Die Politik der Aufnahme von deutschstämmigen Zuwanderern aus den deutschen Ostgebieten und Osteuropa gliedert sich in drei große Phasen: In der Nachkriegszeit mußten über acht Millionen Heimatvertriebene unter äußerst schwierigen Bedingungen versuchen, in Westdeutschland (und vier Millionen in der SBZ/DDR) einen Ersatz für ihre verlorene Heimat zu finden. In der Ära des Kalten Krieges und in den ersten Jahren nach dem Umbruch in Osteuropa nahm die Bundesrepublik über zwei Millionen „Aussiedler“ auf. Seit der Zeitenwende 1989/90 versucht die deutsche Aussiedlerpolitik, sich an die gewandelten Bedingungen in Osteuropa anzupassen. Die „Spätaussiedler“, die seit 1993 nach Deutschland kommen, bilden eine Brücke zwischen der alten Rolle einer Fluchtburg, die die Bundesrepublik für die Deutschstämmigen war, und der neuen Aufgabe eines Schutzherrn für die drei Millionen Angehörigen deutscher Minderheiten in Osteuropa.
I. Integration der Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg
In der Schlußphase des Zweiten Weltkrieges und nach dem Kriegsende flohen deutsche Staatsangehörige und Angehörige deutscher Minderheiten vor der Roten Armee oder wurden von staatlichen Stellen und andersnationalen Bevölkerungsgruppen aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben, in denen sie zum Teil seit Jahrhunderten ansässig waren. An ihnen entluden sich die Haß-und Rache-gefühle für die Greueltaten der Nationalsozialisten und der Wehrmacht. Dabei war völlig unerheblich, ob sie selber Teil der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches gewesen waren, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit schon vor dem Krieg besessen oder erst während des Krieges durch die Volkslisten-und Sammeleinbürgerungspolitik erhalten hatten oder ob sie lediglich Nachfahren deutscher Auswanderer waren, die vor Jahrhunderten in Ost-und Südosteuropa eine neue Heimat gefunden hatten. Allein ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft reichte aus, um über 14 Millionen Menschen mit dem Verlust ihres Lebens, ihrer Heimat und ihrer gesamten Habe für die barbarischen Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen worden waren, bezahlen zu lassen.
Acht Millionen von ihnen fanden in den westlichen Besatzungszonen Zuflucht, wo sie aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen und alliierter Meinungsverschiedenheiten über die Behandlung der Vertriebenen eher schlecht als recht versorgt waren. Erst als sich mit dem Auftrag zur Ausarbeitung einer westdeutschen Verfassung drei Jahre nach Kriegsende der Übergang der Regierungsgewalt -und damit der Zuständigkeit für die Heimatvertriebenen -von den westlichen Besatzungsmächten auf deutsche Stellen abzeichnete, konnte mit der politisch-administrativen Integration der Vertriebenen begonnen werden.
Neben der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung mußte eine staatsangehörigkeitsrechtliche Lösung gefunden werden, die die Vertriebenen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit, denen die Rückkehr in ihre Heimat gleichermaßen verwehrt war, und die Westdeutschen rechtlich gleichstellte, weil knapp ein Sechstel der Bevölkerung nicht ohne politische Partizipationsrechte im neuen demokratischen (West-) Deutschland bleiben konnte. Der einfachste Weg wäre gewesen, alle Deutschen in den Westzonen zu Bürgern der zu gründenden Bundesrepublik zu erklären. Dies aber hätte die deutsche Teilung rechtlich besiegelt und schied als Lösung aus.
Der Parlamentarische Rat umging die Frage der Staatsangehörigkeit mit Artikel 116 I GG, der den Deutschen „im Sinne dieses Grundgesetzes“ schuf.Darunter fällt, wer entweder „die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. 12. 1937 Aufnahme gefunden hat“. Das Grundgesetz unterscheidet somit zwischen deutschen Staatsangehörigen und anderen Personen deutscher Volkszugehörigkeit -den sogenannten Statusdeutschen denen nach der Aufnahme in Deutschland ebenfalls alle in der Verfassung garantierten Rechte zustehen Dadurch galten diejenigen Angehörigen deutscher Minderheiten aus Osteuropa, die in die Westzonen geflüchtet waren, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, nicht als Staatenlose oder Ausländer, sondern erhielten alle Rechte und Pflichten deutscher Staatsbürger Darüber hinaus bewahrte die Formulierung in Artikel 116 I GG durch den Verzicht auf eine bundesdeutsche Staatsangehörigkeit die Idee der deutschen Nation als kulturelle, sprachliche und ethnische Einheit trotz der staatsrechtlichen und politischen Teilung Deutschlands.
Die Heimatvertriebenen nutzten ihre politische Gleichberechtigung, die ihnen das Wahlrecht und das Recht zur Gründung eigener Verbände und Parteien gab, zur friedlichen, aktiven Vertretung ihrer Interessen im Gesetzgebungsprozeß. Die von den Vertriebenen erreichten gesetzlichen Ausgleichsleistungen minderten die materiellen Schäden, die durch den Verlust an Grundbesitz, Privatvermögen, Hausrat usw. entstanden waren. Kriegsschadenrenten, Eingliederungskredite und Wohnungshilfen erleichterten den Vertriebenen die wirtschaftliche -und damit die soziale -Integration Das zentrale Gesetz zur Eingliederung der Heimatvertriebenen trat 1953 in Kraft. Im Bundesvertriebenen-und Flüchtlingsgesetz wurden weitere Integrationsmaßnahmen sowie der verwaltungstechnische Rahmen für die Überprüfung der Voraussetzungen festgelegt, die für den Erhalt der Leistungen erfüllt sein mußten.
II. Von der Vertriebenen-zur Aussiedlerpolitik
Mit der Fixierung der Voraussetzungen im Bundesvertriebenengesetz wurde der Grundstein für die weitere Aufnahme von Personen deutscher Abstammung aus Osteuropa gelegt, obwohl die eigentliche Vertreibung 1953 schon abgeschlossen war. Der Status eines Vertriebenen wurde nämlich in § 1 auch auf Personen ausgedehnt, die „nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien oder Albanien verlassen“ haben. Mit dieser Erweiterung des Vertriebenenbegriffs vergrößerte sich auch der Kreis der Anspruchsberechtigten im Sinne von Artikel 116 I GG: In die Kategorie der Statusdeutschen fielen nicht mehr allein die Heimatvertriebenen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, sondern auch die „Aussiedler“, die im Grundgesetz nicht vorgesehen waren und die erst durch das Bundesvertriebenengesetz einbezogen wurden.
Dieser Schritt erklärt sich in erster Linie aus dem Willen, den in Osteuropa verbliebenen Deutschen so weit wie möglich zu helfen: Mit Beginn der fünfziger Jahre wurde ihnen nicht nur die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland verboten. Überall in Osteuropa wurde außerdem massiver Assimilationsdruck auf die Angehörigen der deutschen Minderheiten ausgeübt, der sie zur Verleugnung ihrer kulturellen Wurzeln zwingen sollte. Bekannten sie sich dennoch zu ihrer Kultur und Sprache, so mußten sie mit Verfolgung und Unterdrückung rechnen.
In Polen drohte beispielsweise beim öffentlichen Gebrauch des Deutschen der Verlust des Arbeitsplatzes; die Existenz einer deutschen Minderheit wurde von offizieller Seite bis zum Ende des alten Regimes trotz der zahlreichen Aussiedler aus Polen beharrlich abgestritten Die Rumänien-Deutschen konnten zwar ihre Muttersprache sprechen, waren aber rechtlichen, politischen und ökonomischen Diskriminierungen ausgesetzt In der Sowjetunion, in der Stalin nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht knapp eine Million Deutsche von der Wolga nach Sibirien und Kasachstan deportieren ließ (wobei etwa eine Viertelmillion umkamen), wurde die deutsche Minderheit zwar 1955 rehabilitiert, eine Entschädigung wurde ihr jedoch ebensowenig gewährt, wie die Rückkehr in die angestammten Siedlungsgebiete
Die genannten Verfolgungen und Diskriminierungen der deutschen Minderheiten werden im Aussiedlerrecht als Spätfolgen des Krieges und der allgemeinen Vertreibung angesehen. Die Aussiedler verlassen „als Nachzügler der allgemeinen Vertreibung“ ihre Siedlungsgebiete aufgrund eines fortdauernden, gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Vertreibungsdrucks. Die Vorkehrung im Bundesvertriebenengesetz, auch künftig Deutsch-stämmige aus Osteuropa aufzunehmen, setzte -so eingeschränkt diese Aufnahme wegen der Ausreisesperre auch bleiben mußte -ein Zeichen der Solidarität mit den Deutschen, die allein wegen ihrer deutschen Abstammung und Kulturzugehörigkeit staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen, Diffamierungen und Feindseligkeiten der übrigen Bevölkerung ausgesetzt waren. Sie sollten wenigstens -sofern sie denn ausreisen durften -in der Bundesrepublik Aufnahme finden, Hilfe bei der Eingliederung sowie eine Entschädigung für ihre Entbehrungen und Verluste erhalten.
Die humanitäre Motivation der Solidaritätsbekundung war nicht allein ausschlaggebend für die Aussiedlerpolitik. Die Hilfe muß auch im Lichte der politischen Interessen, die die Bundesrepublik unter den Vorzeichen der Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg verfolgte, gesehen werden. Jeder Wechsel aus dem Ostblock in den Westen war zunächst einmal begrüßenswert. Jeder Aussiedler war überdies aufgrund der automatischen Einstufung als „Vertriebener“ ein lebender Beweis für die menschenverachtende Politik der kommunistischen Staaten, deren Opfer im Westen Schutz fanden. Möglichst weite Kriterien für die Anerkennung von Aussiedlern wurden beiden Intentionen -der Hilfeleistung und dem politischen Signal -gerecht.
III. Aussiedleranerkennung zwischen humanitärer Intention und Ost-West-Konflikt
Im Verfahren der Aussiedleranerkennung wurden (und werden) zwei Tatbestände überprüft: die deutsche Staatsangehörigkeit bzw. Volkszugehörigkeit und das Vorliegen eines gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Vertreibungsdrucks, dessen Folge die Aussiedlung ist. Bis 1993 wurde bei der Anerkennung der Aussiedler davon ausgegangen, daß der fortdauernde Vertreibungsdruck ursächlich für das Verlassen der Heimat gewesen sei. Ein Nachweis von gezielten Unterdrückungsmaßnahmen wurde nicht verlangt. Für den Fall, daß die Vertriebenenbehörden vertreibungsfremde Ausreisegründe vermuteten, mußten sie ihren Verdacht zweifelsfrei belegen 10. Ein solcher Nachweis konnte allein schon deswegen nur selten gelingen, weil unter Vertreibungsdruck nicht nur die staatlichen Assimilationsmaßnahmen und die Diffamierungen durch die übrige Bevölkerung verstanden wurden, sondern auch schon die Vereinsamung der im Vertreibungsgebiet zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung
Die deutsche Staatsangehörigkeit bestimmt sich allein nach bundesdeutschem Recht. Vor dem Hintergrund des Zieles, einer möglichst großen Zahl von Deutschen in den kommunistischen Staaten zu helfen, konnte also festgesetzt werden, daß die Deutschen in Osteuropa, die vor dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder sie während des Krieges im Zuge der nationalsozialistischen Einbürgerungspolitik erhielten, die Rechte deutscher Staatsbürger auch weiterhin geltend machen konnten, obwohl sie zusätzlich die Staatsangehörigkeit ihrer Herkunftsländer besaßen. Das Abstammungsprinzip bewirkte überdies, daß auch die Nachkommen der deutschen Staatsangehörigen in Osteuropa noch die deutsche Staatsangehörigkeit und damit ein Recht auf Einbürgerung in die Bundesrepublik hatten.
Durch die Anerkennung der nationalsozialistischen Einbürgerungen wurde der Kreis der durch das Aussiedlerrecht begünstigten Personen erheblich erweitert. Die per Sammeleinbürgerung zu deutschen Staatsbürgern erklärten Personen in der Tschechoslowakei, den annektierten Teilen Polens, in Litauen, der Ukraine etc. behielten aufgrund des Staatsangehörigkeitsregelungsgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit. Dies trifft auch für die aufgrund der äußerst fragwürdigen „Volkslisten“ -Verordnungen eingebürgerten Personen zu. Im Unterschied dazu sind die Sammeleinbürgerungen von Deutschen in Luxemburg, Elsaß-Lothringen und den belgischen Gebieten Eupen und Malmedy nach dem Krieg für völkerrechtswidrig und wirkungslos erklärt worden
Diejenigen Antragsteller, die nicht im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit waren, mußten im Aussiedleranerkennungsverfahren ihre deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen. Nach § 6 des Bundesvertriebenengesetzes ist deutscher Volkszugehöriger, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird“. Das geforderte Bekenntnis zum „deutschen Volkstum“ bedeutet nicht etwa -wie auf den ersten Blick vermutet werden könnte -ein besonderes Engagement in Brauchtumsvereinen oder . ähnlichen Organisationen. Es bezeichnet vielmehr ein persönliches Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Kulturgemeinschaft, das der Umwelt z. B. durch Angaben bei Volkszählungen oder Einträgen in Personalpapieren bekundet worden ist.
Die Zahl der Personen, die eine Vertreibung aufgrund ihres Bekenntnisses geltend machen kann, wird dadurch vergrößert, daß nicht nur diejenigen erfaßt werden, die sich vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen -also bis 1945 -zur deutschen Kultur bekannt hatten. Neben diesen wurde auch bei ihren Kindern, die 1945 für ein solches Bekenntnis noch zu jung waren („Frühgeborene“) oder erst nach Kriegsende geboren worden sind („Spätgeborene“) und denen ein öffentliches Bekenntnis aufgrund der politischen Umstände nicht mehr zugemutet werden konnte, ein Bekenntnis angenommen, wenn in der Familie die deutsche Kultur überliefert wurde Eine Ausdehnung auf weitere Generationen von Spätgeborenen -wiewohl im Verwaltungsalltag praktiziert -stieß schon 1976 auf juristische Bedenken, als das Bundesverwaltungsgericht die Ausdehnung des Vertriebenenstatus auf einen größeren Personenkreis als „sehr zweifelhaft“ bezeichnete. Der Aufforderung an den Gesetzgeber, für entsprechende Anpassungen zu sorgen, kam dieser erst 1992 nach, als er mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz einen -allerdings äußerst großzügigen -Stichtag für die Beendigung der Zuerkennung des Vertriebenenstatus festsetzte
Nach dem bis 1992 geltenden Recht wurden auch nichtdeutsche Ehepartner von Aussiedlern als Vertriebene angesehen. Dieser Vorschrift aus § 1 III des Bundesvertriebenengesetzes lag die Über-zeugung zugrunde, daß der nichtdeutsche Partner indirekt von dem gegen den deutschen Gatten gerichteten Vertreibungsdruck betroffen war. Selbst ohne deutsche Volkszugehörigkeit konnte also ein Anspruch auf Eingliederungshilfen geltend gemacht werden. Da das Grundgesetz Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt, wäre die Aufnahme nichtdeutscher Ehegatten von Aussiedlern auch ohne die gesonderte Statusvorschrift garantiert gewesen. Die Vermutung liegt daher nahe, daß die Verleihung eines selbständigen Vertriebenenstatus für Ehepartner mit Blick auf die System-konfrontation die Zahl der Vetriebenen erhöhen und damit dem Vorwurf menschenrechtsunfreundlichen Verhaltens Nachdruck verleihen sollte.
Die Rolle, die die Systemkonfrontation bei der Gestaltung der Aussiedlerpolitik von den fünfziger Jahren an spielte, zeigt sich überdeutlich in der Auswahl der Herkunftsstaaten potentieller Aussiedler. Deutsche Minderheiten in Westeuropa wurden staatlicherseits nicht unterdrückt und konnten nicht in den Genuß der rechtlichen Vorteile und Eingliederungshilfen kommen. Hingegen sollten diejenigen Deutschen, die unter kommunistische Herrschaft geraten waren, möglichst unproblematisch aufgenommen werden können. Fern von jedem Bezug zur Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deshalb 1957 auch die Volksrepublik China in den Katalog der Aussiedlungsgebiete aufgenommen Die Richtlinien der Bundesländer zum Bundesvertriebenengesetz, die sogenannten „Vertreibungsdruckrichtlinien“, stellen klar, daß der Gesetzgeber „es den in diesen Gebieten zurückgebliebenen Deutschen nicht zumuten wollte, unter den politischen Verhältnissen, die sich dort im Zusammenhang mit den Ereignissen des Krieges und der Entwicklung der Nachkriegsjahre ergeben hatten, weiterhin zu leben“. „Damit“, heißt es weiter, „erweist sich der Gebietsbezug ... als System-und Ideologiebezug“
Der „Ideologiebezug“ der Aussiedleranerkennung zeigt sich auch an der Vorkehrung in § 11 des Bundesvertriebenengesetzes von 1971 Demnach ist von den Rechten und Vergünstigungen des Vertriebenenstatus ausgeschlossen, wer in den kommunistischen Staaten dem „herrschenden System erheblich Vorschub geleistet hat oder leistet“ oder wer „die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Landes Berlin bekämpft hat oder bekämpft“. In Ergänzung dazu bestimmen die Vertreibungsdruckrichtlinien der Bundesländer, daß eine besondere Untersuchung des Einzelfalls geboten ist, wenn der Antragsteller eine „hervorgehobene politische Stellung“ innegehabt hat, oder eine berufliche Position „nicht ohne eine besondere Bindung an das politische Regime im Herkunftsstaat erreicht werden konnte“. Allerdings sei andererseits nicht jede gehobene berufliche Stellung geeignet, „den Vertreibungsdruck allein aus diesem Grund zu verneinen“. Zugunsten einer wohlwollenden Anerkennung wurde in solchen Fällen offenbar der Widerspruch übersehen, der zwischen einer gehobenen beruflichen Position, die in den kommunistischen Staaten nicht gegen den Willen des Regimes erreicht werden konnte, und der Unterstellung einer grundsätzlichen Unterdrückung ausnahmslos aller Deutschen in Osteuropa besteht.
IV. Herausforderungen und Chancen: Aussiedlerpolitik nach dem Umbruch in Osteuropa
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa ist das Koordinatensystem der Aussiedlerpolitik gründlich verschoben worden. Die Aufnahme von Deutschstämmigen aus Osteuropa, die bis dahin von einem humanitären Anliegen und einer Prise außenpolitischen Kalküls bestimmt war, ist durch das Ende der Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges und die gewandelten politischen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern der Aussiedler unter erheblichen Veränderungs-und Anpassungsdruck geraten. Der deutschen Aussiedlerpolitik sind mit den Reformen aber auch völlig neue Wege eröffnet worden, die zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensumstände der deutschstämmigen Minderheiten führen und somit den Abwanderungsdruck entscheidend verringern können. 1. Reaktionen auf gestiegene Zugangszahlen Eine der in Westeuropa und insbesondere in Deutschland spürbarsten Folgeerscheinungen der politischen und wirtschaftlichen Transformation im Ostteil des Kontinents ist das Entstehen einer umfangreichen Wanderungsbewegung von Ost nach West. Die deutschstämmigen Aussiedler sind ein Teil dieses Migrationsstromes, dessen Eindämmung nunmehr angestrebt wird, da die Ausreise aus den osteuropäischen Staaten nicht mehr behindert wird und ihre quantitative Dimension die Aufnahmemöglichkeiten bei weitem übersteigt.
In einigen Staaten Osteuropas ging der völligen Ausreisefreiheit nach den revolutionären Umstellungen eine schrittweise Lockerung der Handhabung von Ausreiseanträgen voraus, in deren Genuß auch die Deutschstämmigen kamen: Während sich die Zahl der Aussiedler zwischen 1983 und 1985 relativ konstant auf rund 38 000 Personen pro Jahr belief, stieg sie von 42788 im Jahr 1986 auf 78532 und 202673 in den Jahren 1987 und 1988 Als sich für 1989 eine neue Rekordzahl -letztendlich kamen 377 055 -bei der Aussiedlerzuwanderung abzeichnete, verabschiedete der Bundestag das Eingliederungsanpassungsgesetz und sorgte durch Kürzungen bei den Integrationshilfen für eine Angleichung der vorhandenen Mittel an die dramatisch erhöhte Inanspruchnahme von Eingliederungsleistungen. Außerdem wurden vereinzelt bestehende Besserstellungen von Aussiedlern gegenüber Einheimischen beseitigt.
Eine zweite Reaktion auf die gestiegenen Zugangszahlen erfolgte wenige Monate später mit dem Aussiedleraufnahmegesetz welches das Aufnahmeverfahren komplett neu ordnete. Seit dem l. Juli 1990 müssen die Aussiedlungswilligen von ihrem jeweiligen Herkunftsland aus einen Aufnahmeantrag an das Bundesverwaltungsamt in Köln richten und den positiven Bescheid abwarten, bevor sie aussiedeln dürfen. Nur in äußersten Härtefällen wird Aussiedlungswilligen gestattet, die Entscheidung über ihren Aufnahmeantrag im Bundesgebiet abzuwarten.
Der Aufnahmebescheid des Bundesverwaltungsamtes ist die Voraussetzung für ein Einreisevisum in die Bundesrepublik Deutschland, das die deutschen Auslandsvertretungen erteilen. Nach ihrer Aussiedlung erfolgt gemäß dem im Bundesvertriebenengesetz festgelegten Schlüssel eine Verteilung der Antragsteller auf die Bundesländer, wo das Verfahren zur Überprüfung der Vertriebenen-eigenschaft durchgeführt wird. Erst mit der Erteilung des Vertriebenenausweises (seit 1. 1. 1993 der Bescheinigung für Spätaussiedler, Ehegatten und deren Abkömmlinge) ist das Aussiedleranerkennungsverfahren endgültig abgeschlossen
Das neue Verfahren erlaubt eine eingehende Prüfung der Anträge und damit ein Herausfiltern mißbräuchlicher oder aussichtsloser Gesuche, bevor die Antragsteller womöglich ihre Existenz im Herkunftsland zugunsten eines Neuanfangs in Deutschland aufgeben. Im Hinblick auf die gestiegenen Aussiedlerzahlen ist jedoch wesentlich bedeutsamer, daß das neue Anerkennungsverfahren eine indirekte quantitative Kontrollmöglichkeit in sich birgt. Da die vorhandenen Personalkapazitäten zur zügigen Bewältigung der unerwarteten Antragsflut nicht ausreichen, ist ein Rückstau unbearbeiteter Anträge unvermeidbar. Somit ist die Zahl der Deutschstämmigen, die pro Jahr in die Bundesrepublik Deutschland einreisen dürfen, auch abhängig von den Bearbeitungskapazitäten bzw. -Zeiten und damit letztendlich steuerbar. 1991 kamen beispielsweise „nur“ noch 221995 Aussiedler nach Deutschland, während das Bundesverwaltungsamt Ende 1991 über rund 520000 Anträge noch keine Entscheidung gefällt hatte Die Verfahrensänderung hat die tatsächliche Zuwanderung also trotz des andauernden Andrangs erheblich abgebremst.
Im Parteienkompromiß zur Zuwanderungspolitik wurde diese Praxis, die bisher stillschweigend gebilligt wurde, offiziell anerkannt. In der Übereinkunft vom 6. Dezember 1992 heißt es zur Zukunft der Aussiedlerpolitik: „Das Bundesverwaltungsamt erteilt künftig grundsätzlich pro Jahr nicht mehr Aufnahmebescheide, als Aussiedler im Durchschnitt der Jahre 1991 und 1992 zugezogen sind. Das Bundesverwaltungsamt kann hiervon bis zu zehn Prozent nach oben oder unten abweichen.“ Seit Anfang 1993 erhalten dadurch jährlich zwischen 200000 und 250000 Deutsch-stämmige einen Aufnahmebescheid. Diese Kontingentierung erlaubt eine fundierte Planung von Personal für das Verwaltungsverfahren, für Unterbringungsmöglichkeiten, Eingliederungsleistungen etc. Darüber hinaus hat sie den unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten äußerst relevanten Effekt, daß keine überzogenen Ansprüche an die Integrationsbereitschaft der Bundesbürger gestellt werden, deren Einstellung zu den Aussiedlern sich in den letzten Jahren außerordentlich verschlechtert hat. 2. Fortdauer des Vertreibungsdrucks?
Der zweite Faktor, der eine Änderung der Aussiedlerpolitik unumgänglich erscheinen ließ, ist der Prozeß der politischen Transformation, durch den eine der Grundannahmen der Aussiedleraufnahme -nämlich die Fortdauer des Vertreibungsdrucks -zunehmend ins Wanken geraten war. Je weiter die Demokratisierung und Liberalisierung in Osteuropa voranschritt, desto drängender stellte sich die Frage, ob die heutigen Lebensbedingungen der deutschen Minderheiten mit der Situation der Deutschstämmigen bis 1990 oder gar der Heimat-vertriebenen noch vergleichbar ist. Der Bericht der Bundesregierung zur „Situation der Deutschen in den Staaten Ostmittel-, Ost-und Südosteuropas“ weist zwar auf Schwierigkeiten bezüglich der Wirtschaftslage hin, enthält aber keinerlei Hinweise auf eine gezielte Unterdrückung oder gar Vertreibung der Deutschstämmigen in den Reformstaaten.
In der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) bestehen sowohl von Seiten Rußlands als auch der Ukraine Angebote zur Errichtung autonomer Gebietskörperschaften für die deutsche Minderheit; in Polen vertreten vier Abgeordnete und ein Senator die Deutschen im Parlament. Durch die Nachbarschaftsverträge mit Polen, Ungarn, Rumänien und der früheren Tschechoslowakei wurden den dortigen Deutschen umfassende Rechte zugebilligt. Unter der Voraussetzung einer Stabilisierung der Reformprozesse wird sich die Lage der deutschen Minderheiten in Osteuropa in den nächsten Jahren aufgrund dieser Verträge und der Demokratisierungen erheblich verbessern. Für eine Abwanderung nach Deutschland werden dann in erster Linie wirtschaftliche Gründe oder Konflikte mit andersnationalen Nachbarn ausschlaggebend sein; eine Berufung auf die Spätfolgen früherer Vertreibungsmaßnahmen und Verfolgungen hat keinerlei Berechtigung mehr.
Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, trägt den Bedenken hinsichtlich einer Fortschreibung des Aussiedlerrechts auf der Basis einer Vertreibungs-und Unterdrükkungshypothese Rechnung. In ihm ist vorgesehen, daß mit Ausnahme der Deutschstämmigen in der GUS alle Aussiedlungswilligen aus den übrigen Staaten Osteuropas individuell glaubhaft machen müssen, daß sie noch Benachteiligungen ausgesetzt sind, weil sie zur deutschen Volksgruppe gehören. Während bisher die deutschen Behörden ein Vertreibungsschicksal widerlegen mußten, um einen Aussiedleranerkennungsantrag ablehnen zu können, wird die Beweislast nun auf die Antragsteller verlagert. Die Deutschstämmigen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind von einer derartigen Umkehr der Beweislast ausgenommen, weil in ihrem Fall weiterhin davon ausgegangen wird, daß die Folgen des Zweiten Weltkrieges -‘wie Verschleppung und staatliche Diskriminierung -noch heute spürbar sind. Wenn sich allerdings die Lebensbedingungen für die deutschstämmige Minderheit in den Staaten der GUS aufgrund von Autonomierechten u. ä.denen der übrigen osteuropäischen Herkunftsländer angleichen, wird sich über kurz oder lang auch hier die Frage nach der Legitimität einer Geltendmachung von „Vertreibungsdruck“ verstärkt stellen. 3. Neue Chancen für die Aussiedlerpolitik Der epochale Wandel in Europa bietet neue Chancen für die Weiterentwicklung der Aussiedler-Politik. Während des Kalten Krieges konnte die Bundesrepublik eine Verbesserung der Lebensbedingungen deutscher Minderheiten in Osteuropa nur in allgemeiner und unverbindlicher Form etwa im Rahmen der KSZE anmahnen. Die KSZE-Schlußakte von Helsinki, enthielt zwar eine Reihe von Versprechen zur Einhaltung von Menschenrechten, bindende Verpflichtungen zur Verwirklichung bestimmter menschenrechtlicher Standards fehlten jedoch völlig. Die Ohnmacht des Westens ist mit dem Umbruch in Osteuropa neuen Gestaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich -abgesehen von der allgemeinen Liberalisierung -auch auf die Lage der Deutschstämmigen positiv auswirken.
Seit Beginn der neunziger Jahre kann die Bundesrepublik die Herkunftsländer der Aussiedler in ihre Politikgestaltung einbeziehen. Sie kann mit den betreffenden Regierungen offen über die Lebensbedingungen der deutschen Minderheiten sprechen und sich für konkrete politische Mitspracherechte einsetzen. Der weitreichende Erfolg in Polen und die Fortschritte in der GUS sind dabei Höhepunkte eines Geflechts von Vereinbarungen zugunsten der Deutschstämmigen: Außer mit Kroatien hat die Bundesrepublik mit allen osteuropäischen Staaten, in denen deutsche Minderheiten leben, inzwischen Verträge abgeschlossen, die nicht nur die bilateralen Beziehungen regeln, sondern auch beinahe gleichlautende Klauseln über Minderheitenrechte enthalten. Den Deutschstämmigen wird das Recht zugestanden, „einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln; frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden. Sie haben das Recht, ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz voll und wirksam auszuüben.“
Innerhalb des Rahmens der Verträge kann den Deutschstämmigen in Osteuropa seit 1990 zusätzlich gezielte wirtschaftliche und kulturelle Unterstützung zuteil werden. Die umfassendste wirtschaftliche Hilfe für deutsche Minderheiten in Osteuropa kommt gegenwärtig den Deutschstämmigen in der GUS zugute. Dort fördert die Bundesregierung vor allem den Aufbau mittelständischer Betriebe in Handel, Handwerk und Landwirtschaft. Die deutsche Unterstützung versteht sich auch als Aufbauhilfe für die anderen Nationalitäten in den betreffenden Regionen die ebenfalls von den Produkten und Erträgen profitieren, so daß über einen insgesamt gesteigerten Wohlstand Konflikte zwischen den Deutschstämmigen und andersethnischen Bevölkerungsgruppen entschärft werden können.
Ebenso wie die Wirtschaftshilfe leistet auch die Einrichtung von Begegnungsstätten und die Verbreitung deutschsprachiger Medien einen Beitrag zur angestrebten Verstetigung und schließlich zur Verringerung der Aussiedlerzahlen. Sie schaffen soziale Kontakte und stärken das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Dadurch entstehen Bindungen an die Wohngebiete, die den Abwanderungswunsch schließlich überlagern können. Die Bundesrepublik fördert daher in der GUS wie auch in den anderen Siedlungsgebieten deutscher Minderheiten zahlreiche Begegnungszentren, Kindergärten, Schulen sowie deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksendungen 31.
Diese Maßnahmen zeitigen erste Erfolge: 1992 nahm zwar die Zahl der Aussiedler noch um 8 570 gegenüber dem Vorjahr zu und belief sich auf 230565. Die Zahl der Aufnahmeanträge, die ja den eigentlichen Migrationsdruck widerspiegeln, verringerte sich aber von 557000 im Jahr 1991 auf 402375 für 1992 32. Im ersten Halbjahr 1993 hat der Andrang weiter nachgelassen. Sowohl die Zahl der zugezo Im ersten Halbjahr 1993 hat der Andrang weiter nachgelassen. Sowohl die Zahl der zugezogenen Aussiedler (90008 gegenüber 92564 im ersten Halbjahr 1992) als auch die Zahl der Anträge (130770 im Vergleich zu 196597) ging zurück
V. Vom „Spätaussiedler“ zum Ende der Aussiedleraufnahme
Das bereits angesprochene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz bringt außer der erwähnten Beweislastumkehr eine Reihe von weiteren wichtigen Neuerungen mit sich. So wurde der neue Rechts-status des Spätaussiedlers für Deutschstämmige eingeführt, die ab 1993 einen Aufnahmebescheid erhalten und in die Bundesrepublik aussiedeln. Maßgeblich für den Erwerb des Spätaussiedlerstatus sind weiterhin ein Kriegsfolgenschicksal und die deutsche Volkszugehörigkeit.
Neu für den Nachweis der Volkszugehörigkeit, den nun auch deutsche Staatsangehörige aus Osteuropa erbringen müssen, ist die ausdrückliche Unterscheidung zwischen der Erlebnisgeneration, die noch vor der Vertreibung ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgeben konnte, und den nachgeborenen Generationen, die bislang in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes in Früh-und Spätgeborene 34 unterteilt wurden. Für Antragsteller, die vor dem 1. Januar 1924 geboren wurden, ergeben sich keine Änderungen. Alle jüngeren Antragsteller sind gemäß des neuen § 6 II des Bundesvertriebenengesetzes deutsche Volkszugehörige, wenn sie von deutschen Staats-und Volkszugehörigen abstammen, ihnen ihre Eltern die deutsche Sprache und Kultur vermittelt haben und sie sich nach Abschluß der allgemeinen Vertreibung zur deutschen Volksgruppe zugehörig erklärt haben.
Mit dieser Vorschrift wird erreicht, daß nur Antragsteller berücksichtigt werden, die sich bis heute das Bewußtsein bewahrt haben, zur deutschen Minderheit zu gehören, und damit von den Spät-folgen der Vertreibung betroffen sein können. Der bisher geltende Grundsatz, ein Bekenntnis sei nach Kriegsende nicht zumutbar gewesen, wird damit aufgehoben. Aus den vorläufigen Richtlinien zur Durchführung des Bundesvertriebenengesetzes geht sogar hervor, daß das geforderte Bekenntnis in allen Aussiedlungsgebieten seit den fünfziger Jahren wieder möglich und zumutbar war. Einzig in Polen wird das Jahr 1970 als Grenze angesetzt. Diese neue Regelung bedeutet eine klare Abkehr von der betont entgegenkommenden Aufnahmepraxis der vorangegangenen Jahrzehnte. Sie bestätigt aber auch den Eindruck, daß die Aussiedlerpolitik während des Kalten Krieges bestimmte Entwicklungen in den Herkunftsstaaten politisch interpretiert hat, um eine größtmögliche Zahl von Deutschstämmigen aufnehmen zu können.
Zwei weitere Änderungen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes betreffen die nichtdeutschen Ehepartner und die Kinder von Spätaussiedlern: Im Unterschied zum bislang geltenden Recht entfällt die Ausdehnung des Spätaussiedlerstatus auf die Ehegatten andere, r Nationalität. Sie werden aber als Deutsche im Sinne von Artikel 116 I GG angesehen. Dies gilt auch für Kinder von Spätaussiedlern, die nach dem 31. Dezember 1992 geboren werden. Sie können mit ihren Eltern nach Deutschland einreisen, erhalten aber keinen Status als Spätaussiedler. Aufgrund dieser Regelungen wird fast ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg ein Ende des Kriegsfolgenrechtes eingeleitet. Nur wer vor 1993 geboren wurde, kann noch Spätfolgen der Vertreibung geltend machen. Damit endet die Aufnahme von Deutschstämmigen nicht abrupt, sondern läuft über Jahre hinweg aus.
Aus dem Gesamtbild der politischen Transformation in Osteuropa, der langfristigen Beendigung der Aufnahme von Deutschstämmigen, der übrigen Neuerungen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes und der bereits begonnenen Hilfsmaßnahmen in den Siedlungsgebieten kristallisiert sich schrittweise eine neue Politik heraus, die keine bloße Aufnahmepolitik mehr ist. Angesichts des Fortbestehens deutscher Minderheiten in den osteuropäischen Reformstaaten wird die Bundesrepublik verstärkt eine Minderheitenschutzpolitik verfolgen. Ihre Rolle gegenüber den Deutschstämmigen in Osteuropa wandelt sich damit von einer Fluchtburg zu einer Schutzmacht.