i.
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. So wollten es die Mütter und Väter des Grundgesetzes, das auf Bundesebene neben regelmäßig abzuhaltenden Wahlen eine unmittelbare Beteiligung der (betroffenen) Bürger nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes vorsieht (Art. 29 GG).
Seit der Entscheidung des Parlamentarischen Rates für das demokratisch-repräsentative System ist die Diskussion um die Einführung von Formen unmittelbarer Demokratie in das Grundgesetz aber nicht verstummt. Erinnert sei hier nur an die Beratungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages in den Jahren 1973 bis 1976, die nach Prüfung der verschiedenen Möglichkeiten, die politischen Mitwirkungsrechte der Bürger zu verstärken, die Einführung direkt-demokratischer Elemente in das Grundgesetz ablehnte (BT-Drs. 7/5924, S. 9ff.).
Die Herstellung der deutschen Einheit und insbesondere die Verfassungsgebung in den neuen Ländern gaben dieser Diskussion neue Nahrung. Nach der Kommission Verfassungsreform des Bundes-rates, in der eine -für die notwendige Zweidrittelmehrheit freilich nicht ausreichende -Mehrheit der Länder die Aufnahme von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz befürwortet hatte (BR-Drs. 360/92, Rdnr. 177ff.), nahm sich auch die Gemeinsame Verfassungskommission dieses Themas an. Sie stieß damit auf ein außerordentliches öffentliches Interesse, wie mehr als 266000 Eingaben belegen. Entgegen den Erwartungen der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Einsender fanden sich in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht genügend Stimmen für die Einführung weiterer Formen unmittelbarer Demokratie ins Grundgesetz.
II.
Ausgangspunkt der Beratungen in der Kommission war die übereinstimmende Auffassung, daß die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes sich prinzipiell bewährt habe. Kein Mitglied der Kommission stellte daher die Grundentscheidung des Parlamentarischen Rates in Frage. Meinungsunterschiede bestanden nur darüber, ob dieses gegebene System der repräsentativen Demokratie um Elemente unmittelbarer Demokratie -insbesondere um Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid -ergänzt werden solle.
Anträge zur entsprechenden Ergänzung des Grundgesetzes wurden von der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt. Sie begründeten ihre Vorschläge damit, daß die Zeit gekommen sei, den Bürgerinnen und Bürgern über die Teilnahme an Wahlen hinaus weitere Möglichkeiten unmittelbarer Einflußnahme auf die politische Willensbildung und staatliche Entscheidungen einzuräumen. Viele Bürgerbewegungen und -initiativen auf kommunaler wie auf Landes-und Bundesebene zeigten die Bereitschaft der Bevölkerung, sich aktiv für das Gemeinwesen einzusetzen und an seiner Ausgestaltung mitzuwirken. Auf der anderen Seite müßten der gerade in jüngster Zeit zunehmende Anteil von Nichtwählem und die Hinwendung zu radikalen Parteien als deutliche Hinweise dafür aufgenommen werden, daß wachsende Teile der Bevölkerung sich von den etablierten Parteien und ihren Vertretern in den Staatsorganen nicht mehr hinlänglich repräsentiert fühlten. Diesem Zustand der Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern, der sich vielfach als Politik-oder Parteienverdrossenheit äußere, könne durch mehr Teilhabe der Bürger an der Politikgestaltung begegnet werden.
Als Handlungsformen schlugen die Vertreter von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein gestuftes Verfahren mit Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vor: -Mit der Volksinitiative sollen die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, den Deutschen Bundestag mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen; Gegenstand einer Volksinitiative kann auch ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf sein. -Stimmt der Deutsche Bundestag innerhalb einer bestimmten Frist einem solchen Gesetzentwurfnicht zu, soll auf Antrag der Vertreterinnen und Vertreter der Initiative ein Volksbegehren stattfinden. -Kommt das Volksbegehren -durch Zustimmung eines bestimmten Anteils der Wahlbevölkerung (Quorum) -zustande, so ist ein Volksentscheid über den Gesetzentwurf durchzuführen. Bei positivem Ausgang des Volksentscheides, d. h. bei Zustimmung einer -ggfs. qualifizierten -Mehrheit der Abstimmenden, ist der Gesetzentwurf angenommen.
Diese Formen direkter Bürgerbeteiligung stellen nach Meinung der Antragsteller das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes nicht in Frage, sondern ergänzen es sinnvoll und entwickeln es zu einer partizipativen Demokratie fort. Das Parlament bleibe der Hort der politischen Auseinandersetzung und Entscheidung; das Volk als Träger der Staatsgewalt gewinne aber einen effektiveren Einfluß auf deren Ausübung, indem es das Parlament zwingen könne, sich mit bestimmten Themen zu befassen, oder indem es Entscheidungen an seiner Stelle treffe.
Dieses Mehr an direkter Bürgerbeteiligung führe auch unmittelbar zur Festigung und Belebung der parlamentarischen Demokratie, die sich -anders als bei der Verabschiedung des Grundgesetzes -auf ein in 40 Jahren gefestigtes demokratisches Selbstverständnis des deutschen Volkes stützen könne. Die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR, die als gelungenes Beispiel unmittelbarer Demokratie („Wir sind das Volk!“) durch die Einführung verstärkter Bürgerbeteiligung honoriert werden müsse, habe gezeigt, daß die Bevölkerung verantwortlich von ihren Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch mache. Dem könnten auch nicht angeblich negative Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik entgegengehalten werden. Diese sei keinesfalls an Volksentscheiden gescheitert, was schon die historische Tatsache belege, daß keiner der beiden reichsweiten Volksentscheide Erfolg gehabt habe.
Die Befürworter von Volksinitiative, Volksentscheid und Volksbegehren wiesen auch auf die Erfahrungen in Staaten des -vor allem europäischen -Auslandes hin, deren Verfassungen Formen direkter Bürgerbeteiligung kennen. Dort sei festzustellen, daß selbst schwierige und komplexe Sachverhalte vom Volk sachgerecht entschieden werden könnten. Daher stelle eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes auch einen Schritt zu mehr europäischer Gemeinsamkeit dar. Zudem gebe es bereits in neun der elf alten Länder der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit des Volksentscheides, und alle neuen Bundesländer hätten ihn ebenfalls in ihren Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfen vorgesehen. Es gebe keinen Grund, das, was sich auf Länderebene bewährt habe, auf Bundesebene nicht zuzulassen.
Die Einzelheiten des Verfahrens könnten so festgelegt werden, daß Mißbräuche ausgeschlossen seien. So könnte man bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung, z. B.den Bundeshaushalt oder öffentliche Abgaben, von der Volks-initiative ausnehmen. Durch die Höhe der Abstimmungsquoren und die Bestimmung von Untergrenzen für die Beteiligung könne die Durchsetzung von Sonderinteressen verhindert werden. Genügend lange Fristen könnten für eine umfassende Information der Bevölkerung vorgesehen werden; sie seien auch geeignet, Manipulationen durch starke Interessenverbände und einseitige Berichterstattung oder Entscheidungen aufgrund momentaner Stimmungen auszuschließen. Dem Deutschen Bundestag könne das Recht eingeräumt werden, einen Alternativ-Entwurf zur Abstimmung zu stellen. Schließlich könne durch eine Stimmengewichtung nach Ländern auch der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland Rechnung getragen werden.
Insgesamt überwögen die Chancen, die mit der Einführung weiterer Elemente unmittelbarer Demokratie im Grundgesetz verbunden seien, die von den Gegnern angeführten Risiken erheblich.
III.
Gegen die Aufnahme von Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid und anderen Formen unmittelbarer Demokratie ins Grundgesetz wurden, insbesondere von den Vertretern der CDU/CSU, sowohl verfassungssystematische als auch verfassungspolitische Gründe geltend gemacht:
Der Parlamentarische Rat habe gerade mit seinem strikten Bekenntnis zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie die entscheidenden Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen. Selbst wenn in der Weimarer Republik nur relativ wenig plebiszitäre Entscheidungen getroffen wurden, habe die parlamentarische Demokratie damals doch unter dempermanenten Druck plebiszitärer Entscheidungsmöglichkeiten gestanden, was wesentlich zu ihrer Schwächung beigetragen habe. Gerade auf der Grundlage dieser historischen Erfahrung habe der Parlamentarische Rat für das Grundgesetz auf Formen unmittelbarer Demokratie prinzipiell verzichtet. Diese Entscheidung des Parlamentarischen Rates sei auch heute noch richtungweisend. Denn das bewährte System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie könne durch plebiszitäre Verfahren nachhaltig geschwächt werden, da sie die Gefahr einer schleichenden Abwertung des Parlaments in sich trügen. Wegen des Anscheins einer höheren Legitimität des unmittelbaren Volks-gesetzes gegenüber dem nur mittelbaren Parlamentsgesetz könne eine Entwicklung dahingehend eintreten, das Parlament nur noch in weniger wichtigen Fragen entscheiden zu lassen. Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Parlaments könnten auch dadurch beeinträchtigt werden, daß in schwierigen, politisch sensiblen Fragen Plebiszite dem parlamentarischen Entscheidungsträger die Flucht aus der Verantwortung ermöglichten.
Plebiszite seien ferner der modernen pluralistischen Gesellschaft und Demokratie nicht gemäß. Denn Plebiszite seien nur dem Ja oder Nein, dem Schwarz oder Weiß zugänglich. Gerade die pluralistische Demokratie fordere jedoch Entscheidungsund Gesetzgebungsverfahren, die auf ein Höchstmaß an Kompromißsuche und Kompromißfindung angelegt seien. Dies gewährleiste nur das parlamentarische Verfahren. Angesichts der Komplexität politischer Entscheidungen bestehe die Gefahr, daß sich die Bürger nicht von objektiven Kriterien, sondern von der subjektiven Betroffenheit oder von mediengeprägten Stimmungen leiten ließen. Damit seien eine Entrationalisierung von Entscheidungen und Populismus zu befürchten.
Plebiszite gäben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht noch stärker als bisher auf Bundesebene durchzusetzen. Die Bürger könnten angesichts der erforderlichen Quoten ihre Initiativen in aller Regel nicht selbst vorantreiben, sondern wären auf die Unterstützung von Verbänden und Vereinigungen angewiesen. Infolgedessen bestehe die Gefahr der Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen.
Die Erfahrungen mit Plebisziten in den Nachbar-staaten und den Bundesländern ließen sich nicht ohne weiteres auf den Bund übertragen. So seien Plebiszite auf Länder-oder kommunaler Ebene wegen der besseren Überschaubarkeit der Verhältnisse und der geringeren Komplexität der Probleme eher praktikabel als auf Bundesebene. Erfahrungen im Ausland ließen überdies befürchten, daß zahlreiche Plebiszite neben den regelmäßigen Wahlen zu Abstimmungsmüdigkeit führten. Auch die Vorgänge in der ehemaligen DDR aus dem Herbst 1989 könnten die Einführung von mehr Bürgerbeteiligung ins Grundgesetz nicht rechtfertigen, da die Situation dort mit der des demokratischen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland nicht zu vergleichen sei.
Plebiszite zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Daran ändere sich auch nichts durch die Einführung eines Länderquorums. Schließlich werde der Ausschluß bestimmter, insbesondere finanzwirksamer Politikbereiche (Haushalt, Steuern) wahrscheinlich dazu führen, die Politikverdrossenheit zu vergrößern. Es sei zu befürchten, daß sich das Volk dadurch bevormundet fühle.
Von der Einführung plebiszitärer Verfahren sei auch nicht zu erwarten, daß sie die sogenannte Parteienverdrossenheit überwinden könne. Eher sei das Gegenteil zu befürchten. Denn wenn Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit in das Grundgesetz aufgenommen würden, so würden sich künftig legitimerweise auch die politischen Parteien dieser Verfahren bedienen -nicht zuletzt auch deshalb, weil die Durchführung solcher Verfahren in aller Regel der Organisation und Initiierung bedürfe. Wenn die politischen Parteien aber die freie Entscheidung darüber hätten, ob sie ein bestimmtes Anliegen auf plebiszitärem oder parlamentarischem Wege verfolgen sollten, drohe erneut die Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung. Darüber hinaus wüchse die Macht der politischen Parteien gegenüber dem heutigen Rechtszustand noch dadurch, daß ihnen neben ihren parlamentarischen Entfaltungsmöglichkeiten auch die Wege zur Anrufung sowie Organisation von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid eröffnet würden.
Aus all diesen Gründen sei die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz abzulehnen. Wegen dieser Haltung der CDU/CSU, der sich auch die FDP-Vertreter weitgehend anschlossen, erreichten die Anträge der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit.