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Islam und Nationalstaat in Zentralasien | APuZ 38-39/1993 | bpb.de

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APuZ 38-39/1993 Die Türkei als regionale „Großmacht“. Hoffnungen und Illusionen einer weltpolitischen Umwälzung Islam und Nationalstaat in Zentralasien Ökonomie und Ökologie in Zentralasien Zentralasien zwischen Nationalbewegung und Autokratie Krisenherd Aserbaidschan: Der Krieg um Berg Karabach

Islam und Nationalstaat in Zentralasien

Uwe Halbach

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit die zentralasiatischen Völker unter den sowjetischen Bedingungen „nationaler Staatlichkeit“ zu Nationen und ihre ehemaligen Unionsrepubliken zu „Nationalstaaten“ geworden sind. Anders gefragt: Wie entscheidend sind Loyalitäten und Identifikationen unter-und oberhalb der „nationalen“ Ebene geblieben? Das Beispiel Tadschikistan zeigt die Relevanz dieser Fragestellungen. Welche Rolle spielt der Islam als ein transnationales Wertesystem in der Region, und welche Einflußmöglichkeit bietet er für äußere islamische Mächte wie den Iran? Welche Rolle spielen regionale und tribale Differenzierungen innerhalb ein und derselben „Nation“ wie der tadschikischen? Der Aufsatz beabsichtigt, einseitigen Interpretationen der komplizierten Entwicklungen in einem Land wie Tadschikistan und im übrigen Zentralasien wie z. B.der Reduktion kultureller Prozesse auf die „fundamentalistische Bedrohung“ entgegenzuwirken.

I. Einleitung

Vor zwölf Jahren erschien ein Überblick über die vom Islam geprägten Völker der Sowjetunion im Westen unter der Überschrift „Die vergessenen Muslime“ Damals standen rund 50 Mio. Angehörige von über dreißig Völkern, die der „Welt des Islam“ zugeordnet werden, unter sowjetischer Herrschaft weitgehend außerhalb der islamischen Weltgemeinschaft, die kurz nach der Revolution im Iran die internationale Politik zu beschäftigen begann. Weder in der Orientalistik und Sowjetunionforschung im Westen, noch in der Aufmerksamkeit der islamischen Welt selber nahmen sie den ihnen gebührenden Platz ein. Die vom Islam geprägte zentralasiatische Region der ehemaligen UdSSR wurde fremdbestimmt als „sowjetische Südperipherie“ wahrgenommen. Drei Umstände trugen zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem sowjetischen Orient bei: das Bekanntwerden wachsender demographischer und sozialökonomischer Entwicklungsdifferenzen zwischen den europäischen und orientalischen Teilen der Sowjetunion, der sowjetische Militäreinsatz in Afghanistan, bei dem sich die kommunistische Welt-macht islamisch motiviertem Widerstand aussetzte und ihn nicht brechen konnte, und schließlich der Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreichs, der sich Ende der achtziger Jahre anbahnte.

Kaum ein anderer Teil der Sowjetunion zog nach deren Zusammenbruch so abrupt internationale Aufmerksamkeit auf sich wie Kasachstan und die mittelasiatischen Republiken. Die plötzliche Prominenz einer bis dahin unbekannten Region, die nun auf die weltpolitische Bühne trat, öffnete Raum für geopolitische Perspektiven und Prognosen, der sofort ausgefüllt wurde: mit der Erweiterung eines „islamischen Krisenbogens“ um Zentralasien und Eurasien, mit einer strikten Alternative zwischen dem türkischen und dem iranischen Entwicklungsweg, zwischen westlichsäkularistischen und islamisch-theokratischen Modellen, mit reißerischen Titeln wie „Den Gottlosen die Hölle“. Der zeitliche Zusammenfall mit schweren Herausforderungen arabischer Regie-1 rungen durch islamistische Parteien sorgte dafür, daß die Probleme in Algerien auf Usbekistan projiziert wurden. Insbesondere die Frage, ob sich der Islam in der Region in eine fundamentalistische Richtung entwickelt, beherrschte die westliche Aufmerksamkeit für Zentralasien und drängte andere Probleme in den Hintergrund.

Die Fixierung auf den „islamischen Faktor“ und seine fundamentalistische Variante sowie auf die ideologischen Einflüsse von Drittstaaten wird neuerdings durch das Übergreifen des afghanischen Bürgerkrieges auf ehemals sowjetisches Territorium aktualisiert. Sie hat aber in der Vergangenheit eine Reihe von Falschmeldungen in der Presse hervorgerufen: so als beim Machtwechsel in Aserbaidschan im Frühjahr 1992 der Sieg radikalreligiöser Kräfte gemeldet wurde, wo in Wirklichkeit am türkischen Modell orientierte Nationalisten das kommunistische Regime abgelöst hatten, als in Tadschikistan voreilig der „islamische Staat“ festgestellt wurde, wo sich in Wirklichkeit heterogene Oppositionskräfte eine Beteiligung am bisherigen Machtmonopol der Kommunisten aus Leninabad erstritten hatten.

II. Zwischen Stamm, Nationalstaat und islamischer „Umma“

Der Bürgerkrieg in Tadschikistan rückte eine Frage in den Mittelpunkt, die Mittelasienexperten seit langem beschäftigte: Sind die zentralasiatischen Völker im Rahmen der sowjetischen „nationalen Staatlichkeit“ und der Aufteilung ihrer Region in separate Republiken zu modernen Nationen geworden, die nun über ihren unabhängigen Nationalstaat verfügen, oder bestimmen eher wie in vorsowjetischer Zeit einerseits subnationale Gemeinschaftsgrößen wie der Stamm oder die lokale Gemeinde und andererseits transnationale Ausrichtungen wie die auf die islamische Glaubensgemeinschaft die Identität und Loyalität der Bevölkerung? Tadschikistan hat mit seinem Bürgerkrieg dramatische Nachweise dafür erbracht, daß nationale Integration in seinen Republikgrenzen offensichtlich nicht gelungen ist. Bei der Auseinandersetzung mit der gestellten Frage ist folgendes zu beachten: Identifikation mit kol lektiven Größen ist flexibel und wechselt die Bezugsebenen, je nachdem in welcher Situation und wem gegenüber sie sich ausweisen soll.

Die Ermittlung von Identität und Loyalität kann nicht dogmatisch erfolgen und Befunde auf einer bestimmten Ebene fixieren. Dies gilt gerade für eine Region, deren Völker keine Erfahrungen aus eigener Entwicklung mit dem modernen Nationalstaat und seinen Identifikationszwängen gemacht haben. Hier ist die Suche nach relevanten Gemeinschaftsgrößen zwischen subnationalen, nationalen und transnationalen Angeboten auch mit den Unabhängigkeitserklärungen ehemaliger Unionsrepubliken noch lange nicht abgeschlossen. Wenn westliche Untersuchungen in der Vergangenheit Identität und Loyalität sowjetischer Muslime zu ermitteln versuchten, machten sich Verzerrungsfaktoren bemerkbar: Erstens ging die Wahrnehmung aus sowjetischen Quellen und weniger aus eigener empirischer Ermittlung hervor, zu der kaum Gelegenheit bestand. Zweitens war die ermittelte Identität meist die der nationalen Kultureliten, die sich in der Literatur und Publizistik artikulierten. Damit mußte das weniger bekannte Bewußtsein der breiteren Bevölkerung keineswegs übereinstimmen. Mit zunehmender Politisierung der Gesellschaft und Liberalisierung der Meinungsäußerungen in der Sowjetunion am Ende der achtziger Jahre entstanden neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.

Was kann man nun knapp zwei Jahre nach der Verkündung staatlicher Unabhängigkeit in Zentralasien über dieses Thema aussagen? Belege lassen sich nach wie vor für alle drei Ebenen finden. So bestimmen subnationale Loyalitäten gegenüber Stämmen, Sippen und Regionen auch heute die Zusammensetzung neu-alter Machteliten, die nun anstelle des Kommunismus den unabhängigen Nationalstaat beschwören und sich gleichzeitig für eine transnationale Integration im Rahmen „Turkestans“, der GUS, der islamischen Staaten-welt oder regionaler Kooperationsgemeinschaften aussprechen. 1. Die subnationale Ebene Traditionelle subnationale Strukturen wurden weder durch sowjetische „Modernisierung“ noch durch die Errichtung neuer Bezugssysteme für nationale Loyalität mit den Unionsrepubliken beseitigt. Sie wurden im Gegenteil vom kommunistischen Herrschaftssystem besonders in der Breschnew-Ära konserviert und instrumentalisiert. Soweit das lokale Partei-und Staatspersonal vom einheimischen, nichtrussischen Element gestellt wurde -und in der genannten Periode wurden lokale Machtorgane wieder verstärkt mit Ein-heimischen besetzt -, folgte deren Rekrutierung in den meisten nationalen Gebietseinheiten des sowjetischen Orients der Priorität bestimmter Landsmannschaften oder Stammesverbände. Die ersten Parteisekretäre umgaben sich mit Mitgliedern des eigenen Geburtsortes, des eigenen Stammes oder der eigenen Großfamilie, da die traditionellen verwandtschaftlichen und tribalen Beziehungen verläßlicher waren als die Kameradschaft der Partei. So wurden unter der Kruste der sowjetischen und der „nationalen Staatlichkeit“ der Unionsrepubliken segmentäre Gesellschaften und subnationale Kräfte konserviert, die heute die Integration im Rahmen „unabhängig“ gewordener „Nationalstaaten“ gefährden.

Die Situation von heute ist dadurch charakterisiert, daß z. B. in Tadschikistan bislang benachteiligte regionale Gruppen der alten Machtelite aus kommunistischer Zeit unter verschiedenen ideologischen Etiketten, darunter vor allem im Namen des Islam, das Machtmonopol streitig machen. Während man in bezug auf die übrige ehemalige Sowjetunion und auf Osteuropa den neuen Nationalismus als eine Hauptgefahr im interethnischen und zwischenstaatlichen Verkehr auf dem Boden des zerbrochenen Imperiums ausmachte, verdeutlicht das Tadschikistan-Syndrom eher ein entgegengesetztes Konfliktmuster: den Mangel an Nation und die mörderische Konkurrenz subnationaler Kräfte. Freilich kommen in ganz Zentral-asien interethnische Konflikte wie die zwischen Tadschiken und Usbeken und interkulturelle zwischen asiatischen und europäischen Bevölkerungsteilen hinzu.

Tadschikistan wirft seine Schatten auch auf andere Staaten und Gesellschaften Zentralasiens, wie z. B. auf Kirgisien. „Dieses Land mit seinen kolossalen landschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontrasten stellt ein Mosaik sehr unterschiedlicher Welten und Gesellschaften dar, die in Widerspruch und Konkurrenz geraten.“ Neben interethnischen Gegensätzen bestehen innerhalb der kirgisischen „Nation“ sozialökonomische und kulturelle Trennlinien sowie eine starke regionale Differenzierung zwischen dem Norden und dem Süden mit den hauptstädtischen Antipoden Bischkek und Osch. Der regional unterschiedliche Verlauf der Kolonisierung durch Rußland, unterschiedliche politische Organisationsformen vor der Kolonisierung (Stammesgewalten im Norden, Hoheit des Chanats von Kokand im Süden) und eine regional differenzierte Geschichte der Islamisierung sind historische Faktoren, die diesen Gegensatz ausformten. Eine ausgeprägte tribale Differenzierung teilt die Kirgisen in einen „rechten Flügel“ (Kirgisen im Tal des Tschu, im Ferganatal, am Issyk-Kul) und einen „linken Flügel“ (Tal des Talas) und in Stämme, die das Grenzgebiet zu Tadschikistan besiedeln oder die jenseits der Grenze im Pamirgebiet leben. Das relativ kleine Kirgisien demonstriert somit die Heterogenität, die Zentralasien insgesamt charakterisiert und die der verbreiteten Vorstellung von einem monolithischen Turkestan oder Islamistan widerspricht. Die kulturelle Differenzierung wird von ungleicher sozialökonomischer Entwicklung der Regionen verschärft. Ein russischer Autor führte diese Faktoren der Differenzierung in einem Artikel unter der Überschrift „Droht Kirgisien der Zerfall?“ an, gelangte jedoch zu dem Schluß, daß sich über dem stark ausgeprägten Regionalismus und Lokalismus in sowjetischer Zeit ein modernes kirgisisches Nationalbewußtsein gebildet habe, das sich heute dem unabhängigen Staat Kyrgystan zuwendet, und daß von lokalen Politikern geschürte separatistische Bestrebungen bislang keinen Massenanhang gefunden haben 2. Die nationale und nationalstaatliche Ebene Der Zerfall der Sowjetunion stärkte keine Identifikationsebene so sehr wie die der „nationalen Staatlichkeit“. Dafür sorgte von der Ostsee bis zum Issyk-Kul eine Serie von Souveränitätserklärungen durch Republikparlamente. Die zentralasiatischen Unionsrepubliken standen in diesem Prozeß zwar nicht an vorderster Front, und die Sowjetunion zerbrach gewiß nicht an ihrer Souveränitätsbehauptung, aber sie fügten sich insbesondere nach dem gescheiterten Augustputsch 1991 in ihn ein. Aus dem Zerfall der multinationalen Sowjetunion mit ihren pseudoföderativen Strukturen in Gestalt nationaler Gebietseinheiten kristallisierte sich eine beispiellose Konjunktur des nationalstaatlichen Prinzips heraus, auch und gerade in Regionen, in denen die Einteilung von Bevölkerung in „Nationen“ fremdbestimmt vorgenommen worden war und umstrittene Grenzen und Konflikte hinterlassen hatte. Zentralasien ist ein Beispiel für fremd-bestimmte und teilweise künstliche „nationale Abgrenzung“. Die unabhängig gewordenen Staaten beruhen heute auf labilen ethno-territorialen Grundlagen. 1991 wurden 36 Streitfälle über nationale Zugehörigkeit bestimmter Gebietsteile in bezug auf Kasachstan und Mittelasien erfaßt Sie werden bisher von den Regierungen unter Kontrolle gehalten. Die Präsidenten der fünf Republiken betonten die Unantastbarkeit bestehender Grenzen, aber der Nachdruck, mit dem entsprechende Erklärungen abgegeben wurden, verrät einiges von dem Konfliktpotential, um das es hier geht. Einerseits gefährden entsprechende Streitfälle die Stabilität unabhängig gewordener Staaten, andererseits wirken sie aber auch als ein Faktor nationaler Solidarisierung und nationalstaatlicher Bewußtseinsbildung. Für den Herausforderer wird die territoriale Revisionsbestrebung zum Bezugspunkt für Identifikation, für den Herausgeforderten deren Abwehr. Territoriale Integrität wird dann zum nationalen Heiligtum wie in Aserbaidschan und Georgien oder in Kasachstan angesichts russischer Anspielungen auf die Bevölkerungsstruktur im Norden der Republik und daraus abgeleiteter territorialer Revisionsansprüche.

Problematisch ist die historiographische und kulturelle Untermauerung des „unabhängigen Nationalstaates“. Auf der Suche nach modernen „Nationalhelden“ läßt sich kein usbekischer oder turkmenischer Sukarno, Kenyatta oder Gandhi finden, mit dem sich eine Tradition des Unabhängigkeitskampfes für die Identität postkolonialer Staaten begründen ließe. So greifen Usbeken bei dieser Suche tief in die Vergangenheit zurück, auf Herrscherfiguren wie Timur Lenk oder Babur, die aber gerade keine nationalen, sondern dynastische Zusammenhänge repräsentieren. Gleiches gilt für die Inanspruchnahme kultureller Heroen. Wem gehört mittelasiatische, turkopersische und ostislamische Kultur in einer Epoche, in der national-staatliche Zuordnungen dominieren, die dieser Kultur zuwiderlaufen? Bei der „Vernationalstaatlichung" von Dichtern und Denkern, Theologen und Wissenschaftlern der kulturellen Glanzzeiten Mittelasiens tritt insbesondere Usbekistan hervor und verstärkt den Argwohn seiner Nachbarn Dabei ist die ethnonationale Besetzung der Vergangenheit in sowjetischer Zeit vorgeformt worden. In Usbekistan konnte sich ein auf die Unionsrepublik bezogener, aber „Turkestan“ beanspruchender Nationalismus schon seit den sechziger Jahren gegen sowjetische Internationalismusnormen entfalten Was damals von der kommunistischen Partei noch als „Glorifizierung der Vergangenheit“ und „Verherrlichung von Feudalherren" moniert wurde, ist heute Ausdruck neugewonnener historiographischer Freiheit. 3. Die transnationale Ebene Mit jedem Schritt in vorsowjetische Vergangenheit bewegt sich nationale Historiographie in Mittelasien aber in einem transnationalen Raum. Und bei der kulturellen „Wiedergeburt“ wird Transnationales, Völkerverbindendes auch bewußt angesprochen, so etwa bei der Rückbesinnung auf das Kommunikationssystem der Seidenstraße, eine historische Reminiszenz, die heute sogar einem modernen transasiatischen Verkehrssystem zugrunde gelegt werden soll. Kasachstan und die mittelasiatischen Republiken mit turksprachigen Titulamationen bastelten seit 1990 an wirtschaftlichen und politischen Kooperationsprojekten auf der Basis eines vermeintlichen historischen „Turkestan“ oder integrierten sich in einen weiteren türkischen Zusammenhang mit der Türkei als Partner. In Tadschikistan zielt eine über die Republikgrenzen hinausgehende Orientierung in den nichttürkischen Teil Westasiens, nach Iran, Afghanistan und Pakistan und setzt der türkischen Integration das persische Erbe Zentralasiens entgegen Ein Kooperationsprojekt wie die wiederbelebte ECO (Economic Cooperation Organization) versucht sogar, diese widersprüchlichen Ausrichtungen in einer Art westasiatischer EG mit der Türkei, Iran, Pakistan, Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten zu integrieren. Insgesamt wirken solche transnationalen Integrationsaktivitäten wie der zweite Schritt vor dem noch nicht oder unvollständig vollzogenen ersten, der nationalen Integration.

III. Islam und nationale Identität

Mit der gerade behandelten Frage korrespondiert eine andere, die eine amerikanische Autorin als „an axiom in the study of the peoples in Soviet Central Asia“ bezeichnete: die Korrelation religiöser und ethnischer Identität, die Beziehung zwischen Islam und Nation. In der sowjetischen und westlichen Literatur über Zentralasien wurde seit langem festgestellt, daß der Islam in der Sowjetunion als „nationale Tradition“ wider die sowjetischen Gegenbemühungen tradiert und bewahrt wurde. Doch wie bei dem oben dargelegten Zusammenhang wird deutlich, daß er Identität und Loyalität der Bevölkerung sowohl auf der lokalen als auch auf der nationalen (nationalstaatlichen) und der transnationalen Ebene im Blick hat. Die Frage bleibt offen, welche die entscheidende ist.

Sehr deutlich tritt die lokale Bedeutung islamischer Institutionen hervor. „Die Art und Weise, in der Mullahs und gewöhnliche Gläubige ihre Unterweisung im Islam erlangen, fördert die lokale Orientierung.“ Die „Wiedergeburt“ des Is-, lam vollzog sich in den letzten Jahren besonders auf der Ebene traditioneller Institutionen wie der Stadtviertel-und Nachbarschaftsgemeinschaft, der mahalla, die einen lokalen Wirkungskreis haben. In sowjetischer Zeit verbanden sich Aktivitäten, Personen und Institutionen des „nichtoffiziellen Islams“ mit bestimmten Orten, Familien und Sippen, teilweise gefördert durch Familienerblichkeit innerhalb traditioneller geistlicher Stände, die auch in sowjetischer Zeit weiterbestanden Die subnationale Differenzierung wurde nicht zuletzt durch die bereits erwähnte regional ungleiche Islamisierung in Zentralasien hervorgehoben. Nehmen wir als Beispiel Kasachstan: Hier wurden die südlichen Regionen Ksyl-Orda, Dschambul, Tschimkent u. a. Jahrhunderte früher und strenger in das „Haus des Islam“ eingebunden als die nördlichen Steppenregionen, in die der Islam erst seit dem 14. Jahrhundert vordrang und die nicht vor dem 18. Jahrhundert in ihm halbwegs verwurzelt waren. Vom Nord-Süd-Gegensatz in Kirgisien war bereits die Rede. Auch hier spielt bei der regionalen Differenzierung der Islam und die unterschiedliche Ausprägung von Religiosität -hier ein nomadischer islamisch-animistischer Synkretismus, dort ein Zentrum islamischen Traditionalismus in der Südprovinz Osch -eine wesentliche Rolle.

Heute wird der Islam freilich als Instrument nationaler Integration im Rahmen „unabhängiger Nationalstaaten“ benutzt. So besetzte er in Kirgisien, einem Land, das weit davon entfernt ist, ein „islamischer Staat“ zu sein, einen exponierten Platz in der Verfassungsdiskussion. Die Frage, ob der Hinweis auf den Islam in die Präambel des Grundgesetzes gehört, war dort Thema heftiger Auseinandersetzungen. Sie wurde negativ entschieden. Doch selbst der usbekische Präsident Karimow, der sein jegliche Opposition unterdrückendes Präsidialregime heute als ein Bollwerk gegen den islamischen Fundamentalismus darstellt, bediente sich bei der Umstellung der ideologischen Grundlage seiner Herrschaft von der kommunistischen Ideologie auf die des Nationalstaates islamischer Symbole. Doch seiner eigentlichen Bestimmung nach ist der Islam transnational ausgerichtet. Diese Ausrichtung stellte die erste in der Sowjetunion 1990 gegründete Partei auf der Basis des Islam, die „Islamische Partei der Wiedergeburt“ (IPW), deutlich heraus. Sie appellierte an alle Muslime in der Sowjetunion ohne Berücksichtigung der Nationalität, wobei aber auf der Gründungskonferenz Vertreter bestimmter Nationalitäten wie Tadschiken und Angehörige nordkaukasischer Völker dominierten. Diese Partei legte sich eine straffe Organisationsstruktur zu, von Basiseinheiten über regionale Strukturen bis hinauf zu zentralen Organen wie dem Parteitag, dem Gelehrtenrat (Rat der Ulemd), einem Koordinationskomitee und Parteisekretären. Während solche Organisationsstränge an den Aufbau der KPdSU erinnern, bediente sich die IPW gleichzeitig traditioneller Institutionen und Kommunikationsformen. So hielten ihre Mitglieder auf lokaler Ebene Versammlungen ab, die der Einrichtung der mittelasiatischen und insbesondere in Tadschikistan verbreiteten „Männervereine“ entsprachen. Die Partei war bemüht, sich ihren Mitgliedern als Familie zu präsentieren und widmete der Parteimitgliedschaft und ihren Anforderungen, dem Feindcharakter der gesellschaftlichen Umwelt und gegenseitigen Schutz-und Trutzbeziehungen breiten Raum Ihre ideologischen Postulate gingen weit über die religiöse und kulturelle-Sphäre hinaus und verdeutlichten die Untrennbarkeit von Religion, Gesellschaft und Politik im Islam.

Der erste Sekretär oder amir der IPW, der Dagestaner Achtajew, definierte die Erlangung einer transnationalen islamischen Republik auf verfassungsmäßigem Wege als das politische Fernziel der Partei. Ein radikaler Flügel polemisierte scharf gegen die säkularistische Ordnung, die bestehenden politischen Systeme im nachsowjetischen Orient und gegen das „gottlose Modell der Türkei“ und forderte die Einführung der „islamischen Ordnung“ in allen Lebensbereichen, während ein gemäßigter Flügel die „religiöse Aufklärung“ in den Vordergrund stellte und sich von der Fixierung auf den „islamischen Staat“ distanzierte. Auch die Anhänger des „islamischen Staates“ sprachen sich für seine gewaltlose Einführung aus. Der Iran gilt ihnen zwar als Modell, aber selbst die radikalen Kräfte in der IPW betonen, daß die revolutionären Erfahrungen im Iran nicht auf die ehemals sowjetischen Muslime übertragbar seien. „Fundamentalistische“ Züge lassen sich in den Aussagen des Parteiprogramms der IPW und in Artikeln ihrer Zeitschrift „Al Wahdat“ (Einheit) finden. So polemisierten einige Autoren aus ihrem Umfeld gegen die „kommunistischen Mullahs“, d. h. die durch Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden kompromittierte offizielle Ulema, und gegen die nachsowjetischen Machteliten in Zentralasien, die allesamt eine „heidnische Ordnung“ bewahrten. Die IPW polemisiert gegen politische Parteien, in denen der Islam mit westlicher Demokratie vermischt oder in den Dienst des Nationalstaates gestellt wird, gegen jegliche „Hybridisierung des Islam“, d. h. gegen islamisch-sozialistische, islamisch-demokratische oder islamisch-nationalstaatliche Synthesen.

Vor allem das Bild westlicher Kultur im Schrifttum der IPW erscheint in einem fundamentalistischen Sinne feindbildhaft, zugleich aber auch „importiert“. Es wurde in einigen Artikeln entfaltet, die in Auszügen oder ganz aus arabischen Quellen übernommen wurden. So erschien in der zweiten Ausgabe von „Al-Wahdat“ der Artikel einer palästinensischen Autorin, in dem diese einen Über-blick über antiislamische Aggressionen des Westens von den Kreuzzügen bis zur Gründung Israels gibt. Die zentrale Botschaft lautet: Die Muslime müssen um des Überlebens der eigenen Kultur willen den Wesensgehalt westlicher Zivilisation begreifen, und der bestehe in Atheismus und Materialismus. Auch andere Artikel dieser Art, wiederum teilweise Übersetzungen arabischer Vorlagen ins Russische, ziehen gegen die anthropozentrische Zivilisation des Westens und ihre politische Manifestation, die westliche Demokratie, zu Felde und setzen ihr den Islam entgegen, in dem allein Gott die Quelle der Souveränität und der Gesetzgebung ist. Und dabei ergibt sich eine interessante Verbindung: Einige der antiwestlichen Artikel im Schrifttum der IPW wurden in der Zeitschrift „Den“, dem Sprachrohr der groß-russischen Rechten, nachgedruckt. In ihnen wird dargelegt, daß Rußlarid der Offenbarungskultur des Islam näher stehe als der westlichen Aufklärungskultur. Verbündete im nichtislamischen Ausland sehen die Islamisten der IPW am ehesten in jenen ideologischen Kräften, die im Russischen als „povennye", d. h. „bodenständig“ bezeichnet werden. Und die finden sich im antiliberalen, anti westlichen und antisemitischen Lager der russischen Rechten. Daß diese Kräfte auch die imperiale Tradition Rußlands repräsentieren, fällt dabei weniger ins Gewicht als die Gemeinschaft in der Ablehnung westlicher Einflüsse.

Doch daraus abzuleiten, daß die ehemals sowjetischen Muslime einen dem Westen militant abgewandten transnationalen islamischen Block bilden, wäre ein großer Irrtum. Der Einfluß der IPW ist lokal begrenzt. So hat diese Partei in Kirgisien lediglich Anhänger unter der usbekischen Minderheit und ist in Kasachstan überhaupt nicht vertreten. In Usbekistan und Tadschikistan ist sie heute wieder verboten und trifft auf die Repression autoritärer Regime, die damit ihren Einfluß wahrscheinlich nur fördern. Die Grenzen des islamischen transnationalen Appells werden deutlich, wenn man einen zentralen Programmpunkt der IPW mit der Wirklichkeit vergleicht. Die Partei wendet sich in ihren Gründungsdokumenten mit Nachdruck gegen Nationalismus und nationalstaatliche Ordnungsstrukturen, da diese die Muslime voneinander trennen und ein Erbe der europäischen Kolonialherrschaft darstellen. Nach Aussage eines ihrer Ideologen, Gajdar Dschemal, vereint die IPW die Muslime aller Nationalitäten gegen den Nationalismus. Doch in Wirklichkeit unterlag auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion auch der Islam in den letzten drei Jahren dem Trend ethnischer und nationalstaatlicher Aufgliederung. Der sogenannte „offizielle Islam“, seit 1943 in vier regionalen geistlichen Verwaltungen oder Muftiaten für die Muslime Zentralasiens, Transkaukasiens, des Nordkaukasus und der Wolga-Ural-Region organisiert, zerfiel in nationale und republikbezogene Verwaltungen, ein Vorgang, den eine tatarische Zeitung mit den Worten „Ein ordentlicher Nationalstaat braucht seinen Nationalmufti“ kommentierte. Aber auch der oppositionelle Islam folgte entgegen seiner pan-islamischen Parole diesem Trend. Auch die IPW gliedert sich seit 1992 in nationale Strukturen auf, die sich zunehmend verselbständigten. In Zentralasien gelang es nicht, eine einheitliche Struktur dieser Partei aufzubauen, vor allem wegen tadschikisch-usbekischer Widersprüche. So ist transnationaler Islamismus in Zentralasien vorläufig eine Parole, entspricht die Vorstellung einer „islamischen Revolution“ von Tatarstan im Norden bis Tadschikistan im Süden dem Islam-Thriller Scholl-Latourscher Art. Freilich bieten die politisch, wirtschaftlich und kulturell labilen und gegenüber Störungen und Einmischungen von außen anfälligen Verhältnisse in Zentralasien durchaus Einflußschneisen für fundamentalistische Heilsbotschaften.

IV. Bürgerkrieg in Tadschikistan

Die bitteren Erfahrungen, die Tadschikistan in knapp zwei Jahren staatlicher „Unabhängigkeit“ machen mußte, führten zur Verhärtung der politischen Verhältnisse im übrigen Zentralasien. Sie dienen neu-alten Machteliten in den Nachbarrepubliken, besonders in Usbekistan, als Legitimation für die Priorität „stabiler Verhältnisse“ vor politischer und gesellschaftlicher Reform. Dabei wird ein Teilsaspekt des tadschikischen Konfliktszenarios, der „islamische Fundamentalismus“, über Gebühr herausgestellt und als Propagandamittel eingesetzt. Unter dem Vorwand, ihn abzuwehren, werden in Usbekistan heute wieder oppositionelle Gruppierungen unterdrückt, Bürgerrechtler mundtot gemacht und Meinungsfreiheit reduziert. Die russischen Streitkräfte in Tadschikistan liefern das auf das Stereotyp des „islamischen Fanatikers“ reduzierte Bild ihres Gegners den Medien in ihrer Heimat.

Die Auswirkungen des Bürgerkriegs auf die Bevölkerung Tadschikistans verdeutlichen folgende Daten: Die Todesopfer allein von 1992 werden überwiegend auf 20000 beziffert; etwa 120000 Familien wurden obdachlos, d. h., daß etwa 800000 Menschen in Tadschikistan (1991: 5, 4 Mio. Einwohner) „Binnenflüchtlinge“ sind; zwischen 70000 und 100000 Tadschiken haben die afghanische Grenze überschritten und leben in Lagern in Nordafghanistan unter dem ideologisch-politischen Einfluß verschiedener innerafghanischer Konfliktparteien. So überlagern sich zwei segmentäre Gesellschaften im Kriegszustand, die tadschikische und die afghanische, mit ihrem jeweiligen Chaos. Die Wirtschaft in Tadschikistan, die schwächste unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, liegt darnieder. 1992 ging die Produktion materieller Güter um schätzungsweise 35 Prozent zurück. Fast alle Vertreter höher qualifizierter Berufe haben das Land verlassen. 40 Prozent der Sommerernte konnten nicht eingefahren werden. In Kurgan-Tjube und in Badachschan brachen Hungersnöte aus. Der materielle Schaden durch die Kämpfe 1992 wird mit 200 Mrd. Rubel beziffert.

Das Konfliktgeschehen vollzog sich auf unterschiedlichen, sich gegenseitig überlagernden Ebenen von Antagonismen. Da war 1992 der politische Gegensatz zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten Nabijew, jener Figur aus der Zeit vor der Perestrojka, die 1985 als Parteichef Tadschikistans von Moskau abgesetzt worden war und dann im innenpolitischen Machtkampf nach dem Zerfall der UdSSR vom kommunistisch dominierten Parlament zu seinem Vorsitzenden und im November 1991 in einer umstrittenen Volkswahl zum Präsidenten gekürt wurde. Gegen den Versuch, unter Nabijew das Ancien rgime zu restaurieren, erhob sich Opposition in verschiedenen Lagern. Der so-genannte „tadschikische Frühling“ von 1992 sah eine hier nie gekannte Pluralität politischer Kräfte. Gegen die alte Machtclique traten auf: die im September 1989 gegründete Volksfront „Rastochez“ (Wiedergeburt), die sich als „nationaldemokratische“ Bewegung definiert und die Unabhängigkeit Tadschikistans und seine „nationale Wiedergeburt“ auf der Grundlage persischer Kultur verficht; die 1990 gegründete Demokratische Partei, die eine Umgestaltung des politischen Systems und die Überwindung der wirtschaftlichen Abhängigkeiten Tadschikistans, insbesondere seines Status als bloßer Rohstofflieferant, fordert; als stärkste und in der Bevölkerung wirksamste oppositionelle Gruppierung gilt die tadschikische IPW, die sich im Dezember 1992 von der ehemals unionsweiten Mutterpartei trennte; eine paniranische Bewegung unter dem Namen „Großariana“ (Aryana-ye bozorg), die eine kulturelle und politische Vereinigung aller Persischsprechenden erstrebt, die heute über Iran, Afghanistan und Tadschikistan verstreut sind; und schließlich eine regionale Bewegung namens La’l-e Badachschan (Rubin von Badachschan), welche die Interessen des unterentwickelten und unterprivilegierten östlichen Landesteils, des autonomen Gebietes Berg-Badachschan und der dort lebenden Pamirvölker, vertritt. Demgegenüber stand die kommunistische Partei als mitgliederstärkste Organisation. Sie verteilte Anfang 1992 125000 Mitgliederausweise, zu gut einem Viertel an die in Tadschikistan lebenden Usbeken, die dem Ancien rgime einen wesentlichen Rückhalt bieten. Die Partei war nach dem August-putsch 1991 aufgelöst, aber im Dezember per Präsidentendekret wieder zugelassen worden. Sie vertritt in ihren programmatischen Äußerungen eine Mischung aus Restauration und Reform, das verbale Bekenntnis zur „zivilen Gesellschaft“, zur Verfassung und zum Rechtsstaat, in der Wirtschaft eine Kombination von Markt und Staatsplanung

Auf einer zweiten Ebene besteht der Gegensatz von Islamismus und Säkularismus. Wie die Macht-eliten in den übrigen zentralasiatischen Republiken richtet sich das Regime in Duschanbe, in diesem Punkt gemeinsam mit einem Teil der Opposition, auf das säkulare Modell der Türkei und nicht auf das Gegenmodell des Iran aus, wenn auch alle relevanten politischen Bewegungen in Tadschikistan das Erbe persischer Sprache und Kultur hoch-halten und dem tadschikischen „Nationalgefühl“ ein antitürkisches Ressentiment zugrunde liegt. Die Gegenposition, die eine islamische Ordnung für Staat und Gesellschaft vorsieht, ist in der IPW beheimatet. Aber auch die tadschikischen „Islamisten“ bilden keinen einheitlichen ideologischen Block und vertreten unterschiedliche Grade der Radikalität in ihren Vorstellungen für die Durchsetzung einer solchen Ordnung. Offiziell vertritt die IPW in Tadschikistan unter ihrem Vorsitzenden Muhammadscharif Himmatzoda ein Konzept der Re-Islamisierung durch erzieherische Mittel und langfristige Vorbereitung der Bevölkerung für den islamischen Staat.

In Tadschikistan hat der Islamismus die längste in sowjetische Zeit zurückreichende Vorgeschichte. Erste fundamentalistische Gruppen traten hier bereits um 1977 auf. Sie orientierten sich ursprünglich an klassischen Mustern fundamentalistischer Ideologie wie den Lehren der Moslembrüder und negierten das Sowjetsystem ebenso wie die die traditionelle Gesellschaft, deren Erneuerung im Sinne der Re-Islamisierung sie forderten. Gegen 1983 versuchten diese Gruppen, ihre Aktivitäten im nationalen Rahmen der Unionsrepublik zu koordinieren und gaben im Untergrund eine Zeitschrift „Chidojat“ heraus

Entscheidend ist aber eine dritte Ebene, die sowohl die politischen Auseinandersetzungen als auch die kulturellen Gegensätze umschließt: die Ebene regionaler Antagonismen. In dem komplizierten regionalen Konfliktszenario treten vier Landesteile als Hauptakteure und Konkurrenten hervor: die „Nomenklaturaregion“ Chodschent, ehemals Leninabad, im Norden, die beiden Süd-provinzen Kuljab und Kurgan-Tjube und das autonome Gebiet Berg-Badachschan im Osten, das sich 1992 zur autonomen Republik erhöhte.

Die politische Opposition gegen Nabijew und das Ancien rgime in Duschanbe war vor allem eine oppositionelle Koalition bislang benachteiligter, vom Machtmonopol ausgeschlossener regionaler Gruppen. Machtverteilung basierte im sowjetischen Tadschikistan auf traditionellen lokalen Loyalitäten. Seit Jahrzehnten kam die einheimische kommunistische Machtelite aus dem industriell (halbwegs) entwickelten Norden, aus der Provinz Leninabad. Gegen dieses regionale Macht-monopol rannte seit 1991 eine Opposition aus Vertretern der politisch benachteiligten, zumeist auch wirtschaftlich unterentwickelten Landesteilen an. Die Oppositionsbewegungen von der Demokratischen Partei bis zur IPW rekrutierten ihre Mitglieder vorwiegend aus solchen Regionen wieGharm am Nordrand des Pamir, dem Hissar-Tal um Duschanbe, den südlichen Städten Kurgan-Tjubes. Dazu kam eine zunehmend sezessionistisehe Entwicklung in der Osthälfte des Landes, im autonomen Gebiet Berg-Badachschan. Unter den dort in tiefster Unterentwicklung und Isolation lebenden Pamirvölkern, die teilweise als Schiiten auch in konfessionellem Gegensatz zu den Tadschiken leben, entwickelte sich heftige Opposition gegen die alte Machtclique in Duschanbe und eine politische Autonomiebewegung in Gestalt der La’l-e Badachschan. Sie schaltete sich im Frühjahr und Sommer 1992 in die Machtkämpfe in Duschanbe maßgeblich ein und zog den Zorn der kommunistischen Machthaber auf sich, der sich heute in der systematischen Verfolgung und Ermordung von Landsleuten aus der Pamirregion in Duschanbe entlädt. Die unter so heterogenen ideologischen Etiketten wie „Demokraten“, „Islamisten“ und „Nationalisten“ agierende Opposition erstritt sich 1992 die Mitwirkung an der Regierungsgewalt und errichtete nach dem Sturz Nabijews eine Koalitionsregierung, die im Westen voreilig als Verkörperung des „islamischen Staates“ gehandelt wurde. In der Tat sicherte sich die IPW den Löwenanteil bei der Besetzung der Ministerien.

Diese Regierung, die mit den anstehenden Problemen nicht im entferntesten fertig werden konnte, wurde im Herbst und Winter 1992 von Anhängern des alten Regimes aus Chodschent und Kuljab in einem eskalierenden Bürgerkrieg bekämpft. Dabei verschob sich das regionale Gewicht im prokommunistischen Lager von der Herrschaftsregion Chodschent zu den Vertretern der Provinz Kuljab, aus der gewissermaßen die Hilfskräfte für die alten Machthaber rekrutiert worden waren. Zum Hauptmatador unter den prokommunistischen Streitkräften wurde der Führer einer „Volksfront“ aus Kuljab, Sadak Safarow. Als diese Streitkräfte im Dezember 1992 die Macht in Duschanbe zurückeroberten, kamen die Kuljabi bei der Besetzung der neuen Regierung zur Geltung. Das neue Regime unter dem Staatsratsvorsitzenden Emomali Rachmonow stellte den bewaffneten Oppositionskräften ein mehrmals verlängertes Ultimatum für die Ablieferung ihrer Waffen und erhielt politische und militärische Unterstützung aus Rußland, Usbekistan und den benachbarten zentralasiatischen Republiken.

Internationale Menschenrechtsorganisationen klagten die Machthaber in Duschanbe an, bei massiven militärischen Operationen gegen ihre politischen Gegner Angehörige bestimmter Volksgruppen und Regionen, insbesondere Pamiri und Leute aus Badachschan und Gharm, systematisch zu verfolgen. Das Regime gibt dieses Vorgehen als Abwehr „fundamentalistischer Rebellen“ im Dienste ganz Zentralasiens und der GUS aus. Und diese Propaganda verkündet eine Art „seif fulfilling prophecy“, denn die nach Afghanistan geflohenen Tadschiken geraten dort verstärkt unter den Einfluß islamischer Kräfte, die weitere Gewaltspirale und insbesondere das Eingreifen russischen Militärs verstärkt das Bedürfnis, die Abrechnung mit dem Gegner in den höheren Dienst des Dschihads zu stellen.

V. Internationale Einflüsse in Zentralasien

Die internationalen Implikationen der Konflikte in Tadschikistan wurden deutlich, als im Juli 1993 tadschikische Gruppen von afghanischem Territorium aus russische Grenzschützer angriffen und Moskau mit Artillerieangriffen auf Siedlungen in Nordafghanistan reagierte. Die Tadschikistankrise hat sicherheitspolitische Bindungen der zentral-asiatischen Republiken an Rußland verstärkt und in Richtung auf eine Restauration der ehemals sowjetischen Machtverhältnisse gewirkt. Rußland hat sich, wenn auch kaum aus ideologischer Sympathie, dem neokommunistischen Regime in Duschanbe durch Freundschafts-und Hilfsabkommen besonders auf militärischem Gebiet verbunden. Kritiker dieser Politik riefen die Entwicklungen in Erinnerung, die Moskau seinerzeit in den Afghanistankrieg hineinzogen, am deutlichsten der afghanische Konsul in Duschanbe, Muhammad Umar Asir: „Die jetzige Situation in Tadschikistan gleicht der in unserem Land in der Periode der sowjetischen Okkupation: in den Bergen die Partisanen, in den Tälern die Regierungstruppen und die sowjetische Armee.“ In den Bergregionen Badachschans, die außerhalb der Kontrolle Duschanbes stehen, baut sich eine Partisanenarmee auf, die sich mit den aus Afghanistan einsikkernden Freischärlern verbinden könnte.

Moskau errichtet mit Tadschikistans Nachbarn einen sicherheitspolitischen Verbund im Rahmen der GUS auf der Basis bilateraler Verträge. Zuletzt unterzeichneten am 5. Juli 1993 die Verteidigungsminister Rußlands und Kirgisiens ein Abkommen über militärische Kooperation. Die Sicherung der Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan stand von Anfang an im Mittelpunkt solcher Kooperation. Tadschikische Grenztruppen werden von 3 500 russischen Soldaten verstärkt. ImVerteidigungsministerium Rußlands wird von dieser Grenze die Sicherheit des gesamten GUS-Raumes abhängig gemacht. Neben den Grenz-Schützern ist die 201. Russische Motorisierte Infanteriedivision in Tadschikistan stationiert, von der die Angriffe auf Stellungen der „islamischen Rebellen“ in Nordafghanistan ausgingen. Neben Rußland ist offenbar Usbekistan im Nachbarland Tadschikistan, zu dem es seit der „nationalen Abgrenzung“ durch die Sowjetmacht in gespannten Beziehungen steht, militärisch am stärksten engagiert. Auch Kasachstan und Kirgisien haben Truppen entsandt, wobei in Kirgisien der Entsendung heftige innenpolitische Debatten vorausgegangen waren.

Derartige Entwicklungen korrigieren das anfangs verbreitete Bild, das die internationalen Beziehungen im nachsowjetischen Zentralasien einseitig zwischen den Einflußpolen Türkei und Iran ansiedelte. So auffällig die Kooperation der turksprachigen Republiken mit Ankara und die Rivalität um Einfluß in der neuen Staatenwelt zwischen der Türkei und dem Iran auch gewesen sein mögen, die internationalen Beziehungen in dieser Region lassen sich doch nicht auf den türkischen, mittelöstlichen und islamischen Kontext einschränken. Zentralasien liegt zwischen Rußland, China und Südwestasien. Rußland wird ein außen-und sicherheitspolitischer und außenwirtschaftlicher Eckpfeiler in der Umgebung dieser Region bleiben. Die Türkei wird kaum den Platz einnehmen, den Rußland allein in den Außenhandelsbeziehungen der betreffenden Staaten besetzt. Für ein Land wie Kasachstan ist China von weitaus größerer Bedeutung als der Iran. Schon heute ist es sein wichtigster Handelspartner nach Rußland.

Der in westlichen Kommentaren anfangs stark verbreitete Turan-Iran-Manichäismus wurzelte in der Angstfixierung auf den islamischen Fundamentalismus als Entwicklungsmöglichkeit in Zentral-asien und die wiederum in überzogenen Vorstellungen über ideologische Einflußmöglichkeiten des Iran. Die Sorge vor dem iranischen Einfluß veranlaßte die USA Anfang 1992 zu einer Änderung ihrer Strategie gegenüber den asiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR. Im September 1991 hatte Außenminister Baker noch Kriterien für die internationale Anerkennungswürdigkeit sowjetischer Nachfolgestaaten aufgestellt, denen einige orientalische Unionsrepubliken kaum standhalten konnten. Bald darauf wichen solche Ansprüche einer Containement-Politik gegenüber dem Iran. Nun wurde selbst Tadschikistan, wo damals das Nabijew-Regime die alten Machtverhältnisse restaurierte, westlicher Anerkennung würdig. Bei seinem Besuch in Duschanbe im Februar 1992 erklärte der amerikanische Außenminister, gleichsam unter dem Banner von Hammer und Sichel, daß das Land den Bedingungen für internationale Anerkennung entspreche und auf dem Wege zur Demokratie sei

Die Angstfixierung auf denkbare ideologische Ausstrahlungen des Iran wurde von einigen amerikanischen Kommentatoren kritisiert: „Diese Länder haben das Recht und die Notwendigkeit, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, und das schließt Handel mit dem Iran oder anderen islamischen Staaten ein. Eine Panikreaktion in Washington könnte genau die Art religiöser Polarisierung bewirken, die vermieden werden soll.“ Auch die Krise in Tadschikistan, die einer Einmischung von außen kaum bedurfte, wurde einseitig iranischen Machenschaften zugeschrieben, die unbestreitbare Ausrichtung der Tadschiken auf das Iranische mit der Option auf den Gottesstaat der Ayatollahs gleichgesetzt.

Die Turan-Iran-Dichotomie legte eine Ausschließlichkeit nahe, die so in der Wirklichkeit nicht existiert. Die zentralasiatischen Staaten werden natürlicherweise sowohl mit der Türkei als auch mit dem Iran zu tun haben. Dabei hat die Türkei bei neuen kooperativen Beziehungen in der Region einen Vorteil, stößt allerdings auch schon an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Insbesondere der Machtwechsel in Aserbaidschan hat das außen-politische Konzept in bezug auf einen türkischen Commonwealth in Eurasien durchkreuzt.

Eine Republik wie Turkmenistan, die eine lange Landesgrenze mit dem Iran teilt, kann wohl kaum vor iranischer Berührung geschützt werden und steht heute bereits in kooperativen Beziehungen zur iranischen Nordostprovinz. Der offizielle Iran tritt in Taschkent oder Aschchabad nicht in erster Linie als die Speerspitze eines revolutionären Islam auf, sondern als eine regionale Macht, die ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluß ausbauen will, auch wenn ihr Bemühen zweifellos eine religiöse Dimension hat und islamistische Propaganda einschließt. Die staatliche Unabhängigkeit im ehemals sowjetischen Orient stellt für den Iran zudem nicht so sehr eine günstige Gelegenheit als vielmehr eine Verlegenheit dar. Insbesondere ein aserbaidschanischer Nationalstaat mit enger Anlehnung an die Türkei birgt Gefahren für den Iran, in dem die größte nichtpersische Minderheit von schätzungsweise zehn Mio. Aseri gestellt wird. Das gibt der iranischen Politjk in der Region einen eher defensiven als offensiven Charakter Hinter der Angst vor iranischer Expansion stehen simplizistische Wahrnehmungen der „islamischen Wiedergeburt“ in Zentralasien. Auch wenn bei allen Völkern der Region kulturelle und nationale „Wiedergeburt“ von verstärktem Interesse am Islam und seiner Rolle in der Geschichte und Kultur Mittelasiens begleitet wird, variiert diese Hinwendung regional erheblich. Und auch in Regionen, in denen islamistische Strömungen in Mittelasien hervortreten, bedeutet dies nicht zwangsläufig die Option für das iranische Modell des islamischen Staates. Aufrufe zur Übernahme dieses Modells stießen selbst bei der IPW in Tadschikistan auf Zurückhaltung: „Mit dem Iran verbindet uns Sprache, Tradition und eine alte Kultur, und Tadschikistan ist bereit, mit ihm zu kooperieren. Aber Tadschikistan ist ein selbständiger Staat und berechtigt, sein Modell und seinen Entwicklungsweg selber zu wählen.“ Auch in der innerlich zerrissenen tadschikischen „Nation“, die reale staatliche Unabhängigkeit nicht erlangt hat, und in einer Partei, die transnational-islamisch ausgerichtet ist, besteht offenbar Abneigung, alte Abhängigkeiten gegen neue einzutauschen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. Bennigsen, Les musulmans oublis. L’Islam en Union Sovitique, Paris 1981.

  2. V. Streleckij, Grozit li Kirgisii raskol?, in: Nezavisimaja gazeta vom 5. 3. 1993, S. 5.

  3. Im Sommer 1990 kam es zu einer der heftigsten Kollisionen zwischen Volksgruppen in der damaligen Sowjetunion: zwischen Kirgisen und Usbeken in der Provinz Osch im Ferganatal. Vgl. A. Bozda, Konfliktregion Kirgisien, in: Orient, (1991) 3, S. 365-393.

  4. Vgl. V. Streleckij (Anm. 2).

  5. Vgl. V. A. Kolossov, Ethno-territorial conflicts and boundaries in the former Soviet Union. International Boundaries Research Unit, Territory Briefing 2, Durham 1992, S. 4.

  6. Vgl. S. Nettleton, Uzbek Independence and Educational Change, in: Central Asian Monitor, (1992) 3, S. 19 f.; ders., Heroes old and new, in: Far Eastem Economic Review vom 26. 11. 1992, S. 39-41.

  7. Vgl. J. Critchlow, Nationalism in Uzbekistan, Boulder -San Francisco -Oxford 1991.

  8. Vgl. B. G. Fragner, Die „Wiederentdeckung“ des Persischen in Mittelasien, in: U. Tworuschka u. a. (Hrsg.), Gottes ist der Orient. Gottes ist der Okzident. Festschrift für Abdoldjavad Falaturi, Kölner Veröffentlichungen für Religionsgeschichte, Bd. 21, Köln u. a. 1991, S. 249-262.

  9. M. Atkin, Religious, national, and other identities in Central Asia, in: J. -A. Gross (Ed.), Muslims in Central Asia, Durham -London 1992, S. 46-72.

  10. Ebd.

  11. Vgl. W. Buschkow, Tadschikistan vor dem Bürgerkrieg. Eine traditionelle Gesellschaft in der Krise, Bericht des BlOst, (1993) 26.

  12. D. Mikulski, Die Islamische Partei der Wiedergeburt. Eine Studie zum Islamismus in der GUS, in: Bericht des BlOst, (1993) 25.

  13. Vgl. S. Tadjbakhsh, The „Tajik Spring of 1992“, in: Central Asia Monitor, (1993) 2, S. 21-28.

  14. Vgl. W. Buschkow (Anm. 11), S. 25-27.

  15. Muhammad Umar Asir, in: Nezavisimaja gazeta vom 9. 7. 1993, S. 3.

  16. Vgl. Congressional Record, 5. 1. 1993, S. 12-14 (Rede von Senator Bill Bradley im US-Senat).

  17. Intematioal Herald Tribune vom 8. 2. 1992.

  18. Vgl. Sh. Hunter in: Central Asia Monitor, (1992) 6, S. 11.

  19. D. Usmon, stellvertretender Vorsitzender der IPW, in: Nezavisimaja gazeta vom 5. 2. 1992.

Weitere Inhalte

Uwe Halbach, Dr. phil., geb. 1949; seit 1986 Mitarbeiter des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen zur Nationalitätenfrage in der Sowjetunion, zur neuen Staatenwelt in Eurasien und speziell zum ehemals sowjetischen Zentralasien.