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Jugend -Gewalt -Extremismus in Sachsen-Anhalt. Ergebnisse eines Forschungs-und Bildungsprojektes | APuZ 46-47/1993 | bpb.de

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APuZ 46-47/1993 Zusammenhänge der Modernisierung des Rechtsextremismus mit der Modernisierung der Gesellschaft Jugend -Gewalt -Extremismus in Sachsen-Anhalt. Ergebnisse eines Forschungs-und Bildungsprojektes Deeskalation von Jugendgewalt. Praktische Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt Mobile Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen in Baden-Württemberg. Ein sozialpädagogischer Ansatz zur Konfliktbearbeitung

Jugend -Gewalt -Extremismus in Sachsen-Anhalt. Ergebnisse eines Forschungs-und Bildungsprojektes

Manfred Pabst/Klaus-Dieter Schuster

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Zusammenfassung

Auf der Grundlage von Gesprächen mit etwa 450 Jugendlichen verschiedener Alters-und Bildungsstufen wurden Untersuchungen mit dem Ziel durchgeführt, alltägliche Quellen der Herausbildung von Gewalt-bereitschaft zu erkennen. Im Mittelpunkt standen Fragen der jugendspezifischen Wahrnehmung von Politik und Gesellschaft, des Umgangs Erwachsener mit Jugendlichen, Fragen der politischen Selbsteinordnung sowie Haltungen zur Gewalt und Erfahrungen im Umgang mit dieser. Parallel dazu wurden die Ergebnisse ständig in Bildungsveranstaltungen, vor allem bei der Lehrerfortbildung, dargestellt. Schwerpunkt sowohl der Analyse als auch der verschiedenen Bildungsveranstaltungen war die Gewaltprävention. Es ging dabei auch darum herauszufinden, inwieweit diese an den Schulen angewandt wird und wo ihre Grenzen liegen. Neben dem Ansatz, ständig der Gewalt vorzubeugen, also kein ereignisbezogenes Katastrophenmanagement zu betreiben, steht der, die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen als gesellschaftlichen Problemindikator aufzufassen.

I. Zum Projekt „Jugend-GewaltExtremismus in Sachsen-Anhalt“

Das Projekt ist als Forschungs-und Bildungsprojekt auf der Basis einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) seit September 1991 realisiert worden. Im Verlaufe von zwei Jahren hatten wir die Möglichkeit, mit ca. 450 Schülern und Schülerinnen der verschiedensten Alters-und Bildungsstufen sowie mit Wehrpflichtigen zu sprechen. Diese Gespräche fanden fast immer in Gruppen, aber auch als Einzelinterviews statt. Thematische Schwerpunkte waren die Schule, das Elternhaus, das Wendeerleben, die Freizeit, das Politikinteresse, kulturelle Interessen, Gewalterfahrungen etc. Zwar sind die Ergebnisse unserer Untersuchung nicht quantifizierbar, aber wir glauben, daß unsere Beobachtungen hinsichtlich der sozialpsychologischen Situation Jugendlicher qualitativ interessant genug sind, um sie einer breiteren Leserschaft mitzuteilen.

Die im Rahmen des Projektes durchgeführten Fortbildungsveranstaltungen vor allem mit Lehrern und Lehrerinnen zum Thema unseres Projektes haben zudem einen solchen Umfang erreicht, daß wir uns auch über die sozialpsychische Situation dieser Berufsgruppe in Sachsen-Anhalt ein Bild machen konnten.

Ursprünglich sollte der Gegenstand unserer Untersuchung die Entstehung des organisierten Extremismus in Sachsen-Anhalt sein. Die Herausbildung von formellen Strukturen vollzog sich jedoch nicht so schnell und nicht in dem Ausmaß, wie wir das angenommen hatten. Außerdem stellten wir im Verlaufe unserer Annäherung an das Thema fest, daß es ein breites Spektrum von Gewalt-phänomenen gibt, das längst nicht in dem Maße durchgehend politisch motiviert ist, wie dies die öffentliche Erörterung der Gewaltproblematik suggeriert. Alltägliche Gewalt entsteht vielmehr in einem konkreten Ursachengefüge, das nicht vordergründig politischer Natur ist. Auch die dadurch verursachten Gewaltphänomene sind weniger mit politischen als vielmehr mit soziologischen, kulI turellen und psychologischen Kategorien erfaßbar Die Erfahrungen Jugendlicher sind in einem begrenzten Maße beeinflußbar. Diese Überlegung führte uns zu einer verstärkten Hinwendung zu Fragen der praktisch möglichen Gewaltprävention.

II. Theoretische Ausgangspositionen der Arbeit am Projekt

Wir gehen aus von einem Gewaltbegriff, der nicht einseitig negativ gefaßt ist. Gewalt sollte unseres Erachtens nicht grundsätzlich stigmatisiert werden; sie ist oft nicht so irrational, unvernünftig, blind oder sinnlos, wie behauptet. Mit der Fehlinterpretation der Gewalt beginnt die Ausblendung der Tatsache, daß Gewalt „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommt, daß sie ein Problemindikator ist, daß Gewalt oft eigentlich Gegengewalt ist und daß sie damit auch die Tat von Opfern ist. Gewalt -dies sei ausdrücklich betont -soll damit keinesfalls gutgeheißen oder gar verteidigt werden, aber sie soll eingeordnet werden können in das Spektrum jener Phänomene in unserer Gesellschaft, über die es keine öffentliche Debatte gibt und die aus verschiedensten Gründen nicht moralisch verurteilt werden.

Die Entstehung von Gewaltbereitschaft ist multi-kausal verursacht. Sie kann ebenso Resultat sozialer Verwahrlosung wie der falsch verstandene Versuch sein, politische Mitwirkung und Verantwortung wahrzunehmen oder Ängste zum Ausdruck zu bringen. Wir gehen von einem jeweils spezifischen Zusammenspiel verschiedener Faktoren auf verschiedenen Ebenen aus. Es sind individuelle, gruppendynamische und makrosoziale Prozesse zu unterscheiden.

In jedem einzelnen Fall entsteht Gewaltbereitschaft in einem biographischen Langzeitprozeß. Diese Feststellung ist insofern von sozialpädagogischer Bedeutung, als sie die Erkenntnis enthält, daß die Erwartung einer schnellen Überwindung von Gewaltbereitschaft durch relativ kurzfristige oder punktuelle Maßnahmen illusionär ist. Die Ausübung von Gewalt unter und von Jugendlichen vollzieht sich oft in Gruppen oder Cliquen, wobei diese sich in ihrem Habitus häufig an vorhandenen Subkulturen orientieren. Diese können politisch definiert sein, aber auch eine durchaus selbständige Attraktivität modischer Merkmale (ModePunks, Mode-Skins) besitzen. Fließende Über-gänge gibt es sowohl zwischen politischem und modisch-kulturellem Selbstverständnis von Gruppen oder Cliquen als auch zwischen politischem und kriminellem Bestreben. Nicht selten wird die eigentliche kriminelle Absicht hinter politischen Floskeln versteckt.

Eine theoretische Gleichsetzung von krimineller und politischer Gewalt ist ebensowenig gerechtfertigt wie eine Gleichsetzung von rechter und linker Gewalt. Aus der Opferperspektive ist eine solche Gleichsetzung verständlich, aus theoretischer Sicht unzulässig. Gewalt von links und Gewalt von rechts -vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um politisch motivierte Gewalt -unterscheiden sich in der Regel hinsichtlich der Form, der Opfer, der Absicht und des ideologischen Hintergrundes.

Als theoretischer Ansatz dient uns die Bielefelder Konzeption die von Wilhelm Heitmeyer u. a. vertreten wird. Wir sehen ihre Wirkung vor allem in der Kombination mit Ulrich Becks Theorie der Risikogesellschaft Erstens erscheint uns der theoretische Ansatz, die Entstehung von Gewaltbereitschaft aus Desintegrationsprozessen innerhalb der Gesellschaft zu erklären, plausibel und, was sicher noch wichtiger ist, er läßt sich anhand unserer praktischen Beobachtungen empirisch belegen. Zweitens halten wir eine Relativierung des Zusammenhanges zwischen Desintegration und Gewalt-bereitschaft in dem Sinne für wichtig, daß Desintegration zu Gewaltbereitschaft führen kann, aber nicht automatisch dazu führen muß. Es gibt auch andere Möglichkeiten, um Desintegrationserlebnisse zu kompensieren. Drittens besitzen die gesellschaftlich relevanten Desintegrationsprozesse im persönlichen Bereich, im politischen Bereich und im Bereich der Werte in jedem Einzelfall sehr unterschiedliches Gewicht. Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer tatsächlichen Bedeutung als auch hinsichtlich der Intensität ihrer Wahrnehmung durch den Betroffenen. Viertens sind Desintegrationsprozesse mit solchen lebensweltlichen Ver-änderungen verbunden wie z. B.der Erfahrung existentieller Bedrohung bisheriger familiärer Sicherheit (Arbeitslosigkeit, Wohnungsprobleme), der zunehmenden Verarmung kindlicher und jugendlicher Freizeit, der Verunsicherung globaler Perspektiven.

III. Prävention als Schwerpunkt des Projektes

Die Auseinandersetzung mit jugendlicher Gewalt-bereitschaft und Gewalt findet in unserer Gesellschaft nach unserem Eindruck in erster Linie ereignisbezogen statt; die präventive Arbeit wird vernachlässigt. Jugendarbeit wird oft erst dann als notwendig erachtet, politisch unterstützt und finanziert, wenn akute Gewaltsituationen entstanden sind. Wie oben dargestellt, sind zu diesem Zeitpunkt aber bereits sozialpsychologische Prozesse individueller und gruppendynamischer Art abgelaufen, die nicht mehr einfach rückgängig zu machen sind. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten, Gewalt zu verhindern. Andererseits sind uns bei Veranstaltungen gerade auch mit Lehrerinnen häufig Argumente der Art begegnet, daß man ja gegen Gewalt nichts zu tun brauche, solange sie noch nicht akut sei. Die Notwendigkeit und Möglichkeiten präventiver Arbeit wird unterschätzt. Außerdem existiert eine gehörige Portion an Skepsis und Pessimismus hinsichtlich der Chancen, die Gewaltspirale durchbrechen zu können, was uns in einem bestimmten Rahmen durchaus berechtigt erscheint. Geht man davon aus, daß Gewalt multi-kausal verursacht ist, befindet sich jeder, der sich mit sozialpädagogischen Mitteln mit jugendlicher Gewaltbereitschaft auseinandersetzen will, in der prekären Situation, nur einen Bruchteil des Ursachengefüges dessen, wogegen er angehen will, beeinflussen zu können.

IV. Ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes

1. Fremdenangst und Fremdenhaß Als dominantes Problem hinsichtlich Gewaltakzeptanz, Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung erwies sich in vielen Gesprächen die Fremdenfeindlichkeit, d. h. Fremdenangst und Fremdenhaß. Mit dieser Differenzierung werden unterschiedliche Verfestigungsstufen einer psychologischen Grund-Situation beschrieben. Ihre Grundsubstanz sind Verlustängste und Vorurteile (darunter auch solche aus DDR-Zeiten). Während Fremdenangst eher passiv, ratlos, hilflos, selbstbemitleidend ist, sind Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß „aktive“ Gefühle, es werden „Schuldige“ für konkrete Entwicklungen benannt. Das Hinüberwachsen von der Fremdenangst zum Fremdenhaß geht einher mit einer Verfestigung der Gefühlslage und ist u. U. mit wachsender Aktionsbereitschaft verbunden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß nach Angaben des Landeskriminalamtes (LKA) von Sachsen-Anhalt 76, 3 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen bei fremden-feindlichen Straftaten 1992 in Sachsen-Anhalt Jugendliche bis 20 Jahre waren (37, 9 Prozent davon bis 17 Jahre).

Fremdenfeindlichkeit heißt in einem weiten Sinne auch, gegen alles zu sein, was den eigenen Lebens-und Wertvorstellungen widerspricht. Sie richtet sich damit auch gegen Lesben, Schwule, Behinderte, sozial Benachteiligte usw. So gab es in Halle und Dessau z. B. Gewaltaktionen gegen Jugend-Uche mit Behinderungen. Fremdenfeindlichkeit wird von Jugendlichen oft unter ausdrücklichem Hinweis darauf geäußert, daß auch ihre Eltern ähnliche oder gleiche Positionen hätten. Mitunter wurde sogar betont, daß dies der einzige Punkt sei, in dem es zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern Übereinstimmung gebe.

Bei der Herausbildung von Fremdenfeindlichkeit spielen folgende Argumente und Ängste eine Rolle: 1. Ausländer, wird geäußert, seien in der gegenwärtigen Entwicklung eine Bedrohung. Dabei werden die gängigen Argumente genannt:

zunehmende Kriminalität, Wegnahme von Arbeitsplätzen, Mißbrauch der Sozialleistungen usw. Bestimmte Stereotype werden übernommen, ohne eigene Erfahrungen zu haben:

Das kam u. a. in einer nachdrücklich artikulierten Feindschaft gegenüber Türken zum Ausdruck. Nur ein geringer Teil der von uns befragten Jugendlichen hatte überhaupt Ausländer im Bekanntenkreis. 2. Fremdenfeindlichkeit resultiert auch aus der Wahrnehmung einer ganzen Reihe von sehr komplexen Prozessen, die sich in unserer heutigen Welt vollziehen und die durch Jugendliche wahrgenommen werden. Dazu gehören der Zusammenbruch des Ostblocks, die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien, die Prozesse in der Dritten und Vierten Welt und die damit verbundenen Migrationsbewegungen. So wurde oft gefragt: „Was kommt noch alles aufuns zu?“

Auf diese Weise wird die Angst artikuliert, die Entwicklung in Ostdeutschland könnte noch komplizierter werden, als sie ohnehin schon ist. 3. Jugendliche begründen Fremdenfeindlichkeit -

vor allem eine aggressive Haltung gegenüber Asylbewerbern -mit dem „Versagen der Politiker“, das „Asylproblem“ zu lösen. Gerade aus dem Vertrauensverlust für die etablierten Parteien resultiert die Akzeptanz von rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Argumenten in bezug auf die Ausländerproblematik sowie die Gewaltakzeptanz bis hin zu eigener Gewaltanwendung. „Republikaner, DVU, NPD u. a. haben ganz klare Aussagen, an denen man sich orientierten kann ..." ist ein häufig formuliertes Argument. Dabei existiert zumeist kein programmatisch ausformulierter rechtsextremer Hintergrund.

Die Motivation für Gewalt ergibt sich u. E. aus einem Konglomerat von Versatzstücken politischer Diskussionen und Positionen, aus einer mehr oder weniger berechtigten Erwartung gesellschaftlicher Anerkennung für Gewalt, aus sozialen Verlustängsten und aus Abenteuerlust, gepaart mit einer gehörigen Portion an Rücksichtslosigkeit und Brutalität, aber auch Gedankenlosigkeit und Verdrängung von Skrupeln. Die in polizeilichen Erklärungen übliche Unterscheidung zwischen politisch und unpolitisch motivierten Gewalttaten ist u. E. zu formal und kann nur als von Fall zu Fall feststellbare graduelle Abstufung des Einflusses des Politisch-Sozialen verstanden werden, aber nicht als absoluter Gegensatz. Anders gesagt, auch die einfache „Randale“ steht in einer gewissen Beziehung zum allgemeinen Klima in der Gesellschaft. Insofern sollte mit dem Attribut „rechtsextrem“ sehr zurückhaltend umgegangen werden. Tatsächlich läßt sich unseres Erachtens manche Entwicklung aus Nachahmungseffekten erklären. Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 wirkten sich z. B. in diesem Sinne auf Sachsen-Anhalt aus: Nach Beginn der fremdenfeindlichen Aktionen gegen die Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen am 22. August 1992 war in Sachsen-Anhalt eine Zunahme der Zahl der Angriffe auf Asylbewerberheime von 14 (Juli 1992) auf 41 (September 1992) zu verzeichnen 2. Schule als Lebensraum Ein wesentlicher Teil der Lebenswelt von Jugendlichen ist die Schule. Auch hier erleben Kinder und Jugendliche in vielfältigen Formen Gewalt und üben sie selbst aus. Andererseits erwartet die Öffentlichkeit gerade von der Schule und den Lehrern, daß sie dazu beitragen, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus vorzubeugen bzw. sie einzudämmen. In den Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen war das Erleben des Schulalltages deshalb immer auch ein Thema.

Vorauszuschicken ist, daß die unten aufgeführten Aussagen (oft bezogen auf konkrete Schulsituationen und Personen) in den Gesprächen mit Lehrerinnen nicht selten außerordentlich kontrovers diskutiert wurden. Vielfach fehlte einfach die Bereitschaft, solche Aussagen zu hinterfragen und differenziert zu bewerten.

Die folgenden, z. T. kommentierten Aussagen wurden von Jugendlichen immer wieder formuliert: 1. Das Lernen ist heute im Vergleich zu DDR-Zeiten vor allem durch ein hohes Maß an Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung wesentlich komplizierter geworden. 2. Der Leistungsdruck in der Schule und auch der durch die Eltern ist größer geworden. Leistungsdruck auf der einen und Perspektivlosigkeit auf der anderen Seite haben zu einer gewissen Lernunlust geführt mit der Folge schlechterer Leistungen. 3. Das Verhältnis zu den Lehrerinnen und Lehrern und zur Schule insgesamt hat sich verändert. Es gibt ein tiefes Mißtrauen bei einer Reihe von Schülern hinsichtlich der Vermittlung der Werte der neuen Gesellschaft durch die Schule. Nur einer relativ kleinen Gruppe von Lehrerinnen wird konzidiert, sich für ihre Schüler zu engagieren, wenn es um Probleme geht, die nicht den Unterricht betreffen. Respekt haben Schüler vor jenen, die Autorität, Strenge und Gerechtigkeit mit Verständnis und Hilfsbereitschaft Schülern gegenüber verbinden. Opportunistisches und anpasserisches Verhalten von Lehrerinnen stößt Schüler ab und stimuliert sie zu provozierendem Auftreten. 4. Exponierte Jugendliche, vor allem solche aus den Szenen, beklagen, daß viele ihrer Lehrerinnen nicht in der Lage seien, mit ihnen zu diskutieren. Wiederholt berichteten uns Schüler, die sich als Rechte begreifen, daß ihre Lehrer sie als Neonazis bezeichneten und verurteilten. Sie selbst grenzten sich trotz ihrer rechtsextremen Position deutlich vom Neonazismus ab und erwarteten, daß dies auch zur Kenntnis genommen werde. Überheblichkeit, Ironie, Vorverurteilung, aber kein Eingehen auf Argumente wurden als Reaktion von Lehrerinnen auf Meinungen bzw. andere Äußerungsformen (Kleidung, subkulturelle Stil-merkmale) genannt.

Vor allem in der Diskussion mit der Lehrerschaft, aber auch mit anderen Erwachsenen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wurden von uns folgende Tendenzen festgestellt: Es gibt -übertriebene Erwartungen an die Ergebnisse von Logik, politischer Bildung und Aufklärung;

sozialpsychologische und emotionale Aspekte werden nicht immer hinreichend berücksichtigt;

-zum Teil sehr kurzgefaßte Erfolgserwartungen an die Wirkung der eigenen Tätigkeit. Daraus entsteht ein Erfolgsdruck, der auch zu Resignation führen kann;

-Schwierigkeiten, die Verarbeitung lebensweltlicher Erfahrungen von Jugendlichen zu reflektieren und zu akzeptieren.

Daraus erklärt sich die nur mangelhaft ausgeprägte Fähigkeit der Pädagogen und Pädagoginnen, differenziert an die Beurteilung der Entwicklung von Jugendlichen herangehen zu können. Eine Mit-Verantwortung und Auch-Zuständigkeit für Probleme der Jugendlichen wird gelegentlich unterbewertet zugunsten einer verstärkten Schuldzuweisung an andere Berufsgruppen oder gesellschaftliche Institutionen.

Bei den Lehrern kommt noch hinzu, daß sie unter dem Druck (ungerechtfertigter) Schuldzuweisungen seitens der Öffentlichkeit stehen, die das Gewaltproblem gern einseitig an die Adresse der Pädagogik „delegiert“ bzw. abschiebt. Auf der anderen Seite besteht seitens der Lehrerschaft in den neuen Bundesländern eine weitverbreitete Verunsicherung hinsichtlich ihres Selbstverständnisses als Erzieher, die mit der seit der Wende geführten Diskussion der Rolle der Pädagogen in der DDR zu erklären ist. Diese Verunsicherung hat zu einer verbreiteten Abstinenz in Sachen Erziehung, Wertevermittlung und Politik geführt, die nur sehr langsam überwunden wird.

Ernstzunehmende Defizite gibt es in den neuen Bundesländern -nicht nur bei Lehrern -vor allem hinsichtlich Konfliktbewältigung und deeskalierender Verhaltensweisen. Wir sind durch Schüler wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Lehrpersonal mitunter einfach wegschaut, wenn es zu Gewalt in der Schule kommt.

Demotivierend wirkt sich auch ein allgemeiner Prestigeverlust des Lehrerberufs aus. Dies ist zwar nicht nur ein ostdeutsches Problem, wird hier aber wohl durch die oben genannte Diskussion über die Rolle, die die Lehrer im realen Sozialismus hatten, verstärkt.Die Ursachen für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und politischen Extremismus liegen natürlich nicht alle in der Schule. In der Schule muß aber darauf reagiert werden. Es ist daher die Frage zu stellen, ob nicht grundlegende schulreformerische Anstrengungen notwendig sind. Ergebnisse von Schulprojekten gegen Gewalt in verschiedenen alten Bundesländern und im Ausland sprechen dafür. 3. Politische Selbsteinordnung, politische Interessen und Selbstreflexion von Gewalt Die Bereitschaft eines Teils der Jugendlichen und Schüler, sich in das (von der Gesellschaft vorgegebene) Rechts-Links-Schema einzuordnen, ist offensichtlich. Dieser Prozeß beginnt schon sehr früh, etwa im Alter von 10 bis 11 Jahren. Er ist'mitunter auch mit einem oder mehrfachem Wechsel der Position verbunden. Die konkrete Zuordnung erfolgt dabei oft mehr oder weniger zufällig. Nicht selten hängt sie von der Situation im Freundeskreis ab. Es ist aber auch zu beobachten, daß bestimmte territorial dominierende Gruppen gleichzeitig Anziehung und Einordnungszwang ausüben. So werden gerade Jugendfreizeiteinrichtungen oft von einer bestimmten Gruppierung dominiert. Die Anpassung der Kinder und Jugendlichen an diese Richtung erfolgt unter Umständen aus dem Bestreben heraus, sich selbst den Zugang zum Club zu verschaffen oder zu erhalten und Konflikten aus dem Wege zu gehen.

Die Identifikation mit „Rechten“ oder „Linken“ ergibt sich also aus der Alltagserfahrung der Jugendlichen. Insofern müssen auch extrem rechte Selbsteinordnungen nicht zwangsläufig in den organisierten Rechtsextremismus führen, weshalb Zurückhaltung geboten ist bei der Verwendung solcher „Etiketten“ wie „Neonazis“ etc. Jugendliche können durch die damit verbundene Stigmatisierung in eine Position gedrängt werden, in der sie sich (noch) nicht befinden.

Unsere Nachfragen nach den Inhalten der gewählten politischen Richtung ergaben, daß vor allem die jüngeren Schüler oft stark personifizierte, unklare und vereinfachte Vorstellungen haben. Viele der befragten Jugendlichen gaben an, sich nicht für Politik zu interessieren. Auf konkrete Nachfrage stellte sich jedoch heraus, daß der Politikbegriff oft nur mit den etablierten politischen Parteien verbunden wird. Daß ein Interesse an politischen Fragestellungen doch vorhanden ist, wird durch die Benennung von Einzelthemen wie Asyl, Linke, Rechte, Skins, Punks etc. sichtbar.

Bei Fragen nach der Bewertung von Gewalt gegen Ausländer und Andersdenkende sowie nach eigenen Gewalterfahrungen kam wiederholt zum Ausdruck, wie wenig bei manchen Jugendlichen Rechts-und Unrechtsbewußtsein entwickelt ist. Gewalt wird auch aufgrund eigener Sozialisationserfahrungen als ein effektives Mittel zur Lösung von Konflikten angesehen. Sie wird von Jugendlichen u. a.deswegen bejaht, weil sie sofort wahrgenommen wird, sowohl am Ort des Geschehens als auch in den Medien. Außerdem schafft Gewalt Eindeutigkeiten und Gewißheiten. Vor diesem Hintergrund ist die Charakterisierung vieler Gewaltaktionen als „sinnlose Gewalt“ unseres Erachtens problematisch, weil Gewalt aus der subjektiven Sicht der Täter durchaus einen Sinn hat.

Viele Jugendliche brachten auch zum Ausdruck, daß für sie die Ausübung von Gewalt in Verbindung mit spezifischen Aktivitäten ein Mittel zur Überwindung von Langeweile und Frust ist. Auch Abenteuerlust spielt (vor allem bei jüngeren Jugendlichen) eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Sehr bedenklich erschien uns die psychische Abstumpfung, die bei einer Reihe von gewaltakzeptierenden und -ausübenden Jugendlichen deutlich wurde. So ließen sie erkennen, daß sie sich kaum darüber Gedanken machen, mit welchen Folgen Gewaltopfer zu rechnen haben. Die Risiken, die bei Auseinandersetzungen für die eigene Person gegeben sind, werden dabei bewußt hingenommen. Gewaltakzeptanz richtet sich somit (indirekt) auch gegen die eigene Person.

V. Zu den Erfahrungen aus der Bildungsarbeit

Im Rahmen unseres Projektes haben wir eine Vielzahl von Bildungsveranstaltungen -vor allem mit Lehrern, Polizeibeamten usw., vereinzelt auch mit Eltern -durchgeführt. Unsere dabei gewonnenen Erfahrungen haben wir in den folgenden vier Punkten zusammengefaßt: 1. Erreicht wurde eine Sensibilisierung für die Problematik der Prävention. Im Gegensatz dazu ist die öffentliche Diskussion über Gewalt inhaltlich vor allem durch die Themen Verfolgung und Bestrafung der Gewalttäter bestimmt. 2. Neben der notwendigen und wertvollen Bestätigung eigener Überlegungen durch Teilnehmer und Teilnehmerinnen konnten wir auch Erkenntnisse hinsichtlich der Vieldimensionalität der Gewaltproblematik gewinnen. Das beginnt beim Gewaltbegriff selbst, bei der Vielfalt derGewaltphänomene, bezieht sich vor allem auf die multikausale Verursachung von Gewalt, die komplexen Zusammenhänge von persönlichen und gesellschaftlichen Problemen bei der Entstehung von Gewaltbereitschaft und natürlich auch auf die Fragen des präventiven und des situativen Umgangs mit Gewalt. 3. Sinnvoll erscheint uns die Darstellung der lebensweltlichen Erfahrungen und Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen in der modernen Gesellschaft. Sie enthalten mitunter auch für Lehrerinnen überraschende Neuigkeiten. Unter anderem trifft das auf subkulturelle Entwicklungstendenzen zu. 4. Ein Effekt der Fortbildungsveranstaltungen mit Lehrern bestand darin, daß nicht nur eine grundsätzliche Bestärkung des Erzieherverständnisses bewirkt wurde, sondern auch Unterschiede oder Gegensätze zwischen verschiedenen Auffassungen zum Erziehungsstil bewußt wurden. Unseren Beobachtungen zufolge gibt es kaum ein Lehrerkollegium, in dem nicht eher autoritär orientierte und eher partnerschaftlich orientierte Erziehungsstile einander konträr gegenüberstehen. In diesem Sinne unterscheidet sich die Situation in den Schulen nicht von der in der Gesellschaft insgesamt.

Unseres Erachtens liegt hier einer der wesentlichen Gründe für die eingeschränkten Chancen der Umsetzung vieler Möglichkeiten des präventiven Reagierens auf Gewalt. Prävention ist jedoch der einzige Weg der tatsächlichen Bewältigung der Gewaltproblematik. Sie muß an den konkreten lebensweltlichen, also den von den Jugendlichen im täglichen Leben erfahrenen Problemen ansetzen. Letztlich bedeutet das, daß in allen Bereichen der Gesellschaft Desintegrationsprozessen und -erscheinungen entgegengewirkt werden muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. S. a.den Beitrag von Kurt Möller in diesem Heft.

  2. Vgl. z. B. Wilhelm Heitmeyer, Desintegration und Gewalt, in: deutsche jugend, (1992) 3, S. 109-122; ders., Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursache von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2-3/93, S. 3-13.

  3. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.

  4. Angaben des LKA Sachsen-Anhalt.

Weitere Inhalte

Manfred Pabst, Dipl. -Ing., Dr. phil., geb. 1950; bis 1991 wiss. Assistent an der TU Magdeburg, z. Z.freier Mitarbeiter am Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien in Magdeburg. Veröffentlichungen u. a.: Autorenkollektiv (Ltg. Norbert Madloch), Linksradikalismus, Berlin (DDR) 1989. Klaus-Dieter Schuster, Dr. sc. phil., geb. 1948; Studium der Philosophie in Leipzig, z. Z.freier Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Veröffentlichungen u. a.: Sozialökonomische und politische Entwicklungstendenzen kleinbürgerlicher Schichten in kapitalistischen Industrieländern, Berlin (DDR) 1988; Autorenkollektiv (Ltg. Norbert Mad-loch), Linksradikalismus, Berlin (DDR) 1989.