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Ohnmacht der Medien Die Kapitulation der Medien vor der Wirklichkeit | APuZ 40/1993 | bpb.de

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APuZ 40/1993 Aufstieg und Fall der Frankfurter Kulturpolitik Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung? Medienwirklichkeit und Medienwirkung Aktuelle Entwicklungen der Massenkommunikation und ihre Folgen Ohnmacht der Medien Die Kapitulation der Medien vor der Wirklichkeit Die Umgestaltung des Mediensystems in Ostdeutschland. Strukturwandel und medienpolitische Neuorientierung in Rundfunk und Presse seit 1989

Ohnmacht der Medien Die Kapitulation der Medien vor der Wirklichkeit

Hermann Boventer

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nähe und Distanz der Medien zur Politik lassen es im Klima der „Politikverdrossenheit“ zu einem Wechselspiel kommen, das Verdruß an den Medien hervorbringt. Die Medienentwicklung erlebt gegenwärtig einen starken Wachstumsschub. In der Technikexplosion und Kommerzialisierung kommt es zu einem Qualitätsverlust an öffentlicher Kommunikation, zu einer „Verwilderung journalistischer Sitten“ bis hin zum „Schweinejoumalismus“. Die Medien selbst analysieren die Schwachpunkte schonungslos und machen Medienkritik zum Thema: Was ist Journalismus, was nicht? Die Ausfallerscheinungen gehen einher mit einer allgemeinen Orientierungskrise in Staat und Gesellschaft. Sind zu viele Medien auf der Seite der „Desorientierung“ zu finden? Ein Überdenken der Aufklärung ist gefordert; die Demokratie wird Schaden nehmen, wenn Inszenierung und Mediatisierung eine verkehrte und verstellte Welt erzeugen. In der „Selbstreferentialität“ verstrickt sich das Mediensystem in den eigenen Spiegelungen. Kapitulieren die Medien vor der herausfordernden Komplexität der Wirklichkeit? Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit -im Journalismus der heutigen Mediengesellschaft? In dieser Lage ist an die Prinzipien und Aufgaben des Journalismus zu erinnern, die unter dem Zynismus der Ökonomisierung und Beliebigkeit verlorenzugehen drohen. „Die verlorene Ehre der Meinungsmacher“ steht auf dem Prüfstand. Medienethik in Deutschland: Die Kompetenz aller im Umgang mit den Medien und medienkulturellen Herausforderungen muß zunehmen.

„Bei der Art von Kommunikation, wie sie sich durch Medien vermittelt, habe ich mitunter den Eindruck, es handele sich um die permanente Weigerung, erwachsen beziehungsweise mündig zu werden -sozusagen die Verwandlung des Menschheitstraumes von der ewigen Jugend in ein Menschenrecht auf Pubertät."

Richard Schröder, Bergedorfer Gesprächskreis

Im Milieu von Cyberspace und Tausenderpreis Auf dem jüngsten Medienforum Nordrhein-Westfalen in Köln war vom Eindruck einer „Verlotterung“ die Rede, den die Medien hinterließen. Die Entwicklungen seien aus dem Ruder gelaufen. In Köln hatten sich an die zweitausend Medienleute versammelt, die selber auftraten, als wäre die Welt eine einzige Talk-Show. Auffallend nicht nur die lässige Eleganz, sondern auch die zur Schau getragene Jugendlichkeit. Da spitzt man die Ohren, wenn im Milieu von Telekommunikation, Cyberspace und Tausenderpreis unvermittelt die altfränkische Vokabel „verlottern“ auftaucht. Bringt die Semantik es an den Tag, wie es um die Medien steht? Wenn etwas verlottert, dann verkommt es und wird belanglos.

Eine gewisse Verlotterung nimmt mit der Sprache ihren Anfang. „Journalismus“ ist der älteste und herkömmliche Begriff, der die historische Dimension moderner Medien noch aufleuchten läßt: Handwerk und Sachwissen spielen eine Rolle, Ideen und Werte, um die leidenschaftlich gekämpft wurde; Personen haben das Werk geprägt und stehen mit ihrer Berufsbezeichnung „Journalist“ dafür. Aber „Medienschaffende“? Medien sind technische Mittel und zugleich die durch Sprache und Bild agierenden Vermittler. Kommunikation und Kommunikationsmittel, Massenmedien und Massenkommunikation schließen sich begriff-liehan -lauter schwerfällige Bezeichnungen, die nichts ausstrahlen, wenn man von dem lateinischen „communicatio“ absieht.

Offensichtlich steht der Arbeits-und Handlungsbereich, der mit „Journalismus“ viel präziser gekennzeichnet ist, vor erheblichen Defmitions-und Identitätsproblemen, er hat sich entgrenzt und ist unübersichtlicher geworden. Wichtiges ist von Unwichtigem nicht ohne weiteres abzuheben, was einen Bedeutungsverlust nach sich zieht. Zur Identitätskrise gesellt sich die Relevanzkrise. Aufgrund der Technikexplosion sind die Medien quantitativ zwar allgegenwärtig, aber qualitativ, als geistige und kulturelle Mächte, mögen sie in naher Zukunft abgedankt haben, wenn die Qualitätssicherung unterbleibt und die Ökonomisierung das Beherrschende wird.

Die Selbstreferentialität des Mediensystems Der Verfasser dieses Beitrags konnte vor einigen Jahren eine Bestandsaufnahme zur Ethik-Debatte im Journalismus unter der Überschrift „Macht der Medien“ veröffentlichen und sieht sich heute zur gegenteiligen Überschrift veranlaßt. Niemand kann beanspruchen, die Zukunft oder gar das Ende des Journalismus ließe sich mit Gewißheit voraussagen Aber in der Medienentwicklung kommt es gegenwärtig zu beträchtlichen Ausfall-erscheinungen, zu einem nicht zu übersehenden Qualitätsverlust an öffentlicher Kommunikation und zu Verfallsformen, die mit dem herkömmlichen Journalismus kaum noch vereinbar scheinen. Ein so nüchterner und kompetenter Beobachter wie der Zürcher Kommunikationswissenschaftler Ulrich Saxer gelangt zu dem Urteil, derzeit würden Medien und Politik an Glaubwürdigkeit und Interesse verlieren: „In der Öffentlichkeit macht sich Unbehagen breit, wobei schwer zu erkennen ist, ob Partei-oder Politikverdrossenheit die Ursache und Medienverdrossenheit die Folge ist oder umgekehrt.“

Wir müssen fragen: Was ist Journalismus, was nicht? Die Wertbindung tritt hervor, ein fragend-offener Journalismus jenseits der Maschinenwelt ist gemeint, der den kritischen Mut aufbringt, sich seiner geistigen Grundlagen zu vergewissern und aus der Selbstreferentialität der entstandenen Systeme auszubrechen. Die Forderung nach Fairneß oder diejenige nach Wahrhaftigkeit im Nein zur Irreführung und Manipulation, der Anspruch auf Zuverlässigkeit materialisieren sich nicht im Systembezug technischer und ökonomischer Funktionen, sondern im Miteinander sozialer Verhältnisse. Es bedarf eines Normen-und Berufsverständnisses, das sich einmischt und die Dinge nicht so beläßt, wie sie nun einmal sind. Wer sich den Herausforderungen verweigert, wird an ihnen nicht wachsen und lernen, was anders und besser zu machen ist.

Medienzirkus und Medienverdrossenheit Gegenwärtig haben wir es in Europa und darüber hinaus mit einer „Desorientierung zu tun, die den ganzen Kontinent erfaßt hat. Sie geht tief; denn nicht zuletzt die in Europa wieder tobenden Bürgerkriege müssen bei denen, die diesen Tatbestand nicht verdrängen, sondern zur Kenntnis nehmen, einen Zivilisationsschock hervorrufen ... Die gegenwärtige Orientierungskrise ist eine Krise unserer zivilisatorischen Selbstverständlichkeiten.“ Soweit Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin, in einer Lagebeschreibung, die von dem Befund ausgeht, die Demokratie befinde sich nach Beendigung des Kalten Krieges im Augenblick ihres weltweiten Triumphs in einem paradoxen Niedergang

Wie ist in dieser generellen Orientierungskrise die durch Medienwirkungen hervorgerufene oder verstärkte Desorientierung zu sehen? Stehen die Medien prinzipiell dem Werteverfall gleichgültig gegenüber, jenseits von allen Verbindlichkeiten? Darf und kann man so fragen? Die empirische Forschung wird vielfach antworten: nein. Doch große Teile der Öffentlichkeit machen aus ihrem Verdruß am „Medienzirkus“ und seinen desorientierenden Wirkungen kein Hehl und reagieren mit einer Anti-Haltung, die einem Vertrauensentzug für die Medien gleichkommt, was nicht nur an den zunehmenden Protesten gegen die Häufung von Gewalt und Brutalität auf den Bildschirmen zu merken ist.

Der Eindruck entsteht, wir lebten „in einem medialen Tollhaus“ und die „Herstellung von Öffentlichkeit“ könnte nur eine Alibi-Veranstaltung sein, die den Medienleuten zur Tarnung ihrer ökonomischen Interessen dient. Der Weg von der Politik-zur Medienverdrossenheit ist nicht weit. Die Skandalisierung der Politik und eine daraus hervorgehende Medienschelte, die in Oskar Lafontaines Attacke auf den „Schweinejournalismus“ ihren zornigen Ausdruck fand, sind der Demokratie im ganzen nicht zuträglich.

Richtig und gut informiert Wer erklärt den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern, die Wirklichkeit? Was kann ich als einzelner angesichts einer überbordenden Informationsflut verläßlich wissen? Kann ich mich richtig und gut informieren? Woher kommt Orientierung? Lassen sich gültige Maßstäbe für mein politisches Urteil aus den Medien gewinnen?

Der Journalismus war einmal angetreten, solchen Existenzfragen einer Demokratie zu entsprechen und damit einen aufklärerischen und zugleich menschendienlichen Auftrag wahrzunehmen, wie es in der „civil society“ zu Kommunikation und Verständigung kommen kann. Es gibt nach wie vor die „quality press“ eines hervorragenden Journalismus des vernünftigen, abwägenden Urteils; aber die Trends zeigen auf Niveauverlust, Profillosigkeit, Enthüllungs-und Sensationsmache. Die Zeitung als verläßliches Medium behauptet sich noch vielfach gegenüber den Exzessen, bei denen vor allem die Privaten im elektronischen Mediengewerbe auf die abschüssige Bahn der Trivialisierung und Brutalisierung geraten sind.

II. Die Medien in der Orientierungskrise

Das Grelle und Grausige Ist die Welt tatsächlich so absurd, wie sie sich in den Spiegelungen der Medien wiederfindet? Oder ist sie es nur wegen der selektiven Wahrnehmung und Inszenierung, die das Grelle und Grausige, ja Hysterische bevorzugt? Der amerikanische Journalist Carl Bernstein behauptet, die Entwicklungen zur Informations-und Mediengesellschaft hätten eine „Idiotenkultur“ hervorgebracht, in der das Grelle und Grausige wichtiger seien als wirk-liehe Nachrichten. Bernstein, dessen Name weltweit mit der Aufdeckung des Watergate-Skandals verbunden ist, spricht von der „Kultur journalistischen Lustgefühls“ mit ihrem Hang zur Skandalisierung und zum Sensationellen

Diesem Befund hat der SPD-Politiker und Bundestagsabgeordnete Peter Glotz einen weiteren hinzufügt, als er sich im Rahmen einer Vorlesungsreihe „Medienspektakel -Panem et circenses“ zum Thema äußerte. Eine „Spirale von Zynismus, Gewalt und Obszönität“ sehe er auf die Öffentlichkeit zukommen. Tabu-und Hemmschwellen würden systematisch herabgesetzt mit der Folge einer „Verwüstung der sozialen Beziehungen“. Politik, „als Theater“ inszeniert, lasse die emotional-sensationelle Seite als die bedeutungsvollste erscheinen. Damit bleibe für die demokratische Zielvorstellung des mündigen Bürgers nicht viel übrig. „Ein Mann wie Kurt Schumacher würde heute nicht einmal Unterbezirkssekretär werden, weil seine Art nicht mediengerecht war“, meinte Glotz. Deshalb müßten zwischen Kultur, Staat und Ökonomie Orte der Gesprächsfähigkeit erhalten bleiben, die nicht sofort zur Beute der Medien würden

Der Verdruß über den Zustand der Medien spielte auch eine auffallend große Rolle beim 98. Bergedorfer Gesprächskreis, der sich im Januar 1993 in Berlin am Amtssitz des Bundespräsidenten zum Thema „Orientierungskrise in Politik und Gesellschaft? Perspektiven der Demokratie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ versammelte. Dieser Kreis bildet seit 1961 mit seinen regelmäßigen Zusammenkünften ein prominentes Forum für den Gedankenaustausch und ist ein Ort der Gewissens-erforschung für die deutsche Demokratie geworden, wo man ungeschützt und offen reden kann, ohne -wie gesagt -die Beute der Medien zu werden.

Bezeichnend für die Behandlung des Themas „Orientierungskrise“ war es, daß -wie im Protokoll nachzulesen ist -in vielen Wortmeldungen auch die mit den Medien verbundenen Fragestellungen auftauchten, ohne daß dazu aufgefordert worden wäre. Wiederholt wurde die Frage gestellt, wie ein öffentlicher Dialog über den Zustand der Medien organisiert werden könnte. Bundespräsident von Weizsäcker hatte dem Gespräch die Frage vorgegeben, was denn Menschen und Ge-Seilschaft in unserer liberalen Demokratie überhaupt noch zusammenhält. Wer könne in dieser Lage Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit stiften? Wenn Medienvertreter beispielsweise gelegentlich versuchten, auf dem Weg einer strafbaren Handlung an bestimmte Dokumente heranzukommen und dann ihrerseits gesetzlich davor geschützt seien, ihre Quellen anzugeben, „schlagen sie einen gefährlichen Weg ein“. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie sich die Medien, die primär Marktgesetzen folgten, einen moralischen Rahmen schaffen könnten, so wie wir uns bei der Marktwirtschaft um ein soziales Rahmenwerk bemüht hätten. „Ich bin davon überzeugt, daß die Medien selbst daran interessiert sind.“

Faktisch hat sich längst aus der Unübersichtlichkeit dessen, was sich heute unter dem Rubrum „Medien“ etabliert, eine Unterscheidung in einen wertorientierten seriösen Journalismus und einen durchgehend kommerzialisierten, auf Massenemotionen spekulierenden Journalismus ergeben. Es bleibt einer Schärfung des Urteils der Publikumsseite und einer vermehrten Anstrengung der Medienseite zur kritischen Auseinandersetzung in eigener Sache überantwortet, welchen Verlauf die Medienentwicklung in Zukunft nimmt. Erfreulich ist, daß die Selbst-und Medienkritik durch engagierte Medien in jüngster Zeit aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wird Zwei Beispiele:

Wertekanon des journalistischen Handelns Über den Rückfall der Medien „in die Barbarei“ läßt Claus Jacobi („Die Welt“ und früher „Der Spiegel“) die Leser nicht im Unklaren: Die Me-dien „werden immer perfekter und immer trivialer, immer mächtiger und immer barbarischer. Immer gekonnter werden Nachrichten manipuliert, sei es für geschäftliche oder ideologische Zwecke. Da wird gehechelt und geheuchelt. Immer ruchloser dringen Medien in die Privatsphäre ein, nicht nur von königlichen Häusern. Immer obszöner werden Formen und Inhalte, immer unbekümmerter nähern sie sich der Pornographie. Kopulierende Paare sind fester Bestandteil der TV-Kultur, Talkshows deren Symbol.“ Jacobi zitiert Rudolf Augstein, der vielleicht mehr als andere ein Vorbild für „kritische Journalisten“ geworden sei und behauptet habe, die Kritik laufe immer Gefahr, in einen gestaltlosen Negativismus auszuarten. Jacobi: „Gemeint ist die Lust am Destruktiven. Tempel einzureißen, Denkmäler zu stürzen. Großes kleinzuhacken, Erhabenes lächerlich zu machen, Heiles zu beschädigen scheint ein Bedürfnis.“

Analyse und Deutung gehen in der Selbstkritik eine Verbindung ein mit dem moralischen Denken, das dem klassischen Journalismus mit in die Wiege gegeben wurde. Insofern relativiert sich die Bemerkung des Bundespräsidenten, es bedürfe eines moralischen Rahmenwerks. Im Journalismus ist die Moral nichts Aufgesetztes, sondern innere, geistige Rationalität. Das Vernünftige und das Moralische sollen konvergieren, damit wir „gut“ leben können. Die „Ratio technica“ und „Ratio ethica“ hat Aristoteles bereits vor 2300 Jahren zusammenzubinden gesucht, und von diesem Erbe zehren wir

Jacobi ereifert sich in diesem Zusammenhang auch über das verzerrte Bild, das die Medien jahrzehntelang vom anderen Deutschland vor dem Mauerfall übermittelten. Jener 9. November 1989 sei für den deutschen Journalismus ein schwarzer Tag gewesen. Denn nun habe die Welt gesehen, was die DDR war: Schrott. Hinter der Fassade des real existierenden Sozialismus wurden Verbrechen und Versagen verharmlost oder unterschlagen: „Die falschen Propheten von gestern schwadronieren heute unverdrossen weiter.“ Es seien dieselben Meinungsmacher, denen heute die Wiedervereinigung derart mißfällt, daß jetzt wenigstens der wirtschaftliche Aufschwung mißglücken möchte

Auch bei Peter von Becker (Süddeutsche Zeitung) fallen starke Worte. Einen „Bürgerkrieg in den Medien“ sieht er heraufziehen: Ein Selbstmörder, nackt und verzweifelt, legt sich vor unseren Augen in die Badewanne und stirbt unter Krämpfen -die Voyeure sitzen alle in der ersten Reihe. Der Kriegsalltag in Sarajevo, der grausige Zustand zerfetzter Leiber, Autos nach dem Verkehrsunfall -das Genre des Reality-TV macht’s möglich. „Es geht, selbst unter dem Vorwand der Information, Aufklärung oder Abschreckung, um nichts anderes als Geld und Spiele. Volksbelustigung, der moderne Circus Maximus. Und hierbei sinken die Hemmschwellen der Medien.“ Die Menschenwürde -ein „längst Hohn“ gewordener Ballast?

Die Intellektuellen sind von den Medien bitter enttäuscht und diagnostizieren messerscharf -aber dabei kann es nicht bleiben. Die Welt als Schauprozeß und der Journalismus als Moralersatz? Den Wirklichkeiten ist offensichtlich mit journalistischen Stil-und Sprachmitteln allein nicht beizukommen, es bedürfte wohl der dichterischen Kraft und Kunst. Der Journalismus also als zukurzgekommene, gescheiterte Kunst? Als Ersatzreligioh? Das Verhältnis von „Mediendemokratie und Medienreligion“ wird nicht ohne Grund bedacht

Kehren wir nochmals zum Thema „Orientierungskrise“ des Bergedorfer Gesprächskreises zurück. Wolf Lepenies hatte in seiner Analyse das Ausmaß der Orientierungskrise zu beschreiben versucht. Wenn Staat und Politik an Ausstrahlung verlieren -welche Institutionen stehen dann zu Orientierungszwecken zur Verfügung?

Lepenies meinte, die Kirchen stellten solche ebensowenig dar wie Institutionen der Kunst, der Bildung und der Wissenschaft. Niemand denke heute beispielsweise über die Idee der Universität nach. Hingegen werde über Studiengebühren, Überlastquoten oder Hochschulbauten gestritten. „Wir haben, wie es scheint, die Fähigkeit verloren, über Inhalte zu streiten. Uns fehlt der Mut, über einen Kanon des Wissens und der Werte nachzudenken, über einen Minimalkonsens unserer Überzeugung, den wir für lebbar und für lehrbar halten.“

Wenn man „Universität“ durch „Medien“ ersetzt, gelangt man zu vergleichbaren Ergebnissen: Wem gelingt es in der Tageshektik, über die Idee des Journalismus nachzudenken und Wozu-Fragen zu stellen, aus denen ein Wertekanon des journalistischen Handelns hervorgeht? Die Malaise unsererpolitischen Kultur findet in der offen vorgezeigten und ungehemmt praktizierten Beliebigkeitsphilosophie eines heruntergekommenen Postmodernismus vieler Medien ihre Entsprechung, wo alles geht, alles erlaubt ist und Grenzen nur noch mit Häme traktiert werden. Eine pubertäre Emotionalität, eine Attitüde des „Hoppla-jetzt-komme-ich“ wird charakteristisch für die Szene. Überdenken der Aufklärung Jene Dauerhaltung von mißtrauischem „Widerstand“ und habitueller „Respektlosigkeit“ (Lepenies), die der Bevölkerung durch ein mediales Rowdytum vermittelt wird, beruht auf dem Irrtum, man müsse auch in der Demokratie Mut vor Fürstenthronen zeigen. Die wahre Zivilcourage vor des Kaisers neuen Kleidern besteht heute darin, aus dem Meutenjournalismus auszuziehen und sich nicht von Scheinwelten und Scheinwahrheiten vereinnahmen zu lassen. Ein „Überdenken der Aufklärung“, wie Lepenies forderte, könnte einige der tragenden Ideen des journalistischen Handelns hervorkehren.

In mannigfacher Hinsicht gilt heute für die Europäer, daß sie ihr geistiges Erbe überdenken. Das Ende des Kalten Krieges hat den postmodernistischen Gedankenspielen, die zur Beliebigkeit und modischen Orientierungslosigkeit tendieren, ein unrühmliches Ende bereitet. Der „Abschied vom Prinzipiellen“, der das Projekt der Moderne in ihrem Kampf um mehr Humanität und Freiheit als gescheitert betrachtete, findet seine Paradigmen in den neuen Informations-und Kommunikationstechniken. Im Medium verflüchtigt sich das Reale, alles wird gleich gültig und damit letztlich gleichgültig, nämlich käuflich und in seinem Warencharakter identifiziert. Fremd wird die Vorstellung, eine Theorie oder Praxis könnte ihre Grenzen an der Inkommensurabilität von Werten finden, wozu man sich bekennt. Man glaubt, ohne eine Wertbindung und eine philosophische Anthropologie auskommen zu können. Die Massenmedien, so wird angenommen, verkörpern diese schöne neue Welt der Postmoderne; politische Moralität sei nach Belieben und Bedürfnislage manipulierbar. Am Ende bleiben „die Champions der Systemtheorie und Soziologie auf der vergeblichen Jagd nach der Wirklichkeit -mehr nicht“ Unter postmodernistischen Denkbedingungen muß es da eher als Torheit erscheinen, das journalistische Ethikdefizit aufarbeiten zu wollen

Was „guter“ Journalismus ist, läßt sich kaum von der Zweckrationalität der Systeme her bestimmen. Es gehört zur Aufgabe der Ethik, unter Umständen kontrafaktische Imperative zu formulieren und in der Praxis durchzusetzen, also auch vorhandenen Systemstrukturen und -bedürfnissen entgegenzutreten. Solche Imperative gehen nicht von Systemen, sondern von konkreten Personen in ihrer Individualität aus Wo es vom Menschen keine Vorstellung gibt, wo Ziele nicht vorgegeben sind, eine Humanisierung der Medienwelten als Postulat nicht in den Sinn kommt, wo es so ist, wie es ist -und funktioniert, da muß die Forderung geradezu absurd erscheinen, die Medien hätten zusammen mit anderen gesellschaftlichen Institutionen einen Beitrag zu leisten, „unsere Demokratie -die heute gefährdet erscheint -entscheidend festigen“ zu helfen und den Bürgern wieder „Ziele“ zu setzen

Unüberhörbar war im Bergedorfer Gesprächskreis die Ansicht vertreten, es müsse doch möglich sein, in der Presse das Verantwortungsbewußtsein für die Demokratie -und das heißt letztlich für die eigenen Belange der Menschen -zu erhöhen. Einer Erosion des Grundvertrauens der Bevölkerung in den ohnehin schwierigen demokratischen Prozeß dürften die Medien nicht Vorschub leisten, bis das „Chaos“ über die Ordnungen hereinbricht Im Horizont des Vertrauensverlusts und einer Chaotisierung der Lebensverhältnisse mit ihrer Egozentrik und Gewalttätigkeit seien die Medien eher auf der Seite der „Desorientierung“ zu finden und keine Verbündeten für eine Bewältigung der Probleme.

Sind Medienproduktion und Orientierungsverlust möglicherweise eine Verbindung eingegangen? Dieser Annahme ist der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich schon vor längerer Zeit mit der Frage nachgegangen, ob die Journalisten jene geistige Orientierungsfunktion tatsächlich ausübten, der sie gemäß ihrem legitimierenden Selbst-und Berufsverständnis nachzukommen hätten. Sie tun es nicht, lautete Gottschlichs Antwort damals. Er operierte mit dem Begriff der journalistischen Leistung, nämlich mittels journalistisch aufgearbeiteter Themen und Inhalte die Bedingung zur Möglichkeit der Teilhabe an der Welt zu schaffen, und fragte danach, „wie wir mit und aus der Medienkommunikationsinnvoll leben können und sollen“ Inzwischen haben sich die dysfunktionalen Folgen der Massen-kommunikation erheblich verschärft, und die Frage stellt sich unvermindert: Werden sich Journalisten und auch Kommunikationswissenschaftler dem Vorwurf entziehen können, mehr zur Eskalation als zur Überwindung der Identitäts-und Legitimationskrisen in der modernen Gesellschaft beigetragen zu haben?

II. Die Kapitulation vor der Wirklichkeit

Was die Massenmedien im Informationszeitalter als „Wirklichkeit“ ausgeben, ist mit dem Rang der alten Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“ versehen. Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit -im Journalismus? Die Verflachung und Trivialisierung der Medienproduktion mag noch so weit vorangeschritten sein, dennoch erhalten sich mindestens rudimentär in den Erwartungshaltungen der Bevölkerung gegenüber den Medien die Verbindungen zu den Wahrheits-und Wirklichkeitsfragen in ihrer prägenden Wertsetzung für den Alltag.

Manager der Ereignisse Journalisten galten einmal unbestritten als Berichterstatter und Treuhänder des Publikums in der Vermittlung von Nachrichten, nach denen man sich „richtet“. Inzwischen haben die öffentlichen Ereignisse mit der Allgegenwart der Massenmedien ihren Charakter verändert. Die Inszenierung und Mediatisierung von Ereignissen versetzt uns in eine Umwelt künstlicher Realitäten; die Medien haben aber auch durch ihr Vordringen in die Alltagswelt der Bevölkerung einen ganz neuen Zugang zur Wirklichkeit verschafft. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft leben in viel stärkerem Maße von „symbolischer" Wirklichkeit als von erlebter und persönlich erfahrener Wirklichkeit Die „Manager“ der Ereignisse, das sind heute die Journalisten.

Hans Mathias Kepplinger thematisiert diese Entwicklungen in seiner Studie „Ereignismanagement“ er zeigt, wie das Umfassende der Wirklichkeitsvermittlung durch die Medien zugleich deren Krise vor Augen führt, weil die Journalisten den Erwartungen, die in sie gesetzt werden, nicht gerecht werden. Können sie es überhaupt? Während sie sich noch als Berichterstatter verstehen, die eine vorgegebene Realität verarbeiten und abbilden, ist diese schon zum Teil das Ergebnis ihrer eigenen Wirkungsweise. „Sie betrachten sich als Kritiker von Mißständen, die außerhalb eines Geschehens stehen, zu dem sie jedoch tatsächlich längst gehören. Sie lehnen eine Verantwortung für die absehbaren Nebenfolgen ihres Handelns ab, die sie von jedem anderen Beruf verlangen.“

Journalisten reduzieren durch ihr Selektionsverhalten die Komplexität fortwährend auf die Maße ihres Ereignismanagements. Die Kausalbeziehungen zwischen Ereignis und Bericht, zwischen Wirklichkeit und Massenmedien haben sich zu Final-beziehungen verwandelt. Verfälscht oder veruntreut also der Journalismus die ihm aüfgetragene Wirklichkeit? Ist damit der Objektivitätsanspruch hinfällig geworden und die These vom Radikalen Konstruktivismus, der alle (auch die journalistische) Wirklichkeit als eine „erfundene“ klassifiziert, bestätigt? Kann der individuelle Journalist und Redakteur, der in solchen Wirkungs-und Strukturzusammenhängen arbeitet, überhaupt noch zur Rechenschaft gezogen werden und „verantwortlich“ handeln?

Diese Fragen öffnen einen weiten Horizont in der Bestimmung der Dialektik von Wirklichkeit und Massenmedien; sie können hier nicht im einzelnen ausgeführt werden. Dem Problem der Wissensgewinnung und Wirklichkeitserkenntnis hat sich der Mensch seit „Menschengedenken“ angenommen. Was kann ich wissen? Kann ich „alles“ wahmehmen? Goethe hat in seinen Schriften zur Naturwissenschaft 1793 diese Thematik berührt: „Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, insofern er sich dieselbe vorstellt; sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses fragliches Verhältnis zu bringen, das sie, strenggenommen, untereinander nicht haben; daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus derOrganisation unseres Wesens notwendig entspringen.“

Es müßte in der Mediengesellschaft schlimme Folgen haben, wenn der Prozeß der Annäherung von Wahrheit für obsolet erklärt wird, etwa nach dem Motto: Was Wirklichkeit ist, das bestimmen wir. Die komplette Entmoralisierung der Medien und ihrer Handlungsträger wäre die Konsequenz. Wo die Lüge beginnt, das weiß man. Woher eigentlich, wenn es in der Erkenntnis des Wirklichen keine Maßstäbe gibt? Erkenntnis des Wirklichen ist grundsätzlich gebunden an ein Subjekt; aber ist damit alles ausgesagt und die Subjektivität heilig-gesprochen? Es kommt darauf an, welches Menschen-und Weltbild vorausgesetzt wird -auch im Kontext des journalistischen Handelns.

Was Wirklichkeit ist, das glaubt ebenso jeder zu wissen. Aber gerade an dieser Nahtstelle beginnen für die Massenmedien, für ihre „Täter“ und „Opfer“ gleichermaßen, die Herausforderungen moralischer und geistiger Art, denen sie sich nur unzureichend stellen. Über die Routine entzieht man sich der erforderlichen Wahrheits-und Wirklichkeitsskepsis. Entweder wird alles akzeptiert, oder der Anspruch von Wahrheit wird überhaupt geleugnet, und zur Wirklichkeit dessen, was zu berichten und darzustellen ist, hat sich ein naives, positivistisches Verhältnis ausgebildet. Das Medium bleibt dann in den eigenen Spiegelungen verstrickt, ohne die herausfordernde Dialektik zwischen Subjekt und Objekt aufzunehmen. Damit ist die Kapitulation vor der Wirklichkeit in ihrer Komplexität und ihrem Herausforderungscharakter vorprogrammiert.

III. Medienethik oder: Die verlorene Ehre

Die Nachrichten müssen stimmen Was ergibt sich aus diesen Überlegungen und ist zu tun? Die Frage nach dem moralisch zu Verantwortenden stellt sich, und zwar in zweifacher Weise: Einmal als Frage nach der Sache und dem Handwerk, das als Werk des Journalismus zustande kommt. Zum anderen als Frage nach den Maßstäben und Kriterien, nach denen zu beurteilen ist, wie menschendienlich das Werk ist und ob es eine humane Praxis begründet.

Für die erste Betrachtungsebene steht der Satz: Die Nachrichten müssen stimmen, für die zweite Ebene die Bestimmung, die Medienfreiheit sei eine „dienende“ Freiheit. Verlangt wird also, der Journalismus sei ethisch und moralisch in seiner Differenz von Ist-Befund und Soll-Befund zu bedenken. Er sei anzubinden an Prinzipien der Humanität und Demokratie. In allem wird vorausgesetzt, daß wir gut leben, gerecht handeln und vernünftig urteilen können -und es als Bürgerinnen und Bürger auch wollen.

Die Nachrichten müssen stimmen: Es geht um Zuverlässigkeit und Genauigkeit in der Recherche und im Beobachten, um Wirklichkeitstreue, einen präzisen Sprachgebrauch und eine möglichst unvoreingenommene Berichterstattung. Diese Verantwortung des Journalisten ist nach ungeschriebenen und geschriebenen Regeln markiert: wahrheitsgetreue Unterrichtung, Sorgfaltspflicht, Richtigstellung von Falschmeldungen, Schutz der Privatsphäre, Bestechungsverbot und anderes mehr, das vorbildlich in den Maximen des Deutschen Presserats niedergelegt ist. In dieser Hinsicht schuldet der Journalist sich selbst und seinem Publikum, in dessen Auftrag er handelt, Rechenschaft -Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen.

Normativer Journalismus Humane Praxis und „dienende“ Freiheit: Regeln und Normen, die dem Journalismus im berufskulturellen Alltag vorgegeben sind, orientieren sich am Konzept der „dienenden“ Freiheit Presse, Rundfunk und Fernsehen dienen der freiheitlich-demokratischen Ordnung, heißt es in der Rechtssprache. Praktisch ist die Legitimationsbasis des Berufs fest eingebunden in das Demokratieverständnis mit seinen daraus abgeleiteten Pflichten, die sich allerdings politisch und rechtlich nicht erzwingen lassen, sondern trotz ihrer großen Relevanz nur moralische Verbindlichkeit aufweisen und aus freien Stücken angenommen sein wollen.

Deshalb sind Freiheit, Ethik und Ethos im Journalismus so entscheidende und unverzichtbare Kräfte der Prägung und Steuerung auf eine Sollensgestalt hin, die immer wieder aus dem Blick gerät. Humane Praxis ist demokratische Praxis, mit der Achtung der Person-und Menschenwürde als oberstem Gebot. Die Pressefreiheit ist allerdings nicht grenzenlos Sie ist ihrerseits eingebunden in die Moralität des freien Sich-Verantwortens. Die einzelnen und wir alle setzen uns in freier und demokratischer Selbstbestimmung die Grenzen und Pflichten, in Respekt vor dem Gewissen und der Freiheit anderer.

Soweit die grundlegenden Prinzipien und Maximen, die allerdings für viele heute einen „idealistischen“ Beigeschmack haben und darum untauglich erscheinen mögen. Allerdings gehört es zum Selbstverständnis des Prozeßhaften der Demokratie, daß sich von keinem Zustand behaupten ließe, er stimme mit dem Ideal überein, sondern daß vielmehr die jeweiligen Verhältnisse stets verbesserungsbedürftig, aber auch verbesserungsfähig sind.

Der Journalismus und die von ihm ausgehende Medienkultur stehen folglich unter einer ethischen Idee. Die Grundfigur ist die Herstellung verläßlichen Wissens für die Öffentlichkeit. Kriterium ist die sachliche Richtigkeit. Hinzu kommt der Anspruch, daß menschliche Praxis vor das Forum der Vernunft gestellt werden soll, weil alles Tun und Lassen des Menschen einer Verbindlichkeit unterliegt. Mit dieser Einführung des ethischen Denkens tut sich der praktische Journalismus allerdings deshalb besonders schwer, weil die Prinzipien stets am einzelnen Fall zu erhärten sind. Aus dem Dilemma, daß die Wahrheit konkret ist, gibt es keinen bequemen Ausweg, der um die Anstrengung des Denkens und Argumentierens herumführt.

Die verlorene Ehre der Meinungsmacher Heinrich Böll schrieb 1974 „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und setzte darunter den Titel: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Vorangestellt wird der ironische Hinweis, daß Personen und Handlungen der Erzählung zwar frei erfunden seien, doch „sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken in der BILD-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“.

Dieses Unvermeidliche nicht hinzunehmen, wie es nun einmal ist, hat Reinhard Höppner, SPD-Fraktionsvorsitzender in Sachsen-Anhalt, zum Gegenstand einer Rede gemacht, die er in Magdeburg vor Politikern und Journalisten aus Ost-und Westdeutschland zum Thema „Bestellte Wahrheiten -die verlorene Ehre der Meinungsmacher“ gehalten hat Es ist auffallend, wie sensibel und nachdenklich die Beurteilungen der Medienszene mit ihren Auswüchsen heute in ostdeutscher Sicht ausfallen. Höppner sagt, Gewalt beginne in unseren Herzen und Köpfen, mit dem, was wir denken, reden und schreiben. Er spricht von der verdeckten Gewalttätigkeit der Medienszene: „In diesem Sinn erlebe ich als Bürger, der neu in politische Verantwortung gekommen ist, die politischen, journalistischen Spielregeln als ausgesprochen gewalttätig. Mich belastet, daß in den öffentlichen Medien derjenige nicht vorkommt, der sich diesen Spielregeln nicht unterwirft. Wer nicht schlagen will, macht keine Schlagzeilen... Wer in den Medien nicht vorkommt, der bleibt anonym und erlebt seine Ohnmacht angesichts der vielgepriesenen Freiheit als noch viel belastender als unter einer Diktatur, von der man nichts anderes erwarten konnte.“

Höppner wendet sich dagegen, daß von bestellten, von käuflichen Wahrheiten geredet wird. Gehe es nicht vielmehr im Journalismus, der sich ökonomisiert, um verkäufliche Wahrheiten und Ware um jeden Preis? Selbst wenn diese Grundkonstellation in der Mediengesellschaft sich nicht grundsätzlich verändern lasse, bleibe die Frage an die Journalisten und ebenso an die Politiker: „Muß man dabei seine Ehre verlieren?“ Die Antwort darauf hänge für ihn entscheidend davon ab, was für ein Menschenbild bei Wählern und Lesern vorausgesetzt werde. Der derzeitige Trend gehe leider in eine erschreckende Richtung: erst dumm machen und dann für dumm verkaufen. Hier liege das eigentliche Problem, die verlorene Ehre für alle Beteiligten -nicht nur der Politiker und Journalisten, sondern auch der Leser, die sich alles bieten ließen. Wenn Journalisten nur noch gewinnorientiert arbeiteten, Politiker nur an Machterhalt und Karriere dächten, dann sei die Ehre beider verloren.

Die Verachtung des Publikums und dessen ständige Unterforderung impliziert offensichtlich ein zynisches Menschenbild. Den DDR-Machthabern war das „Für-dumm-Halten-und-Verkaufen" eine geläufige Maxime. Daß sich nun diese verkehrte Welt unter westlichen Verhältnissen zu reproduzieren scheint, muß die Menschen verbittern, und dazu tragen die Medien eine gehörige Portion bei. Den angeblich freien Medien und Medienmachern wird ihre Ehre nicht durch äußere Umstände streitig gemacht, sondern sie selbst sind es, die sich entehren und entmachten, indem sie ihre wahre Macht und ihr geistiges Vermögen, zum Wohl des Ganzen zu wirken, für das Linsengericht der Un-wirklichkeit und der Irrationalität preisgeben.

Als Menschen (und Bürger) sind wir in ein Grund-vertrauen zur (politischen) Wirklichkeit hineingestellt. Die Wirklichkeit ist voller Widersprüche und Verkehrtheiten. Doch ohne Vertrauen ist kein menschenwürdiges (und demokratisches) Leben möglich. Dieser Existenzbehauptung im Ja zur Komplexität der Wirklichkeit stehen die Medien heute mit ihrem umfassenden Anspruch einer Daseinsorientierung (und politischen Information) gegenüber, hieraus nehmen sie ihre Macht und Möglichkeiten -aus dem Vertrauen, das ihnen entgegenschlägt, aus der Vernünftigkeit ihres aufklärerischen Auftrags, der ihre „Ehre“ konstituiert. Wo es zum Ausfall dieser Bedingungen (und des Bedingungsverhältnisses von Medien, Moral und Demokratie) kommt, verkehrt sich Macht in Ohnmacht.

Medienethik in Deutschland Ziel einer Gegensteuerung muß es ein, daß die Kompetenz aller im Umgang mit den Medien und medienkulturellen Herausforderungen zunimmt. Zur Konkretisierung einige Erwägungen:

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich in Suhl mit dem Thema „Kirche in der Mediengesellschaft“ auseinandersetzte, beurteilte die moderne Kommunikationstechnik positiv. Eine Kultur werde ermöglicht, die voller Chancen stecke für die Entwicklung der Menschheit insgesamt wie für jeden einzelnen. Allerdings sei es nicht einfach, allgemein verbindliche Kriterien zur Entfaltung solcher Chancen durchzusetzen. Im Text der Synode heißt es dazu einschränkend: „Noch haben wir keine der Medien-gesellschaft angemessene Medienethik.“

Nun ist die Feststellung, eine Medienethik sei nicht vorhanden, einfach nicht zutreffend. Was als Minimalkonsens einer journalistischen Moral bezeichnet werden kann, hat beispielsweise der Deutsche Presserat in geduldiger und verdienstvoller Kleinarbeit von Fall zu Fall konkretisiert Die Frage nach dem humanen Maß, nach dem zu Verantwortenden begleitet den Journalismus, seit es ihn gibt. Will man die Medienethik allerdings als eine Sonderethik, dann „gibt“ es sie nicht. Will man sie „wissenschaftsfähig“ nach empirisch-analytischer Methodologie, dann „gibt“ es sie auch nicht und darf es sie überhaupt nicht geben, weil Ethik angeblich eine „Chimäre“ ist

Eine vermehrte Anstrengung des ethischen Denkens im Handlungsbereich journalistischer Praxis ist dem Wissenschafts-und Fortschrittsgeist sichtlich nicht geheuer und eigentlich unerwünscht. Zur medienethischen Standortbestimmung in Deutschland müßte es ein öffentliches „Gewissen“ geben, um das ethische Denken im Journalismus zu ermutigen, etwa durch Vergabe von Forschungs-und Lehraufträgen, durch Preise für ethisch orientierte Arbeiten und Texte, damit eine bewußtseinsbildende, öffentliche Wirkung zustande kommt. Die Universitäten haben diesen Ort bisher nicht geschaffen, von einigen Nischen abgesehen. Wenn es eine Stiftung „Warentest“ und anderes gibt, warum nicht eine Stiftung „Ethik des Journalismus“?

Eine Stärkung des Deutschen Presserats wäre hilfreich. Er kämpfte noch vor wenigen Jahren ums Überleben und konnte revitalisiert werden. Im Presserat glauben viele einen „zahnlosen Tiger“ zu erkennen, weil der Institution die Sanktionsmittel fehlen und die Urteile folgenlos bleiben. „Zahnlos“ ist auch die Pressefreiheit; wer sie mißbraucht und verletzt, erfreut sich trotzdem ihres Schutzes. Diesem Dilemma ist mit gesetzlichen Maßnahmen nicht abzuhelfen, sondern nur durch Selbstdisziplin und Selbstkontrolle in der Medienbranche -damit steht und fällt ihre „Ehre“. Es ist schon richtig: „Der Zustand der Medien entspricht dem Zustand der Zivilisation.“ In dieser Lage bedarf es einer nationalen Initiative. Ein so prominentes Forum wie der Bergedorfer Gesprächskreis könnte unter Mitwirkung des Bundespräsidenten Anstöße geben und Medien und Medienethik einmal zum Thema machen -neben anderen, die ebenfalls dazu aufgefordert sind.

Die Medienkommunikation erlebt gegenwärtig einen starken Wachstumsschub. Daß es in dieser Lage zu Krisenerscheinungen kommt, kann ein Zeichen von Vitalität sein. Sie lassen sich überwinden im Horizont jener Wertegemeinschaft, die sich Demokratie nennt und nur aus dem Fundus ihrer Überzeugungen und Gemeinsamkeiten lebensfähig bleibt. So erscheint der Hinweis auf Ethik und Ethos des Journalismus am Ende als etwas Selbstverständliches, das allerdings dauernd in Erinnerung gebracht sein will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 98/1993, S. 90.

  2. Medienforum NRW vom 13. 6. -16. 6. 1993.

  3. Vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/88, S. 3-13.

  4. Vgl. Stephan Ruß-Mohl, Ringvorlesung „Zukunft oder Ende des Journalismus“. 1. Vorlesung: Publizistische Qualitätssicherung, 20. 4. 1993, Freie Universität Berlin. Ruß-Mohl fragte, „ob der Journalismus, den wir bisher kannten, eine Zukunft hat“. In atemberaubender Weise hätten sich Kommunikationspraktiken ausgebreitet, „die nur noch wenig mit dem zu tun haben, was man herkömmlicherweise unter Journalismus verstanden hat“. (Manuskript).

  5. Bertelsmann-Stiftung, Beziehungsspiele -Medien und Politik in der öffentlichen Diskussion, Gütersloh 1993, S. 5.

  6. In: Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 10f.

  7. Vgl. Titel-Story „Ein Volk im Schweinestall“, in: Der Spiegel vom 11. 1. 1993, S. 166.

  8. Vgl. Medien-Kritik vom 3. 7. 1992. Bernstein veröffentlichte seine Kritik in der US-Zeitschrift „New Republic“ vom 8. 6. 1992.

  9. Peter Glotz, Journalismus, Trend zum Trivialen, Vortrag am 11. 1. 1993 an der Universität Bonn in der Vortragsreihe „Medienspektakel. Panem et circenses“.

  10. Vgl. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1).

  11. Ebenda, S. 60.

  12. „Bis auf St. Pauli-Niveau“ sieht ein Leitartikler (FAZ, 17. 4. 1993) das kommerziele Fernsehangebot im Volk der Dichter und Denker heruntergekommen. Im selben Blatt räsonniert Heinz-Joachim Fischer über „öffentlichen Unsinn und geistige Müllabfuhr“ (7. 4. 1993). Er fragt: Dürfen offenkundige Unsinnsstifter durch die Öffentlichkeit wildem, so wie vor Jahren noch Abwässer ohne Filter in die Landschaft geleitet wurden, um dann zu folgern: „Die informierte Demokratie bedarf der Sorge wie die Natur.“ Andere Schlagzeilen lauten: „Verdummen die Massenmedien?“ (Katholische Nachrichten Agentur [KNA], 27. 10. 1992), „Die Diktatur der dumpfen Emotionen“ (Publik-Forum, 23. 4. 1993), „Warum wird die Unterhaltung im Fernsehen immer blöder?“ (FAZ-Magazin, 31. 12. 1992) oder „Schlägerei unter Komplizen. Oskar Lafontaines Angriff auf den , Schweine-journalismus’" (Die Woche, 25. 2. 1993). Der angemaßte Moralismus von Journalisten wird kritisiert: „Empörung ist ihr Beruf. Eine Polemik gegen Moralisten, die das Gute und Wahre gepachtet haben“ (Süddeutsche Zeitung, 10. 4. 1993) oder „Journalisten kontra Politiker. . Hauptsache Kreuzigung 1“, wo es heißt: „Jeden Tag schlagen wir einen ans Kreuz. Von Stolpe bis Krause, von Späth bis Streibl, von de Maizire bis Lafontaine. Die politische Konfession spielt keine Rolle. Hauptsache: Kreuzigung. Die Medien sind die Henker“ (Medien-Kritik, 19. 4. 1993).

  13. Claus Jacobi, Der Rückfall in die Barbarei. Der Zustand der Medien entspricht dem Zustand der Zivilisation, in: Die Welt vom 19. 1. 1993.

  14. Vgl. Hermann Boventer, Ethik des Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur, Konstanz 19852, S. 249 f.

  15. C. Jacobi (Anm. 13).

  16. Peter von Becker, Die Welt als Bordell. Der letzte Schritt zum Bürgerkrieg in den Medien, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. 3. 1993.

  17. Vgl. Hans-Norbert Janowski, Kommunikation als öffentliches Ritual. Mediendemokratie und Medienreligion, in: Hermann Boventer (Hrsg.), Medien und Demokratie. Nähe und Distanz zur Politik, Konstanz 1993, S. 43-57.

  18. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 17.

  19. Ebenda, S. 19.

  20. Vgl. Walter Lesch, Medienethik unter „postmodernen“ Bedingungen, in: Adrian Holderegger (Hrsg.), Ethik der Medienkommunikation. Grundlagen, Freiburg (Schweiz) 1992, S. 73.

  21. Ebenda, S. 27.

  22. Marion Gräfin Dönhoff. Eine Gesellschaft ohne moralische Maßstäbe gerät in Gefahr. Den Bürgern wieder Ziele setzen, in: Die Zeit vom 12. 3. 1993.

  23. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 26, wo Antje Vollmer konstatierte, weltweit seien „Züge des Chaotischen“ feststellbar: „Alle merken, daß die Dinge nicht mehr im Lot sind; die alte Ordnung zerbröselt...“

  24. Maximilian Gottschlich, Journalismus und Orientierungsverlust. Grundprobleme öffentlich-kommunikativen Handelns, Wien 1980, S. 16.

  25. Vgl. ebenda, S. 207.

  26. Vgl. Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Freiburg 1976. Autoren wie Christian Doelker, Siegfried Weischenberg, Bernward Wember, Hans Mathias Kepplinger, Günter Bentele u. a. haben das Thema aufgegriffen; vgl. ferner Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Politikvermittlung, Bonn 1987, und Udo Friedrich Schmälzle (Hrsg.), Neue Medien -mehr Verantwortung, Bonn 1992.

  27. Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Ereignismanagement. Wirklichkeit und Massenmedien, Zürich 1992.

  28. Ebenda, S. 11.

  29. Vgl. Hermann Boventer, Können Journalisten objektiv sein?, in: ders. (Hrsg.), Medien und Demokratie (Anm. 17), S. 175-189.

  30. Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, hrsg. von Michael Böhler, Stuttgart 1977, S. 10.

  31. Die das ganze demokratische System „konstituierende“ und ihm „dienende“ Bedeutung der Pressefreiheit ist vom Bundesverfassungsgericht in eindrucksvollen Urteilsbegründungen wiederholt unterstrichen worden; vgl. Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198.

  32. Vgl. Hermann Boventer, Die Pressefreiheit ist nicht grenzenlos. Einführung in die Medienethik, Bonn 1989, S. 25f.

  33. Vgl. Bernhard Höppner, Rede auf dem Kongreß „Die alltägliche Pressefreiheit im neuen Deutschland -die Verantwortung der Zeitungen und der Politik“ in Magdeburg am 28. 4. 1993.

  34. Ebenda.

  35. epd-Dokumentation der EKD-Synode in Suhl, Nr. 50/1992, S. 3.

  36. Hervorzuheben sind die Fallsammlungen zum Berufs-ethos, die der Presserat jährlich veröffentlicht. 260 Fälle wurden zuletzt in einem „Schwarz-Weiß-Buch. Spruchpraxis des Deutschen Presserats“, Bonn 1990, vereinigt.

  37. Vgl. Ulrich Saxer, Journalistische Ethik -eine Chimäre? Sieben kommunikationssoziologische Thesen zum Widerspruch ihres Anspruches und ihrer Geltungsrealität, in: Hans Maier (Hrsg.), Ethik der Kommunikation, Freiburg (Schweiz) 1985.

  38. C. Jacobi (Anm. 13).

Weitere Inhalte

Hermann Boventer, Dr. phil., geb. 1928; Akademiedirektor a. D.; freier Publizist; seit 1976 Lehrbeauftragter für Medienethik und Kommunikationstheorie an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Politische Bildung: Ethik, Werte, Tugenden, Trier 1980; Ethik des Journalismus, Konstanz 1983; Medien und Moral: Ungeschriebene Regeln des Journalismus, Konstanz 1988; Die Pressefreiheit ist nicht grenzenlos, Bonn 1989; Medien und Demokratie, Konstanz 1993.