Am 28. Oktober 1993 hat die Gemeinsame Verfassungskommission mit der einstimmigen Verabschiedung ihres Schlußberichts ihre Arbeiten zur Reform des Grundgesetzes abgeschlossen. Im Verlauf ihrer knapp zweijährigen Beratungen hat die Gemeinsame Verfassungskommission das Grundgesetz in umfänglicher Weise auf seine Reform-bedürftigkeit hin überprüft, hat sie rund 80 Änderungsanträge beraten und einige grundlegende Änderungsempfehlungen beschlossen.
Die Gemeinsame Verfassungskommission hat damit ihren Auftrag aus Art. 5 Einigungsvertrag erfüllt und so einen weiteren wichtigen Schritt zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands vollbracht. Das Grundgesetz ist bekanntlich über den Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland und damit auch zum Grundgesetz gemäß Art. 23 GG a. F. zur endgültigen und legitimen gesamtdeutschen Verfassung geworden. Über diese Beitrittsentscheidung der ersten freigewählten Volkskammer der ehemaligen DDR entfiel die andere Option, die das Grundgesetz für die Wiedervereinigung bereitgestellt hatte, nämlich der Weg über eine neue gesamtdeutsche Verfassung gemäß Art. 146 GG a. F. Folgerichtig ging es nach Art. 5 Einigungsvertrag (nur) noch darum, das Grundgesetz als nunmehr endgültige gesamtdeutsche Verfassung auf konkrete Reformbedürfnisse hin zu überprüfen.
Die von Bundestag und Bundesrat hierzu mehrheitlich beschlossene Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat stellte das hierfür bestgeeignete Gremium dar. Denn entsprechende Reformbedürfnisse galt und gilt es nicht im Wege der Erarbeitung einer neuen Verfassung, sondern allein im Wege des Verfassungsänderungsvörfahrens gemäß Art. 79 GG durch die Verfassungsgesetzgebungsorgane Bundestag und Bundesrat zu beschließen. Andere Vorstellungen, die auf einen sogenannten „Verfassungsrat“ hinzielten, wurden mit Recht verworfen. Denn sie verkörperten im Grunde nichts anderes als den verkappten Versuch, ungeachtet der verbindlichen Entscheidung gern. Art. 23 GG a. F. doch zu einer „neuen Verfassung“ oder zumindest zu einer Totalrevision des Grundgesetzes zu gelangen. Das Grundgesetz hat sich jedoch bewährt; es ist mit Recht als ein Glücksfall der deutschen Geschichte beschrieben worden. Es hat den Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine stabile Demokratie sowie einen freiheitlichen Rechts-und Sozialstaat beschert, wie sie auch im internationalen Vergleich als vorbildlich und richtunggebend anerkannt werden.
Die Gemeinsame Verfassungskommission setzte sich aus jeweils 32 Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat zusammen, die vom Bundestag gewählt bzw. von den Landesregierungen entsandt wurden und die in sachlicher, engagierter und stets ebenso konstruktiver wie fairer Manier intensiv miteinander diskutiert und gearbeitet haben. In dieser Form stellte die Gemeinsame Verfassungskommission ein Novum in der verfassungspolitischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland dar -ein Novum, das sich aber gerade im Hinblick auf den spezifischen Auftrag des Art. 5 Einigungsvertrag bewährt hat. In offener, kritischer und intensiver Diskussion wurde das Grundgesetz umfänglich erörtert, überprüft und mit Änderungs-wie Reformanliegen konfrontiert -ein Diskussionsprozeß, der in den folgenden Beiträgen im einzelnen referiert wird. Daß nicht alle Änderungs-und Reformwünsche zum Zuge kamen bzw. imstande waren, die nötige Zweidrittelmehrheit zu erreichen, hat naturgemäß manchen etwas enttäuscht, ist im Ergebnis jedoch keineswegs negativ zu bewerten. Verfassungspolitik und Verfassungsrecht fordern stets den besonderen Konsens -repräsentiert durch das Quorum der Zweidrittelmehrheit. 1 Insgesamt hat das Grundgesetz in diesen Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission einen kritischen Verfassungsdiskurs durchlaufen und in außerordentlich grundsätzlicher Manier bestanden, wie es dies in vergleichbarer Form seit den Beratungen des Parlamentarischen Rats noch nicht gegeben hat. Und wenn das Grundgesetz diesen Diskurs im Ergebnis so erfolgreich bestanden hat, so findet es hierin nicht nur seine eigene innere Bestätigung, sondern auch seine zukunftsweisende Bekräftigung als nunmehr wirksame gesamtdeutsche Verfassung.Die wichtigsten Änderungs-bzw. Reformempfehlungen, die die Gemeinsame Verfassungskommission erarbeitet hat, Hegen in den neuen, bereits in Kraft gesetzten Bestimmungen zum Staatsziel der europäischen Einigung sowie in den Empfehlungen zur Stärkung des Föderalismus. Vor allem der neue Art. 23 GG und das in ihm formulierte Staatsziel der europäischen Einigung hat entscheidend dazu beigetragen, daß das Vertragswerk von Maastricht in verfassungsmäßiger bzw. vom Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung bestätigter Form ratifiziert werden konnte. Mit den Änderungen im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis soll ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der Länder auf dem Gebiet der Gesetzgebung geleistet werden. Entgegen den ursprünglichen Intentionen des Grundgesetzes ist inzwischen dem Bund längst das absolute Schwergewicht in der Gesetzgebung zugefallen. Für viele stellen die Länder fast nur noch eine Art „potenzierter Selbstverwaltungskörperschaften“ dar. Das grundgesetzliche Bundesstaatsprinzip fordert jedoch mehr, es fordert auch in der Legislative substantielle Länderstaatlichkeiten. Ein weiterer wichtiger Beitrag für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes Hegt in der beschlossenen Kräftigung der kommunalen Selbstverwaltung im Bereich der Finanzhoheit sowie in der Erleichterung der Länderneugliederung. Andererseits ist es leider nicht gelungen, auch für die außerordentlich reformbedürftige grundgesetzliche Finanzverfassung ein neues Konzept zu erarbeiten. Eine wichtige Reformentscheidung Hegt des weiteren in der Schaffung der Staatszielbestimmung Umweltschutz. Der Umweltschutz stellt heute eine unbestritten zentrale Staatsaufgabe dar, was auch in der Verfassung selbst seinen Ausdruck finden muß. Weitere neue Staatsziele liegen im Ausbau der Gleichberechtigung von Frau und Mann sowie im Bereich des Schutzes ethnischer Minderheiten. Besonders kontrovers war die Frage der Einführung plebiszitärer Elemente sowie der Begründung neuer Staatszielbestimmungen vor allem im sozialpolitischen Feld (Vollbeschäftigung, Wohnung, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit). Alle Bestrebungen dieser Art vermochten nicht die nötige Zweidrittelmehrheit zu finden. Nach meiner Auffassung sind solche Änderungsbestrebungen zu Recht verworfen worden.
Plebiszitäre Elemente haben auf der Ebene der Landesverfassungen ihren guten Sinn. Auf der Ebene der Bundesverfassung drohen sie jedoch das föderative Zusammenspiel von zentralstaatlicher und gliedstaatlicher Demokratie -verkörpert durch das Miteinander von Bundestag und Bundesrat -in allzu zentralistischer Richtung zu verschieben (Entscheidungshoheit des Bundes-volks in seiner Gesamtheit). Plebiszitäre Elemente sind im übrigen nicht imstande, den permanenten Kompromißgeboten einer pluralistischen Demokratie gerecht zu werden. Sie kennen nur das Ja oder Nein, kennen nur Schwarz oder Weiß. Plebiszitäre Elemente sind überdies auch nicht geeignet, der heute viel beklagten „Parteienverdrossenheit“ zu begegnen. Denn wenn man plebiszitäre Verfahren einführt, werden diese auch von den politischen Parteien -und dies legitimermaßen -genutzt werden; mit der Konsequenz, daß künftig in vielfältiger Form die Flucht der Parteien aus dem parlamentarischen Mandat und seiner spezifischen Verantwortung auch für den politischen Kompromiß droht.
Neue Staatszielbestimmungen der vorgenannten Art können die so besonders bewährte gesellschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes bedrohen. Gerade durch seine Zurückhaltung gegenüber spezifisch gesellschaftspolitischen Pro-grammatiken hat sich das Grundgesetz in den zurückliegenden vier Jahrzehnten seine besondere Offenheit, Flexibilität und Fähigkeit zur Anpassung an die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels bewahrt. Über das ebenso normativ stringente wie gesellschaftspolitisch offene Sozialstaatsprinzip ist es dem Grundgesetz immer wieder gelungen, allen sozialpolitischen Herausforderungen wirksam zu begegnen bzw.dem Gesetzgeber den nötigen politischen Entscheidungsspielraum offen-zuhalten. Deshalb sprach auch nach meiner Auffassung alles dafür, auf die Einführung solcher neuen (sozialen) Staatszielbestimmungen zu verzichten, es statt dessen bei der bewährten Verfassungsstruktur zu belassen. Eine Verfassung ist dazu berufen, den grundsätzlichen Ordnungsrahmen und vor allem die prinzipiellen Wertentscheidungen zu formulieren, die für die staatliche Organisation wie die gesellschaftliche Ordnung verbindlich sind. Innerhalb dieses grundsätzlichen Ordnungsrahmens muß eine Verfassung aber das nötige Maß an Offenheit gegenüber den realen Lebensverhältnissen und ihren politischen Entwicklungsprozessen wahren, will sie nicht rasch selbst verkrusten, veralten und sich im Ergebnis selbst in Frage stellen. Das Grundgesetz in seiner bestehenden Struktur ist solchen Gefahren stets entgangen. Folgerichtig sprach alles dafür, es bei dieser bewährten Struktur zu belassen.