Im Bereich der sozialen Staatsziele Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit 1 kam es in der Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) nicht zu einer Empfehlung mit Zweidrittelmehrheit, da die Ausgangspositionen der Parteien zu unterschiedlich waren.
I. Problemaufriß
Die Auseinandersetzung darüber, ob und insbesondere in welcher Form und mit welcher Verbindlichkeit in einer Verfassung Staatsziele oder soziale Grundrechte enthalten sein sollten, besteht, seitdem moderne Verfassungen überhaupt versuchen, das Verhältnis Bürger -Staat und die Organisation des Staates durch rechtliche Normierung zu regeln, also seit der Declaration of Rights of Virginia von 1776 und den französischen Verfassungen beziehungsweise Verfassungsentwürfen von 1791 und 1793. In Deutschland ist ein verfassungsrechtlicher Durchbruch sozialer Positionen in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 sowie in den ersten Landesverfassungen nach 1945 zu verzeichnen.
Das Grundgesetz hat sich 1949 dagegen bei Staatszielbestimmungen zurückgehalten und soziale Grundrechte nicht aufgenommen. Im sozialen Bereich wurde -neben einzelnen Bestimmungen im Grundrechtsbereich, zum Beispiel Artikel 6 Absatz 4 (Mutterschutz) und Absatz 5 (Gleichstellungsauftrag für nichteheliche Kinder) oder Artikel 14 Absatz 2 (Sozialverpflichtung des Eigentums) -insbesondere in den Artikeln 20 Absatz
In den siebziger Jahren setzte die Diskussion über soziale Staatsziele verstärkt wieder ein; die Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt berief 1981 eine siebenköpfige Sachverständigenkommission, die nach umfangreichen Beratungen im September 1983 den ausführlichen Bericht „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“ vorlegte. Die Sachverständigenkommission (SVK 1983) schlug eine Ergänzung des Grundgesetzes in drei wesentlichen Bereichen vor: hinsichtlich Arbeit, Umweltschutz und Kulturstaat, ohne sich allerdings einstimmig auf eine bestimmte Formulierung einigen zu können
Im Rahmen der durch die deutsche Einigung ausgelösten Verfassungsdebatte hatte sich die Kommission Verfassungsreform des Bundesrates bereits im Herbst 1991 und im Frühjahr 1992 in mehreren Sitzungen mit der Problematik Staats-ziele und soziale Grundrechte beschäftigt
II. Anträge und Beratungsverlauf
In der Gemeinsamen Verfassungskommission haben SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anträge zu sozialen Staatszielen eingebracht. Während zu einem Staatsziel Arbeit das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen neuen Artikel 12 a beantragt hatte, der u. a. eine Schutzpflicht des Staates für „das Recht jedes Menschen aufArbeit“ beinhaltete und in einem Absatz 2 das Recht jedes Bürgers u. a. auf Arbeitsförderungs-, Weiterbildungs-und Um
Zu einem Staatsziel Wohnen beantragte das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Einfügung eines Artikels 13a, der u. a.den Schutz für das Recht jedes Menschen auf eine angemessene Wohnung fördern sollte 9. Die SPD beantragte folgende knappe Ergänzung nach Artikel 20: „Der Staatfördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum. Er sichert das Wohnrecht von Mietern. " 10
Während zu einem Staatsziel soziale Sicherheit das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Artikel 12b beantragte mit dem Recht jeder Bürgerin und jedes Bürgers auf soziale Sicherung, der auch die Sorge für eine Grundsicherung im Alter, bei Krankheit u. a. m.dem Staat übertragen sollte 11, beantragte die SPD folgende kurze Ergänzung nach Artikel 20: „Der Staat gewährleistet ein System der sozialen Sicherheit. " 12
Zu dem Problemfeld des Artikels 9 Absatz 3 GG -zu Streikrecht, Aussperrung und Mitbestimmung -gaben die SPD-Mitglieder am 11. Februar 1993 eine Erklärung zu Protokoll
Die Gemeinsame Verfassungskommission hat die Problematik der sozialen Staatsziele in der 6. Sitzung vom
III. Argumentation der Befürworter und Gegner
1. Konsensuale Vorstellungen Trotz der inhaltlich kontroversen Positionen ließen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen: Bei der Definition von Staatszielbestimmungen wird weithin die Umschreibung der SVK 1983 als zutreffend angesehen
Dabei müsse man bei der Auswahl neuer Staats-ziele sorgsam vorgehen. Im sozialen Bereich kämen nur solche in Betracht, die existentielle menschliche Bedürfnisse ansprächen und über deren Notwendigkeit weitgehend Konsens herrsche. Nur wo es um solche Grundbedürfnisse von Menschen gehe, die nicht in fünf oder zehn Jahren wieder anders zu bewerten seien, sei eine Ergänzung des Grundgesetzes anzuraten. Dieser Filter der „existentiellen Bedürfnisse“ verhindere im übrigen auch eine abzulehnende Inflationierung von Staatszielen.
Diese Voraussetzungen seien aber gerade bei den Bereichen Arbeit, Wohnen und soziale Sicherheit gegeben, da diese den Alltag prägenden Fragen nicht für irgendeine kleine Gruppe, sondern für fast alle Menschen von geradezu fundamentaler Bedeutung seien; aus der Geschichte des Arbeitsoder des Mietrechts gebe es hierfür reichlich Beispiele. Auf diesen Gebieten dem staatlichen Handeln Direktiven zu geben, Prioritäten im Katalog staatlicher Aufgaben zu setzen, dabei aber dem Gesetzgeber den nötigen Gestaltungsraum zu belassen und der Verwaltung wie der Rechtsprechung Auslegungshilfen und Kontrollmaßstäbe zu liefern, dies sei ein gebotenes und unverzichtbares Ziel. Der „erreichte Stand an verfassungsrechtlicher Sozialstaatlichkeit“ sollte auch im Wortlaut der Verfassung so sichtbar gemacht werden, daß sich die Menschen mit ihren Sorgen darin wiedererkennen könnten.
Wenn die Menschen -wie von den Befürwortern gefordert -ihre existentiellen Bedürfnisse zwar nicht durch Verfassungsnormen erfüllt sähen -dies kann keine Verfassungsnorm, keine Rechtsnorm leisten -, aber doch erkennen könnten, daß der Staat ihre Sorgen ernst nehme, seien sie sehr viel eher in der Lage, sich mit „ihrer“ Verfassung zu identifizieren, als ohne solche konkreten Staatszielbestimmungen; denn der „soziale Rechtsstaat“ des Grundgesetzes bleibe für die große Mehrheit der Bevölkerung ein zu abstrakter Begriff. Diese verstärkten Identifikationsmöglichkeiten würden gerade in Zeiten politischen Umbruchs und zumal in den neuen Bundesländern von großer Bedeutung für eine demokratische Orientierung sein und eine ost-west-integrierende Wirkung entfalten auch im Sinne eines wohlverstandenen „Verfassungspatriotismus“.
Neben etlichen entsprechenden Landesverfassungsnormen in den alten Bundesländern zeige gerade die Verfassungsgebung in den größtenteils CDU-regierten neuen Ländern, daß dort wichtige soziale Staatsziele in den Landesverfassungen verankert werden konnten, das Staatsziel Arbeit zum Beispiel in allen fünf Ländern
Es stehe der Bundesrepublik Deutschland gut an, das, was andere EG-Staaten, zuletzt etwa Dänemark, in ihre Verfassung aufgenommen hätten und die Bundesrepublik durch Ratifikation internationaler Abkommen auch zu ihrem Ziel völkerrechtlich verbindlich anderen Staaten gegenüber erklärt habe (Europäische Sozialcharta, Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte), nunmehr in ihre eigene Bundesverfassung zu übernehmen.
Die Anträge insbesondere in den Kommissionsdrucksachen Nr. 23, 24 und 28 seien bewußt so knapp und grundsätzlich formuliert, daß die nötige Offenheit des Grundgesetzes erhalten bleibe und damit dem Gesetzgeber genügend Spielraum eingeräumt sei, um seine Vorstellungen über Art, Ausmaß und Zeitpunkt konkreter Maßnahmen durchzusetzen. Von einer unangemessenen Gewichtsverschiebung zugunsten der Gerichte könne man nicht ausgehen. 3. Argumente der Gegner von weiteren sozialen Staatszielbestimmungen Das Grundgesetz habe fast vollständig auf Programmsätze verzichtet, in denen Staatsziele in appellativer Form oder als Verheißungen beschrieben werden. Das Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 und des Artikels 28 Absatz 1, aus dem im übrigen der Auftrag des Gesetzgebers zur Schaffung einer gerechten Sozialordnung bereits gegenwärtig abzuleiten sei, stelle hier (neben dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht des Artikels 109 Absatz 2 GG) eine der ganz wenigen Ausnahmen dar. Dahinter stehe die sehr bewußte Entscheidung der Väter und Mütter des Grundgesetzes für „justiziable Grundrechte, für hartes Verfassungsrecht, gegen nicht justiziable Staats-ziele, gegen weiches Verfassungsrecht“, oder anders ausgedrückt für eine unmittelbar anwendbare und „vollziehbare“ Verfassung als Rechtsgesetz.
Der weitgehende Verzicht auf programmatische Vorgaben räume dem Parlament einen großen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum ein, der im offenen, demokratisch-politischen Prozeß ausgefüllt werden müsse. Verfassungsrechtliche Zielvorstellungen für die staatliche Tätigkeit schwächten letztlich die parlamentarische Demokratie, trügen zu einem Macht-und Autoritätsverlust des Parlaments bei.
In der Demokratie sei es Aufgabe des Parlaments, die politischen Leitlinien staatlichen Handelns festzulegen und sie jeweils den sich wandelnden Bedürfnissen des Gemeinwesens anzupassen. Würden diese staatlichen Leitlinien in der Verfassung festgeschrieben, verlöre das Parlament seine wichtigste Gestaltungsaufgabe.
Auch durch eine noch so gut formulierte Verfassungsänderung könne man keine einzige Wohnung und keinen einzigen Arbeitsplatz in der sozialen Realität schaffen. Nur durch eine entsprechende Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik des Gesetzgebers und der Regierung und nicht durch unerfüllbare „Verheißungen in der Verfassung“ könne man dies in einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung erreichen, in der der Staat nur mittelbar Einfluß auf den Arbeitsund Wohnungsmarkt nehmen könne. Die Umsetzung von Zielen, zu denen sich ja alle bekennen würden, könne auch deswegen nur durch den Gesetzgeber erfolgen, weil nur er zusammen mit der Regierung etwa Kriterien der Machbarkeit und der Finanzierbarkeit berücksichtigen könne.
Schließlich trage eine Diskrepanz zwischen Verfassungstext und VerfassungsWirklichkeit in erheblicher Weise zur Politikverdrossenheit bei, da eine für den Bürger erkennbare Lücke klaffe zwischen dem, was die Politik fortlaufend dem Bürger verspreche und dem, was sie halten könne. Staatszielbestimmungen wie solche für Arbeit und Wohnen erweckten bei den Menschen unerfüllbare Erwartungen, förderten Illusionen, denen unweigerlich die Enttäuschung folgen müsse und die dann um so schädlicher auch für die Autorität und Akzeptanz der Verfassung insgesamt wirken müßten.