Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR
Burghard Ciesla
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Zusammenfassung
Eine der Folgelasten des Zweiten Weltkrieges für Deutschland war die Verschickung von deutschen Natur-wissenschaftlern und Technikern in die alliierten Siegerländer. Aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden zwischen 1945 und 1947 wahrscheinlich die meisten Fachleute mit ihren Familien in die UdSSR gebracht. Bis heute sind die Ereignisse und Hintergründe dieses Transfers und seine Auswirkungen nur rudimentär bekannt. Erst seit 1992 liegt eine systematische Untersuchung über die Migration und den Einsatz der deutschen Fachleute in der UdSSR nach 1945 vor. Viele Daten, Fakten und Schauplätze, die mit diesem Thema im Zusammenhang stehen, sind noch nicht geklärt. Auf der Basis der vom Ministerium des Inneren (MdI) der DDR bei der Rückkehr der deutschen Fachleute angelegten „Spezialistenkartei“ wird versucht, einige der bestehenden Unklarheiten in der Datenbasis zu klären. Des weiteren werden Strukturwirkungen des Spezialistentransfers auf die verschiedenen Wirtschaftsbereiche bzw. Industriebranchen für die SBZ und DDR dargestellt. Die Verschickung der „Spezialisten“ in die UdSSR, ihre dortige Tätigkeit, die sowjetische Forschungskontrolle in der SBZ/DDR und die Rückkehr der „Spezialisten“ nach Ostdeutschland wird beschrieben. Hinzu kommen Aussagen über die Qualifikationsstruktur der deutschen Spezialisten in der UdSSR.
I. Einleitung
Die letzten Oktobertage des Jahres 1946 stellten für das durch den Krieg erheblich angeschlagene Transport-und Kommunikationssystem der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eine schwere Belastungsprobe dar. Die wichtigsten der in der SBZ für die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) auf rüstungsrelevanten Gebieten arbeitenden deutschen Naturwissenschaftler und Techniker wurden damals per Bahn in die UdSSR gebracht Die großangelegte Zwangsverpflichtung schloß die Familienangehörigen mit ein und kam für die meisten der Betroffenen überraschend. Gemeinsam mit den Fachleuten und ihren Familien gingen auch die entsprechenden Forschungsausrüstungen und -anlagen in Richtung Osten auf die Reise. 84 Prozent aller als soge nannte „Spezialisten“ nach 1945 in der UdSSR tätigen Deutschen wurden im Rahmen dieser Zwangsverschickung vom Oktober 1946 dorthin gebracht.
Bis heute sind die Ereignisse und Hintergründe dieses Transfers und seine Auswirkungen nur ausschnittsweise bekannt geworden. Die Forschung zu diesem Thema befindet sich noch in den Anfängen. Erst seit 1992 liegt dazu der Öffentlichkeit eine systematische Untersuchung von Ulrich Albrecht u. a. vor, die unter anderem auf eine Reihe von Forschungslücken und methodologischen Schwierigkeiten aufmerksam machte. So war es aufgrund der lückenhaften Quellenlage schwierig, Daten, Fakten und Schauplätze zu diesem Thema zu rekonstruieren. Die Öffnung der DDR-Archive bietet nun die Möglichkeit, das von Albrecht u. a. geschätzte Ausmaß des „intellektuellen Transfers“ und die von neueren Arbeiten vorgelegten Forschungsergebnisse zu überprüfen und weiterführende Fragen zu stellen.
In diesem Beitrag wird zum einen versucht, einige der bestehenden Unschärfen in der Datenbasis mit Hilfe neu erschlossener Archivalien zu beseitigen. Zum anderen sollen hier Strukturwirkungen des Spezialistentransfers hinsichtlich verschiedener Wirtschaftsbereiche für die SBZ und DDR dargelegt werden. Die Grundlage für die Analyse bildet die „Spezialistenkartei“ (Mdl-Kartei) der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des Ministeriums des Innern (MdI) der DDR aus dem Bundesarchiv Abteilungen Potsdam (BAP).
II. Struktureffekte des Spezialisten-transfers in der SBZ und DDR
Abbildung 6
Quelle: U. Albrecht u. a. (Anm. 1) S. 182. Nach BAP 34. 0, Spezialistenkartei A-Z, Sign. -Nr. 34661. Tabelle 2: Rückkehrverteilung der Spezialisten nach Jahren im Vergleich (in Prozent)
Quelle: U. Albrecht u. a. (Anm. 1) S. 182. Nach BAP 34. 0, Spezialistenkartei A-Z, Sign. -Nr. 34661. Tabelle 2: Rückkehrverteilung der Spezialisten nach Jahren im Vergleich (in Prozent)
1. Die Verschickung der deutschen Spezialisten in die UdSSR (1945-1947)
Schätzungsweise wurden am Ende des Zweiten Weltkrieges -zwischen 1945 und 1947 -rund 2 500 deutsche Spezialisten mit rund 4600 Angehörigen in die UdSSR gebracht Unmittelbar nach Kriegsende hatte die sowjetische Besatzungsmacht vor allem die für den Bau einer Atombombe notwendigen deutschen Fachkräfte ins Land geholt
Im Sommer 1945 begann die SMAD des weiteren auf dem Gebiet der SBZ eine Reihe von Versuchs-konstruktionsbüros mit deutschen Fachkräften zu bilden, deren Forschungs-und Entwicklungsaufgaben sich im wesentlichen auf rüstungsrelevante Gebiete konzentrierten Ein Teil der Fachleute aus diesen Versuchskonstruktionsbüros kam speziell in der schon erwähnten Sonderaktion vom Oktober 1946 in die UdSSR.
Die Vorauswahl für diese Aktion erfolgte im Juli 1946 Zu diesem Zeitpunkt wurde zum Beispiel den in einem Versuchskonstruktionsbüro zusammengefaßten Spezialisten der ehemaligen Junkers-Flugzeugwerke mitgeteilt, daß aufgrund eines Befehls aus Moskau eine Reduzierung des Personals vorgenommen werden müßte, da eine Fortführung von Forschungen für die weitere Rüstung unzulässig sei und man diplomatische Verwicklungen mit den westlichen Alliierten befürchte. Es wurden deshalb Listen zur Entlassung von Mitarbeitern aufgestellt. Die so erfaßten Mitarbeiter vermittelte man auch tatsächlich in andere Betriebe. Im August/September 1946 erfolgte noch einmal eine Reduzierung des Personalbestandes. Damit wußte die sowjetische Seite schließlich ziemlich genau, wer wirklich „wichtig“ war
Bis 1947 wurde dann nur noch eine kleine Anzahl von Fachleuten in die UdSSR geholt. Dies betraf insbesondere Spezialisten aus der chemischen Industrie Neben diesen Naturwissenschaftlern und Technikern nutzte die sowjetische Seite qualifizierte deutsche Kriegsgefangene und Zivilinternierte für ihre laufenden Forschungs-und Entwicklungsprogramme
2. Die Verteilung der Spezialisten vor ihrer Verschickung
Nimmt man einmal die in der Mdl-Kartei registrierten Rückkehrer als Grundlage für die nähere Bestimmung der Verteilungsstruktur der deutschen Spezialisten vor ihrer Verschickung, so waren 83 Prozent der Spezialisten vor ihrem Abtrans-port in verschiedenen Industriebranchen der SBZ tätig gewesen. Der Hauptteil der Fachleute aus der Industrie kam mit 49 Prozent aus dem Maschinenbau, wie aus Tab. 1 zu ersehen ist. Das Hauptinteresse der sowjetischen Seite richtete sich hier auf Spezialisten, die im deutschen Flugzeug-und Motorenbau beschäftigt waren. Sie stellten 96 Prozent der im Maschinenbau Tätigen. Von diesen kamen 64 Prozent aus den Junkers-Werken bei Dessau, 20 Prozent aus den in der SBZ gelegenen Betrieben der BMW und 15 Prozent aus den Siebei-Flugzeugwerken in Halle. Andere deutsche Flugzeugunternehmen wie Arado (Brandenburg, Warnemünde), Heinkel (Rostock-Marienehe, Oranienburg), Messerschmitt und Henschel (Berlin) waren lediglich mit einem Anteil von weniger als ein Prozent beteiligt.
Die Elektroindustrie nahm mit rund 16 Prozent den zweiten Platz in der Rangfolge deijenigen Industriebereiche ein, welche einen signifikanten Entzug von Fachkräften zu verzeichnen hatten. Den Schwerpunkt bildeten hier die Betriebe der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG), insbesondere die AEG-Fabriken in Berlin Ober-Spree Die SMAD wandelte diese Oberspreewerke (OSW) in die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) „Labor-und Versuchswerk Oberspree“ um. Allein aus den OSW kamen 58 Prozent der Spezialisten der Elektroindustrie. Des weiteren gründete die SMAD auf dem Gelände der Gesellschaft für Maschinenbau (GEMA) das Konstruktionsbüro „Institut Berlin“. Aus diesem Institut rekrutierten sich 15 Prozent der Fachleute aus der Elektroindustrie, die in die UdSSR gebracht wurden. Diese Gruppe beschäftigte sich im wesentlichen mit Problemen der Hochfrequenztechnik und der Fernlenkwaffenentwicklung. Hier waren allerdings auch Spezialisten aus Einrichtungen beschäftigt, die eigentlich anderen Industrie-betrieben zugeordnet werden müßten. So dürften unter anderem Fachleute aus dem Henschel-Unternehmen dort tätig gewesen sein, da sich Henschel in beträchtlichem Maße während des Krieges auf Entwicklungen für Femlenkwaffen konzentriert hatte Eine dritte große Spezialistengruppe stellte das Siemens-Unternehmen. Ihr Anteil an den Spezialisten der Elektroindustrie machte zirka 20 Prozent aus.
Aus dem Bereich der Feinmechanik/Optik holte sich die sowjetische Seite zwölf Prozent der Spezialisten, etwas weniger als aus der Elektroindustrie (Tab. 1). Hier stellte mit fast 91 Prozent das Unternehmen Carl Zeiss aus Jena den Hauptanteil. Weitere Gruppen von Spezialisten der Feinmechanik/Optik kamen aus den Schott-Werken (vier Prozent), die ebenfalls in Jena standen, und den feinmechanischen Askania-Werken.
Der vierte Industriebereich, der eine signifikante Anzahl von Spezialisten für die UdSSR stellen mußte, war die chemische Industrie mit einem Anteil von zirka vier Prozent an den Spezialisten aus der Industrie (Tab. 1). Der Hauptteil der Chemie-Spezialisten wurde aus den Leuna-Werken (Anteil 48 Prozent), der Agfa-Filmfabrik Wolfen (Anteil 23 Prozent) sowie aus Bitterfeld und von Buna abgezogen. ,
Bei der Betrachtung der nicht zu den Industrie-branchen zählenden Bereiche fällt auf, daß mit rund drei Prozent nur wenige Spezialisten direkt aus wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen kamen. Die Ursache lag wohl in der Tatsache begründet, daß durch den Krieg der überwiegende Teil der deutschen Naturwissenschaftler und Tech-niker in die Forschungsinstitute und -einrichtungen der deutschen Rüstungsindustrie gedrängt wurden. Die oben aufgeführten Industriebereiche galten ohne Zweifel als Schwerpunktbereiche der Rüstungsindustrie und -entwicklung. Ein Großteil des Forschungspersonals muß deshalb auch in den angeführten prozentualen Anteilen der Industrie-bereiche vermutet werden.
3. Tätigkeit in der UdSSR und Forschungskontrolle in der SBZ/DDR
Dieses beschriebene Strukturbild blieb in der UdSSR allerdings in dieser Form nicht weiter bestehen, da dort zum Teil neue Spezialistengruppen gebildet wurden und es zu einer weiteren „Durchmischung“ entsprechend der Forschungsprojekte kam. Nach Schätzungen von Albrecht u. a. gab es in der UdSSR nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 59 deutsche „Spezialisten“ -Gruppen und eine Reihe von Einzelforschem, die sich maßgeblich auf den Gebieten Chemie (3 Prozent), Optik (12 Prozent), Raketen Prozent), Flugzeugentwicklung (35 Prozent), Marine (3 Prozent) und Atomforschung (11 Prozent) betätigten 17. Hinsichtlich der Verteilung der Spezialisten auf bestimmte Forschungsgebiete muß jedoch der von Albrecht u. a. angenommene Anteil der Luftfahrt-forschung wesentlich höher veranschlagt werden, wenn man davon ausgeht, daß 47 Prozent der Spezialisten -gemessen am Gesamtumfang vor der Verschickung -in Unternehmen des Flugzeug-und Triebwerksbaus beschäftigt waren. Dagegen dürfte der von Albrecht u. a. ausgewiesene Anteil der deutschen Spezialisten an der Raketenforschung eher geringer gewesen sein. Für die Optik und Chemie stimmen die Anteile dieser Forschungsbereiche weitestgehend mit den prozentualen Anteilen der Industriestruktur vor der Verschickung überein, wie Tab. 1 zeigt.
Parallel zum Spezialistentransfer liefen in den verbliebenen Versuchskonstruktionsbüros bzw. Wissenschaftlich-technischen Büros, die meist zu SAGs gehörten, weniger brisante Forschungsarbeiten in der SBZ/DDR weiter. Ferner wurden die Hochschulen, Universitäten sowie wieder zugelassene wissenschaftliche Institute der SBZ/DDR mit Forschungsaufträgen verschiedener SAG-Betriebe oder sowjetischer Ministerien betraut Die mei-sten der Forschungs-und Entwicklungsprojekte, die nicht unter die alliierten Produktions-und Forschungsbeschränkungen fielen, mußten ungeachtet dessen ein Genehmigungsverfahren bei der SMAD/Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) durchlaufen Das gleiche traf auch für neu zu gründende wissenschaftliche Forschungseinrichtungen und deren Forschungspläne zu So konnten auf der Grundlage der alliierten Kontrollratsbestimmungen über die Entmilitarisierung Deutschlands die in der SBZ/DDR verbliebenen Naturwissenschaftler und Techniker sehr wirksam überwacht und unter anderem auch weiter indirekt für die sowjetische Rüstungsindustrie genutzt werden
4. Die Rückführung der deutschen Spezialisten aus der UdSSR (1949-1958)
Die Rückkehrdaten der Mdl-Kartei bestätigen die von Albrecht u. a. ermittelten Remigrationsschübe weitestgehend. Allerdings ergibt sich hinsichtlich der Relationen der Rückkehrschübe in den Jahren 1950 bis 1956 bei den Daten der Mdl-Kartei ein anderes Bild, wie Tab. 2 verdeutlicht.
Die eigentliche Rückführung der Spezialisten aus der UdSSR begann 1950. Damit wird indirekt verdeutlicht, daß nach etwa vier bis fünf Jahren die sowjetische Seite das Wissen der Deutschen meist abgeschöpft hatte. Nach der „Abschöpfungsphase“ (1945-1950/51) folgte eine „Abkühlungsphase“ (1951-1958), in der die in der UdSSR weiter verbliebenen deutschen Spezialisten sich mehr und mehr mit zivilen Forschungsprojekten beschäftigen konnten. Die territoriale und informelle Isolation in der UdSSR schränkte die Bedeutung solcher Forschungsarbeiten jedoch ein.
Die Betrachtung der Rückwanderung unter dem Aspekt der Beschäftigungsstruktur vor der Verschickung der Spezialisten (Tab. 1 und 2) zeigt, daß bis 1955 das Gros der Spezialisten aus dem Maschinenbau, der Elektroindustrie, Feinmecha-nik/Optik und Chemie in die DDR zurückgekehrt war. Während die Spezialisten des Maschinenbaus „permanent“ in großen Schüben zwischen 1950 und 1954 zurückkehrten, waren für die Rückkehrer, die ehemals aus der Elektroindustrie kamen, in den Jahren 1950 und 1952 Migrationsschübe zu verzeichnen. 83 Prozent der Spezialisten aus dem Bereich Feinmechanik/Optik kamen im Jahre 1952 aus der UdSSR zurück, und von den Chemie-Fachleuten erhielten die meisten ihre Rückkehrerlaubnis 1951 und 1954. Der größte Teil der bei der Verbringung direkt aus dem Bereich „Forschung“ mitgenommenen Spezialisten traf ab 1954 in der DDR ein. Etwa 68 Prozent der im Oktober 1946 zwangsverpflichteten Raketenforscher kehrten 1952 aus der UdSSR zurück. Das gleiche traf auch für 78 Prozent der Spezialisten aus dem Carl-Zeiss-Untemehmen zu. Viele der Atomforscher, die als erste in die UdSSR gebracht wurden, konnten ab 1955 nach Deutschland zurückkehren
Die DDR-Führung brachte den Rückkehrern große Aufmerksamkeit entgegen, da man sich von diesen Spitzenkräften belebende Impulse im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit der DDR-Wirtschaft und einen Reputationsgewinn versprach So versuchte man, den heimkehrenden Spezialisten und ihren Familien die meisten ihrer -für die damalige Zeit nicht einfachen -Wünsche zu erfüllen. Dies löste unter der Bevölkerung einigen Mißmut aufgrund der Bevorzugungen aus. Es gab vor allem Probleme bei der beruflichen Neuorientierung und bei den Arbeitsverträgen durch hohe Gehaltsforde-rungen der Spezialisten sowie Unstimmigkeiten bei der Betreuung der Rückkehrer unter den Mitarbeitern in den staatlichen Stellen
Die Intensität der Aufmerksamkeit der DDR-Führung nahm ab 1953 noch weiter zu, als die sowjetische Seite immer mehr darauf drängte, den verbliebenen hochqualifizierten deutschen Spezialisten in der UdSSR lukrative Arbeitsmöglichkeiten in der DDR zu bieten, um einer Abwanderung in den Westen entgegenzuwirken Darüber hinaus gingen die Sowjets auch unterschwellig davon aus, daß die zurückgekehrten deutschen Spezialisten schnell wieder ihren Platz in der „scientific Community“ des geteilten Deutschlands finden würden und wissenschaftliche und technische Informationen aus dem Westen damit vielleicht leichter für die UdSSR zugänglich sein würden. In diesem Sinne äußerte sich jedenfalls im Oktober 1955 ein Sowjetunion-Spezialist in einem Gespräch mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Er wies darauf hin, daß die UdSSR außerordentlich daran interessiert sei, „unsere Beziehungen zu Westdeutschland und zu den kapitalistischen Ländern zu benutzen, damit wir auf diese Art die neuesten Informationen empfangen können“. Weiter heißt es, „wir hätten die Aufgabe, das, was für die Sowjetunion schwer zu beschaffen ist, zu besorgen“
Die Befürchtungen einer hohqn Abwanderung von Spezialisten in den Westen war durchaus zutreffend. Aus der Spezialistenkartei des MdI ergab sich ein Anteil von zirka elf Prozent an Spezialisten, die in den Westen abgewandert waren. Da aber davon ausgegangen werden muß, daß diese Eintragungen nicht durchgängig beim MdI erfolgten bzw. ab 1958 mit dem Eintreffen der letzten Spezialisten die Angelegenheit abgeschlossen wurde und es damit noch bis zum Bau der Mauer drei -in dieser Kartei nicht erfaßte -Jahre der „offenen“ Grenze gab, muß mindestens ein Anteil von 20 bis 25 Prozent vermutet werden
5. Die Qualifikationsstruktur
Die ermittelte Qualifikationsstruktur der deutschen Spezialisten in der UdSSR bestätigt die angenommene Relation von Albrecht u. a. hinsichtlich der „Akademiker“ zu den „Nicht-Akademikern“ und zeigt, daß fast die Hälfte der Spezialisten „Nicht-Akademiker“ (45 Prozent) waren, d. h. Facharbeiter, Techniker, Meister oder Vorarbeiter. Die USA hatten im Gegensatz dazu nicht mehr als schätzungsweise fünf bis zehn Prozent „Nicht-Akademiker“ als deutsche Spezialisten im Rahmen ihres Wissenschaftlerprogramms „Project Paperclip“ (ab 1946) herangezogen Bei den „Akademikern“ (55 Prozent) betrug der Anteil der Professoren etwa ein Prozent und deijenigen mit Doktortitel rund 16 Prozent. Der Ingenieursanteil machte zirka 83 Prozent -gemessen an allen „Akademikern“ -aus und war vor allem dem Interesse der sowjetischen Seite geschuldet, Spezialisten der angewandten Forschung anzuwerben (Tab. 3) Die bereits erwähnte überwiegende Rückkehr der Spezialisten aus dem Bereich „Forschung“ ab 1954 weist auch darauf hin, daß die höher qualifizierten bzw. wichtigeren Spezialisten zeitlich verzögert zurückkehrten. So betrug beispielsweise bei den im Juli 1954 zurückgekehrten letzten Luftfahrt-und Triebwerksspezialisten das Verhältnis der „Akademiker“ zu den „Nicht-Akademikern“ 133 zu 15. Diese Tatsache war den verantwortlichen Stellen schon frühzeitig bekannt. Im Zusammenhang mit den bestehenden Problemen bei der Eingliederung der Spezialisten heißt es in einem Bericht vom Juni 1952 hierzu, daß „die jetzt noch in der SU weilenden Spezialisten hohe Qualifikation besitzen und darum in jeder Beziehung gut betreut werden müssen“ Während anfangs die Rückkehrankündigungen durch die sowjetischen Stellen meist kurzfristig und überraschend eintrafen, wurden die deutschen Stellen auf die den Sowjets wichtig erscheinenden deutschen Fachleute ausreichend vorbereitet. Ende 1954 reisten hierzu unter anderem SED-Parteifunktionäre in die UdSSR und erstellten nach Einsichtnahme der notwendigen Unterlagen und Gesprächen einen ausführlichen Bericht über die noch verbliebenen deutschen Spezialisten in der UdSSR. Er beinhaltete Bewertungen über die politische Einstellung, die Verbindungen zum Westen, mögliche Perspektiven für die Betreffenden in der DDR und Hinweise für die operative Bearbeitung durch das MfS
6. Die Verteilung der Spezialisten nach ihrer Rückkehr (1950-1958)
Die schon aus der Verteilungsstruktur vor der Verschickung der deutschen Spezialisten bekannte Rangfolge bei den Wirtschaftsbereichen war auch nach der Rückführung erhalten geblieben. Prinzipiell verschob sich die Struktur bei der Rückkehr weiter in Richtung zu den „nichtproduzierenden Bereichen“ (Tab. 1).
Die meisten der zurückgekehrten Spezialisten arbeiteten nach ihrer Rückkehr wieder im Maschinenbau. Der überwiegende Teil ging in den Fahrzeug-bzw. Schiffsbau (45 Prozent). Später wechselten viele dieser Spezialisten in die 1954 neugegründete und 1961 wieder aufgelöste Flugzeugindustrie der DDR. Es zeigt sich aber, daß der Maschinenbauanteil bei den Spezialisten im Vergleich zum Anteil vor der Verschickung signifikant zurückgegangen war. Dieser Rückgang kam vor allem durch den Wechsel einer Reihe von Spezialisten in andere Industriebereiche, wie z. B. in die Elektroindustrie (zirka acht Prozent), und durch „Westabgänge“ zustande. Etwa neun Prozent der vor der Verschickung im Maschinenbau beschäftigten Spezialisten galten des weiteren bei ihrer Rückkehr als „ungeklärte Fälle“.
Der leichte Rückgang bei den im Bereich Elektroindustrie eingestellten Spezialisten hatte insbesondere mit der Abwanderung von ehemals zur Elektroindustrie zählenden Fachleuten zum Rundfunk zu tun. Von den bei ihrem Abtransport als Rake-tenspezialisten geführten Fachkräften gingen zirka 60 Prozent in verschiedene Industriebereiche, davon mehr als die Hälfte in den Maschinenbau. Rund sieben Prozent der Raketenleute kamen bei ihrer Rückkehr in Forschungsinstitutionen der DDR unter, und 15, 5 Prozent wanderten in den Westen ab (Tab. 1). Der Forschungsbereich hatte ganz allgemein von der Rückführung der „SU-Spezialisten“ profitiert, wobei in dem hier zugrunde gelegten Anteilswert die Industrieforschung nicht berücksichtigt ist.
Grundsätzlich wirkte sich der Weggang von Spezialisten nach Westdeutschland auf die absolute Verteilung nach der Rückkehr nachhaltig aus. Diese Tatsache war für die Verantwortlichen auch immer wieder Anlaß zur Feststellung, daß die Abwanderung in den Westen eine erhebliche politische Bedeutung besitze und die Arbeit der Eingliederung deshalb verbessert werden müsse
III. Schlußbemerkungen
Abbildung 7
Tabelle 3: Die Qualifikationsstruktur der deutschen Spezialisten im Vergleich (in Prozent)Quelle: s. Tab. 2.
Tabelle 3: Die Qualifikationsstruktur der deutschen Spezialisten im Vergleich (in Prozent)Quelle: s. Tab. 2.
Die Nutzung deutscher Fachkräfte durch die alliierten Siegermächte erreichte durch den nahtlosen Übergang in den Kalten Krieg eine Eigendynamik, die zu einer unerwarteten Aufwertung des deutschen Wissenschaftspotentials in den einzelnen Besatzungszonen Deutschlands führte. Da eine klare völkerrechtliche Grundlage für die Vereinnahmung des geistigen Eigentums und der Spezialisten, die über entsprechendes Wissen verfügten, im Jahre 1945 fehlte, schufen sich die -Alliierten eine entsprechende Rechtfertigung Eine zumindest sehr weite Auslegung des Spezialistentransfers lieferte in diesem Sinne die Proklamation Nr. 2 des Alliierten Kontrollrates vom 5. Juni 1945 Albrecht u. a. stellten in diesem Zusammenhang fest, daß ein „Meisterplan“, wie ihn die Amerikaner mit dem „Project Paperclip“ versucht hatten, der sowjetischen Seite jedoch fehlte. Vielmehr bestimmte vorbehaltloser Pragmatismus das Handeln, der „dann mit erstaunlichem organisatorischen Aufwand umgesetzt wurde“ Die großangelegte Aktion vom Oktober 1946 muß beispielsweise vorrangig als eine direkte Reaktion auf das angelaufene amerikanische „Project Paperclip“ angesehen werden
Die Auswirkungen des Spezialistentransfers in die UdSSR für die SBZ bestanden wohl vor allem darin, daß es durch den Entzug von Fachkräften auch zu einer weiteren Demontage der mit diesen Spezialisten verbundenen und einheitlich gewachsenen industriellen Struktur und „Forschungslandschaft“ kam. Dies betraf zwar vor allem Betriebe, die unter die alliierten Festlegungen über die Liquidierung der Rüstungsindustrie und -fprschung fielen, doch wurden durch diese radikal vorgenommenen „Entnahmen“ von Personen und Anlagen ohne Zweifel die Ausgangsbedingungen in Ostdeutschland weiter nachteilig beeinflußt.
Die Heimkehr der „SU-Spezialisten“ für die DDR hatten allerdings nicht die von der DDR-Führung erwarteten innovationsfördernden Effekte gebracht. Zwar wurden beachtliche Anstrengungen unternommen, so beispielsweise durch die Initiierung von Forschungsprogrammen, die Neugründungen von wissenschaftlichen Institutionen oder den schon genannten Neuaufbau eines ganzen Industriezweiges wie der Flugzeugindustrie Doch die Ausrichtung der Forschungs-und Industrie-politik auf die osteuropäischen Länder hatte zur Folge, daß ein Exportbedarf auf die DDR zukam, der nur untergeordnet kostenintensive und qualitativ anspruchsvolle Produkte berücksichtigte. Noch schmerzlicher war die weiter fortschreitende Auf-lösung der Verflechtungsbeziehungen der ostdeutschen Exportindustrie mit dem offenen Weltmarkt. Die „Innovationsträgheit“ der DDR-Planwirtschaft konnten auch die zurückkehrenden deutschen Spezialisten nicht verhindern.
Abschließend sei angemerkt, daß vielen der deutschen Spezialisten die Zwangsverschickung zum Zeitpunkt des Abtransports nicht durchweg als eine Art Verschleppung oder „Entführung“ erschien. Ein großer Teil der Spezialisten stand plötzlich aufgrund ihrer Forschungs-und Entwicklungsarbeiten für den Krieg ohne berufliche Perspektive da. Die mit der Zuteilung von Nahrung und anderen Mangelgütern gut abgesicherte Tätigkeit für die sowjetische Seite machte es vielen leicht, sich in der schwierigen Nachkriegszeit für die sowjetischen Angebote zu entscheiden Der Physiker Werner Holzmüller bemerkte in seinen Erinnerungen in diesem Zusammenhang: „In jenen Tagen kam bei uns der Gedanke, daß es sich bei der Übersiedlung um einen rechtlosen Akt handelte, um eine Zwangsverpflichtung... gar nicht auf. Im Gegenteil: Die damaligen Verhältnisse in Berlin und die Befürchtung, es könne zu einer Hungersnot kommen, ließen die Hoffnung aufkommen, daß wir einer guten Zukunft entgegengingen.“
Bisher hat hinsichtlich der „Mentalität der Akteure“ eine Aufarbeitung dieses Aspektes der Geschichte ernsthaft noch nicht stattgefunden. Der amerikanische Historiker Mitchell G. Ash warnte in diesem Zusammenhang vor einer naiven Moralisierung des Themas. Eine Beurteilung der Tätigkeit der deutschen und alliierten Wissenschaftler während und nach dem Krieg nach dem Muster vorzunehmen, „wer gute Wissenschaft gemacht hat, muß auch ein guter Mensch gewesen sein, ist empirisch nicht haltbar; leider gilt die Umkehrung dieses Satzes ebensowenig“ Ash fordert deshalb eine Historisierung dieser Thematik und bemerkte, daß die Fachwelt „sich wohl auf etwas kompliziertere Deutungs-und Bewertungsmuster einrichten“ muß.
Burghard Ciesla, Dr. oec., geb. 1958; Studium der Geschichtswissenschaften in Berlin; Stipendiat am Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Johannes Vogler. Von der Rüstungsfirma zum volkseigenen Betrieb. Aufzeichnungen eines Unternehmers der sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1948, München 1992; Die Entwicklung der Fischindustrie in der SBZ/DDR nach 1945, in: Unternehmen zwischen Markt und Macht, Bochumer Schriften zur Unternehmens-und Industriegeschichte, Bd. 1, Essen 1992; Das „Project Paperclip“ -deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in den USA (1946-1952), in: Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, hrsg. von Jürgen Kocka, Band 1 (i. E.).
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