch ein vernichtendes Urteil über den Weg der SPD seit ihrem Machtverlust im Jahre 1982. Das heißt, die Erneuerung der Partei in der Opposition ist gescheitert. In Wiesbaden war ein geradezu ängstliches Bemühen zu verspüren, die Erinnerung an jenes gerade erst abgeschlossene historische Kapitel zu verdrängen. Unter dem Cantus firmus der neuen Nüchternheit und des neuen Realismus waren andere Klänge fast verstummt. Das Parteitagsprotokoll könnte erweisen, daß der Begriff „Demokratischer Sozialismus“ nie gefallen ist, jedenfalls hat ihn keiner der Hauptredner in den Mund genommen. Und ebensowenig war etwas zu hören von den „neuen sozialen Bewegungen“ oder von der „multikulturellen Gesellschaft“. Zwar bekräftigten die Sozialdemokraten ihr Nein zur Kernenergie, und sie wollen weiterhin die Ökologisierung der Marktwirtschaft. Doch Hauptbotschaften einer „neuen SPD“, wie sie sich in den achtziger Jahren darstellte, sind das heute nicht mehr.

Mit einer ganz anderen Botschaft eröffnete Scharping den Wiesbadener Kongreß. Gleich der Anfang seiner Rede führte zum Kern seines strategischen Kalküls: „Wir hatten im Parteivorstand im Ollenhauer-Haus Gäste aus der Stahlindustrie, Bergleute, wir haben mit den Kumpeln von der Kali-Industrie und mit vielen anderen geredet. Manche haben gefragt: Ist es denn wirklich gut, wenn sich die SPD und sogar ihr Vorsitzender mit denjenigen trifft, die aus Krisenbranchen kommen? Ich will dazu nur einen einzigen Satz sagen: Wir müssen uns in unserer gesamten politischen Praxis, auch auf diesem Parteitag, immer klarmachen, daß die Sozialdemokratie die Interessen der arbeitenden Menschen ernst nimmt, sich ihnen zuwendet, die Arbeitslosigkeit überwinden und soziale Gerechtigkeit wiederherstellen will.“ Die Bindungen'der Partei an ihre traditionelle Klientel sollen neu gefestigt werden, sie soll wieder glaubwürdig als Schutzmacht der kleinen Leute, der Modernisierungsverlierer auftreten, damit diese nicht zum gesellschaftlichen Nährboden der Rechtsradikalen werden. Die alten, ursprünglichen Quellen sozialdemokratischer Kraft sprudeln im Fortschreiten der gesellschaftlichen Modernisierung zwar immer schwächer, doch kann die SPD nach Scharpings Überzeugung ohne sie nicht existieren. Er hält es für falsch und gefährlich, die alte SPD-Anhängerschaft zu vernachlässigen und statt dessen lieber mit den Grünen um politische Zustimmung bei den ökologisch sensibilisierten neuen Mittelschichten zu konkurrieren.

Neue Wählerpotentiale für die SPD sieht Scharping eher im Bürger-und Kleinbürgertum, bei enttäuschten Anhängern der Union und bei jenen, die 1982 der sozialliberalen Koalition den Rücken gekehrt hatten. Letztere will er mit dem Versprechen, die Staatsfinanzen zu sanieren, zurückholen. Und der Einbruch ins Stammlager der Union soll dadurch gelingen, daß sich die SPD als Partei der inneren . Sicherheit profiliert. Begleitet wird das von ostentativen Bemühungen, kulturelle Berührungsängste bei bisher den Sozaldemokraten fern-stehenden Wählerschichten abzubauen. Es ist aufgefallen, wie freundlich Scharping mit den Katholiken umgeht. Das Verhältnis zwischen SPD und katholischer Kirche bezeichnet er als „unverkrampft, kooperativ sowie von gegenseitiger Wertschätzung und gegenseitigem Respekt gekennzeichnet“. Zwar nennt er die katholische Sexualmoral „etwas verstaubt“ -und spricht damit vielen Katholiken aus dem Herzen -, doch bleibt er weit unter dem in seiner Partei in dieser Frage üblichen Empörungssoll.

Rückbesinnung auf die sozialdemokratischen Wurzeln und Kampf um die Mitte -nach dieser Formel also will Scharping die Wahlschlacht im Herbst gewinnen. Das Bemerkenswerteste daran ist, daß sich die Partei dem offenbar fügt. Es ging in Wiesbaden bei keinem der großen Themen wie Wirtschafts-, Sozial-, Innen-, Außen-und Sicherheitspolitik ohne Streit ab. Bedeutende Minderheiten stemmten sich jeweils gegen die Linie der Führung, und in der Frage des „großen Lauschangriffs“ hätte die Entscheidung nicht knapper ausgehen können -da bestand wirklich die Gefahr einer schweren Beschädigung Scharpings. Doch sind aus dem Streit Entscheidungen gefolgt, und es ist dem Parteitag gelungen, ihn so zu führen, daß nicht der Eindruck lähmender innerer Zerrissenheit zurückblieb.

Entschieden ist auch die Führungsfrage in der SPD. Der affären-bedingte Rücktritt Björn Eng-holms Anfang Mai hatte die Partei in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt. In Schleswig-Holstein, dem Schauplatz jener für die Sozialdemokraten demütigenden Vorgänge im zweiten Akt der Barschel-Pfeiffer-Affäre, fühlte sich die Parteibasis von der Führung hinters Licht geführt. Gerade war Engholm noch mit klassenkämpferischen Parolen durchs Land gezogen, jetzt gab er zu, gelogen zu haben. Niemand trat auf den Plan, der schockierten Partei wieder Halt und Perspektive zu geben. Zwischen den „Enkeln“ entbrannte ein Machtkampf um den Parteivorsitz. Es war eine kluge Entscheidung des Interimsvorsitzenden Rau und des Vorstandes, in dieser katastrophalen Lage den neuen Weg einer Mitgliederbefragung zu beschreiten. Damit konnte die verzagte Partei mobilisiert und die Stellung des quasi plebiszitär bestimmten Vorsitzenden -Scharping errang eine deutliche relative Mehrheit vor Gerhard Schröder und Heidi Wieczorek-Zeul -gefestigt werden. Das letzte Wort hat laut Satzung zwar immer noch der Parteitag, doch der konnte Ende Juni in Bonn das Votum der Mitglieder nur noch absegnen.

Unerwartet hoch war die Beteiligung an der Befragung: 57 Prozent der SPD-Mitglieder gaben ihre Stimme ab. Die Sozialdemokraten haben das als strahlenden Erfolg gefeiert. Vorsorglich hatte die Führung die Erwartungen an die Wahlbeteiligung immer wieder gedämpft. Schon 15 Prozent sollten als Erfolg ausgegeben werden. Um so strahlender erschien das tatsächlich erreichte Ergebnis. Es beflügelte auch die Bemühungen um eine organisatorische Parteireform, um die Öffnung der SPD und das Aufbrechen verkrusteter Funktionärsstrukturen. Der Wiesbadener Parteitag akzeptierte weitgehende Änderungen des Organisationsstatuts, die einer Teilentmachtung der bisher tonangebenden Schicht der Funktionäre und Delegierten gleichkommen. Nichtmitglieder können jetzt in Arbeitsgruppen der SPD mitwirken, und es wurde die Möglichkeit eines Mitgliederentscheids eingeführt, der verbindlich für die Parteigremien der entsprechenden Organisationsebenen ist und der von den Parteitagen nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden kann. Auch die Urwahl des Kanzlerkandidaten ist jetzt im Statut als Möglichkeit vorgesehen. Wo die Konfliktlinien in diesen Organisationsfragen verlaufen, zeigte sich daran, daß der Parteivorstand beim Parteitag mit der Forderung nach der Einführung auch einer „konsultativen Mitgliederbefragung“ nicht durchdrang. Hier be9fürchteten die Delegierten, die Parteiführung könnte sich in umstrittenen politischen Fragen je nach Bedarf Rückhalt bei der Basis verschaffen, ohne förmliche Beschlüsse herbeizuführen, und so Parteigremien und Funktionäre zu umgehen suchen.

Ob sich die Art und Weise innerparteilicher Willensbildung durch diese Organisationsreform in dem Sinne zum Besseren verändert, daß der Einfluß gesinnungsstarker Funktionäre zurückgeschnitten wird, ob sich die Hoffnungen erfüllen, auf diesem Wege könne dem Legitimationsverlust der Parteien, könne der Parteiverdrossenheit überhaupt entgegengewirkt werden, bleibt abzuwarten. Scharping und damit das von ihm verkörperte Projekt einer politischen Entschlackung der SPD wären wohl kaum zum Zuge gekommen, wenn die Mitgliederbefragung nicht dem Parteitag die Entscheidung über den Vorsitzenden diktiert hätte. Der behäbige Rheinland-Pfälzer, der auch ein gewiefter Machtpolitiker ist, nutzte seine Chance und klärte die Verhältnisse auch an der Partei-spitze. Er zähmte Lafontaine und baute ihn gleichzeitig als „den Stellvertreter“ auf, der als wirtschaftspolitischer Vordenker aus der Riege der stellvertretenden Parteivorsitzenden herausgehoben ist, aber kaum mehr den Eindruck erwecken kann, er sei der eigentlich mächtige Mann, nachdem er seine für Sozialdemokraten provokativen Äußerungen über den Zusammenhang von Produktivität und Einkommen in den neuen Ländern zurücknehmen und sich entschuldigen mußte. Er wurde gefeiert und zugleich auf seinen Platz verwiesen.

Ist die SPD also fit fürs Superwahljahr? Auf welchen Feldern der Politik werden die Wahlkämpfe dieses Jahres ausgetragen werden? Wo liegt der Stoff für grundsätzliche, auch symbolische Kontroversen zwischen den Parteien, vor allem zwischen den beiden großen Volksparteien?

Was die Wirtschafts-und Sozialpolitik angeht, ist in der SPD das Vertrauen in traditionelle sozialdemokratische Konzepte schal geworden. Lafontaine stellt nüchtern fest, daß nirgendwo in Europa regierende Sozialdemokraten erfolgreich seien bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Keynes ist zu den Akten gelegt. Von staatlich finanzierten Arbeitsbeschaffungsprogrammen ist nicht mehr die Rede, statt dessen von der Kürzung konsumptiver Staatsausgaben und vom Abbau der Staatsschulden. Zwar kann die Regierungskoalition mit Recht kritisieren, es bleibe schemenhaft, was sich hinter so schönen Begriffen wie „nationaler Beschäftigungspakt“ und „Industriepolitik“ verberge. Gleichwohl wird es für sie nicht einfach werden, die Sozialdemokraten in der Standortdiskussion in die Defensive zu drängen. Die Union hat Rücksicht zu nehmen auf den auch in ihren Reihen verbreiteten mentalen Sozialdemokratismus, der gegen die Rhetorik von den Selbstheilungskräften des Marktes um so mehr aufbegehren wird, als sich diese Selbstheilung als weit jenseits des Wahltermins nur in weiter Ferne zu hörende Zukunftsmusik erweist.

Beim Thema innere Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung zeigt es sich schon jetzt, daß sich Union und SPD näher stehen als Union und FDP. Zwar akzeptiert die SPD nur zähneknirschend die Möglichkeit des Abhörens privater Wohnungen. Doch hat sie alles in allem die Lektion gelernt, daß Kriminalität nicht etwas ist, was zuvörderst „die Reichen“ bedroht, sondern gerade jene kleinen Leute ängstigt, deren Schutzmacht die SPD sein will.

Es bleibt die Außenpolitik. Da bieten die Sozialdemokraten eine offene Flanke. Unentschlossen schwanken sie zwischen der Befestigung der bestehenden westlichen Integrationssysteme und den vagen Konturen einer „Neuen Ostpolitik“. Bezeichnend ist der Passus über die Nato im Parteitagsbeschluß: „Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation hat die Nato als westliches Verteidigungsbündnis an Bedeutung verloren. Bis zur vollen Wirksamkeit eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems auf der Basis der KSZE sollte die Nato eine wichtige stabilisierende sicherheitspolitische Rolle wahrnehmen.“ Vergeblich warb der Fraktionsvorsitzende Klose dafür, den Eindruck zu vermeiden, die SPD betrachte die Nato, das einzige funktionierende Sicherheitsbündnis, als auslaufendes Modell. Seine Warnung, Deutschland dürfe sich nicht aus dem Prozeß einer Neudefinition des Nato-Auftrages ausklinken, weil es so auf einen gefährlichen Sonderweg gedrängt werde, verhallten im Wind. Vergeblich auch sein Plädoyer für die volle Wahrnehmung der Pflichten, die Deutschland aus seiner UN-Mitgliedschaft erwachsen. Mehr als friedenserhaltende Blauhelmeinsätze, die allerdings inzwischen als so „robust“ erachtet werden, daß die Bundeswehrsoldaten ihren Auftrag nötigenfalls auch mit Waffengewalt verteidigen können sollen, wollen die Sozialdemokraten nicht akzeptieren. Das läßt das hohe Lied, das sie auf die Vereinten Nationen als zentrale Instanz globaler Sicherheit anstimmen, unglaubwürdig klingen.

Gleichwohl braucht die SPD sich keine Sorgen zu machen, die Koalitionsparteien könnten sie auf dem Felde der Außenpolitik unter der Parole „Regierungsunfähigkeit“ vor sich hertreiben. Dieses Thema wird nicht wahlentscheidend werden. Kohl und Kinkel wären nur dann versucht, auf diesemFelde die Entscheidung zu suchen, wenn sie selbst eine überzeugende deutsche Außenpolitik aus einem Guß vorweisen könnten. Sie können es nicht.

Es wird immer deutlicher, daß die beiden Großen sich aufeinander zubewegen. Es riecht nach Großer Koalition, und vielleicht ist ja am Wahlabend rechnerisch keine andere Möglichkeit gegeben. Die Hindernisse für ein solches Bündnis sind nach dem Scharpingschen Kurswechsel der SPD kleiner geworden. Die rot-grüne Perspektive dagegen ist verblaßt.

Das Verhältnis zwischen SPD und Grünen ist frostig geworden. Auf beiden Seiten schwindet der Glaube, sie seien quasi natürliche Bündnispartner einer sozial-ökologischen Mehrheit links von der Mitte. Auf beiden Seiten werden die Abwehr-reflexe stärker. Das zeigten die gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Hamburg, das erweist sich an der Eiseskälte, die inzwischen in der niedersächsischen rot-grünen Koalition herrscht, das bestätigte sich in den scharfen anti-sozialdemokratischen Tönen, welche den letzten Bundeskongreß der Grünen beherrschten.

Die Alternativ-Partei hat inzwischen eine stabile Stammwählerschaft, die sich durch grünliche SPD-Politik nicht abwerben läßt. Die SPD aber verliert traditionelle Wähler, wenn sie sich auf das rot-grüne Politik-Modell einläßt. Die Erwartung der SPD-Modernisierer der achtziger Jahre, die Sozialdemokratie könne die Grünen überflüssig machen und in eine parlamentarisch dauernd gefährdete Randexistenz drängen, indem sie selbst die grünen Themen besetze, hat getrogen. Jetzt spotten manche grünen Politiker schon, sie hätten sich immer gewundert, warum die Roten unbedingt grün werden wollten; Rot-Grün sei doch immer als Arbeitsteilung gedacht gewesen.

In den Überlegungen der Grünen spielt das Hervorkehren der Eigenständigkeit gegenüber der SPD eine immer größere Rolle, und dies nicht nur im Sinne des Festhaltens an einer bestimmten „Identität“, die sich etwa im Beharren auf einem Fundamentalpazifismus zeigt. Der Vorstandssprecher Ludger Volmer fordert, seine Partei dürfe nicht zur bloßen Mehrheitsbeschafferin einer Politik des kleineren Übels werden: „Wenn wir in die Regierung gehen, dann, um gründlich zu reformieren. Wir haben kein Interesse, unsere Rolle als Hoffnungsträger zu verspielen.“ Ihm schwebt ein „gesellschaftliches Bündnis“ zwischen den an weiterem materiellen Wohlstandszuwachs nicht sonderlich interessierten neuen Mittelschichten -der Wählerbasis der Grünen -und den nach wie vor Unterprivilegierten vor, um die sich gefälligst die SPD zu kümmern habe. Jenes Bündnis solle dann den „ungenutzten Reichtum“ des oberen Drittels der Gesellschaft für die sozial-ökologische Wende mobilisieren -notfalls durch eine Zwangsanleihe.

Auf dem Wege des grünen Fortschritts bliebe der SPD die Rolle eines Betriebsrates. In dem Pakt zwischen postmaterieller Mittelschicht und alter Unterschicht wären die Grünen für die Zukunft, die Sozialdemokraten aber für die Erblasten der Vergangenheit zuständig, das heißt, sie hätten denjenigen, die heute Arbeit und Wohnung suchen, zu erklären, warum der Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum langfristig doch in ihrem Interesse liege.

In der Scharping-SPD wächst die Einsicht, daß ein solches Bündnis zur politischen Falle für die Partei würde. Das heißt auch, daß zur Zeit machtstrategisches Denken die Oberhand über Gesinnungen gewonnen hat. Zurück zur Mitte heißt die Parole, der die SPD (zähne-) knirschend folgt.

Fussnoten

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