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Krisenherd Aserbaidschan: Der Krieg um Berg Karabach | APuZ 38-39/1993 | bpb.de

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APuZ 38-39/1993 Die Türkei als regionale „Großmacht“. Hoffnungen und Illusionen einer weltpolitischen Umwälzung Islam und Nationalstaat in Zentralasien Ökonomie und Ökologie in Zentralasien Zentralasien zwischen Nationalbewegung und Autokratie Krisenherd Aserbaidschan: Der Krieg um Berg Karabach

Krisenherd Aserbaidschan: Der Krieg um Berg Karabach

Rainer Freitag-Wirminghaus

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im aserbaidschanisch-armenischen Krieg um Berg Karabach stehen sich die Prinzipien der territorialen Integrität und der Selbstbestimmung gegenüber. Für Aserbaidschan ist der Krieg ein armenischer Eroberungskrieg, für Armenien einer zwischen Aserbaidschan und dem um seine Unabhängigkeit kämpfenden Berg Karabach. Seit Ausbruch dieses Konfliktes vor fünf Jahren hat er sich zu einem offenen Krieg entwikkelt, dessen Verlauf bis heute durch eine zunehmende militärische Überlegenheit der armenischen Kampfverbände gekennzeichnet ist. Schon seit Anfang des Jahrhunderts ist Karabach Objekt des Streits zwischen beiden Volksgruppen. Für den armenischen Nationalismus ist es ein Symbol für die Bedrohung armenischer Siedlungsgebiete durch türkischen Vernichtungswillen, für den aserbaidschanischen Nationalismus Symbol für territoriale Souveränität; der Konflikt mit den Armeniern fungiert bei ihnen als Katalysator für die Entwicklung der nationalen Identität und der Errichtung eines Nationalstaates. Der durch die Entwicklung des Krieges hervorgerufene Machtwechsel in Aserbaidschan im Juni 1993 -Ablösung der nationaldemokratischen Volksfront zugunsten von Vertretern der alten Nomenklatura -leitete eine neue Phase der postsowjetischen Entwicklung ein. International bedeutet dies eine Verringerung des türkischen Einflusses in der Region zugunsten Rußlands und Irans. Dies kann sich in einer Modifizierung der bisherigen einseitigen Schutzmachtrollen (Türkei für Aserbaidschan, Rußland für Armenien) niederschlagen. Wenn jedoch die gegenwärtige KSZE-Vermittlungsinitiative ebenso scheitert wie alle bisherigen, ist eine weitere Eskalation zu erwarten.

I. Einleitung

Seit mehr als fünf Jahren führen Armenier und Aserbaidschaner einen erbitterten Krieg um Berg (Nagorny) Karabach. Was als ethnischer Konflikt und innersowjetische Angelegenheit begann, hat sich zu einem offenen Krieg zwischen zwei Staaten entwickelt, der sowohl die politische und gesellschaftliche Entwicklung in beiden Ländern bestimmt als auch die Stabilität der gesamten Region bedroht. Mit der Besetzung aserbaidschanischen Territoriums durch armenische Kampfverbände und dem Ende Juni erfolgten Machtwechsel in Aserbaidschan ist der Krieg in eine entscheidende Phase getreten. Bei einem neuerlichen Scheitern der gegenwärtigen Friedens-gespräche unter Vermittlung der KSZE droht eine weitere Eskalation mit kaum absehbaren Konsequenzen.

Vereinfacht gesehen stehen sich zwei Grundprinzipien des Völkerrechts gegenüber: das Recht auf Selbstbestimmung und die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen. Auch die von beiden Staaten durch ihre Mitgliedschaft anerkannten KSZE-Prinzipien beinhalten sowohl die territoriale Integrität als auch das Prinzip der Menschenrechte. Für Aserbaidschan liegt der Grund des Konfliktes im armenischen Chauvinismus und Irredentismus, der unberechtigte Gebietsforderungen stellt, um seinen Traum von einem neuen großarmenischen Reich zu erfüllen. Armenien dagegen sieht neben der seiner Meinung nach ungerechten Zugehörigkeit Berg Karabachs zu Aserbaidschan die Ursache in der Unterdrückung der armenischen Bevölkerung Karabachs durch die aserbaidschanische Verwaltung und stellt damit den Konflikt als Problem des Rechtes auf Selbstbestimmung und der Menschenrechte dar. Während Aserbaidschan den Krieg als einen Konflikt zwischen zwei Staaten betrachtet, in dem Armenien Teile aserbaidschanischen Territoriums besetzt hält, spricht Armenien von einem Krieg zwischen Aserbaidschan und dem um seine Unabhängigkeit kämpfenden Berg Karabach, an dem es selbst nicht beteiligt sei.

II. Verlauf und Eskalation des Konfliktes

Als im Februar 1988 der Gebietssowjet des zu Aserbaidschan gehörenden Autonomen Gebiets Berg Karabach beschloß, den Anschluß Karabachs (75 Prozent Armenier bei einer Bevölkerung von 188000) an Armenien zu beantragen, wurde diese Forderung in der Armenischen Republik von einer Massenbewegung aufgenommen. Unter der Vereinigungsparole bildete sich eine nationale demokratische Bewegung, die rasch in Gegensatz zum herrschenden Regime geriet. Da Moskau einer Änderung der Zugehörigkeit Karabachs nicht zustimmte, verabschiedete der Oberste Sowjet Armeniens unter dem Eindruck antiarmenischer Pogrome in Aserbaidschan (Sumgait) am 15. Juni 1988 eine Entschließung über die Aufnahme Berg Karabachs in die Armenische Sozialistische

Sowjetrepublik (SSR).

Die Verschärfung des Konflikts konnte auch durch die direkte Kontrolle Karabachs durch Moskau nicht verhindert werden. Das von der UdSSR eingesetzte Komitee der Sonderverwaltung von Januar bis November 1989 betrachtete Aserbaidschan als Versuch Moskaus, das Ausscheiden Karabachs schrittweise zu vollziehen. Dies führte zur aserbaidschanischen Wirtschaftsblockade und zur Intensivierung der Kämpfe zwischen paramilitärischen Einheiten beider Seiten. Auf die Rückgabe der Verwaltung Berg Karabachs an Aserbaidschan folgten eine stärkere Bekämpfung der separatistischen Bewegung und die Intensivierung einer offensiven aserbaidschanischen Siedlungspolitik.

Auch in Aserbaidschan führte das Karabach-Problem zur Bildung einer nationalen demokratischen Unabhängigkeitsbewegung, die von der Volksfront angeführt wurde. Als die Demonstrationen und Streiks im Januar 1990 einen Höhepunkt erreichten, konnte die Herrschaft der Kommunisten nur durch eine blutige Intervention der Roten Armee erhalten werden. Unter dem Vorwand, die armenische Bevölkerung zu schützen, besetzte sie Baku, wo es zu antiarmenischen Pogromen gekommen war. Nachdem im März 1991 die natio nale Bewegung durch Wahlen die Macht in Armenien übernommen hatte und die Unabhängigkeit erklärt wurde, unterstützte die Sowjetarmee Truppen des aserbaidschanischen Innenministeriums bei der Deportation armenischer Dörfer.

Nach der Unabhängigkeitserklärung Aserbaidschans in der Folge des Moskauer Augustputsches 1991 endete die Unterstützung Aserbaidschans durch Moskau. Die armenischen Karabacher sahen die Möglichkeit, als eigenständige Republik durch Anschluß an den neuen Unionsvertrag ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Am 4. September 1991 proklamierten sie ihre Republik Berg Karabach. Vorausgegangen war die unter internationalem Druck zurückgenommene Vereinigungsabsicht Armeniens zugunsten einer Politik, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht Karabachs beruft. Die folgende Zeit ist gekennzeichnet durch ein zunehmend offensives Vorgehen der armenischen Kampfverbände. Nach dem Absturz bzw. Abschuß eines Hubschraubers mit Vermittlern aus Rußland und Kasachstan sowie aserbaidschanischen Militärs und Journalisten im November 1991 brach Aserbaidschan die diplomatischen Beziehungen zu Armenien ab und annullierte den Autonomiestatus von Berg Karabach.

Eine armenische Großoffensive im Frühjahr 1992 brachte endgültig die Wende zu einem offenen Krieg. Mit der Einnahme von Aserbaidschanern bewohnter Orte in Karabach, mit dem Fall der Stadt Schuscha und der Eroberung des sogenannten „humanitären Korridors“ um Latschin, der Armenien mit Berg Karabach verbindet und die Versorgung mit Lebensmitteln und Waffen gewährleistet, gewannen die Armenier die militärische Oberhand in Karabach, was zur Vertreibung der aserbaidschanischen Bevölkerung führte. In Baku hatte dies im Zusammenhang mit einem armenischen Massaker an der Bevölkerung des Ortes Chodschaly die Machtübernahme der aserbaidschanischen Volksfront zur Folge. Während die Türkei immer mehr zur Schutzmacht des nicht in die GUS eintretenden Aserbaidschans wurde, stellte sich Rußland durch die Unterzeichnung eines Militärpaktes mit Armenien vom Mai 1992 offen auf dessen Seite.

Nachdem eine vom neuen Präsidenten Ebulfez Eltschibey eingeleitete aserbaidschanische Gegenoffensive im Juni zunächst einige Orte zurückerobern konnte, dehnten sich die Kampfhandlungen im Herbst 1992 immer mehr auf aserbaidschanisches Territorium außerhalb Karabachs aus. Eine erneute armenische Großoffensive von Februar bis April 1993 konnte die Kontrolle über das gesamte Karabach gewinnen und einen zweiten Korridor im Norden in der Region von Kelbadschar einrichten. Inzwischen halten armenische Kampfverbände ein Zehntel (Juni 1993) des aserbaidschanischen Territoriums besetzt und stießen unter Ausnutzung der innenpolitischen Krise in Baku im Juni auf die Orte Agdam und das im Süden gelegene Fisuli vor. Vom Weltsicherheitsrat der UNO wurde in einer Resolution am 30. April unter Bezugnahme auf die territoriale Unversehrtheit aller Staaten der Abzug aller armenischen Besatzungskräfte aus den eroberten Gebieten Aserbaidschans gefordert.

III. Historische Hintergründe des Konflikts

Ebenso wie beim Vergleich der widersprüchlichen Informationen beider Seiten aus dem Kriegsgebiet entsteht auch bei der Betrachtung beider Standpunkte der Eindruck, es handle sich um zwei verschiedene Ereignisse und Probleme. Während für Aserbaidschaner feststeht, daß Berg Karabach seit alters her ein Teil Aserbaidschans ist, in das Armenier erst im 19. Jahrhundert unter Vertreibung der Stammbevölkerung eingewandert waren, sehen Armenier Karabach als historischen Teil Ostarmeniens, in dem bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts armenische Fürstentümer existierten. Vor der russischen Eroberung war das historische Karabach -Karabach ist ein türkisches Wort und bedeutet „Schwarzer Garten“ -eines der unabhängigen muslimischen Khanate in Transkaukasien mit muslimischer Mehrheit. Nach dem ersten russisch-persischen Krieg geriet Karabach, das ökonomisch immer mit Baku verbunden war, 1805 unter russische Herrschaft. Die darauf einsetzende armenische Einwanderungswelle aus den armenischen Siedlungsgebieten in Ostanatolien und Iran veränderte die Bevölkerungsstruktur. Unter dem Schutz des Zarenreiches stieg der Anteil der Armenier im 19. Jahrhundert ständig als Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen Rußlands mit Persien und dem Osmanischen Reich

Seit Anfang dieses Jahrhunderts waren die armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen immer von blutigen Massakern begleitet, so im sogenannten tatarisch-armenischen Krieg 1896-1905. Eine wesentliche Ursache des Konflikts waren die wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit der Zugewanderten sowie ihre privilegierte Stellung imZarenreich. Der Streit um den Besitz von Karabach bildete damals wie heute den Gegensatz zwischen beiden Volksgruppen. In der Zeit der unabhängigen bürgerlichen Republiken 1918-1920 erhoben beide Staaten Anspruch auf Karabach, was erneut zu kriegerischen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Massakern an der Zivilbevölkerung führte. Im russisch-türkischen Friedensvertrag von Moskau 1921 wurde im Zuge eines Kompromisses der russischen Revolutionsregierung mit der Türkei Atatürks Karabach Aserbaidschan zugesprochen, wobei sich Moskau auf die Seite des turksprachigen, bevölkerungsreicheren und ökonomisch wichtigeren Aserbaidschan stellte. 1923 wurden die Gebirgsgegenden des historischen Karabach als Autonomes Gebiet in die Aserbaidschanische Sowjetrepublik eingegliedert, und zwar in der Form, daß sich eine armenische Mehrheit in dem ethnisch gemischten neuen Autonomen Gebiet ohne direkte Grenze mit Armenien ergab Da Armenien sich zu keiner Zeit mit dieser Lösung abgefunden hat, wurde Karabach im armenischen Nationalismus zu einem Symbol des Kampfes um den Anschluß armenischer Siedlungsgebiete.

IV. Armenischer Nationalismus

Der armenische Nationalismus, der sich im Kampf um Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich entwickelt hatte, ist gezeichnet durch das kollektive Trauma von 1915, als durch die von den Jung-türken veranlaßten Zwangsdeportationen Hunderttausende umkamen und viele in das von Russen beherrschte Ost-Armenien flüchteten. Die Erinnerung daran und die Verbitterung über den Verlust der Siedlungsgebiete in Ostanatolien sowie die Gebietszuteilungen von Nachitschewan und Berg Karabach an Aserbaidschan hielten den armenischen Nationalismus auch unter der Sowjet-herrschaft lebendig. So war die zwangsläufige Folge der Lockerung in der Phase der Perestroika das Wiederaufrollen des Karabach-Problems, wobei die nationalistischen und irredentistischen Hoffnungen auf ein realistisch erscheinendes Ziel ausgerichtet wurden. Karabach wurde mit den Ereignissen von 1915 verknüpft, antiarmenische Pogrome stellen im armenischen Bewußtsein die Verlängerung dieser Massaker dar. Zwar wird betont, daß die Vereinigungsbewegung allein von Karabach ausging, doch ohne die nationale Begeisterung, mit der die Kampagne im eigentlichen Armenien zur Massenbewegung wurde und das Karabach-Problem zum wichtigsten nationalen Thema, hätte die einsetzende Eskalation nicht stattgefunden. Angeheizt wurde die nationale Stimmung durch Maßnahmen der Gegenseite; die Bemühungen Bakus, den Ausbau der wirtschaftlichen Kontakte Karabachs zu Armenien zu verhindern, besonders aber die aserbaidschanische Verkehrs-und Wirtschaftsblockade lösten im durch das Erdbeben ohnehin geschwächten Armenien große Verbitterung aus, was sich in der Zuspitzung der Übergriffe und militärischen Auseinandersetzungen auf beiden Seiten niederschlug. Die antiarmenischen Pogrome von Sumgait 1988 und Baku 1990, der armenische Flüchtlingsstrom aus Aserbaidschan und die Bombardierung von Stepanakert, der Hauptstadt Karabachs, führten dazu, daß die Armenier Karabachs ihren Kampf als Existenzkampf gegen türkische Vernichtungsversuche betrachten.

Auf beiden Seiten waren die den Konflikt tragenden Bewegungen gleichzeitig auch Träger des Kampfes um die Unabhängigkeit. So ging die jetzige Regierung Armeniens aus der Karabach-Bewegung hervor. Präsident Ter-Petrosjan erkannte allerdings realistischerweise schnell, daß sein ökonomisch am Boden liegendes Land ohne friedliche Koexistenz mit dem mächtigen Nachbarn Türkei auf Dauer nicht überleben kann. Um die wirtschaftliche Kooperation in die Wege zu leiten, wurde von der Forderung des Anschlusses von Berg Karabach abgerückt und mit dem Beitritt zur KSZE die Integrität der Grenzen Aserbaidschans anerkannt. Mit Rücksicht auf das Ausland wurde auch die selbsternannte Republik Berg Karabach nicht anerkannt. Da aber die extrem nationalistische Daschnak-Partei, die auch die Führung der Karabach-Armenier stellt, inzwischen zur Partei mit dem stärksten Rückhalt in der Bevölkerung geworden ist, kann der gemäßigte Nationalist Ter-Petrosjan seine Absicht der Normalisierung des armenisch-türkischen Verhältnisses nicht verwirklichen.

So bleibt nur die einseitige Hinwendung an die traditionelle Schutzmacht Rußland, nach Meinung vieler Armenier die einzige Hoffnung. Im Gegensatz zu den Aserbaidschanern verstehen sie den Krieg als Ausdruck einer Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Die Renaissance des alten nationalistischen Denkens produziert die alten geopolitischen Konstellationen: Armenien als Keil Rußlands in die islamische Welt, wobei der Konflikt mit Aserbaidschan das größte Hindernis für den direkten Zugang der Türkei nach Zentral-asien bildet. Daß Rußland dabei seine eigenen Interessen im Sinne hat und daher auch keine verläßliche Stütze ist, wissen auch die armenischen Nationalisten. Für sie ist die russische Haltungaserbaidschanfreundlich und die „pro-türkische“ Politik Ter-Petrosjans nationaler Verrat. Auch die bis zu den letzten Eroberungen stets armenien-freundlich gebliebene amerikanische Haltung wird wegen ihrer Unterstützung der Türkei und der bisherigen Führung Aserbaidschans, die gegen den iranischen Einfluß in der Region gerichtet ist, kritisiert. Die armenische Furcht vor einer Achse USA-Türkei-Aserbaidschan deckt sich mit den Ängsten der iranischen Führung.

Die Anerkennung der territorialen Integrität Aserbaidschans ist weder mit den Zielen der Karabach-Armenier noch mit den ursprünglichen Vereinigungsabsichten zu vereinbaren. Einziger Ausweg aus diesem Dilemma ist die Abkehr von der Vereinigungspolitik hin zur Strategie der Schaffung einer unabhängigen armenischen Republik Berg Karabach unter der Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung und Autonomie. Sollte dieses Konzept der Etablierung eines zweiten armenischen Staates samt einem dazugehörenden verbindenden Korridor Erfolg haben, wäre das Ziel einer späteren Vereinigung dennoch nicht aufgehoben. Durch die Meinungsverschiedenheiten mit der Karabach-Führung gibt sich die Regierung in Eriwan international unangreifbar, wenn Verletzungen des internationalen Rechts oder die Behinderung der Friedensgespräche mit Hinweis auf die eigene Einflußlosigkeit begründet werden. So wird zwar die selbsternannte Republik Karabach nicht anerkannt, gleichzeitig aber betont, daß sie auf dem Weg zu einem unabhängigen Staat sei. Die Grenzen Aserbaidschans wurden anerkannt, doch entschied das Parlament mit der Mehrheit der Nationalisten, Karabach nicht als Teil Aserbaidschans zu betrachten.

Während Aserbaidschan die armenische Behauptung, daß keine armenischen Truppen, sondern nur „Selbstverteidigungskräfte“ aus Berg Karabach an den Eroberungen beteiligt seien, immer bestritten hat, wird dies nach der Besetzung der Region Kelbadschar auch von westlichen Stellen bezweifelt. Die „Selbstverteidigungskräfte“ bestehen neben Karabachern aus armenischen Flüchtlingen sowie aus Freiwilligen und aus Soldaten wie Offizieren der früheren Sowjetarmee. Ob sie nun von der armenischen Armee unterstützt werden oder nicht, ihre überlegene Kampfmoral resultiert aus der verinnerlichten Überzeugung, einen Kampf ums eigene Überleben zu führen. Fest steht aber, daß sie bedeutend besser als die Aserbaidschaner ausgerüstet sind und logistische Hilfe aus Eriwan bekommen

V. Aserbaidschanischer Nationalismus

Gegenüber dem alten Kulturvolk der Armenier ist Aserbaidschan eine noch junge Nation, deren nationale Identität in ihrem Entwicklungsprozeß -heute wie 1905 und 1918 -verknüpft ist mit dem Konflikt mit der armenischen Volksgruppe. Es war die Neuauflage des Karabach-Konflikts, die in der Zeit der Perestroika zu einem neuen nationalen und politischen Erwachen führte, das sich auch gegen die Zentralmacht richtete. Die Flüchtlings-ströme der aus Armenien vertriebenen Aserbaidschaner und die damit verbundene Entstehung von Slums, Obdach-und Arbeitslosigkeit in Baku verschärften die Aggressionen gegen die sozial und wirtschaftlich besser gestellten Armenier in Aserbaidschan. Im Bewußtsein der meisten Aserbaidschaner kamen die separatistischen Forderungen einem Schock gleich, man fühlt sich von den Armeniern, denen man -nach eigenem Verständnis -Gastfreundschaft gewährt hatte, hintergangen. All dies führte dazu, daß Karabach zum Symbol für territoriale Souveränität wurde, dessen Verlust die Integrität und damit das Leben der Nation gefährdet. Karabach wurde zu einem nationalen Symbol und der Konflikt zum Katalysator des Nationalismus. Getragen wurde die Unabhängigkeitsbewegung durch die von intellektuellen Dissidenten gegründete Volksfront. Das Programm der Volksfront bekannte sich zu sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten und strebte die Unabhängigkeit Aserbaidschans sowie die Auflösung seines kolonialen Status an. Der Vorwurf, die aserbaidschanische Bevölkerung Karabachs nicht schützen zu können, führte im Mai 1992 zur Ablösung des kommunistischen Präsidenten Mutalibov und zur Machtübernahme der Volksfront, was durch die anschließende Wahl ihres Vorsitzenden Ebulfez Eltschibey, eines populären, westlich ausgerichteten Nationalisten, zum Präsidenten zunächst gefestigt wurde.

Die Politik der Volksfront wie auch anderer, zum Teil aus der Volksfront hervorgegangener Parteien stand unter dem Motto „Modernisierung, Türkisierung, Islamisierung“. Unter Modernisierung versteht man den Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft, Islamisierung bedeutet das Bekenntnis zum Islam als Teil der nationalen Kultur und des nationalen Selbstverständnisses. Islamischer Fundamentalismus spielt im aserbaidschanischen Nationalismus entgegen armenischen Behauptungen keine Rolle. Turkismus als eines dertragenden Elemente der aserbaidschanischen Identität beinhaltet eine weite Bandbreite verschiedener Ausprägungen und Nuancen des Nationalismus. Extreme Panturkisten, die von einem großtürkischen Reich Turan träumen, sind sowohl in der Türkei als auch in Aserbaidschan eine Minderheit. Zwar kommt die größte moralische Unterstützung für Aserbaidschan von der türkischen Rechten, doch ist der Führer der extremen türkischen Nationalisten, Alparslan Türkesch, für Eltschibey in erster Linie ein Antikommunist, der die Türkei vor dem Kommunismus bewahrt habe Dies unterstreicht sein Verständnis des Turkismus als einer Bewegung gegen den Kommunismus und gegen die Russifizierung. Als Verehrer Kemal Atatürks ist seine Vision die einer Reihe unabhängiger, demokratischer und laizistischer turksprachiger Staaten. Aserbaidschan läge im Zentrum dieser türkischen Staatenwelt und würde eine Brücke zwischen der Türkei und Zentralasien bilden. Von allen Turkrepublikeh der ehemaligen UdSSR, die sich zur westlichen Demokratie und zum türkischen Modell des Laizismus bekannt haben, war es nur Aserbaidschan, das dies wirklich ernst gemeint hat. Für Aserbaidschan war der türkisch-aserbaidschanische Nationalismus die wichtigste treibende Kraft auf dem Weg zur nationalen Unabhängigkeit.

VI. Die Niederlage der nationaldemokratischen Bewegung

Der im Juni vollzogene Machtwechsel in der Folge eines Militärputsches leitet eine neue Phase der postsowjetischen Entwicklung Aserbaidschans ein. Die Ereignisse verdeutlichen, daß der Krieg zur Hauptdeterminante der politischen Entwicklung geworden ist. Wie schon Mutalibow, so wurden auch dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten Eltschibey militärische Niederlagen zum Verhängnis.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion boten nur der Nationalstaat und nach dem Bankrott der kommunistischen Ideologie nur der ethnische Nationalismus Alternativen, um das entstandene Vakuum zu füllen. . So entstand mit der Volksfront eine nationale demokratische Bewegung,, wobei im Kampf um Unabhängigkeit und die Errichtung eines Nationalstaates das wichtigere Element der Nationalismus und nicht das Prinzip der Demokratie war.

Der Kampf gegen die Moskauer Zentrale und gegen die eigene kommunistische Führung sowie der Kampf um Berg Karabach vereinigte unterschiedliche Kräfte von radikalen bis gemäßigten Gruppierungen. In der Phase des Aufbaus eines neuen Staates zerfällt diese Allianz in um die Macht kämpfende Gruppen.

Erst wenn Aserbaidschan sich von innen und außen nicht mehr in seiner Existenz bedroht fühlt, kann die Idee der Demokratie zur Stabilisierung des Staates beitragen, was wiederum Voraussetzung für die Bereitschaft zur Abtretung von Autonomierechten an Berg Karabach ist. Ein Land, in dem die Herrschaft von oben Tradition hat, in dem die neugegründeten Parteien in erster Linie organisatorische Anhängsel ihrer Führer sind, um an die Macht zu kommen, ist verwundbar gegen alle Arten von Umwälzungen.

Eltschibey ist es nicht gelungen, eine schlagkräftige reguläre Armee anstelle von unkoordinierten paramilitärischen Gruppen aufzubauen. Zeitweilige militärische Erfolge konnten nur unter massiven Verlusten errungen werden. Die Streitkräfte sind ohne Disziplin und ohne Vertrauen in die politische Führung den armenischen Truppen nicht gewachsen. Desertationen und Freikauf vom Militärdienst sind an der Tagesordnung. Dazu kommen die bessere Führung der armenischen Truppen -in der Sowjetarmee gab es weitaus mehr armenische als aserbaidschanische Offiziere -und die Verwicklung der Armee Aserbaidschans in den Machtkampf. Das Fehlen einer neuen Verfassung, der Mangel an konstitutionellen Regeln und an demokratischem Bewußtsein begünstigen diese Machtkämpfe.

Die Auseinandersetzung mit Armenien hat zwar den Unabhängigkeitskampf und den Demokratisierungsprozeß in Gang gesetzt, ist aber heutzutage das hauptsächliche Hindernis auf dem Weg zu einer Demokratie westlichen Zuschnitts. Krieg bedeutet Verhängung des Ausnahmezustandes, weitgehende und unkontrollierbare Vollmachten der Exekutive, Aufschiebung wichtiger Reformen, Ausnahmegesetze und -als wichtigstes Mittel der Regierung -den Erlaß von Dekreten des Präsidenten. Das Fehlen eines gewählten Parlamentes bedeutet, daß die verschiedenen Kräfte der Gesellschaft nicht repräsentiert werden.

Im Laufe der Eskalation verloren die gemäßigten Elemente auf beiden Seiten an Boden. Wenn man davon überzeugt ist, daß das nationale Überleben auf dem Spiel steht, sind alle Mittel bis hin zur ethnischen Säuberung gerechtfertigt. So gibt es in diesem Denken auch keine Zwischenstufen wie etwa verschiedene Grade der politischen Autonomie.Die Grenzen und die Souveränität sind bedroht, und mit einer Inflationsrate von 1300 Prozent, 1 Million Arbeitslosen, 500000 Flüchtlingen (April 1993), der Senkung des Nationaleinkommens im Jahre 1992 um 21, 7 Prozent (zum Vergleich Armenien: 44, 7 Prozent), der Industrieproduktion um 21, 8 Prozent (Armenien 50, 3 Prozent) treibt der Krieg Aserbaidschan in die wirtschaftliche Katastrophe, 1992 kostete der Krieg jeden Tag 20-30 Mio. Rubel, das bedeutet 40 Prozent des Staatsbudgets (für 1993 auf 70 Prozent geschätzt)

Die Folge dieser Situation ist der Ruf nach einem effektiven Staat und nach straffer Führung, das heißt nach einem starken Mann. Ein Andauem des Krieges auf Jahre führt unweigerlich zu einer Radikalisierung der Gesellschaft und erhöht die Gefahr eines Abgleitens in autokratische Verhältnisse.

Eltschibeys wachsende Kompromißbereitschaft bereitete seinen Fall vor: Ihm wurde angelastet, durch den geplanten Handel mit dem armenischen Präsidenten Ter-Petrosjan die nationalen Interessen zu verraten Die nationale Mobilisierung soll jetzt wieder unter neuer Führung beziehungsweise mit Hilfe der alten Machteliten, auf die man nach dem Scheitern der Volksfront nicht verzichten kann, stattfinden.

Ausgelöst wurde der Umschwung durch den Anführer einer Privatarmee, Suret Huseinow, der in Aserbaidschan als Volksheld gilt, jedoch von Eltschibey im Februar als Kommandant der Truppen von Berg Karabach abgesetzt wurde. Zu seiner von abziehenden russischen Militärs mit Waffen versorgten Truppe liefen immer größere Teile der regulären Armee über. Dies führte schließlich zur Machtübernahme von Haidar Alijew. Als ehemaliges Mitglied des Moskauer Politbüros unter Breschnew und langjähriger Vorsitzender der Kommunistischen Partei Aserbaidschans verkörpert er die Eigenschaften, die nach Meinung eines großen Teils der Bevölkerung deren Lage verbessern könnte: Autorität, Durchsetzungskraft, Pragmatismus und Flexibilität. Er kann sich auf Teile der alten Nomenklatura ebenso stützen wie auf ehemalige Oppositionelle. Seine Partei „Neues Aserbaidschan“ findet großen Anklang in der ehemaligen Anhängerschaft der Volksfront. Durch Verhandlungen, die er eigenmächtig als Parlamentspräsident der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan mit Armenien führte, konnte er im Mai 1993 die Einstellung der armenischen Angriffe auf Nachitschewan erreichen. In der Popularität Alijews spiegelt sich das Bedürfnis nach Autorität angesichts der schwachen und unsicheren Führung Eltschibeys wider, gemischt mit nostalgischen Gefühlen für das alte System. Unter seiner Führung konnte das Land in den siebziger Jahren eine Phase gewisser Stabilität erlangen, als er zwar Industrie und Landwirtschaft einseitig nach gesamt-sowjetischen Bedürfnissen ausrichtete, aber durch ein ausgeprägtes Klientelsystem und informelle Kanäle einem Teil der Bevölkerung ein gutes Auskommen bescherte. Hinsichtlich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umwandlungen wird von ihm angesichts des ständig sinkenden Lebensstandards ein Kurs vorsichtiger Reformen statt einer Radikalkur erwartet.

Die gewaltsame Vertreibung des ersten frei gewählten aserbaidschanischen Präsidenten und seine Ersetzung durch einen Repräsentanten des alten Regimes stellt Aserbaidschan in eine Reihe mit den Ländern Zentralasiens, in denen die Herrschaft des alten Apparates wieder stabil geworden ist. Mit Suret Huseinow ist obendrein ein Vertreter einer neuen Schicht an die Macht gekommen, die im Zuge des Zusammenbruchs des alten Systems zu schnellem Reichtum gelangen konnte. Ihm werden Mafia-Verbindungen nachgesagt, die Volksfront sieht in ihm eine Marionette Moskaus. Die Machtfülle, die er in Absprache mit Alijew durch die Übernahme des Amtes des Ministerpräsidenten und die Verfügungsgewalt über Innen-und Verteidigungsministerium sowie durch den Oberbefehl über die Armee erhalten hat, ist ein Anzeichen dafür, daß sich auch in Aserbaidschan ein autokratisches Regime etablieren könnte. Die Machtteilung zwischen Alijew und Huseinow symbolisiert die doppelten Erwartungen, die man an sie stellt: Von Huseinow erwartet man militärische Siege, von Alijew harte, aber geschickt geführte politische Verhandlungen. Mit der Niederlage der Volksfront beginnt jetzt die dritte Etappe in der politischen Geschichte Aserbaidschans nach der Erlangung der Unabhängigkeit; auch diese wird weiter durch die Entwicklung des Krieges bestimmt werden.

VII. Internationale Auswirkungen des Krieges

Die internationale Dimension des Krieges zeigt sich auch in den Auswirkungen, die der Machtwechsel auf das Verhältnis der direkt oder indirekt am Konflikt beteiligten Staaten zueinander hat.Der Machtverlust der Volksfront bedeutet fürs erste den Sieg eines eigenständigeren, sich auf Aserbaidschan konzentrierenden Turkismus auf Kosten eines übergreifenden, sich an die Türkei anlehnenden Panturkismus. Alijew wird, im Gegensatz zu Eltschibey, dessen antirussische sowie antiiranische Politik von seinen Kritikern als weltfremd und idealistisch bezeichnet wurde, wegen der wirtschaftlichen Probleme und in der Hoffnung auf eine Änderung der russischen Haltung im Konflikt mit Armenien eine von vielen gewünschte Wiederannäherung an Rußland in die Wege leiten und somit den Staaten Zentralasiens folgen.

Für Aserbaidschan war die Ausrichtung auf seinen einzigen internationalen Fürsprecher Türkei bisher eine Richtlinie der Außenpolitik. Eine militärische Unterstützung jedoch wurde von Eltschibey offiziell mit dem Hinweis auf die zwangsläufig damit verbundene internationale Isolierung der Türkei und die Heraufbeschwörung eines Religionskrieges abgelehnt, dies auch in der Erkenntnis, daß die türkische Regierung nicht so weit gehen würde. In Wirklichkeit hatte Eltschibey sich eine stärkere Unterstützung der Türkei erhofft, ebenso wie auch ein Eingreifen der Türkei bei seiner Absetzung.

Da die von den Aserbaidschanern erwartete militärische Unterstützung durch die Türkei bis auf die Entsendung ehemaliger Offiziere als Militärberater ausblieb -ebenso wirtschaftliche Investitionen infolge des Krieges -und türkische Hilfsleistungen für das durch die Blockade geschwächte Armenien in der Türkei diskutiert wurden, sind viele Aserbaidschaner, die die türkische Rücksicht auf Rußland und den Westen nicht verstehen, nach der anfänglichen Euphorie von der Türkei desillusioniert. So hat sich die Meinung durchgesetzt, daß weder das Vertrauen auf die Hilfe der Türkei noch eine antirussische Haltung bei der Lösung des nationalen Hauptproblems weiterhelfen. Statt dessen erhofft man sich jetzt mehr von einer Verbesserung der Beziehungen zu Rußland, das seine bisherige Unterstützung Armeniens mit Blick auf die größere ökonomische Bedeutung Aserbaidschans korrigieren könnte.

In seiner ersten Rede als neuer Parlamentspräsident betonte Alijew, daß Aserbaidschan sich keinem regionalen Bündnis anschließen wolle. Daß hier auch wirtschaftliche, das heißt Erdölinteressen eine Rolle spielen, zeigt die Tatsache, daß Alijew die mit britischen sowie amerikanischen Firmen und mit der türkischen staatlichen Erdölgesellschaft vereinbarten Verträge über die Förderung aserbaidschanischen Öls neu aushandeln will. Rußland, das die aserbaidschanischen Erdölquellen 70 Jahre lang ausbeuten durfte, wurde bisher dabei übergangen. Die Verträge sollten im Juni 1993 endgültig abgeschlossen werden, was durch den Putsch und ihre unmittelbar darauf erfolgende Annulierung verhindert wurde Ein Rückgang der türkischen Einflußnahme zugunsten einer stärkeren Kooperation mit Rußland und Iran würde mit Aserbaidschan das wichtigste Glied in der amerikanisch-türkischen Strategie der Förderung der türkischen Interessen in den muslimischen Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR verlieren.

Der Iran fürchtet nach wie vor die türkisch-aserbaidschanische Zusammenarbeit und die Entstehung einer nationalen Bewegung unter den 15 Milhonen iranischen Aseris. Die von Eltschibey durch seine Wiedervereinigungsabsichten mit Südaserbaidschan (nordwestlicher Iran) angeheizten Spannungen kamen Armenien zugute, das seine traditionell guten Beziehungen zu Iran ausgebaut hat. Allerdings kann es wegen des religiösen Aspekts des Konflikts nicht bedingungslos mit iranischem Wohlwollen rechnen. Ein weiteres militärisches Vordringen der Armenier wird weder von den iranischen Aseris noch von den Islamisten hingenommen werden. Zwar wünscht sich Iran kein starkes Aserbaidschan, aber auch keinen aserbaidschanischen Flüchtlingsstrom nach Iran. Als Parlamentspräsident von Nachitschewan hatte Haidar Alijew -die früheren Kommunisten tendieren im allgemeinen mehr zu Iran als zur Türkei -gute Beziehungen zur Türkei gepflegt, aber auch stetig das Verhältnis zu Iran, dem größten Handelspartner Aserbaidschans, ausgebaut. Zwar bedeutet der Machtwechsel in Aserbaidschan eine deutliche Verringerung des türkischen Einflusses in ganz Zentralasien, doch wird auch die neue Führung nicht auf die starke Bindung zur Türkei verzichten. Alijew ist kein Interessenvertreter Moskaus, er wird anders als Eltschibey versuchen, zu allen drei Regionalmächten ausgewogene Beziehungen im Sinne der nationalen Interessen Aserbaidschans aufzubauen.

VIII. Vermittlungsinitiativen und Perspektiven

Eine Verhandlungslösung des Konflikts müßte sowohl die territoriale Souveränität Aserbaidschans als auch die Minderheitenrechte der Armenier gewährleisten, ebenso die Minderheitenrechte der aus Karabach vertriebenen aserbaidschanischen Bevölkerung.

Sämtliche Vermittlungsversuche, von russischerkasachischer und iranischer Seite sowie von Seiten der KSZE, sind bisher gescheitert. Als am 7. Mai 1992 unter iranischer Vermittlung ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen wurde, begann einen Tag später die armenische Offensive gegen Latschin. Auch die armenischen Eroberungen im März und April 1993 mit der Einnahme eines zweiten Korridors begannen nach der Ankündigung einer russisch-türkischen Vermittlungsinitiative. Die hierauf folgenden Friedensgespräche unter Beteiligung Rußlands, der USA und der Türkei wurden durch den Machtwechsel in Aserbaidschan Ende Juni gestoppt. Der dabei vereinbarte Rückzug der Armenier aus der eroberten Region von Kelbadschar erfolgte bisher nicht beziehungsweise wurde verzögert. Eine auf den letztgenannten Friedensgesprächen aufbauende neue Initiative der KSZE-Vorbereitungsgruppe für eine Friedenskonferenz in Minsk mußte unter dem Druck Ter-Petrosjans von der Führung Karabachs widerstrebend akzeptiert werden, trotzdem setzten die armenischen Kampfverbände ihre Eroberungsoffensive auf aserbaidschanischem Territorium fort. Die Vorschläge einer erneuten Vermittlungsinitiative der Minsker Gruppe der KSZE unter Beteiligung von elf Staaten wurden inzwischen von Aserbaidschan und Armenien anerkannt; auch die armenische Führung Karabachs hat unter internationalem und armenischem Druck zugestimmt, ihren Eroberungsfeldzug unter Ausnutzung der innenpolitischen Krise in Aserbaidschan aber bis auf weiteres fortgeführt, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern und eine Sicherheitszone um Karabach aufzubauen.

Die von der KSZE geplante Minsker Friedenskonferenz hat noch nicht stattfinden können. Grund des Scheiterns ist die Statusfrage, das heißt die Nichtanerkennung der Gleichberechtigung der armenischen Vertreter Karabachs als Verhandlungspartner, auf der die Armenier Karabachs bestehen. Vor einer eventuellen Rückgabe des „humanitären Korridors“ fordern sie dessen Sicherung durch internationale Friedenstruppen. Aserbaidschan ist zwar bereit, den Armeniern Karabachs kulturelle Autonomie zu gewährleisten, doch als einzigen Sicherheitsgaranten sehen diese momentan ihre militärischen Verbände. Angesichts der Realität des Krieges ist dies verständlich. Weder gibt es Aserbaidschaner auf von Armeniern kontrolliertem Gebiet noch umgekehrt. Sobald ein Ort erobert ist, wird die ansässige Bevölkerung ermordet oder vertrieben. Garantien würden die armenischen Karabacher nur von einer neutralen Seite akzeptieren. Eine militärische Trennung aber durch Friedenstruppen, welcher internationalen Organisationen auch immer, könnte den Krieg zwar einfrieren, aber keine Lösung bieten. Militärische Trennung wäre de facto unabhängig vom Status stets eine Loslösung Karabachs von Aserbaidschan, das den Konflikt als innere Angelegenheit betrachten möchte.

Auch der amerikanisch-türkische sogenannte Goble-Plan der durch Gebietsaustausch eine Verbindung zwischen Armenien und Berg Karabach sowie einen Korridor zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan herstellen will, wird von allen Beteiligten abgelehnt. Von dieser Lösung würde nur die Türkei profitieren, die dadurch einen direkten Zugang zu Aserbaidschan und damit auch nach Zentralasien hätte. Rußland und Iran möchten diesen Zugang verhindern; Armenien wäre vom Iran abgeschnitten, Aserbaidschan würde einen Teil seines Staatsgebietes verlieren. Daß Eltschibey angeblich bereit gewesen sein soll, diesem Plan zuzustimmen, war mit ein Grund für seine Entmachtung. Der Machtwechsel zugunsten einer mit Rußland kooperierenden Regierung könnte die Lage insofern verändern, als Rußland Druck auf Armenien und Karabach ausüben könnte.

Der Druck des traditionell und gefühlsmäßig mit Armenien verbundenen Westens, dessen öffentliche Meinung früher hauptsächlich auf armenischen und russischen Informationsquellen fußte, auf Armenien ist stärker geworden. Für Aserbaidschan spricht vom westlichen Standpunkt aus, daß es in ökonomischer Hinsicht interessanter ist und daß es bisher dem türkischen und nicht dem iranischen Vorbild gefolgt war. Doch die nach Meinung der Aserbaidschaner nur halbherzige Verurteilung der armenischen Eroberungen und die fast ausschließliche Beschränkung französischer und amerikanischer Hilfsmaßnahmen auf Armenien und Georgien haben auch in Aserbaidschan die Auffassung von der Doppelmoral des Westens, die in derislamischen Welt nach dem Golfkrieg und den Ereignissen in Bosnien zum Allgemeingut geworden ist, bestärkt.

Wie bei einer eventuellen kulturellen oder beschränkten politischen Autonomie ein Zusammenleben beider Volksgruppen im durch den Krieg völlig zerstörten Berg Karabach angesichts ihres abgrundtiefen Hasses aussehen könnte, kann man sich kaum vorstellen. Gelingt es den gegenwärtigen KSZE- Friedensbemühungen oder einem verstärkten Druck Rußlands auf beiden Seiten nicht, eine auf einem andauernden Waffenstillstand aufbauende Verhandlungslösung durchzusetzen, ist auch in Armenien ein Machtwechsel zugunsten der extremen Kräfte und eine damit verbundene weitere Eskalation des Krieges nicht auszuschließen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Zahl der Armenier stieg von 200000 im Jahr 1846 auf 1, 35 Mio. 1918. Vgl. Eva-Maria Auch, „Ewiges Feuer“ in Aserbaidschan. Ein Land zwischen Perestroika, Bürgerkrieg und Unabhängigkeit, in: Berichte des Bundesinstituts für ost-wissenschaftliche und internationale Studien, (1992) 8, S. 16.

  2. Vgl. Audrey L. Altstadt, Nagomo-Karabagh -„Apple of Discord“ in the Azerbaijan SSR, in: Central Asian Survey, 7 (1988) 4.

  3. Vgl. Elizabeth Fuller, Paramilitary Forces Dominate Fighting in Transcaucasus, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, Munich, 2 (1993) 25, S. 75-77.

  4. So in einem Gespräch mit dem Verfasser im Juni 1992 kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten.

  5. Vgl. Yasin Aslan, Azerbaycan’i Bekleyen Tehlikeler, Bagimsizliga Celme Girisimleri, in: Yeni Forum, Ankara, Februar 1993, S. 57.

  6. Suret Huseinow behauptete, Eltschibey hätte vorgehabt, auf Teile Karabachs zu verzichten, um Ter-Petrosjan gegen den wachsenden Einfluß der Opposition an der Macht zu halten, in: Cumhuriyet vom 1. Juli 1993.

  7. Der von der Türkei gewährte Kredit in Höhe von 250 Mio. US-Dollar ist an Investitionen und Projekte türkischer Unternehmen in Aserbaidschan gebunden. Da diese wegen des Krieges zurückgestellt wurden, gibt es nach Angaben des Vorsitzenden des Türkisch-Amerikanischen Unternehmer-Vereins seit September 1992 praktisch keine türkische Investitionstätigkeit mehr in Aserbaidschan, in: Milliyet vom 1. 7. 1993.

  8. Nach der Ablösung Eltschibeys wurden die Rebellen durch Kräfte unterstützt, die die Ölverträge sabotieren wollten; vgl. Türkiye vom 8. 7. 1993. Auch über den Weg der vereinbarten Pipeline, die nach türkischen Vorstellungen zu einem späteren Zeitpunkt auch kasachisches öl über Baku ans Mittelmeer transportieren sollte, wird wieder neu spekuliert. Gegen eine Verlegung der Pipeline an die russische Küste des Schwarzen Meeres spricht jedoch, daß die dortigen Häfen nicht geeignet sind; vgl. Nokta vom 4. -10. 7. 1993, S. 28.

  9. So benannt nach dem Befürworter dieses Plans, dem amerikanischen Nahost-Spezialisten Paul Goble.

Weitere Inhalte

Rainer Freitag-Wirminghaus, Dr. phil., geb. 1948; Studium der Islamwissenschaft und Turkologie in Hamburg; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut, Hamburg. Veröffentlichungen zur politischen Situation in der Türkei, im Transkaukasus und in Zentralasien.