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Zentralasien zwischen Nationalbewegung und Autokratie | APuZ 38-39/1993 | bpb.de

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APuZ 38-39/1993 Die Türkei als regionale „Großmacht“. Hoffnungen und Illusionen einer weltpolitischen Umwälzung Islam und Nationalstaat in Zentralasien Ökonomie und Ökologie in Zentralasien Zentralasien zwischen Nationalbewegung und Autokratie Krisenherd Aserbaidschan: Der Krieg um Berg Karabach

Zentralasien zwischen Nationalbewegung und Autokratie

Abidin Bozdag

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Zusammenfassung

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken verschärfte sich der Machtkampf zwischen alter Nomenklatura einerseits und demokratischer und islamischer Opposition andererseits. In Usbekistan und Tadschikistan gelang es der alten Machtelite, die Oppositionsbewegungen zu zerschlagen, während diese in Turkmenistan von Anfang an schwach entwickelt war. Kasachstan und Kirgistan werden von reformkommunistischen Eliten mit Hilfe ausgeprägter Präsidialsysteme regiert. Sowohl autokratisches System als auch die Nationalbewegung sind in den einzelnen Republiken keineswegs einheitlich ausgeprägt. Die Entstehung der Nationalbewegungen und Oppositionsparteien Zentralasiens ist verbunden mit der Forderung nach Entkolonialisierung. Auf der ideologischen Grundlage von Nationalismus und Islam standen Demokratisierung, Menschenrechte und Ökologie im Mittelpunkt ihrer Programme. Zwar haben die oppositionellen Gruppen infolge ihrer Repression durch die autokratischen Führungen zur Zeit kaum eine Möglichkeit zur Entfaltung, doch ist die Fortsetzung der Unterdrückungspolitik der von Rußland gestützten zentralasiatischen Machthaber für die Zukunft keineswegs gewährleistet.

I. Einleitung

Durch den Zerfall der Sowjetunion und die Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit der zentral-asiatischen Republiken wurde eine der wichtigen Forderungen der Nationalbewegungen erfüllt. Die Definition der Nationalbewegungen bzw.der informellen Gruppen in Zentralasien war jedoch schwierig, weil sich die Themen und Forderungen dieser Bewegungen nicht auf Sezession beschränkten und national begrenzt blieben, sondern darüber hinaus sozialer, demokratischer, ökologischer, ökonomischer und religiöser Natur waren. Hinzu kamen gesellschaftliche Veränderungen und der Übergang zu Privateigentum und marktwirtschaftlichen Verhältnissen. Des weiteren bestanden die Schwierigkeiten einer Definition der Nationalbewegungen darin, daß ein Teil der republikanischen Machtelite die Forderungen der Nationalbewegungen aktiv unterstützt hatte und dementsprechend ein Segment der Nationalbewegung war.

Nach der Unabhängigkeit der Republiken veränderten sich die Programme und Machtkonstellationen innerhalb der Opposition. Demokratie, innerstaatliche Machtansprüche und Konflikte gewannen zunehmend an Bedeutung und rückten mehr und mehr in den Vordergrund. Die alte Nomenklatura rang um den Erhalt ihrer Machtposition und bediente sich repressiver Maßnahmen gegenüber den aufkommenden Nationalbewegungen in Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenien, die außerhalb der Nomenklatura enstanden waren. Somit kann man nach der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken von einer Identität von Nationalbewegung und Opposition sprechen.

Heute herrschen in den zentralasiatischen Republiken weder totalitäre Systeme noch ausgeprägt demokratische Machteliten, die sich teilweise traditioneller Gesellschaftsformen bedienen und somit versuchen, ihre autoritären Herrschaftsformen zu legitimieren. Aufgrund der unterschiedlichen politischen Systeme und Strukturen ist eine allgemeingültige Definition unter dem Stichwort Autokratie für Zentralasien problematisch. Die autokratischen Führungen Turkmeniens, Usbekistans und Tadschikistans versuchen, die oppositionellen politischen Kräfte zu neutralisieren, sobald diese ihre Herrschaft gefährden könnten. In Kasachstan und Kirgisien sind hingegen reformkommunistische Kader an der Macht, die mit einem ausgeprägten Präsidialsystem regieren. In allen zentral-asiatischen Republiken haben bisher außer Präsidentschaftswahlen keine allgemeinen Wahlen stattgefunden.

Abgesehen von den Herrschaftsverhältnissen kann man das derzeitige Zentralasien trotz des überwiegend gemeinsamen kulturellen und historischen Erbes nicht als eine regionale Einheit betrachten. Die sprachlichen Unterschiede gehen mancherorts über die eines Dialektes hinaus und bilden eine Verständigungsbarriere innerhalb der turksprachigen Bevölkerung. Die Sowjets hatten, statt die Einheit der Turksprachen zu fördern, häufig die Alphabete verändert und Stammes-bzw. Dynastiesprachen als Republiksprachen eingesetzt. Die turksprachigen Usbeken und Turkmenen wiederum besitzen das kulturelle Erbe Irans, so daß die kulturellen Unterschiede z. B. zwischen Kirgisen und Usbeken größer als zwischen den iranischsprachigen Tadschiken und Usbeken sind. Ihre Religion ist durch Islamisierung innerhalb verschiedener Zeiträume ebenfalls segmentiert; somit ist eine einheitliche zentralasiatische Definition des Islam nicht vorhanden. So ist bei den spät islamisierten nomadischen Kasachen und Kirgisen der Islam weniger entwickelt als bei den seßhaften Usbeken.

Auch die ethnische Homogenität Zentralasiens wird unter anderem durch die in den Republiken lebenden Russen durchbrochen. In Kasachstan sind 38 Prozent der Bevölkerung Russen, in Kirgisien 21 Prozent, in Usbekistan 8 Prozent, in Turkmenien 9, 5 Prozent und in Tadschikistan 8 Prozent (vor dem Bürgerkrieg). Allein in Kasachstan leben 100 verschiedene Ethnien und Nationen. Über 60 Völker leben allein in der südkirgisischen Osch-Region. Die religiöse, politische und nationale Ethnizität Zentralasiens ist keineswegs homogen, und das politische und ideologische Spektrum ist breit und umfaßt demokratische wie fanatische Strömungen. Selbst innerhalb der Republikgrenzen ist Heterogenität eine normale Erscheinung.

II. Nationalbewegungund Nationalismus

Vor der Oktoberrevolution 1917 kann von einem kasachischen, tadschikischen, kirgisischen oder usbekischen Nationalismus nicht gesprochen werden, vielmehr existierten örtliche Mundarten und stammesgebunden begrenzte Identifikationsmuster; es dominierten kleine ethnische Gruppierungen, die sich oftmals befehdeten. Die von den Sowjets zumeist willkürlich gezogenen Republikgrenzen in Mittelasien standen im Widerspruch zu den ethnischen und religiösen Verbindungen sowie zu den kulturellen Zugehörigkeiten. Die auf der Basis verschiedener türkischer und iranischer Sprachen sowie Dialekte begründeten Republiken bildeten in den siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft unterschiedliche kulturelle und nationale Wertsysteme aus, in denen potentielle Konflikte bereits angelegt waren. Somit ist das Nationswerdungsniveau der zentralasiatischen turksprachigen Ethnien auch bedingt durch künstliche Grenzziehung und Wahl einer bestimmten Mundart zur Republiksprache. Die Zerstörung der Strukturen der alten nationalen Eliten kam Anfang der dreißiger Jahre noch hinzu. Durch eine Nationalitätenpolitik, die die Fragmentierung der Turkvölker förderte, sollten sogenannte pan-turkische Tendenzen eingedämmt werden. Die sowjetische Annahme, daß sich die Nation durch die fortschreitende Industrialisierung und Sowjetisierung (Russifizierung) zu einer multiethnischen Gesellschaft integrieren ließe, erwies sich jedoch als utopisch. Vielmehr führte die überwiegend erzwungene Integration der Ethnien und Nationen letztendlich zur Erosion des „realsozialistischen“ Systems.

Der zentralasiatische Nationswerdungsprozeß wurde durch die sowjetische Industrialisierungspolitik sowie durch Stalins Deportationspolitik zusätzlich erschwert. Infolge der Industrialisierung migrierten Millionen russischer Fachkräfte nach Zentralasien. Durch die Deportationen wurde die „Ökologie der zentralasiatischen Ethnien“ zerstört. Die sowjetische Forderung der Zweisprachigkeit galt für die Angehörigen nichtrussischer Völker und förderte letztendlich die Russifizierung.

Die sowjetische Migrations-und Sprachenpolitik provozierte den Widerstand der zentralasiatischen Bevölkerung. Mit Gorbatschows Perestroika wurden die wirtschaftliche Unterentwicklung und Peripherisierung Zentralasiens und die soziale Benachteiligung ins Gedächtnis gerufen, und antikoloniale Themen bildeten die Basis für die ideologische Legitimation der Nationalbewegungen. Glasnost machte bestehende alte und verborgene nationale Probleme sichtbar. Eine offene Auseinandersetzung mit der zentralasiatischen und türkischen bzw. iranischen Geschichte verlieh den Nationalbewegungen Zentralasiens weitere Schubkraft. Mitte der achtziger Jahre kamen noch nationale ökologische Themen hinzu; insbesondere in Usbekistan und Kasachstan wurden sie zu einem wichtigen Bestandteil nationaler Ideologie. Ende der achtziger Jahre wurden auch interethnische Friedensinitiativen Bündnispartner der Nationalbewegungen. Diese hatten zu Beginn der Perestroika keine eigenständigen Überzeugungssysteme hinsichtlich Nationalismus, Ökologie, Islam und Demokratie.

In allen zentralasiatischen Nachfolgestaaten erfolgte die nationale Wiedergeburt über die Bildung einer neuen politischen Elite und Ideologie, die über den bisherigen Kreis der Nomenklatura und deren realsozialistischen Ideen hinaus ging. Der Entkolonialisierungsprozeß kam allmählich in Gang. Alleine die wachsende demographische Entwicklung der islamischen Völker beruhigte die Führungen der zentralasiatischen Republiken, und beim politischen Zerfall der Sowjetunion spielten sie, im Gegensatz zum Baltikum, keine entscheidende Rolle. Die Republikführungen sahen der Auflösung der Sowjetunion mit gemischten Gefühlen entgegen, weil sie von Moskau wirtschaftliche Hilfeleistungen erwarteten und glaubten, daß sie ohne Transferzahlungen nicht überleben könnten. Die von der alten Ideologie unabhängigen Kräfte und Bewegungen nahmen daher zunächst nur langsam zu. Sie waren nach zwei Richtungen orientiert. Neben der nationaldemokratischen Opposition, die sich als säkularistisch und liberal verstand, entfalteten sich gemäßigt auftretende islamische Organisationen, die zunächst auf Gewalt verzichteten. Nur in Turkmenien konnte sich eine Oppositionsbewegung kaum entwickeln; die informelle Bewegung „Agzibirlik“ blieb relativ schwach. Die Entwicklung der nationaldemokratischen Bewegungen als Opposition, insbesondere in Usbekistan und Kirgisien, aber auch in Kasachstan und Tadschikistan, läßt sich wiederum in einem Verlaufsschema erkennen. • 1. Teile der nationalen Intelligenz, die überwiegend aus akademischen Kreisen bestanden, stellten gemäßigte politische Forderungen auf, die zunächst von der konservativen bürokratischen Republik-führung abgelehnt wurden. 2. Diese nationale Intelligenz unterstützte und organisierte die Bildung informeller Gruppen, die unter anderem die Verwirklichung der Perestroika forderten. Ein Teil der „Reformkommunisten“ war in diesen Prozeß ebenfalls involviert.3. Die Mobilisierung der Massen erfolgte über die Bildung volksfrontähnlicher Organisationen aus den verschiedenen informellen Gruppen. In Usbekistan waren dies „Birlik", in Kirgisien die „Demokratische Bewegung Kirgisiens“, die usbekische Minderheitenvertretung in der kirgisischen Stadt Osch, „Usbek Adalet", in Kasachstan der „Volkskongreß Kasachstans“ und andere kleine Gruppierungen wie „Alasch“, „Azat“, „Sheltakson", in Tadschikistan die Volksfront „Rastochez“, die „Demokratische Partei Tadschikistan“ sowie die Minderheiten-Volksbewegung „Wahdad“ und in allen zentralasiatischen Republiken die Dependence der „Islamischen Wiedergeburtspartei“. Außerdem bildeten sich Interessenvertretungen der Russen und anderer nationaler Gruppen. 4. Teile dieser Volksfrontbewegungen formierten sich entweder zu einer nationaldemokratischen oder islamischen Partei, andere wurden nicht zugelassen oder verboten. Gegenwärtig sind sämtliche Oppositionsbewegungen und Parteien in Tadschikistan, Turkmenien und Usbekistan verboten, weil sich nach der Unabhängigkeit ihre Aktivitäten vor allem gegen die Herrschaftseliten in den neuen Republiken wandten.

In Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan bildete sich die nationaldemokratische Bewegung gegen die kommunistische Nomenklatura etwas früher als in Turkmenien und Usbekistan heraus. Bereits 1988 entfalteten sich zum Beispiel zirka 300 informelle politische Gruppen in Kasachstan. In diesen sowie in den anderen zentralasiatischen Republiken waren identische Strukturen zu beobachten. Die Nationalbewegung war ein Sammelbecken für eine Vielzahl von heterogenen Initiativgruppen wie Gesprächskreise, Komitees, Foren, Unterschriftenaktionen oder Bürgerinitiativen, die sich am Ende in volksfrontähnlichen Organisationsformen organisierten. Einige bestanden nur kurze Zeit und gingen in anderen Gruppierungen auf. Die lose, teilweise unverbindliche Organisationsform der Volksfronten basierte auf der Beteiligung breiter Bevölkerungsgruppen. Trotzdem kam es zu keiner Institutionalisierung der informellen Gruppen. Außer in den Hauptstädten fehlten der überwiegenden Mehrheit der Organisationen eigene Büros und Versammlungsorte, um nach ihrem basisdemokratischen Verständnis operieren zu können. Allein die „Kirgisische Demokratische Bewegung“ bestand aus 30 Organisationen, von denen sich nur die „Erkin“ und „Asaba“ als oppositionelle Parteien ausbilden konnten.

Die Verbindungen der nationalen demokratischen Kräfte blieben unter den Republiken zwar bestehen, doch durch permanente finanzielle Engpässe und unprofessionelle Kader blieb ihr Einfluß begrenzt. Die neue nationaldemokratische Elite bestand überwiegend aus systemintegrierten Intellektuellen. Eine revolutionäre demokratische Opposition, die mit dem System alle Verbindungen gebrochen hat und sich ernsthaft um die Übernahme der Regierungsverantwortung bemühte, entstand nur in Tadschikistan. Eine weitere Schwäche der demokratischen Kräfte war, daß ihre Führung kaum internationale Kontakte pflegen konnte, wodurch sowohl die Erfahrungen der internationalen Kräfte als auch deren Hilfe ausblieb. Die islamischen Gruppen waren wesentlich besser organisiert als die demokratische Opposition. Das geheime Sufitum (mystische islamische Bewegung), das traditionellerweise im Untergrund aktiv war, bildete die Basis des radikalen Islam. Doch ihre Hauptkonkurrenz, der offizielle Islam, konnte den Sufismus, außer in Tadschikistan und teilweise in Usbekistan, letztendlich unter Kontrolle halten.

Die alte Nomenklatura in den zentralasiatischen Staaten hatte großes Interesse an Stabilität. Die Republikführungen waren stark zentralistisch organisiert, hatten langjährige Machterfahrung und konnten sich durch enge Kontakte mit der Türkei zuerst legitimieren und später etablieren. Der türkischen Regierung, die selbst euphorische panturkische Träume hegte, war die Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken von der Sowjetunion wichtiger als die Ablösung der alten Machteliten. Obwohl die Regierung der Türkei antikommunistisch eingestellt ist, stand sie der autoritären Nomenklatura bei und versäumte es nach der Unabhängigkeit, die demokratische Opposition zu unterstützen. Diesen Fehler haben die iranischen und afghanischen Machthaber im Falle Tadschikistans nach der Unabhängigkeit vermieden und insbesondere die ihrer Ideologie entsprechende islamische Opposition unterstützt.

Obwohl die Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken zum Teil ein Geschenk Moskaus war und die demokratische Opposition die Schlußphase der Entkolonialisierung ihrer Republiken mit Teilen der Nomenklatura (Reformkommunisten) gemeinsam erreicht hat, blieb ihr Einfluß auf die Demokratisierung Zentralasiens begrenzt. Die alte Machtelite behielt die Kontrolle des Demokratisierungsprozesses in ihrer Hand. Somit war auch der Nationalismus ein Instrument der alten Nomenklatura, das zur Rechtfertigung der Abtrennung der Republiken vom Zentrum diente. Da der zentral-asiatische Nationalismus nicht mit einem Aufstieg des liberalen Bürgertums einherging, sondern eine Kontinuität mit dem alten Bürokratismus aufwies, wandelte sich die Form der Herrschaft in das eines autokratischen Systems. Während des Augustputschs 1991 wurde die Demokratisierung nichtdurch den Druck der breiten Bevölkerung, kanalisiert in volksfrontähnlichen Organisationen, in Gang gesetzt, sondern sie blieb, mit Ausnahme von Kirgisien, von oben verordnet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb für die Nomenklatura zunächst der republikbezogene Nationalstaat die einzige mögliche Alternative, um ihre Machtinteressen zu erhalten. Nationalismus als Ideologie konnte das vom Realsozialismus hinterlassene Vakuum füllen, nicht aber die Demokratie, die für Zentralasien genauso nötig war wie die sanfte Entkolonialisierung vom ehemaligen Zentrum. Die Besonderheit dieses Nationalismus war, daß er nicht genau definiert wurde und seine Grundlagen auf der von den Sowjets bestimmten alten politischen Ordnung und den Republikgrenzen beruhten.

Der Nationsbildungsprozeß der zentralasiatischen Republiken ist keineswegs abgeschlossen. Nationalismus und Demokratie sind mit dem Fortschreiten der Staatenbildung meist schwer miteinander zu vereinbaren und können somit ethnische Zusammenstöße und Diskriminierung der Minderheiten hervorrufen. Dies verstärkt die Widersprüche zwischen den Ideologien und erschwert das innenpolitische Miteinander in den zentralasiatischen Nationen mit ihrem Staatsbildungsprozeß. Der zentralasiatische Nationalismus zeigt so seine reaktionäre Seite. Progressiv-demokratische Züge kamen lediglich zum Ausdruck, als man sich für die Entkolonialisierung von Rußland aussprach und sich auch gegenüber konservativen Republik-führungen zur Wehr setzte. Das Eintreten für Menschenrechte, die Verteidigung der ökologisch geschädigten Heimat und der Wunsch nach der Wiedererlangung einer gemäßigten islamischen Identität hatten angesichts der Zwangsatheisierung durch die Sowjets demokratische Züge. Die Forderungen nach einem Mehrparteiensystem und nach pluralistischer Machtbeteiligung der Opposition waren ebenfalls fortschrittliche Inhalte der nationalen demokratischen Bewegung.

Anders als in Usbekistan hat sich in Kirgisien, Kasachstan und Turkmenien eine mehr auf Clan-Strukturen innerhalb des Stammesverbandes begründete subnationale Identität bewahrt, die sowohl bei politischen Ämtern als auch bei den nationalen Bewegungen eine wichtige Rolle spielt. Die feudalen und vorfeudalen Verhältnisse haben den Realsozialismus überlebt. Die Existenz dieser subnationalen Identität beeinflußte auch die Wahl der Präsidenten. Der turkmenische Präsident Nijasow gehört einem der wichtigsten Stämme seines Landes, den „Tekke“ an, der traditionell Machtpositionen besetzt hat. Der kasachische Präsident Nazarbajew wiederum stammt aus der südkasachischen Stammesföderation „Ulu Dschus“. Die kirgisische Opposition wirft dem Präsidenten Akajew ebenfalls vor, er bevorzuge bestimmte Stammesinteressen in Kirgisien. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß in Zentralasien immer wieder die traditionellen Herrschaftseliten von benachteiligten tribalen oder regionalen Gruppen und Herrschaftseliten abgelöst oder gezwungen wurden, die Macht zu teilen.

Der Nationalismus in Zentralasien war unter anderem ein Ausdruck der Ablehnung russischer bzw. sowjetischer kolonialer Bestrebungen. Er wurde dort mit einer islamischen Komponente türkischer bzw. iranischer Prägung ausgestattet. Dieser post-kommunistische Nationalismus, der seit dem Zweiten Weltkrieg ständig wächst, gehörte zu den wichtigsten Kräften sowohl des Staats-als auch des Nationswerdungsprozesses. Diese nationale Wiedergeburt mobilisierte in Zentralasien einen Teil der Bevölkerung und führte mit zum Zerfall des Sowjetsystems. Der Nationalismus entzündete aber auch alte und neue gewaltsame interethnische Konflikte. Der Islam war insofern für die nationale Komponente bedeutsam, weil durch ihn die nationale Identitätsfindung verstärkt wurde. Islam und Turkismus spielten eine integrierende und konflikthemmende Rolle bei den ausufemden gewaltsamen Konflikten unter den Turkvölkern Zentral-asiens. Aber auch der Versuch islamischer und nationalistischer informeller Gruppen, nach dem Osch-Konflikt in Kirgisien durch gegenseitige Kontakte die interturkische Feindschaft zu überwinden und eine ideologische Einheit Türkistans zu schaffen, ist an dieser Stelle zu nennen.

Es scheint, daß der mit sozialen Inhalten gefüllte Islam und Nationalismus für die alte Nomenklatura in Zentralasien der einzige Rivale um die Macht sein wird. Ein republiküberschreitender „supranationaler“ Turkismus und Islam ist bisher jedoch gemäßigt aufgetreten. In Usbekistan sind Vertreter dieser Ideologie unter anderem die Oppositionspartei „Erk“ und die kleine „Turkistanische Partei“, die für eine sogenannte „türkischislamische Synthese“ eintritt, die Größe eines Kulturvereins jedoch bislang nicht überschritten hat. In Kasachstan propagiert die radikale panturkisch-islamische Partei „Alasch“ den Aufbau eines einheitlichen Türkistans, sie verfolgt die Idee einer Einheit der Turkvölker und wird von türkischen rechtsextremistischen Gruppen unterstützt. Auch anderen nationalen Organistionen sind solche supranationalen Ideen nicht fremd. Bestrebungen zu einer zentralasiatischen Supranationalität gehen ebenfalls von der usbekischen Nomenklatura aus, die sich als natürliche Erbin Türkistans sieht und für die bevölkerungsreichste Republik Hegemonialanspruch über Zentralasien erhebt. Dies erweckt jedoch wiederum bei der Atommacht Kasachstan Mißtrauen. Diese supranationalen Ideen werdenwahrscheinlich in diesem Jahrhundert eine Utopie sowohl für Zentralasien als auch für die Turkvölker und den Islam bleiben. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der zentralasiatischen Republiken in der Economic Cooperation Organisation (ECO) befindet sich noch im Anfangsstadium und geht über einen Republikegoismus noch nicht hinaus.

Der Nationalismus ist in den Grenzen der jeweiligen Republik nicht nur innerhalb der intellektuellen Eliten, sondern auch in der Bevölkerung stark ausgeprägt. Der republikbezogene Nationalismus wurde von der Nomenklatura mit Hilfe der Souveränitätserklärungen gefördert, die in allen zentralasiatischen „Obersten Sowjets“ verabschiedet wurden und somit die wichtigste Teilforderung der Nationalbewegungen befriedigten. Doch auf lange Sicht gesehen, erscheint dies als eine Übergangsphase, die sich zugunsten der Einheit Zentralasiens und der Turkvölker ändern wird, wenn eine entsprechend konstruktive und weltwirtschaftsintegrierende Politik sowohl von der Türkei als auch von den zentralasiatischen Turkrepubliken ausgehen wird. Angesichts dieser Möglichkeit verliert aber der Supranationalismus an Bedeutung und eine friedliche Entwicklung könnte somit erfolgen.

Gegenwärtig versucht jedoch Rußland seine Regionalmachtsinteressen zu sichern und den Einfluß auf Zentralasien wieder auszudehnen. Auch die Behandlung der russischen Minderheiten in Zentralasien ist eine Hilfe für die Argumentation Moskaus, die GUS beizubehalten und die betroffenen Staaten unter Druck zu setzen, ihre russischen Minderheiten zu schützen. Doch die Russische Föderation selbst hat Mühe, ihre Wirtschaft zu konsolidieren und ihre Einheit aufrechtzuerhalten. Viele Republiken der russischen Föderation haben mittlerweile ihre Souveränität ausgerufen; selbst die russischen Provinzen verfolgen separatistische Pläne.

III. Islam und Ökologie als Komponenten der Nationalbewegung

In Zentralasien waren Islam und Nationalismus stets eng miteinander verflochten. Trotz der Assimilationsversuche konnte die islamische Identität in der ehemaligen Sowjetunion nicht zerstört werden. Sie erwies sich als resistent gegenüber der atheistischen Staatsdoktrin. Somit wurde der Islam in Zentralasien zu einer bedeutenden Komponente des Traditionalismus, der Identitätsfindung und des Nationalismus. Dennoch sollte die islamische Renaissance nicht mit dem politisch fanatischen Fundamentalismus verwechselt werden. Die wichtigste islamische Opposition war die „Islamische Wiedergeburtspartei“, die im Juni 1990 in Astrachan gegründet wurde und einen islamisch-supranationalen Charakter für die gesamte UdSSR aufwies. „Zweigstellen“ existierten in allen zentralasiatischen Republiken. Die ethnische und nationalstaatliche Trennung sollte für alle muslimischen Völker der Sowjetunion überwunden werden. Die Partei ist gegenwärtig in Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan verboten; in Kirgisien und Kasachstan scheint sie derzeit sehr schwach zu sein. Die „Islamische Wiedergeburtspartei“ kämpfte in Tadschikistan mit anderen demokratischen Kräften gegen die alte Nomenklatura. Gleichzeitig stellt sie eine Alternative zum sogenannten „offiziellen Islam“ dar, der mit den ehemaligen Republikführungen eng zusammenarbeitete. 1990 wurde außerdem die „Islamische Demokratische Partei“ in der usbekischen Stadt Namangan gegründet, die heute als Hochburg der fundamentalistischen Bewegung Usbekistans eingeschätzt wird. Unter ihrer Bevölkerung soll das islamische Recht (Scharia) gelten. Da die islamischen Kräfte im Untergrund arbeiten, ist dies momentan schwer einzuschätzen. Sowohl die usbekische Führung, eine moskautreue Nomenklatura in nationalistischem Gewand, als auch Moskau versuchen allerdings, die „islamische Gefahr“ hochzuspielen und nehmen sie als Vorwand, die Opposition zu unterdrücken und den eigenen Machterhalt zu sichern. Weiter dient dieses neue Feindbild des Islam zur Legitimation, um die russische Waffenproduktion und die Militärstrukturen aufrechtzuerhalten.

In Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, wurde 1990 die Bewegung „Islam und Demokratie“ sowie die „Liga muslimischer Frauen“ gegründet. Dennoch existiert in Kasachstan keine islamische Opposition, die der kasachischen Führung gefährlich werden könnte. Die islamischen Parteien Zentralasiens, aber auch Teile der nationalen Bewegungen haben den Islam als Ideologie gegen die Moskauer Zentrale und den Marxismus benutzt. In Zentralasien formierte sich nach der Erlangung der Unabhängigkeit die Opposition gegen die Kontinuität der alten Herrschaftselite in einem islamischen und einem demokratischen Flügel. Nach der Unabhängigkeit distanzierten sich die nationalen demokratischen Bewegungen insbesondere in Tadschikistan und Usbekistan von den islamischen Bewegungen, gingen aber gegen die Republikführungen gerichtete Aktionsbündnisse ein. Es wäre jedoch verfehlt, in Kirgisien und in Kasachstan die Bedeutung des Islam zu überschätzen. Die demokratischen Kräfte dieser spätislamisierten Republiken treten für den Islam, aber auch für die Erhaltung der Muttersprache, Unabhängigkeit, Demokratie und Menschenrechte, Wohnraum, Arbeitsbeschaffung sowie Ökologie ein. Zudem gibt es in Kirgisien und Turkmenien eine starke Religiosität, die Überreste feudalistischen und vorfeudalistischen Nomadentums aufweist.

Ein weiteres Anliegen der demokratischen Bewegungen war die Sorge um die Ökologie. Der Schutz des Territoriums vor Zerstörung der natürlichen Ressourcen und der Lebensgrundlagen des Menschen war oberstes Anliegen und erhielt nationalen Symbolcharakter. Themen wie die katastrophale ökologische Zerstörung durch die Monokultur in den Baumwollregionen, die Austrocknung des Aral-und Balkaschsees sowie die Zustände auf dem Atomtestgelände Semipalatinsk wurden von den Nationalbewegungen als Kampfmittel gegen die Russen und die nach wie vor herrschende Nomenklatura eingesetzt. So tritt in Usbekistan die Volksfront „Birlik" für die Rettung des Aralsees und die durch die sowjetische Baumwollmonokultur schwer geschädigte Umwelt ein und weist auf die von ökologisch bedingten Deportationen bedrohten, in Westusbekistan lebenden Karakalpaken hin. Die Ökologiebewegung Novaja-Semipalatinsk in Kasachstan, die sich gegen die Nukleartests der Republik engagierte, wurde zu einer Bewegung größeren Maßstabs. Sie war Kem der nationalen Unabhängigkeitsbewegung. In Kirgisien waren kleine informelle Gruppen wie „Ekolog“ und das „Komitee zur Rettung des Issykkul" von Bedeutung. Auch in Turkmenien war die Frage der Ökologie ein zentraler Punkt im Programm von „Agzibirlik“. In Turkmenien haben die enormen ökologischen Schäden bereits zu der höchsten Säuglingssterblichkeit innerhalb der ehemaligen Sowjetunion geführt. Eine 1990 von Komsomol-Mitgliedern in Taschaus gegründete Zeitung, die die ökologischen Proteste verstärkt problematisierte, wurde nach sehr kurzer Zeit verboten.

IV. Autokratische Machtelite und Demokratie

Mittlerweile hat sich die alte Machtelite Zentral-asiens den größten Teil der Forderungen der Nationalbewegungen und islamischen Organisationen zu eigen gemacht. In allen Republiken herrschen jedoch überwiegend die alten Machteliten, die unterschiedlich gewichtete autokratische Strukturen aufweisen. In Kasachstan ist die Opposition nicht verboten und kann ihren politischen Aktivitäten nachgehen. Der reformkommunistische Präsident Nazarbajew verfügt jedoch über eine starke Machtposition. Er ist ermächtigt, Staatsprogramme zu bestätigen und den Umlauf der Nationalwährung zu kontrollieren. Das Kabinett ist ihm rechenschaftspflichtig. Die Vertreter des Präsidenten in den Regionen können von Nazarbajew sowohl ernannt als auch ihres Amtes enthoben werden. Die besondere ethnische Zusammensetzung Kasachstans erklärt die gemäßigte Nationalitäten-politik Nazarbajews, der interethnische Konflikte zu vermeiden und Extremisten unter Kontrolle zu halten versucht. Aber auch Nazarbajew glaubt, autoritären Führungsstil und Marktwirtschaft miteinander verbinden zu können.

Ein extrem autokratisch geführter Staat in Zentral-asien ist Turkmenien. Für eine wirtschaftliche Liberalisierung sind hier deutliche Anzeichen zu beobachten, während eine politische Demokratisierung bislang gänzlich ausblieb. Die Macht liegt hier noch ungebrochen in den Händen der alten kommunistischen Parteieliten. Eine wirkliche Oppositionsbewegung konnte sich in Turkmenien bislang nicht bilden. Die Intellektuellen Turkmeniens wandten sich zwar gegen den Moskauer Zentralismus und Kolonialismus, gegenüber der turkmenischen Nomenklatura, die nach wie vor Parlament und Regierung beherrscht, blieben sie jedoch machtlos. Nijazow wurde 1992 ohne Gegenkandidat erneut zum Präsidenten gewählt. Die neue Verfassung Turkmeniens sieht ein Präsidial-system vor, das dem Präsidenten weitgehende Rechte einräumt. Er hat nicht nur die Befugnis, die Minister, sondern auch alle Richter und Generalstaatsanwälte zu ernennen. Der Präsident kann das Parlament auflösen, wenn es dem Ministerpräsidenten das Vertrauen entzieht. Religiöse und ethnische Parteien sind nicht zugelassen. Vertreter der oppositionellen Gruppe „Agzibirlik“ wurden für kürzere Zeit in Haft genommen, weil sie in Kirgisien an der Menschenrechtskonferenz teilnehmen wollten.

In Usbekistan sind sowohl die demokratische Volksbewegung „Birlik“ (nach eigenen Angaben 600000 Mitglieder) als auch die „Islamische Wiedergeburtspartei“ bislang verboten und müssen im Untergrund arbeiten. Mitglieder der führenden demokratischen Opposition wurden wiederholt inhaftiert und gefoltert. Im April 1993 wurden erneut mehrere Oppositionsvertreter festgenommen. Die Kommunistische Partei wurde nur formell aufgelöst und in „Demokratische Volkspartei“ umbenannt. Ende 1991 wurde Islam Karimow zum Präsidenten gewählt. Der einzige zugelassene Gegenkandidat, Muhammed Salih von derOppositionspartei Erk, warf ihm Wahlfälschung vor. Die Toleranz gegenüber der kleinen und unbekannten Partei Erk täuscht ein pluralistisches System vor, um sich nach außen demokratisch zu legitimieren. Trotzdem wurde die Oppositionszeitung von „Erk“ im Januar 1993 verboten, das Parteigebäude beschlagnahmt ünd Parteimitglieder vor Gericht gestellt. Wenn Karimow die demokratischen Kräfte weiterhin zu unterdrücken trachtet, wird er nur die im Untergrund arbeitenden Fundamentalisten stärken. De facto wird auch Usbekistan nach wie vor in Regierung und Parlament von der alten Nomenklatura beherrscht. Seitdem Karimow als Präsident bestätigt wurde, baut er ein Präsidialsystem auf. Er regiert autoritär und hauptsächlich mit präsidialen Dekreten, wobei ihm ein Präsidialrat zur Seite steht. Gewaltenteilung existiert faktisch nicht.

Präsident Karimow verhalf den moskautreuen Kräften in Tadschikistan mit Waffen und Truppen zum Sieg über die demokratische und islamische Oppositionen, die er ebenfalls fürchten muß. Ruß-land förderte die Zusammenarbeit mit Karimow und anderen autokratischen Führungen Zentral-asiens (außer in Kirgisien) und versucht, innerhalb der muslimischen GUS-Republiken und im Kaukasus seinen Einfluß beizubehalten. Karimow und der turkmenische Präsident Nijasow sind Persönlichkeiten mit stark autokratischen Zügen. Sie verfolgen dieselbe Linie und halten eine Demokratie westlichen Musters für die zentralasiatischen Republiken für nicht geeignet. Wie sich zeigt, ist politische Stabilität der beste Garant für eine wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung eines säkularen, nicht fundamentalistischen Staates. Die zentralasiatische Herrschaftselite rechtfertigt ihre autoritäre Haltung und ihre präsidiale Demokratie mit der gewaltigen Last der neuen Staats-und Nationenbildung und der wirtschaftlichen Konsolidierung ihrer Republiken. Die gegenwärtige politische Entwicklung, wie sie vor allem in Turkmenien, Usbekistan und Tadschikistan praktiziert wird, läßt nur pessimistische Prognosen für die Zukunft zu.

In Tadschikistan, wo die nationalen demokratischen und islamischen Kräfte gemeinsam für die Ablösung der alten Kader kämpften und sich sogar ein halbes Jahr an der Macht beteiligten, ist die Opposition geschlagen worden. Nach dem Sieg der moskauorientierten Kräfte wurden ihre Anhänger brutal verfolgt, verschleppt und ermordet. Viele flüchteten nach Afghanistan. Im Sommer 1993 verbot das oberste Gericht Tadschikistans jegliche Betätigung oppositioneller Parteien und Bewegungen. Die Opposition Tadschikistans soll jedoch eine provisorische Regierung auf afghanischem Territorium ausgerufen haben.

Die russischen Truppen versuchen, die Grenze zu Afghanistan gegen die Islamisten zu verteidigen, obwohl Rußland keine gemeinsame Grenze mit Tadschikistan hat. Der Propagandaapparat der alten Machtelite und der Moskauer Zentrale konnte auch dem Westen glaubhaft machen, daß die angeblich große „islamisch-fundamentalistische“ Gefahr abgewehrt worden sei. Dadurch wurde die Position der alten Moskauer Machteliten in ganz Zentralasien gefestigt. Durch die Stationierung russischer Truppen an der tadschikisch-afghanischen Grenze wird weiterer Widerstand der Islamisten provoziert und ein zusätzlich destabilisierender Faktor in der Region gebildet.

Die Zusammenstöße in Osch und der latente interethnische Konflikt zwischen der kirgisischen Bevölkerung und der usbekischen Minderheit in der Osch-Region beschleunigten den Machtwechsel und den gemäßigten Demokratisierungsprozeß in Kirgisien. Die nationalen Ausschreitungen lösten jedoch auch permanente Migrationsprozesse aus. Die russische Regierung sah in der alten Nomenklatura der jeweiligen zentralasiatischen Republik den einzigen Garanten für den Schutz der russischen Minderheiten in Zentralasien. In Kirgisien ging die Nationalbewegung zunächst von ehemaligen Reformkommunisten und nationalen demokratischen Kräften aus. Der rasche Zerfall der Sowjetunion verhinderte jedoch ein allmähliches Anwachsen der demokratischen Kräfte. Das Entstehen einer politischen Kultur stagnierte und die Demokratisierung des Landes wurde weitgehend von der alten kirgisischen Führung übernommen. Ehemalige Reformkommunisten haben auch hier die Mehrheit in Parlament und Regierung. Die Republik Kirgisien ist formell eine Präsidialdemokratie mit ausgeprägten Rechten für den Präsidenten. Die Opposition ist gespalten und hat keinen Massencharakter, kann sich jedoch ohne Einschränkung politisch betätigen. Regierung und Opposition streben eine Art Konsenspolitik an. Um jedoch die demokratischen Bestrebungen zum Erfolg zu führen, ist eine Konsolidierung der Wirtschaft dringend notwendig.

V. Perspektiven der Nationalbewegungen

Ihrem Wesen nach waren die alternativen Nationalbewegungen antirussische, antizentralistische und antiparteiokratische Reformbewegungen, die punktuell eine Mobilisierung der Massen erreichten und auch bis zur Unabhängigkeit der jeweiligen Republiken eine gewisse Kontinuität verzeich neten. Die Ziele der Nationalbewegungen glichen sich in etwa in allen Republiken. Es ging vor allem um Themen wie die Stärkung des Nationalgefühls, Erhaltung der Muttersprache, Menschenrechte, Unabhängigkeit, Wohnraum, Arbeitslosigkeit, Demokratie oder Ökologie. Immer wieder wurden die Veränderung des gesamten Sowjetsystems wie der Übergang zu Privateigentum und Marktwirtschaft betont. Die Stärkung des Nationalgefühls und der Identitätsfindung benutzten die Nationalbewegungen auch, um die Sowjetidentität zu überwinden und so immer wieder supranationale Elemente als Perspektive für die Kultur Zentralasiens in Aussicht zu stellen. Der Islam und die „Idee Türkistans“ dienten als panturkische ideologische Ressource. Die führenden Kräfte innerhalb der Nationalbewegung waren zunächst Intellektuelle und Studenten, die zu einem gewissen Maße die Bevölkerung mobilisieren konnten. Teile der nationalen Nomenklatura -insbesondere die „Reformkommunisten“ -beteiligten sich an den gemäßigten Forderungen der Nationalbewegung. Aus allen Bevölkerungsteilen der jeweiligen Republiken kam zumindest eine emotionale Unterstützung für die Nationalbewegungen, weil man sich von der Unabhängigkeit materielle Vorteile versprach.

Die Schwäche der Nationalbewegungen war das Fehlen einer programmatischen Zielsetzung, mit der die Massen weiter kontinuierlich mobilisiert werden konnten. In Zentralasien fehlte eine entschlossene und geschlossene Oppositionspartei. Die demokratische Opposition war bis zur Unabhängigkeit auf die Republikführung fixiert. Sie verzögerte immer wieder die Gründung einer allumfassenden oppositionellen Partei; statt dessen bezeichneten sich kleine Gruppierungen als „Partei“. Mit der Unabhängigkeit der Republiken waren die ideologischen Ressourcen zum großen Teil entweder verbraucht oder von der Republikführung übernommen. Somit scheint die Dynamik der Nationalbewegungen vorläufig erschöpft, sie haben ihre historische Funktion erfüllt.

Die national-demokratisch-islamische Bewegung ging in Usbekistan wegen der staatlichen Repressionen und Verbote in den Untergrund. Das Verbot dieser Kräfte in Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenien bedeutet nicht die Vernichtung dieser Kräfte, sondern eine Ruhepause für die Republik-führungen; die Aktivitäten der Opposition werden Sich langfristig intensivieren.

Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß auch unter der Bevölkerung ein nachlassendes Interesse an einem Machtwechsel zu verzeichnen ist, da sie mit der Bewältigung der schwierigen ökonomischen Lage beschäftigt ist und die Widerstandsbotschaft sie aufgrund der Kontrolle der staatlichen Medien nicht erreicht. Die Bevölkerung hat den Übergang zur Marktwirtschaft ohne staatliche Subventionen mit sozialen Ängsten aufgenommen; insbesondere die Inflation des Rubels und die Zunahme der Arbeitslosigkeit bereitet Verwirrung und Sorge. Die Sehnsucht nach dem alten System hat bei dem sozial schwachen Teil der Bevölkerung zugenommen. In Turkmenien und Usbekistan, aber auch in Kasachstan achtete die Republikführung auf eine gewisse soziale Verträglichkeit beim Übergang zur Marktwirtschaft. In Usbekistan mußte die Regierung Anfang 1992 die Preiserhöhungen zunächst zurücknehmen, da sonst von den Studenten und der übrigen Bevölkerung blutige Protestaktivitäten zu erwarten gewesen wären. Eine entscheidende Rolle spielen die wirtschaftliche Verflechtung und technologische Abhängigkeit der zentralasiatischen Republiken von Rußland, die die alten Nomenklatura zu einer wirtschaftliche Kooperation zwingen. Die alternative Nationalbewegung, die Rußland als Kolonialmacht definierte und die russischen Minderheiten in den Republiken mit ihren Aussagen zur Massenflucht veranlaßte, wurde von Moskau nicht unterstützt. Die russische Regierung sah die alten Machteliten sogar als einzigen Garanten gegen interethnische Unruhen. Die interethnischen Zusammenstöße und Konflikte in Zentralasien schürten latente Ängste und provozierten die nationalen und ethnischen Minderheiten -insbesondere die russische eigene nationale Organisationen zu gründen. Diese existentiellen Ängste lösten einen Migrationsprozeß der Fachkräfte in den Republiken aus. Somit haben es die Nationalbewegungen erreicht, sich ohne kriegerische Konfrontation vom Zentrum zu lösen. Die Opposition war jedoch nicht in der Lage, die Demokratie in den Republiken zu festigen und die interethnische Toleranz zu fördern; die Verwirklichung ihres Anspruchs auf politische Stabilität überließ sie der alten Nomenklatura.

Im Gegensatz zur Organisatonsschwäche der alternativen intellektuellen Nationalbewegungen verfügten die Republikführungen mit ihren macht-erfahrenen alten bürokratischen Kadern über eine dominierende Organisationsform. Interne Konflikte innerhalb der Partei waren kaum vorhanden. Der überwiegende Teil der Abgeordneten wurde bei den Wahlen 1990 zum Obersten Sowjet aus dem alten kommunistischen Parteiapparat gewählt, ohne oppositionelle Gegenkandidaten zuzulassen. 1990 führten alle zentalasiatischen Republiken das Präsidialsystem ein. Dennoch hatten sämtliche neu gewählten Präsidenten, mit Ausnahme von Kirgisien, vor ihrer Wahl das Amt des ersten Republik-sekretärs der KPdSU inne. Nach dem Putschversuch im August 1991 konnte die alte Nomenklatura ohne Machtverlust ihre Herrschaft in den Republiken ungehindert ausüben.In Kirgisien und Kasachstan wurden die Widersprüche innerhalb der Führungselite durch die Machtübernahme der Reformkommunisten fast aufgehoben. Eine fehlende demokratische Kultur, der Glaube an die Staatsführung und der rasche Zerfall der Sowjetunion verhinderten das Wachsen und die Konsolidierung der nationalen demokratischen Kräfte, die der Bevölkerung Zentralasiens weder ihre organisatorischen noch ihre demokratischen Forderungen transparent machen konnten. Sie mußten die staatliche Unabhängigkeit nicht erkämpfen, sondern bekamen sie praktisch über Nacht und konnten dadurch keine demokratischen Erfahrungen sammeln. Die Nomenklatura hat die demokratischen und islamischen Kräfte solange benutzt, bis die Unabhängigkeit von Moskau erreicht war. Als die Gefahr, die von der Opposition ausging, als ernst eingeschätzt wurde, reagierte sie mit Verfolgung und Verboten. Dies war sowohl in Usbekistan und Tadschikistan als auch in Turkmenien der Fall.

Es scheint, daß der Westen zur Zeit indirekt damit einverstanden ist, daß die alte Nomenklatura in den zentralasiatischen Republiken ihre Machtposition aufrechterhält. Die westliche Hilfe an Ruß-land, aber auch die wirtschaftlich-kulturelle Unterstützung der zentralasiatischen Regierungen durch die Türkei festigten die Machtposition der post-kommunistischen Herrschaftseliten. Nur ein starkes Rußland und eine moskauorientierte republikanische Herrschaftselite kann den Zusammenhalt der GUS gewährleisten. Hier liegt der Widerspruch in der Haltung der westlichen Industriestaaten, die, indem sie eine Unterstützung der demokratischen und gemäßigten islamischen Opposition vermeiden, eine autokratische Machtelite stillschweigend akzeptieren. Ein Investitionsboykott und der Stop technischer Hilfe könnte die Nomenklatura zwingen, demokratische Regeln zu beachten. Ohne äußere Unterstützung ist die demokratische Opposition indes nicht in der Lage, die mit Rußland zusammenarbeitenden Republik-führungen zu entmachten und an der Macht zu partizipieren.

Dennoch werden es die Autokraten Zentralasiens in Zukunft schwer haben, ihre dubiosen Machenschaften fortzuführen, die Opposition zu verbieten und der Bevölkerung allgemeine Wahlen vorzuenthalten. Wenn das Bekenntnis zum Pluralismus und zu den Menschenrechten für die westlichen Staaten nicht nur eine Floskel bleiben soll, muß der Westen sich dafür einsetzen, daß in Zentral-asien alle Oppositionskräfte am politischen Prozeß teilhaben können. Letztendlich destabilisiert eine Unterdrückung der Opposition die politische Lage, denn der Widerstand aus dem Untergrund wächst. Der Westen sollte nicht nur allein das Interesse an Nuklearsicherheit und an einem günstigen Investitionsklima in den Vordergrund stellen, sondern auch der demokratischen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit schenken. Gefährlich werden diese Länder erst, wenn keine demokratisch legitimierten Regierungen an der Macht sind.

Im Bewußtsein der Mehrheit der zentralasiatischen Bevölkerung hat sich gegenwärtig die nationale Identität auf der Grundlage der Republikgrenzen und durch die Erlangung der Unabhängigkeit gefestigt. Die nationalen Ideen der oppositionellen Intelligenz der Republiken Zentralasiens wurden von der regierenden Nomenklatura stillschweigend übernommen und in ihre Politik integriert, wobei die Herrschaftsstrukturen annähernd gleich geblieben sind. Es ist wahrscheinlich, daß zukünftig Machtkämpfe zwischen dem alten Parteiapparat und der nationaldemokratischen Oppositionsbewegung stattfinden werden.

Fussnoten

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Abidin Bozda, Dipl. -Soz., geb. 1946; Studium der Soziologie, Politik, Sozialpsychologie und Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt; seit 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut, Hamburg. Veröffentlichungen zu zentralasiatischen Republiken der ehemaligen UdSSR, insbesondere Kirgisien, Usbekistan, Turkmenien, Tatarstan und zu Fragen des Islams.