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Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung? | APuZ 40/1993 | bpb.de

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APuZ 40/1993 Aufstieg und Fall der Frankfurter Kulturpolitik Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung? Medienwirklichkeit und Medienwirkung Aktuelle Entwicklungen der Massenkommunikation und ihre Folgen Ohnmacht der Medien Die Kapitulation der Medien vor der Wirklichkeit Die Umgestaltung des Mediensystems in Ostdeutschland. Strukturwandel und medienpolitische Neuorientierung in Rundfunk und Presse seit 1989

Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung?

Ulrich Glaser/Thomas Röbke

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Kulturpolitik ist in letzter Zeit wieder ins Gespräch gekommen, aber die Gründe hierfür können die Kultur-schaffenden nicht gerade froh stimmen: Die medienwirksame Schließung des Schillertheaters in Berlin ist nur das Startzeichen für zu erwartende empfindliche Einschnitte in den öffentlichen Kulturhaushalten. In Zeiten knappen Geldes lohnt der (Rück-) Blick auf Konzepte, ihre Erfolge und Enttäuschungen. Eines der prominentesten kulturpolitischen Programme der letzten zwanzig Jahre ist zweifellos die „Soziokultur“ oder „Kultur für alle“, für die die prominentesten Vertreter kommunaler Kulturpolitik wie Hilmar Hoffmann in Frankfurt und Hermann Glaser in Nürnberg Pate standen. Was ist aus den Verheißungen des „erweiterten Kulturbegriffs“ geworden, der die Grenzen zwischen gesellschaftlichem und politischem Denken und Handeln einerseits und künstlerischer Kreativität andererseits durchlässiger machen wollte? Der vorliegende Beitrag versucht nach zwanzig Jahren ein vorläufiges Resümee zu ziehen und wagt in Zeiten wachsender Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit, die die aktuelle kulturpolitische Debatte kennzeichnen, den Ausblick auf künftige Aufgaben einer sozial und politisch verantwortungsvollen Kultur-politik.

Die Entwicklungen der „Soziokultur“ während der letzten 20 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland nachzuzeichnen, heißt vor allem, viele Vorurteile auszuräumen, die gegenüber dieser Form der Kulturpolitik und -praxis bestehen. Da in den beginnenden neunziger Jahren wieder Tendenzen einer neuen Hermetik der Kunst zutage treten, die sich aus den Umarmungen von Politik, gesellschaftlichen Erwartungen und kommerzieller Vermarktung gleichermaßen lösen will, sind soziokulturelle Konzepte nicht gerade in Mode, die die Grenzen zwischen kulturellen, sozialen und pädagogischen Aufgabenbereichen durchlässiger gestalten wollten.

Nicht nur im „anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß der im Stile eines neuen Konservativismus aufs Eigentliche hoher Kunst zurückgehen will, wird die Erweiterung des Kulturbegriffes, die für die Soziokultur programmatisch geworden ist, mit wachsendem Mißtrauen gesehen. Selbst ein kulturpolitisch bewanderter Feuilletonist wie Dieter E. Zimmer machte das soziokulturelle Programm dafür verantwortlich, daß das Kulturverständnis heute für alles herhalten muß und kein rechtes Maß der Beurteilung mehr vorhanden ist, wenn schon jeder Grillabend der Stadtsparkasse als Kulturereignis angekündigt wird. Nicht einmal mehr auf die früheren Weggefährten können sich die Protagonisten der Soziokultur verlassen. Jürgen Kolbe, ehemaliger Kulturreferent Münchens, hat medienwirksam den Befreiungsschlag gegen seine alten Überzeugungen geführt Ein entgrenzter Kulturbegriff voller „sozialer und demokratischer Flausen“ ist seine Sache nicht mehr. Viel eher hält er es mit einer kulturpolitischen Auffassung, die wieder der hohen Kunst huldigt und den Schnickschnack vermeintlich fortschrittlicher Heilslehren fahren läßt. Nicht ohne Absicht ver-öffentlicht er seinen Sinneswandel zu einem Zeitpunkt, an dem es den Kulturhaushalten an den Kragen geht, sozusagen als polemisch verpackten Sparvorschlag eines durch besseres Wissen Bekehrten.

Um manch wohlkalkuliertes Mißverständnis auszuräumen und den Stellenwert, die Herkunft und mögliche Zukunft der Soziokultur darzustellen, wollen wir zunächst einige Grundlagen der Kultur-politik in Deutschland skizzieren (I). Darauf aufbauend soll das soziokulturelle Politikkonzept in seiner historischen Entwicklung, seinen inhaltlichen Vorstellungen und seinen institutionellen Erfolgen kurz beschrieben werden (II). Und schließlich wollen wir einen Einblick in die aktuelle Diskussion geben, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die Soziokultur angemessen auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der neunziger Jahre reagieren könne (III).

I. Kulturpolitik im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland und ihre Finanzierungsgrundlagen

Kulturpolitik hat in Deutschland einen besonderen Stellenwert innerhalb der föderalistischen Struktur des politischen Systems. Sie ist eine Aufgabe der Länder und vor allem der Städte und Gemeinden. Von den 9, 7 Mrd. DM, die die öffentliche Hand 1989 für Kulturzwecke ausgab stammen nur 1, 7 Prozent aus den Mitteln des Bundes. Der Anteil der Länder liegt bei 40, 3 Prozent, der der Gemeinden bei 57, 9 Prozent. Diese Relation hat sich seit der Öffnung der Mauer zugunsten des Bundes verschoben, der im Zuge einer Übergangsfinanzierung für kulturelle Einrichtungen in den neuen Ländern erhebliche Mittel zur Verfügung stellt

Die Vorrangstellung der kommunalen Kulturpolitik wird schließlich noch durch die Tatsache untermauert, daß die finanzielle Unterstützung der Kultur durch Wirtschaftsunternehmen eine untergeordnete Rolle spielt. Dem „Sponsoring“ und „Fund-raising“, das z. B. in den USA die Haupteinnahmequelle für kulturelle Institutionen darstellt, wurde zwar auch hierzulande in den letzten Jahren große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Die materiellen Resultate lassen allerdings zu wünschen übrig: Nach einer Untersuchung»des Ifo-Instituts in München stellten Wirtschaftsunternehmen etwa 360 Mio. DM für kulturelle Zwecke bereit, das sind etwa 4 Prozent des Geldes, das die öffentliche Hand für Kultur ausgibt

Der Vorrang der Städte und Gemeinden hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik im großen und ganzen als Vorteil erwiesen. Damit bietet sich für die kommunale Kulturpolitik die Chance, relativ eng mit den Interessen und Bedürfnissen der Bürger, des Publikums und der Künstler verbunden zu bleiben. Insbesondere für die Entwicklung der Soziokultur hatte dies unschätzbare Vorteile: Ihr Charakteristikum einer freien Szene, die sich nicht auf den Typ einer der traditionellen Institutionen wie Staatsmuseen und Stadttheater festlegen läßt, setzt ein hohes Maß an Offenheit auf der Seite der Kulturpolitiker voraus, die eine schwierige Balancearbeit zwischen den Ansprüchen der Kultur-schaffenden und des Publikums einerseits und politischer Sachzwanglogik und Verwaltungshandeln andererseits verrichten müssen.

Dennoch ist die politische Institutionalisierung der Soziokultur schwierig geblieben. Sie hat nur in einigen Städten, in denen wichtige Vertreter der Soziokultur Kulturdezernenten, waren, wie z. B. Hermann Glaser, Alfons Spielhoff oder Richard Erny, zu dauerhaften Erfolgen geführt. Noch heute gibt es kaum eine soziokulturelle Einrichtung in der Bundesrepublik, deren Daseinsberechtigung so unumstritten wäre wie die eines Opernhauses oder eines Museums. Immer noch gehört die politische Legitimation der eigenen Existenz zu den alltäglichen Aufgaben der Soziokultur. Immer noch ist es für Kulturpolitiker einfacher, die traditionellen Einrichtungen wie Theater und Museen zu fördern. Selbst ein Kulturdezernent wie Hilmar Hoffmann, der international wegen seines Engagements für eine „Kultur für alle“ bekannt wurde, hat in seiner lokalen Politik zu Hause in Frankfurt die Soziokultur eher vernachlässigt und statt dessen auf neue Museumsbauten gesetzt.

Daraus wird ersichtlich, wie mühsam es war und ist, Soziokultur als ein selbstverständliches Teilgebiet der Kulturpolitik durchzusetzen. Ob dies heute gelungen ist, kann bezweifelt werden. Soziokultur ist immer noch ein Projekt auf Abruf. Ein paar weitere Zahlen können diese Tatsache belegen: Überblickt man die Fördermengen, die der Bund oder die Länder für Aufgaben der „Neuen Kultur“ bereitstellen, so fallen sie kaum ins Gewicht. Der Bund hat einen „Fonds Soziokultur“ eingerichtet, der mit ca. einer Mio. DM pro Jahr Modellprojekte der freien Kulturarbeit fördert. Einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg haben ähnliche Töpfe. Neuerdings haben Niedersachsen und Brandenburg Mittel für freie Kulturarbeit und Soziokultur bereitgestellt.

Die Soziokultur ist also bis heute, trotz aller öffentlichen Erfolge, eher ein Randphänomen der Politik geblieben. Dies gilt auch für ihren Kernbereich, die kommunale Kulturpolitik: Vom gesamten Haushalt einer Stadt wie Nürnberg (ca. 500000 Einwohner), die für die Förderung ihrer soziokulturellen Einrichtung und freien Kultur-szene bundesweit anerkannt ist, werden nur etwa 7-9 Prozent des Kulturhaushalts für soziokulturelle Arbeit ausgegeben Theater-und Opernhauskosten die öffentliche Hand etwa achtmal soviel. Dabei macht der Kulturetat der Stadt mit 127 Mio. DM nur etwa 4, 6 Prozent des Gesamthaushaltes aus. Allein mit den Mitteln, die die hydraulische Hebebühne des Münchener Nationaltheaters verschlungen hat, ließe sich das Nürnberger soziokulturelle Zentrum KOMM ein halbes Jahrhundert bezuschussen. Wer also an der Soziokultur Geld einsparen will, wird sicher vieles kaputtmachen, aber eines sicher nicht erreichen: eine spürbare Entlastung der unter Druck geratenen städtischen Haushalte.

Zu einem noch schlechteren Ergebnis kommt eine Untersuchung im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Demnach werden von den gesamten Kulturhaushalten der Städte über 50000 Einwohner (= 1, 57 Mrd. DM.) gerade einmal 9, 9 Mio. für freie Kulturarbeit ausgegeben. Dies entspricht für die größeren Städte über 200000 Einwohner einem Anteil von 0, 6 Prozent, für die kleineren Städte (50000-200000 Einwohner) von 0, 8 Prozent des Kulturetats

II. Das soziokulturelle Politikkonzept

Dennoch: Es gibt auch eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Soziokultur hat sich etabliert; sie ist ein -wenn auch stets gefährdeter -Teil der Kultur-politik in der Bundesrepublik geworden, und sie hat das kulturelle Leben der Bundesrepublik seit Beginn der siebziger Jahre zweifellos bereichert -das wird ihr mittlerweile auch von ihren Kritikern zugute gehalten.

In den fünfziger und sechziger Jahren beherrschte noch eine eingegrenzte „Niveaukultur“ oder „Hochkultur“ das kulturelle Leben, die wenig mit dem Alltagsleben der Menschen zu tun hatte. In den Augen des „Kulturmenschen“ versprachen nur die klassischen Formen des Theaters, des Tanzes, der Literatur, der Musik als ernstzunehmende kulturelle Ausdrucksformen erbauliche Stunden; alles andere gehörte in die Kategorie des „Kitsches“, der niederen und wertlosen Gebrauchs-kunst.

Kultur war in diesen beiden Jahrzehnten -im Gegensatz zu den drei kurzen Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Währungsreform -eher unpolitisch Sie sollte eben nicht kritisieren, sie sollte nicht weh tun. Sie sollte vielmehr die ewig humanen Werte nur für den fest-liehen Anlaß präsentieren, ohne im einzelnen danach zu fragen, ob sich die Menschen in ihrem Beruf und Privatleben auch an diese Werte halten. Das kulturinteressierte Publikum gehörte einer Generation an, die von Kultur nichts anderes verlangte. Diese Generation der um 1930 Geborenen hatte noch im jugendlichen Alter das Ende des Nationalsozialismus miterlebt. Sie war eine zutiefst „skeptische Generation“ und enthielt sich weitgehend politischer Aussagen. Auf der anderen Seite war sie eine Generation der wirtschaftlich orientierten Macher, ohne die das „deutsche Wirtschaftswunder“ nicht möglich gewesen wäre. Diese unpolitische und pragmatisch orientierte Mentalität fand in den „ewigen Werten“ der Kultur ihre Ergänzung. Dort konnte man im begrenzten Raum des Theaters seinen Hunger nach Sinn und Orientierung befriedigen, seine existentiellen Zweifel ausleben und sogleich beruhigen, ohne daß es im alltäglichen Leben zu Störungen kommen mußte Die von Max Weber für die Moderne konstatierte Ausdifferenzierung von Politik, Kultur und Wirtschaft in getrennte Teilsysteme des öffentlichen Lebens fand in diesen beiden Jahrzehnten einen besonders prägnanten Ausdruck.

Die Soziokultur hat dieses „abgehobene“ Kultur-verständnis erschüttert. Dies geschah zu einer Zeit, als sich die Gesellschaft der Bundesrepublik durch die Studentenbewegung nach 1968 und die Reformpolitik der sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt im Umbruch befand. „Mehr Demokratie wagen“ war nicht nur ein prägender Satz der Regierungserklärung von 1969. Er war ein Symbol des gesellschaftlichen Aufbruchs dieser Zeit, der auch die Kultur erfaßte. Die Soziokultur wollte dabei keineswegs als vollständig neues Muster an die Stelle der „alten“ Hochkultur treten. Sie wollte diese ergänzen. Ihr Grundgedanke war eine „Kultur für alle“ Am konkreten Beispiel: Sie wehrte sich nicht gegen die Rezeption und Auseinandersetzung mit der Musik Richard Wagners. Vielmehr wandte sie sich gegen eine „Hügelkultur“ (Hermann Glaser), die die Bayreuther Festspiele zum Ritual der Reichen, Mächtigen und Schönen, kurz, der Eliten machte. Diese Art der Repräsentation setzte nur ein schlimmes Erbe der deutschen Kultur fort, die zum Kult wird, zu einem Weihefest der wenigen Eingeweihten.

Die Soziokultur und ihre Protagonisten setzten dagegen auf Öffnung und Demokratisierung. Einer der Vorläufer dieser Richtung, der englische Kulturtheoretiker Raymond Williams, formulierte schon in seinem 1965 erschienenen Buch „The Long Revolution“: „Jede Art von Tätigkeit leidet, wenn sie vollkommen abstrahiert und losgetrennt wird... Die Kunst hat darunter gelitten, daß man sie in einen Bereich besonderer Erfahrung (Emotion, Schönheit, Phantasie, Vorstellungskraft, das Unbewußte) relegiert hat, auf den sie sich in der Praxis nie beschränkte, da sie in der Wirklichkeit von Alltagstätigkeiten bis zu außergewöhnlichen Krisen und Formen besonderer Intensität reichte und ein weites Spektrum von Mitteln benutzte, angefangen von der auf der Straße gesprochenen Sprache und volkstümlichen Geschichten bis zu eigenartigen Systemen und Bildern.“ An gleicher Stelle belegt Williams, wie wenig gerechtfertigt eine Kunst ist, die sich von der gesellschaftlichen Kommunikation losgelöst hat: „Bezeichnenderweise klammert die ästhetische Theorie stillschweigend die Kommunikation als gesellschaftliches Faktum aus. Kommunikation ist aber die Crux jeder Kunst.“

Dies sind auch die Motive, die die Entstehung der Soziokultur in Deutschland leiteten: Kunst ist selbst ein nach Offenheit und Kommunikation verlangendes System. Deshalb ist die Forderung nach Demokratisierung keine Forderung, die nur von außen -sozusagen künstlich -an die authentische Kunst herangetragen wird. Sie gehört vielmehr zu ihrem Wesen.

Wendet man sich nun den praktischen Folgen dieses kulturpolitischen Programms zu, so gibt es einige langfristige Tendenzen, an denen sich die Veränderungen der Kulturpolitik und -praxis in den letzten 20 Jahren ablesen lassen. Um sie darzustellen, möchten wir auf ein Schema des Bamberger Soziologen Gerhard Schulze zurückgreifen.

Schulze unterscheidet in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ vier verschiedene Dimensionen der kulturellen Entwicklung: -die Kulturpolitik bzw. -Verwaltung, -die kulturellen Korporationen (die einzelnen künstlerischen Institutionen und Gruppen wie Theater, Musikensembles, freie Gruppen usw.), -die Künstler und -das Publikum.

Vornehmlich die beiden ersten Dimensionen machen den politischen Kembestand der Soziokultur aus. Man kann sagen, daß der Erfolg der Soziokultur daran zu messen ist, daß sie einerseits eine neue Kulturpolitik formuliert; andererseits gelingt es ihr, einen neuen Typ von Korporationen zu schaffen (Kulturläden, Kommunikationszentren usw.) bzw. zu unterstützen (wie eben freie Theatergruppen, Künstlergemeinschaften, Geschichtswerkstätten usw.), der bislang keinen Platz im Kulturleben hatte.

Kulturpolitik hatte bis in die sechziger Jahre hinein kein besonderes politisches Profil. Sie war in der Hauptsache mit der Verwaltung der großen örtlichen Museen, Orchester, Theater oder Volkshochschulen befaßt. Darüber hinaus besaß sie kaum einen eigenständigen Gestaltungswillen. Dies änderte sich zu Beginn der siebziger Jahre schlagartig. Vom Reformklima in der Bundesrepublik angesteckt, dachten viele Politiker über einen neuen Stellenwert der Kultur nach. Walter Scheel, der damalige Außenminister, formulierte in einer Debatte zur auswärtigen Kulturpolitik im Jahre 1971: „Wir fassen den Kulturbegriff weiter, als es bisher üblich war. Wir müssen den gültigen ästhetisch-akademischen Rahmen sprengen und die Kulturarbeit auf alle Gebiete internationaler und gesellschaftlicher Zusammenarbeit erstrecken. Kultur ist kein Privileg mehr für wenige, sondern ein Angebot für alle; wir dürfen nicht in Ehrfurcht vor Bach, Dürer und Beethoven sitzen bleiben; wir müssen Interesse aufbringen für brennende Fragen der Gegenwart, darunter Erwachsenenbildung, Bildungshilfe, Schulreformen, Umweltprobleme.“

Die Verwirklichung dieser Ansprüche gelang am nachhaltigsten in den Städten. Unterstützt vom „Deutschen Städtetag“, formulierten einige fortschrittliche Kulturdezernenten ein kulturpolitisches Programm, das neben der schon erwähntendemokratischen Öffnung der Kultur vor allem zwei Forderungen erhob 1. ein lebendiges städtisches Leben mit Mitteln und Institutionen der Kultur zu schaffen; 2. eine neue Form ästhetischer Erziehung zu entwickeln, die zwischen Kunst und Alltagsleben neue Brücken zu schlagen weiß.

Zu 1.: Die Soziokultur entwickelte eine neue Vorstellung stadtteilorientierter Kulturarbeit. Kultur sollte dorthin kommen, wo die Menschen wohnen und arbeiten, sie sollte eine neue öffentliche Begegnung zwischen den Menschen ermöglichen. Kommunikation als Austausch vielfältiger Meinungen hatte sich schon immer in der Stadt entfaltet. Der „Kampfbegriff“ für die Rückeroberung der Stadt gegen das Schreckensbild „Profitopolis“, mit dem der amerikanische Ökonom John K. Galbraith die Gefahren einer nur von Wirtschaft und Verkehr diktierten Stadtentwicklung bezeichnete, hieß für die Soziokultür „Urbanität“: Die Kultur schafft über die gemeinsame Aktivität die Möglichkeit der Begegnung. Sie öffnet dazu Plätze und Orte der Kommunikation und Kreativität Die Kommunikationszentren und Stadtteilläden, die in dieser Zeit und danach in den achtziger Jahren entstanden, erfüllten diesen Anspruch. Sie wurden schnell zu Anziehungspunkten eines Publikums, das bisher die Genüsse der „Hochkultur“ eher gemieden hatte. Ihr Erfolg hält bis heute an: Im „Dachverband der soziokulturellen Zentren“ sind 1987 119 Mitgliedseinrichtungen mit einer geschätzten Besucherzahl von über sieben Mio. jährlich registriert, und das ist nicht einmal die Hälfte aller soziokulturellen Einrichtungen in Deutschland

Mit diesen Zentren konnte noch eine weitere Entwicklung sinnvoll unterstützt werden, denn überall schossen neue kulturelle Angebote aus dem Boden, die in die traditionellen Kulturinstitutionen nicht hineinpaßten: Freie Theatergruppen, Kleinkunst und Kabarett sowie eine lokale Popmusik-Szene entstanden an vielen Orten. Diese einzelnen Gruppen und Aktivitäten wurden in den siebziger Jahren selten direkt unterstützt. Aber sie fanden in den soziokulturellen Zentren ihre Probenräume und Auftrittsmöglichkeiten, und sie hatten und haben dort ihr Publikum.

Zu 2.: Die Soziokultur versteht sich, entgegen einer ihr oft unterstellten Absicht, nicht als Gegen-modell zur sogenannten „Hochkultur“. Sie will vielmehr den demokratischen Zugang zur Kunst auch für Menschen erleichtern, die sich bisher nicht an sie herangewagt hatten. Sie will, in den Worten Brechts, den kleinen Kreis der Kenner zum großen erweitern. Dieser Anspruch ästhetischer Erziehung zielt vor allem auf die Stärkung der Beziehungen zwischen Kunst und Alltags-leben. Aus der Kritik der „affirmativen Kultur“ die sich in die Bastionen des Schönen, Wahren und Guten „rettet“, entwickelte sich die Vorstellung einer kommunikativen Kultur, die das Kunstwerk zum Anlaß des Gesprächs und der Gestaltung des Alltagslebens nimmt. Kunst beeindruckt in dem Maße, wie es ihr gelingt, die Wahrnehmungsweise im Sinne einer „ästhetischen Erziehung des Menschen“ spielerisch und genußvoll zu verändern und zu erweitern. Umgekehrt sollte der eigene Alltag dadurch als veränderungsfähig erlebbar gemacht werden.

Bei dieser wechselseitigen Annäherung von Kunst und Leben durfte die bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit freilich nicht außer acht gelassen werden. Kultur -das war Konsens bei den Vordenkem der Soziokultur, die sich vor allem auf die theoretische Tradition der „Frankfurter Schule“ bezogen -hat gegen übermächtige Konkurrenten anzukämpfen: gegen die neuen Medien, die Dominanz der Warenästhetik die „Informationsverschmutzung“. Diese machtvolle „Kulturindustrie“ degradiert den Menschen immer mehr zum passiven Konsumenten, zum „Publikum“, so lautete die Zustandsbeschreibung. Hiergegen setzte die Soziokultur die Vorstellung eines aktiven Kulturpublikums, das sich kritisch mit den Angeboten der Kulturindustrie auseinanderzusetzen weiß. Das Wort von Joseph Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ entspricht der soziokulturellen Auffassung eines Publikums, das aktiv in den Prozeß der kulturellen Produktion einbezogen werden soll.

Die neue Kulturpolitik der Städte traf insbesondere bei den Jugendlichen der Generation nach 1968 auf großen Widerhall. Zwar war diese Beziehung von politischen Konflikten geprägt, denn die durch die Studentenbewegung politisch sensibilisierte Jugend traute der offiziellen Politik der Parteien nicht sonderlich. Als mit Willy Brandt die Leitfigur der Reformpolitik abtrat, zeigte sich schon deutlich eine Tendenz zur strengeren Ordnungspolitik im Innern, die mit den „Berufsverboten“ für Radikale im öffentlichen Dienst eingeleitet wurde. Trotzdem entwickelte gerade diese Generation der um 1950 Geborenen ein Netz an Institutionen und Gruppen, die politische, künstlerische und soziale Ziele verfolgten. Die Musik-oder Theaterformen, die sich in dieser Zeit ausbreiteten, wußten sich durchaus politischen Zusammenhängen verpflichtet, ohne darin eine besondere Einengung ihrer ästhetischen Produktionsformen und Ansprüche erkennen zu können. Das politische Leitmotiv der Selbstverwaltung und Basisdemokratie wurde von den großen Kommunikationszentren übernommen, deren Mitarbeiter vielfach aus dem aktiven Kem der „neuen sozialen Bewegungen“ stammten

Die Kommunikationszentren, Stadtteilläden oder die nach und nach entstehenden Aufführungsorte für freie Gruppen aus dem Musik-und Theaterbereich stellten die Orte und Möglichkeiten vielfältigen Experimentierens. Sie waren (und sind es in den meisten Fällen noch) die Treibhäuser, die die jungen kulturellen Pflanzen vor dem rauhen Klima des kommerziellen Kunstmarktes schützen. Aber sie konnten sich vor den äußeren Entwicklungen, die insbesondere in den achtziger Jahren ein neues Kunstverständnis hervorbrachten, nicht abschließen. Nachdem die neuen sozialen Bewegungen an Einfluß zu verlieren begannen, kündigten sich bald neue kulturelle Konstellationen in den Städten an.

Nicht nur in Deutschland breitete sich während der achtziger Jahre eine urbane Szene (Stichwort „Yuppie“) aus, die zunehmend das Kulturleben der Städte dominierte: Sie trat weniger als Künstler oder Akteur, sondern eher als erlebnishungriges und zahlungskräftiges Publikum in Erscheinung. Diese mit verschiedenen Begriffen wie „Gentrification", „Erlebnisgesellschaft“, „Zitadellenkultur“ beschriebene Entwicklung übte einen deutlichen Anpassungsdruck auf die soziokulturellen Korporationen aus. Professionalisierung und Kommerzialisierung der kulturellen Angebote markierten als Schlagworte die langsame Abwendung von der „Laienkultur“, die unattraktiv geworden war. Insbesondere die großen Zentren wurden „chic“; sie wurden wie Wirtschaftsunternehmen geführt und definierten sich nicht mehr als Ort des Experimentes, sondern als professioneller Erlebnis-und Ereignisraum, der sich auf n AA einem enger werdenden Kulturmarkt behaupten muß.

Auch die Kulturpolitik der Städte veränderte sich in den achtziger Jahren: Der Stadtsoziologe Walter Siebel spricht von der „Festivalisierung der Stadtpolitik“: Statt eines weiteren Ausbaus der kulturellen Infrastruktur trat das Großereignis in den Mittelpunkt der Kulturpolitik: Jede Stadt brauchte ihr eigenes internationales Filmforum, ihre jährliche, überregional beachtete Großausstellung, ihr Musikfestival mit Candlelight-Dinner und abschließendem Brillantfeuerwerk. Kultur wurde zu einem besonderen Kriterium des Image-transfers im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf der Städte, die sich den Unternehmen als Standorte anpreisen.

Obwohl die Kultur der achtziger Jahre wieder zu einer Kultur der Repräsentation zu werden drohte, die auf das Element demokratischer Breitenkultur verzichtet, gelang der Soziokultur in den meisten Fällen der von ihr abverlangte Professionalisierungsprozeß. Soziokulturelle Arbeit öffnete sich einem neuen Kulturmanagement, das sich zur gleichen Zeit als Ausbildungszweig an Universitäten und Akademien etablierte. Die neuen soziokulturellen Zentren, die in den achtziger Jahren gegründet wurden, legten von vornherein ein stärkeres Gewicht auf professionelle Gesichtspunkte und schufen Arbeitsstrukturen, die basisdemokratische Einflußnahmen zugunsten einer auf Effizienz bedachten Geschäftsführung einschränkten. Auf der anderen Seite wuchsen mit dem neuerwachten Interesse an Kultur die Chancen für Künstler und kulturelle Korporationen, sich als professionelle Einzelpersonen, Ensembles oder Institutionen auf dem Kultur-markt durchzusetzen.

III. Ausblick: Einige Thesen zur Entwicklung der Soziokultur in den neunziger Jahren

Viele der aktuellen Diskussionsbeiträge, die versuchen, die Herausforderungen der Soziokultur in den neunziger Jahren zu benennen, haben darauf hingewiesen, daß die Soziokultur mit ihren Professionalisierungs-und Institutionalisierungsbestrebungen in den achtziger Jahren auch etwas verloren hat. Ihr Weg von den Aufbruchsstimmungen der frühen siebziger Jahre über die Kommerzialisierung und Professionalisierung derachtziger Jahre bis hin zu den öffentlichen Anerkennungen von heute birgt gerade wegen des Erfolges auch eine Gefahr: Durch eine erfolgreiche Institutionalisierung kann man zu bequem werden, und das kann im Kulturleben schlimme Folgen haben.

Daß es ökonomisch nicht immer „aufwärts“ gehen kann, wird in den nächsten Jahren eine neue Erfahrung für diejenigen sein, die im „Wirtschaftswunderland“ groß geworden sind. Es wird eine wichtige Probe für die Haltbarkeit der demokratischen Gesellschaft in Deutschland, ob sie sich unter Bedingungen der Knappheit öffentlicher Mittel -auch im kulturellen Bereich -bewähren wird. Soziokulturelle Arbeit könnte hier -gerade weil sie immer gezwungen war, recht sparsam mit den vorhandenen Mitteln umzugehen und nach zusätzlichen Einnahmequellen zu suchen -gegenüber den unbeweglichen „Tankern“ der großen Kulturhäuser, deren Kosten aus dem Ruder laufen, eine Vorbildfunktion wahrnehmen. Damit ist angezeigt, daß die Themen, die die kulturpolitische Diskussion in Deutschland derzeit beschäftigten, vor allem politische Themen sind. Wir möchten zum Schluß nur drei weitere Aspekte benennen: 1. Wir beobachten zur Zeit den Verfall der politischen und sozialen Öffentlichkeiten und der mit ihnen verbundenen Großgruppen: Gewerkschaften und Parteien büßen an Vertrauen wie an Mitgliedern ein, die Reste der einst mächtigen sozialen Bewegungen sind in einigen versteckten Zirkeln untergekommen, ja selbst die traditionellen Formen des Engagements -von der Nachbarschaftshilfe bis zum Gesangs-oder Fußballclub -verlieren deutlich an Anziehungskraft. Auch die Soziokultur kann sich hier nicht ausnehmen: Obwohl das Publikum weiterhin und in wachsender Zahl zu den Veranstaltungen kommt, wird der Kreis der aktiven „Macher“ immer kleiner. Kaum jemand aus der jüngeren Generation läßt sich zur Mitarbeit gewinnen; auf der anderen Seite hat sich der langjährige Mitarbeiterstamm so aufeinander eingespielt, daß neue Initiativen oft als Beeinträchtigung routinierter Arbeitsabläufe empfunden werden. Auch das mag überzeichnet sein, es lenkt aber den Blick auf ein anstehendes Unternehmen: Die Soziokultur muß sich in ihren Binnenstrukturen neu öffnen. Sie muß zu reflexiven Strategien der Modernisierung kommen, die die Fallen des bloß Marktförmigen wie des politisch Kantenlosen bewußt umgehen. Nur so kann sie attraktiver Bezugspunkt politischer, sozialer und künstlerischer Öffentlichkeiten bleiben und auch jenen Gruppen zu Aufmerksamkeit verhelfen, die sich sonst nicht in der Öffentlichkeit artikulieren können. 2. Deutschland ist nach dem Fall der Mauer 1989 bisher nur schlecht „zusammengewachsen“. Die ökonomische Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West wird wesentlich länger dauern, als es die Regierungspolitik im Überschwang der Wiedervereinigung beteuerte. Dringlich ist aber noch ein anderes Problem geworden: die Unterschiede in den Mentalitäten und Lebensformen. Zu wachsenden ökonomischen Sorgen im Osten kommt das Minderwertigkeitsgefühl oder gar das Ressentiment, von „Besserwessis“ bevormundet zu werden. Eine demokratisch organisierte, mit einem eigenständigen Selbstbewußtsein ausgestattete Kultur muß sich erst entwickeln. Aber gerade hier werden mit der „Abwicklung“ -und das bedeutet zumeist Schließung -der bestehenden Jugendclubs und Kulturhäuser, die als Treffpunkte und öffentliche Foren dienen können, auf lange Sicht Chancen verspielt. Die Krawalle, die in Hoyerswerda und Rostock in den Trabanten-Vierteln mit ihren endlosen Reihen von Plattenbauten ihren Ausgang nahmen, zeigen, wie wichtig es ist, eine stadtteilnahe Kultur-und Sozialarbeit zu fördern. 3. Deutschland ist ein Land mit einem hohen Ausländeranteil. Die vielen unterschiedlichen Kulturen, aus denen die Menschen stammen, die in Deutschland ihre zweite Heimat gefunden haben, treffen nicht immer auf eine tolerante Haltung. Deutschland ist aufgrund seiner begrenzten räumlichen Möglichkeiten und seiner ohnehin schon dichtbesiedelten Struktur sowie der hohen Massenarbeitslosigkeit ein schlecht funktionierender „melting pot“. Die Frage, die hier an die Kultur-politik der neunziger Jahre zu stellen ist: Was kann sie mit ihren Mitteln für ein tolerantes Deutschland in einem „europäischen Haus“ tun? Kann sie ihrem Anspruch, auch die Alltagskultur der Menschen und ihre gegenseitigen Wahrnehmungen zu verändern, gerecht werden? Die „Zitadellenkultur“ der achtziger Jahre hat diese gesellschaftspolitischen Fähigkeiten der Kultur nicht genutzt.

Kultur ist -dies muß in den neunziger Jahren wieder stärker ins Bewußtsein gerückt werden -von ihrer Natur her ein internationales und grenzüberschreitendes Unternehmen. Sie macht sensibel für kulturelle Differenzen und soziale Ungerechtigkeiten. Integration und Toleranz unter Beachtung und Würdigung des Unterschieds ist ihrem Wesen immanent. Hierfür müßte die Soziokultur im Sinne auch ihrer eigenen Modernisierung in den neunziger Jahren Antworten finden. Sie wird dabei ihre eigenen Kräfte sicherlich nicht überschätzen dürfen. Die Entwicklung der öffentlichen Kulturhaushalte wird sie ohnehin zu einer neuen Bescheidenheit zwingen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel vom 8. 2. 1993, S. 202-207.

  2. Vgl. Dieter E. Zimmer, Kultur ist alles. Alles ist Kultur. Über die sinnlose Erweiterung des Kulturbegriffs -und was dies bedeutet für die öffentlichen Etats, in: Die Zeit vom 4. 12. 1992, S. 67.

  3. Vgl. Jürgen Kolbe, Die Kulturpolitik stirbt still. Über die Desaster einer einst glanzvollen Disziplin, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. 7. 1993.

  4. Vgl. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), öffentliche Ausgaben für Kunst und Kulturpflege, Kunst-hochschulen, Erwachsenenbildung und Bibliothekswesen. Rechnungsergebnisse nach den Haushaltsebenen 1980 bis 1989 und Haushaltsansätzen der Länder 1980 bis 1991. Veröffentlichung der Kultusministerkonferenz, Sonderheft Statistik und Vorausberechnung, Nr. 59, Neuwied 1992.

  5. Diese Übergangsfinanzierung, deren Mittel vornehmlich in die zwei Programme für kulturelle Substanzerhaltung bzw. Infrastruktur fließen sowie -zum geringeren Teil -dem Denkmalschutz zugute kommen, soll entsprechend reduziert werden, wenn die „neuen Bundesländer“ bzw. ihre Städte und Gemeinden auf eigenen finanziellen Füßen stehen. Sie wird wohl fast vollständig fortfallen, wenn der Länderfinanzausgleich 1995 in Kraft tritt. Nach Auskunft des Bundesministeriums des Innern, das diesen Posten verwaltet, wurden für die Übergangsfinanzierung 950 Mio. DM in 1991 und 830 Mio. DM in 1992 verwendet. Für 1993 beträgt die Übergangshilfe des Bundes nur noch 650 Mio. DM, wobei der Bund -dies soll nicht verschwiegen werden -erst nach langem Drängen von Kulturinstitutionen, Länderregierungen und kommunalen Spitzenverbänden die ursprünglich eingeplanten 300 Mio. DM auf den genannten Betrag aufstockte (vgl. Kulturpolitische Mitteilungen [Zeitschrift der Kulturpolitischen Gesellschaft], III/1992, S. 8). Da nach der sich nun abzeichnenden Haushaltslage viel mehr eingespart werden muß und die AB-Maßnahmen im Kulturbereich im großen Stil abgebaut werden, wird wohl ein nochmaliger Protest im nächsten Jahr noch schwieriger werden. Das Bundesministerium für Finanzen hat jedenfalls jetzt den vom Innenministerium vorgelegten Haushaltsansatz von 540 Mio. DM für 1994 als streitig erklärt und sich im Kabinett mit seiner Position durchgesetzt. Sollte der vom Kabinett gebilligte Entwurf in der jetzigen Form auch vom Parlament verabschiedet werden, so ist tatsächlich jener Substanzverlust im Kulturbereich zu befürchten, der in den letzten Jahren schon häufig beschworen wurde.

  6. Vgl. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, Neuere Entwicklungen bei der Finanzierung von Kunst und Kultur durch Unternehmen, ifo-Schnelldienst, Nr. 4 und 5, München 1992, S. 8-23.

  7. Vgl. Etataufstellung des Kulturreferates Nürnberg vom 24. 8. 1992. Etwas geringere Prozentwerte ergeben sich für Hamburg; vgl. Querstreifen. Hamburger Zeitschrift für Stadtkultur, (1993) 16, S. 14-17. Die große Schwankungsbreite dieser Schätzungen ist natürlich dem Umstand geschuldet, daß sich soziokulturelle Aktivitäten und Einrichtungen nie ganz genau abgrenzen lassen. Dennoch zeigt sich daran der Stellenwert der Soziokultur im städtischen Gesamthaushalt, der demnach etwa bei 0, 35 Prozent liegt.

  8. Vgl. Doris Gau, Freie Kulturarbeit in den nordrhein-westfälischen Kommunen, in: Norbert Sievers/Bernd Wagner (Hrsg.), Bestandsaufnahme Soziokultur. Beiträge -Analysen -Konzepte, Schriftenreihe des Bundesministeriums des Innern, Band 23, Stuttgart-Berlin-Köln 1992, S. 299-314.

  9. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultur-soziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. -New York 1992.

  10. Vgl. Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948, München-Wien 1985.

  11. Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf-Köln 1957.

  12. Vgl. Albrecht Göschel, Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur. Wandel des Kulturbegriffs in vier Generationen, Schriften des deutschen Instituts für Urbanistik, Stuttgart-Berlin-Köln 1991.

  13. Vgl. Hilmar Hoffmann, Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt/M. 1981.

  14. Raymond Williams, Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur, hrsg. von Gustav Klaus, Frankfurt/M. 1983, S. 45.

  15. Ebenda, S. 34.

  16. Zit. nach GEW Hamburg (Hrsg.), Ästhetische Praxis und politische Kultur von unten. Materialien zum Kongreß der GEW Hamburg vom 15. -17. Februar 1980 in der Markt-halle, Hamburg 1980, S. 22.

  17. Vgl. Thomas Röbke, Das frühe politische Programm der Soziokultur, in: Norbert Sievers/Bernd Wagner (Anm. 8), S. 37-54.

  18. Vgl. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.), Vielfalt als Konzeption. Zu der Arbeit soziokultureller Zentren und den Anforderungen an ihre Mitarbeiter, vorgelegt von der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren, Bearbeiter: Udo Husmann und Thomas Steinert, Bonn 1990.

  19. Dieser Begriff geht auf Marcuse zurück; vgl. Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1965, S. 56-102.

  20. Vgl. Wolfgang F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971.

  21. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt/M. 1971.

  22. Vgl. Thomas Röbke, Das Nürnberger Kommunikationszentrum KOMM. Ein Beitrag zur Geschichte der Basisdemokratie, Frankfurt/M. -New York 1991.

  23. Vgl. Otto K. Werckmeister, Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre, München-Wien 1989.

  24. Vgl. Walter Siebel, Die Festivalisierung der Politik, in: Die Zeit vom 30. 10. 1992.

Weitere Inhalte

Ulrich Glaser, geb. 1960; Politikwissenschaftler; seit 1986 Mitarbeiter des Kulturamtes der Stadt Erlangen; Geschäftsführer der „Gesellschaft für Kulturprojektentwicklung“. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Günter Biamberger und Hermann Glaser) Berufsbezogen studieren. Neue Studiengänge in den Literatur-, Medien-und Kulturwissenschaften, München 1993. Thomas Röbke, Dr. phil., geb. 1957; Soziologe; seit 1990 Mitarbeiter des Instituts für soziale und kulturelle Arbeit (ISKA) in Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Das Nürnberger Kommunikationszentrum KOMM. Ein Beitrag zur Geschichte der Basisdemokratie, Frankfurt-New York 1991; (zus. mit Hermann Glaser) Dem Alter einen Sinn geben. Wie Senioren kulturell aktiv werden können, Heidelberg 1992; (Hrsg.) Zwanzig Jahre neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente, Essen 1993.