Alles in allem: Das Grundgesetz hat sich bewährt. Es bedarf nur in begrenzten Feldern der Änderung oder Reform. Ich bin sicher, daß das Grundgesetz mit den von der Gemeinsamen Verfassungskommission empfohlenen Änderungen oder Reformen für das wiedervereinigte Deutschland eine ebenso erfolgreiche wie zukunftsträchtige Verfassung sein wird, wie es dies für die frühere Bundesrepublik über vier Jahrzehnte gewesen ist.
Mein Mit-Vorsitz in der Gemeinsamen Verfassungskommission, der aus meiner Präsidentschaft des Bundesrates für das Geschäftsjahr 1990/91 und aus dem Vorsitz in der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates stammt, gibt dem Thema „Verfassungsreform und Verfassungsdiskurs“ eine besondere, nämlich föderale Perspektive. Ich will mich zu den Voraussetzungen, unter denen die Gemeinsame Verfassungskommission gearbeitet hat, als Bedingungen für Erfolg und Nichterfolg ihrer Arbeit äußern. Dies geschieht aus dem Blickwinkel des Bundesrates und damit der Länder. Erfolg und Nichterfolg messen sich insoweit an den Zielvorstellungen, mit denen die Länder in die Gemeinsame Verfassungskomission gegangen sind.
Maßstäbe bilden Art. 5 des Einigungsvertrages und die Beschlüsse der Verfassungskommission des Bundesrates. Art. 5 gab beiden Verfassungskommissionen die Maßgabe vor, sich „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“. Der Kommission des Bundesrates mußte es leichtfallen, sich rasch auf die Punkte zu einigen, die der Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990 enthält, wurde er doch in Art. 5 als offenbar „einigungsrelevant“ hervorgehoben. Zudem bestand weitgehend Identität in der Zusammensetzung der Kommission des Bundesrates und der Ministerpräsidentenkonferenz.
Homogenität der Interessen auf der Länderseite erleichterte es darüber hinaus, Antworten auf Fragen der „Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa“ zu finden, wie der Schwerpunkt der Arbeit der Kommission des Bundesrates definiert wurde. Es zeigte sich aber auch auf der Seite der Länder und damit des Bundesrates, daß vornehmlich Interessenhomogenität zu positiven Beschlüssen geführt hat und nicht nur der Anspruch, die von Art. 5 gestellten Fragen erschöpfend zu beantworten, nicht einmal alle wichtigen. So hat der Beschluß über die Einsetzung der Kommission des Bundesrates auf das Thema „Finanzverfassung“ verzichtet. Die Gemeinsame Verfassungskommission ist nicht anders verfahren. Kaum ein Thema aber ist mit Blick auf Art. 5 einigungsbedingter und föderalismusrelevanter als dieses.
Beschlüsse zu Art. 72 und 75 GG fielen den Ländern mit eindeutiger Stoßrichtung zu ihren Gunsten leicht. Das gilt auch für ihre Forderung, daß Bundesgesetze, die sie als eigene Angelegenheit oder im Auftrag des Bundes ausführen, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Bedürfnis-klausel, Rahmengesetzgebung und Bundesgesetze mit Kostenauswirkung für die Länder haben zwar durch die Einigung erheblich an Gewicht gewonnen, standen aber schon vor und unabhängig von der deutschen Einigung zur Revision an.
Gelegenheit macht „Vorschläge“, um ein bekanntes Sprichwort abzuwandeln. Vielen Vorschlägen und manchem Beschluß beider Verfassungskommissionen darf schlicht die Einigungs-und Föderalismusrelevanz abgesprochen werden.
Zum „Verfassungsdiskurs“ gehört für die Arbeit der Kommission des Bundesrates die Feststellung, daß sie ohne Fremdbestimmung vonstatten ging. Nicht nur die weitgehende Interessenhomogenität, sondern auch die Konstruktion der Kommission sowie deren exekutivische, regierungstypische Arbeitsweise schlossen dies aus.
Bemerkungen zum Diskurs müssen für die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission kritischer ausfallen. Entstehung und Zusammensetzung dieses Gremiums, das als Kompromiß an die Stelle des „Verfassungsrats“ trat, haben von vornherein seiner Handlungs-und Entscheidungsfähigkeit Grenzen gesetzt. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages blieben naturgemäß eingebunden in ihre Fraktionen (Beispiel: Staatsziel Umwelt). Nach Arbeitsweise und Präsenz in Bonn ergab sich so ein prägender Einfluß auf die Kommission, zumal die Mitarbeit der Ministerpräsidenten in der Kommission zwangsläufig begrenzt bleiben mußte. Auch die Spitzen der Fraktionen fehlten. An der Konstruktion der Kommission mag es auch gelegen haben, daß trotz der Anstöße des Bundespräsidenten, der mit den Vorsitzenden und den Obleuten ein Gespräch geführt hat, eine Revision des Art. 21 unterblieb.
Einige bedeutsame Beratungsgegenstände haben die Gemeinsame Verfassungskommission aber formal beschäftigt: Asylrecht, die Themen „Staatliche Souveränität und militärische Verteidigung“ sowie „Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Hierzu führte die Gemeinsame Verfassungskommission Abstimmungen durch, die ohne Einfluß auf die Parlamentsarbeit waren -abgesehen davon, daß die dazu gestellten Anträge nicht die erforderliche Mehrheit der Kommission erhielten.
Eine Reihe von Anträgen mußte Opfer der als Folge ihrer Zusammensetzung geringeren Interessenhomogenität der Gemeinsamen Verfassungskommission werden. Neben parteipolitisch bedingten Sichtweisen trat in der Gemeinsamen Verfassungskommission die Polarität von Zentralität und Föderalität zutage. Auf Seiten der Bundestags-wie der Bundesratsmitglieder entfalteten Einheit bzw. Vielfalt im deutschen Föderalismus eine nicht zu übersehende parteiübergreifende Wirkung.
Ohne die Gemeinsame Verfassungskommission und ihre Empfehlungen zum Thema „Europa“ wäre die Ratifikation des Maastricht-Vertrags nicht möglich gewesen, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen überdeutlich macht. Hier hat die Kommission wohl ihre bedeutsamste Wirkung entfaltet. Für die Empfehlungen zur Stärkung des Föderalismus -Gesetzgebungskompetenzen und -verfahren, Neugliederung, kommunale Selbstverwaltung -sowie zu Grundrechten und Staatszielen -Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Umweltschutz und Achtung ethnischer Minderheiten -besteht die Absicht, sie im Paket der Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission geschlossen ohne Abstriche in das Verfahren der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung zu geben. Gerade die Länder und der Bundesrat sollten ein Interesse daran haben, daß ihre Stellung über diejenige hinaus, die der neue Art. 23 GG bereits vorsieht, im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen gestärkt wird. Die Aktivierung des Art. 72 Abs. 2 GG ist jüngst als der größte Wurf der Verfassungskommission gefeiert worden.
Die Mitglieder der Kommission haben sachkundig und sachgerecht gearbeitet. Es hat Kompromisse geben müssen, die je nach Standpunkt unterschiedlich zu bewerten sind. In vielen Fällen sind Kompromisse auch nicht zustande gekommen. Das war unvermeidlich, weil die Beschlüsse der Kommission die Hürde der Zweidrittelmehrheit nehmen mußten. Wichtige Beschlüsse haben diese Hürde genommen, manche allerdings nur knapp.
Bemerkungen über Erfolg und Nichterfolg der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission müssen davon ausgehen, daß eine Kommission den Prozeß der inneren Einigung des deutschen Volkes nicht ersetzen kann. Ich halte an meiner nüchternen Voraussage aus dem Jahre 1990 in meinem Amtsjahr als Präsident des Bundesrates fest, daß die Herstellung der Einheit der Köpfe und Herzen der Deutschen 40 Jahre in Anspruch nehmen wird.
Zur Gestaltung des Prozesses der inneren Einigung kann die Arbeit der Verfassungskommission nur einen begrenzten Beitrag leisten. Die Frage, ob eine Verfassungsdiskussion in einem Verfassungsrat, für den ich auch mehrfach noch während der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission eingetreten bin, einen größeren Beitrag dazu hätte leisten können -die Frage also, ob das Ergebnis der Arbeiten eines Verfassungsrates ambitionierter gewesen wäre -, und schließlich die Frage, ob ein solches Ergebnis eine Chance gehabt hätte, im Bundestag und Bundesrat die erforderlichen Mehrheiten zu bekommen, müssen unbeantwortet bleiben. Diese Fragen heute noch zu stellen ist vom politischen Ergebnis her müßig.