Die klassischen Instrumente und Institutionen, die die Menschenrechte gesichert und die Menschen geschützt hatten, haben in Bosnien-Herzegowina versagt. Es gibt keine Möglichkeit, das zu beschönigen. Es gibt nur die politische und humanitäre Notwendigkeit, dies für die Zukunft und für die Völkergemeinschaft zu analysieren. Das ganze Ausmaß an ethnischer Vertreibung („Säuberung“), an Vergewaltigungen, an Zerstörung religiöser Sakralstätten, an Geiselnahme von Männern und von ganzen Bevölkerungsteilen ist bisher weder bekannt noch irgendwie festgehalten. Politik und Diplomatie konnten gegen diese gravierenden Beschädigungen international anerkannter und ratifizierter Rechte offenbar nicht mehr tun, als zu bemänteln und zu verschleiern. Zu einer beherzten Aktion zum Schutz der Zivilbevölkerung in Bosnien-Herzegowina ist es ebensowenig gekommen wie zu Tribunalen für Kriegsverbrecher und für Verbrechen gegen die Menschheit, von denen insbesondere die beiden deutschen Außenminister Hans Dietrich Genscher und Klaus Kinkel gesprochen haben.
I. Schwierigkeiten der Berichterstattung
Über die Lage der Menschenrechte in Bosnien und in der Herzegowina zu schreiben, ist nicht leicht, weil die Informationslage schwierig ist. Sie ist auch für denjenigen nicht einfach, der sich nicht nur auf die geschriebene und gesendete Berichterstattung verläßt, sondern selbst mehrmals vor Ort war und sich aus eigenem Augenschein ein Bild hat machen können. Der Hinweis auf die verworrene Lage, die durch mehrere Kriege oder kriegsähnliche Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist, ist deshalb nötig, weil diese nur schwer zu überschauende Szenerie des Kriegsgebietes Bosnien-Herzegowina ihre Schatten auch auf die Menschen in ihren unterschiedlichen „conditions humaines“ wirft. Das Nebeneinander von Menschen, die den verfeindeten ethnischen Gruppen angehören, ist noch kein Miteinander. Denn zwischen den serbischen Milizen und der bosnischen Armee, zwischen der serbischen Armee und der kroatischen Miliz (HVO), zwischen der HVO Kroatiens und den Bosnischen Verbänden gibt es auch noch eine Propaganda-Kriegsfront. Alle ethnischen Gruppen in diesem Krieg werden von ihrer Seite einseitig informiert. Keine Seite hat in den letzten zwölf Monaten die Fähigkeit zur Selbstkritik, zu irgendeinem Bedauern, geschweige denn ein Wort der Bitte um Vergebung geäußert.
Als ich im Juli/August 1992 Mostar und Posusje, Siroki Brijeh und den Wallfahrtsort Medugorie besuchte und mich herumfahren ließ, einmal von den Kroaten, dann von den Muslimen, wollte ich etwas herausbekommen über ein gräßlich hinterhältiges Massaker: muslimische Bosniaken, wohl ein Teil der bosnischen Armee (oder auch Angehörige einer bewaffneten Miliz), hatten aus der Stadt Gorazde abziehende serbische Flüchtlinge während der Flucht in einer Schlucht regelrecht zusammengeschossen. In den Berichten der internationalen Presse war die Rede von über 100 Toten.
Ich erfuhr in Mostar, daß es ganz unmöglich sei, zum Ort des Geschehens nach Gorazde zu gelangen. Also versuchte ich, wenigstens die Freunde vom bosnischen „Roten Halbmond“, Mirza Hadiomerovic und Kimeta Dilberovic, zu befragen, die ich seit einigen Monaten kannte. Beide waren die auskunftsfähigsten Personen für mich in Mostar, doch jedes Mal, wenn ich um der erschlagenen Menschen willen als Mitarbeiter einer deutschen humanitären Organisation von Kollegen einer bosnischen humanitären Organisation etwas zu diesem schrecklichen Massaker an den Serben erfahren wollte, gab es geschickt eingefädeltes Schweigen oder schnell ein anderes Thema.
Als ich am 8. Mai 1993 in Köln im Büro des Deutschlandfunks mit dem Provinzial der bosnischen Franziskaner, Pater Petar Andelovic, über die furchtbaren Massaker sprechen wollte und über die ethnische Säuberung, die nun -sichtbar für alle Welt -nachträglich auch die kroatische Seite begeht, da sagte der Franziskaner, der betonte, daß er in solchen Grenzsituationen natürlich sein Volk verteidigen müsse: „Die Muslime in Zenica haben es geschickter angestellt!“ Die Kroaten seien dort reihenweise ins Gefängnis gekommen und einige in einen Bergwerksstollen getrieben worden.
Um noch eine weitere Schwierigkeit in der Berichterstattung zu benennen, sei auf ein Radio-Feature des alten jugoslawischen Diplomaten und Schriftstellers Ivan Ivanji hingewiesen: „Grenzfälle: Die bosnische Tragödie. Hintergründe für Angst und Haß im ehemaligen Jugoslawien“, das der Westdeutsche Rundfunk in seinem dritten Programm am 20. Mai 1993 gesendet hat. Es wird darin aus dem fünften Menschenrechtsbericht der Vereinigten Staaten zitiert. Diese Sendung wurde im Deutschlandfunk am 6. Juli 1993 wiederholt.
Ein 33jähriger muslimischer Arzt aus Prijedor berichtete über das von Serben eingerichtete Lager in Trnopolje: „Serbische Soldaten streiften bei Nacht durch das Lager, die männlichen Gefangenen schlugen sie brutal, die weiblichen vergewaltigten sie. Das geschah mit Wissen und Erlaubnis der an mehreren Stellen stationierten Lagerwärter.“ Aus demselben Bericht zitiert der Autor Ivan Ivanji die Aussage einer 36jährigen Ärztin aus Capljina über das von kroatischen Schwarzhemden (HOS) betriebene Internierungslager Dretelj: „Alle Männer wurden bei meiner Ankunft und in allen nachfolgenden Verhören brutal mißhandelt. Mit Fäusten, Gummiknüppeln, Holzlatten und Gewehrkolben wurde auf sie eingeschlagen. Sie wurden mit Messern zerschnitten und auf jede erdenkliche Art erniedrigt. Mir wurden Nadeln unter meine Nägel getrieben, man schnitt mir mit einem Dolch in Gesicht und Brüste. Die Behandlung der Frauen war nicht weniger inhuman als die der Männer. Im Gegenteil, mehrere Frauen wurden vergewaltigt, sogar sehr alte.“
Das Szenario, das der Autor der WDR-Sendung hier aufbaute, führt ebenfalls in die Irre, denn es setzt etwas gleich, was nicht gleichzusetzen ist, nämlich die Politik Serbiens und Rest-Jugoslawiens auf der einen Seite und die kroatische, slowenische oder bosnische auf der anderen. Selten einmal ist eine Menschenrechtskatastrophe in solche politischen Exkulpierungsdramen verwickelt gewesen wie die in Bosnien. Die Politik der ethnischen Säuberungen -im Grunde eine deutliche und klare Variante der Apartheid-Politik -wurde von der Regierung Rest-Jugoslawiens und Serbiens aber immer wieder als ihre offizielle Politik betrieben. Erst nachträglich versuchte man, die Folgen und Konsequenzen dieser grausamen Politik durch eine neue Propagandaversion abzumildern. So erklärte der Serbenführer Radovan Karadzic in einem Gespräch mit dem Spiegel (vom 25. Januar 1993), die Muslime seien alle freiwillig gegangen, sie hätten gern Weggehen wollen, niemand sei wirklich vertrieben worden.
II. Offizielle serbische Vertreibungspolitik
Abbildung 3
Teilungsplan der Vermittler Owen und Stoltenberg F. A. Z. -Grafik Heumann
Teilungsplan der Vermittler Owen und Stoltenberg F. A. Z. -Grafik Heumann
Die serbische Seite führte diese Säuberung, die Vertreibung und den Aufbau von Internierungslagern als ihre offizielle staatliche Politik durch; und zwar nicht nur in Bosnien, sondern auch im Sandschak, wo die Muslime in der Mehrzahl waren, und im Kosovo, wo 90 Prozent der Bevölkerung Albaner sind, sowie in der Voivodina, in der es früher eine große ungarische und kroatische Minderheit gab, die aber jetzt ebenfalls aus dem Lande geekelt wird.
Die kroatische Politik hingegen hat zwar mit geschickten Methoden ebenfalls eine ethnische Vertreibung begünstigt, sie aber bis zu den furchtbaren Ereignissen von Gornij Vakuuf im Januar 1993 und bis Mostar und Asnici (ein Dorf, in dem über 100 muslimische Bosnier erdrosselt wurden) nie mit einer annnähernd brutalen, faschistischen Totalität durchgeführt.
Einer der qualitativen Unterschiede zwischen kroatischer und serbischer Politik lag in der unterschiedlichen Flexibilität der Reaktionen. Die Regierung Kroatiens war in der Regel durch diplomatischen Druck und gutes Zureden beeinflußbar. Der intransigente und unbewegliche Staatschef Franjo Tudjman schreckte vor der letzten Konsequenz, nämlich sich mit Milosevi über eine klare Aufteilung Bosniens zu einigen, durch die Interventionen des deutschen und des US-amerikanischen Geschäftsträgers in Zagreb immer wieder zurück.
Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den muslimischen Bosniern waren deshalb von solch erschütternder Traurigkeit, weil sie von Anfang an in klarer Absicht geplant waren. Ich habe die von Serben-Milizen vertriebenen Flüchtlinge, zumeist Frauen und Kinder, dann und wann auch einmal ein älterer Mann, schon im Juli/August 1992 in Posusje und in Mostar getroffen. Uns wurde damals schon spontan von den Menschenrechtsverletzungen berichtet, die kurze Zeit später der Sonderbeauftragte und UNO-Beobachter, der Pole Tadeusz Mazowiecki, mit seiner Sonderkommission in immer neuen Berichten zweifelsfrei dokumentierte.
Um den Terminus „die Serben“ zu vermeiden, bürgerte sich das Wort „die Tschetniks“ ein. Mazowiecki hatte als UNO-Beauftragter den Mut, das, was er selbst erlebte, bei seinen Reisen nicht in einem ausgewogenen Bericht „verdampfen“ zu lassen, sondern zu bewerten: Das Niveau, auf dem sich in Bosnien Menschen verschiedener Ethnien begegnen, ist bestimmt durch menschenverachtende und mörderische Gewalt von Seiten der serbischen Milizen.
Die erste große Welle der Vertreibungen, der Errichtung von Zwangslagem, der Massenerschießungen von Männern und der Massenvergewaltigung von Frauen fand schon bald nach Kriegsbeginn (im Juni/Juli 1992) statt und war auch in dem Korridor lokalisierbar, den die bosnisch-serbische Seite seit Kriegsbeginn sich frei-schießen und freibomben wollte und in dem sie -wie im Kosovo -auch nicht einem Mitbewohner der kroatischen oder muslimischen Seite die Chance zur Assimilierung lassen wollte. Es galt im Kosovo das Prinzip der alten Römer gegenüber den Christen: „Non licet vos esse“ („Ihr sollt eigentlich gar nicht sein.“). .
• Die Flüchtlingsströme, die, meist ohne Männer, gen Süden, aber damals auch noch gen Norden über die Save flohen, kamen aus Doboi, aus Kozarec, aus Foca, aber auch damals schon aus Sarajewo. Solange der Save-Brückenkopf bei Bosanski Brod oder auf der kroatischen Seite Slavonski Brod noch von der kroatischen und bosnischen Seite gehalten wurde, gab es für große Flüchtlingstrecks neben dem Ausweg nach Süden (via Travnik nach Posusje und weiter, wenn mög lieh, über die kroatische Grenze nach Split) noch den nach Norden über die Brücke bei Bosanski nach Slavonski Brod. Dem aber machte die kroatische Seite durch die gezielte Sprengung der Brücke nach dem Rückzug ihrer Armee über den Fluß auf die kroatische Seite ein abruptes Ende.
Es scheint sich damals um einen Deal zwischen der kroatischen und der serbischen Regierung gehandelt zu haben (also offiziell der Regierung von Rest-Jugoslawien). In der Nähe Dubrovniks wurde von der ex-jugoslawischen bzw.serbischen Armee eine Inselgruppe geräumt. Als Gegenleistung bot Tudjman der serbischen Seite die Räumung des Brückenkopfes Bosanski Brod an, wo auch für einen geordneten Rückzug „nur“ sieben Kroaten umkamen, die Brücke nicht aus Versehen, sondern gezielt mit Granaten beschossen wurde, auch um den Strom der damals schon ungeliebten bosnisch-muslimischen Flüchtlinge in Richtung auf das kroatische Slawonien zu bremsen. Damit konnte die serbische Seite ihren Korridor und ihren eigenen De-facto-Staat im Norden Bosniens -mit der heimlichen Hauptstadt Banja Luka -vervollständigen.
Ich will noch einen unverdächtigen Zeugen für meine These zitieren, daß im ersten Jahr des Krieges die Politik der verbrannten Erde und der Massenvertreibung, der Masseninternierung von bosnischen Männern und der Massenvergewaltigung bosnischer Frauen eine serbische Politik war, die von Belgrad nicht widerstrebend oder gar mit Abscheu beobachtet wurde, sondern die bewußt gewollt war. Diese Politik traf hauptsächlich die muslimischen Bosnier, die im Gegensatz zu Serben und Kroaten keinen Staat im Rücken hatten. Die Kriegsschuldfrage für den Bosnien-Krieg hat Milovan Djilas beantwortet. Als falsch wies Djilas jüngst bei einem Pressegespräch mit Gustav Chalupa im „Tagesspiegel“ vom 11. Mai 1993 die „heuchlerische Rechtfertigung für die Schuld am blutigen Krieg“ zurück, der angeblich mit der „vorzeitigen Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas ausgelöst“ worden sei: „Die Hauptschuld schreibt er vielmehr Serbien zu, das sich auf die jugoslawische Volksarmee gestützt hat", während die anderen Volksgruppen . über keine Armeen verfügen. Nicht daß Djilas die Verantwortung der Nationalisten auf den Seiten der Kroaten, Slowenen und Moslems außer acht läßt, aber als zweiten Hauptschuldigen am Krieg betrachtet er die Jugoslawische Volksarmee...
, Die Jugoslawische Volksarmee hat sich schnell in eine jugoslawisch-kommunistische und in eine serbische gespalten. Die Generäle, die schon damals an der Spitze standen, stehen jetzt wieder an der Spitze der serbischen Armee/“ „Die Europäische Gemeinschaft, allen voran Deutschland, und dann auch die USA haben bis zuletzt versucht, Jugoslawien zu erhalten“, erklärt Djilas und verweist auf die enorme Finanz-und Wirtschaftshilfe, die der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Namen Brüssels den Belgrader Machthabern überbrachte und damit das System stabilisierte.
III. Das Ende Bosnien-Herzegowinas
In der Zwischenzeit hat sich die territorial-faktische Situation, möglicherweise auch schon die völkerrechtliche und territorialrechtliche Situation auf dem Gebiet, das die früheren Menschenrechts-und UNO-Berichte noch Bosnien-Herzegowina nannten, qualitativ stark verändert. Bosnien-Herzegowina gibt es nicht mehr. Nachdem die Internationale Gemeinschaft auf der Genfer Konferenz im Juni 1993, dann wieder auf der Konferenz der EG-Staatschefs und Außenminister in Kopenhagen vom 20. Juni 1993 den über Monate, ja ein ganzes halbes Jahr mitgeschleppten Vance-Owen-Plan über die zehn Kantone fallengelassen haben und sich pragmatisch und ohne Rücksicht auf die menschenrechtlichen Folgen eines solchen Beschlusses de facto auf eine Teilung des Landes unter Respekt und Anerkennung der bisherigen gewaltsamen Grenzveränderungen einließen, darf man das geschichtliche Ende der territorialrechtlichen und historischen Einheit Bosnien-Herzegowinas fest-steilen. Was das für die bisherigen Bewohner dieses Landes bedeuten wird, ist noch nicht ausgemacht. Zunächst kann man festhalten, daß sich die Praxis der Vertreibungen und des Ausweitens des militärisch beherrschten Geländes im gesamten Bosnien-Herzegowina durchsetzte.
Die Phase der Vertreibungen und Eroberungen der Kroaten gegen die Muslime begann im Januar 1993 in Gomij Vakuf, einem Ort (in Zentralbosnien), der vom Vance-Owen-Plan einem kroatischen Kanton zugeschrieben war -was die soge-nannte kroatische Regierung von Herceg Bosna als internationale Ratifikation einer Vertreibung der Muslime aus dieser Stadt wertete. Monate später, am 8. Juni 1993, entschied sich die bosnische Armee in Travnik, den bosnisch-muslimischen Charakter der Stadt zu erhalten, indem man die Kroaten vertrieb. Währenddessen gingen die serbischen Eroberungszüge, die oft geradezu Vernichtungsoperationen waren, im Gebiet Ost-Bosniens weiter. Das Kriegspräsidium der Gemeinde Srebrenica telegrafierte am 6. Juni 1993 an das Staatspräsidium von Bosnien-Herzegowina und an die UNO-Streitkräfte im ehemaligen Jugoslawien(UNPROFOR) über die „aktuelle Lage“ in Srebrenica wie folgt: „Das Drama von Srebrenica setzt sich fort. Neben dem Mangel an Strom, Wasser, Medikamenten und Lebensmitteln sowie den andauernden Aktivitäten von Heckenschützen steht Srebrenica seit gestern, als Schutzzone der UNO, unter Granatenbeschuß der Tschetniks. Am 5. Juni 93 von 21. 45 bis 22. 30 Uhr wurde das Dorf Pusmulici von der Tschetnikstellung Bukova Glava bombardiert, wobei drei Personen schwer und zwei Kinder im Alter bis 14 Jahre leicht verletzt wurden. Am 6. Juni 1993 um 8 Uhr wurde das Dorf Slatina im westlichen Teil der demilitarisierten Schutzzone von Srebrenica von der Tschetnikstellung Rogac unter Feuer genommen. Am 6. Juni 1993 wurde das Gebiet Bajamovici -das einige Bolometer von der Stadt Srebrenica entfernt ist -angegriffen. Zur Zeit sind die genauen Angaben über die Zahl der Toten und Verwundeten nicht bekannt. Dies weist darauf hin, daß die serbischen Verbände keine Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates respektieren. Wir fordern UNO-Sicherheitsrat und UNPROFOR auf, sofortige Maßnahmen zur Durchführung des Abkommens über die Demilitarisierung von Srebrenica zu ergreifen sowie zur Durchsetzung der Resolutionen 819 und 824 zum Schutz von 50000 Einwohnern von Srebrenica. Bosnische Militärs der Armee Bosniens und Herzegowinas haben in Srebrenica ihre Waffen und Ausrüstung dem UNPROFOR übergeben, deshalb fordern wir von UNPROFOR Schutzmaßnahmen. Ist die UNO nicht in der Lage, uns zu schützen, so soll sich die UNO öffentlich dazu bekennen und uns unsere Waffen zurückgeben. Denn wenn wir sterben müssen, dann nicht als Feiglinge.“
IV. Höhepunkte der Vertreibung von bosnischen Muslimen durch Kroaten
Die Bewegungen der kroatischen Militärs der HVO in Süd-Bosnien, zumal in den Kantonen, die der Vance-Owen-Plan den Kroaten zugeteilt hatte, gingen im März und April heftig weiter. Es kam zu schweren Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung im Raum Vitez, Zenica und in dem winzigen Dorf Ahnici, das damit einen traurigen „Weltruhm“ erreichte: 180 ermordete muslimische Bosnier zählte der Untersuchungsbericht der UNO-Menschenrechtskommission unter Leitung von Mazowiecki auf. Der Kommission wurde nach großen Schwierigkeiten der Zugang zu dem Ort des Geschehens erlaubt. Sie stellte zweifelsfrei fest: Kroatische Einheiten der HVO, die sich zum Teil die schwarzen Uniformen der Post-Ustascha Bewegung HOS angezogen hatten, waren brandschatzend und mordend durch dieses Dorf gezogen, das -wie der UN-Bericht festhält -keinerlei militärische oder strategische Bedeutung hatte.
Diese Maskerade der HVO-Kämpfer hat mit einer gerissenen Taktik des Führers der (bis Juni 1993 sogenannten) „Regierung“ von Herceg Bosna, Mate Boban, zu tun, der dieses Verbrechen seiner Konkurrenz -der faschistischen HOS -in die Schuhe schieben wollte. HOS heißt die militärische Formation der kroatischen Rechtspartei, die in Kroatien formal verboten ist, allerdings in Herceg Bosna noch überall auftaucht. Wie uns bei einem neuerlichen Besuch vor Ort am 13. Juni 1993 ein Führer der kroatischen Rechtspartei versicherte, hat die Partei überhaupt keinen wirklich formierten militärischen Zweig mehr, weil sie sich das finanziell etwa seit Februar 1993 gar nicht mehr leisten kann.
Noch vor dem Massaker in Ahnici fand auch die Enthauptung der HOS in Mostar statt, nachdem diese bei der Befreiung Mostars von den serbischen Tschetnik-Einheiten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Am 9. August 1992 ereignete sich ein schweres Attentat auf der Straße, die von Mostar im Neretva Tal hinaus auf die Berge nach Medugorie führt. Auf der Höhe von Krusevo, einem kleinen Ort, der durch die Kämpfe fast völlig zerstört worden war, ermordete eine Bande, die von Mate Boban und seiner Führung angeheuert worden war, aus dem Hinterhalt die gesamte Spitze der HOS von Mostar, darunter den entscheidenden Kopf dieser Bewegung, Blaz Kraljevic.
Am 13. Juni 1993 wurde in Krusevo in einer feierlichen Zeremonie und mit einer katholischen Messe ein großer Gedenkstein enthüllt, der die Namen der damals ermordeten HOS-Kämpfer angibt. Neben Blaz Kraljevic waren dies Mario Medic, Sahdo Delic, Vinke Primorac, Ivan Granic, Osman Maksic, Marko Stjepanovic, Gordon Culjak und Rasim Krasnici. Unter diesen neun ermordeten Kämpfern sind, wie man schon den Vornamen entnehmen kann, drei Muslime.
Ein allerletzter Versuch, die Situation in den drei Kantonen Mostar, Zenica und Travnik und die muslimisch-kroatische Waffenbrüderschaft zu retten, wurde am 18. Mai 1993 unternommen. In der katholischen Hochburg in Medugorie trafen sich die Chefs von Kroatien und von Bosnien-Herzegowina, Tudjman und Izetbegovic, die Unterführer der beiden, Sefer Halilovoc und Mate Boban, und die UN-und EG-Vermittler Owen und Stoltenberg, um die Machtpositionen in den drei Kantonen festzulegen. Im Lichte der Ereignisse nach dem 18. Mai 1993 darf man zu Recht sagen, daßdiese Konferenz -vielleicht mehr noch als die vorangegangenen -nur noch der Aufrechterhaltung des Scheins diente.
Die kroatische Politik war schon darauf ausgerichtet, den völkerrechtlichen Schein der Integrität von Bosnien-Herzegowina solange zu wahren, wie es opportun erschien, und diese Konferenz markierte den Wendepunkt. Die bosnische Seite wiederholte wieder einmal ihre politisch-adiministrative Unfähigkeit, etwas für das eigene Volk zu tun. Man einigte sich auf die balancierte Aufteilung der Spitzenpositionen in Mostar (erster Gouverneur -Kroate, Stellvertreter -Muslim), in Zenica und Travnik (dort sollte jeweils der Chef der Regierung ein bosnischer Muslim, der Stellvertreter ein Kroate sein). Doch hatte die bosnische Armee durch den Angriff auf Ahnici und Vitez mittlerweile erfahren, daß die Waffenbrüderschaft mit der kroatischen Armee endgültig zu Ende war. Schon vorher hatte der Führer der sogenannten Regierung von Herceg Bosna, Mate Boban, den Nachschub an Waffen über sein Land zu den Muslimen andauernd unterbunden.
Am 9. Mai 1993 kam es zu kriegerischen Handlungen zwischen den beiden Armeen in Mostar. Die Armee Bosnien-Herzegowinas versuchte den Ausbruch aus der Einkesselung und wollte Mostar einnehmen, danach bis nach Neum zum Meer vorstoßen, um für den eigenen Staat einen Zugang zu sichern. Dies gelang aber nicht mehr.
Seither befinden sich die etwa 25 000 muslimischen Bewohner der Stadt in einer Situation der Rechtlosigkeit, wie uns in einem persönlichen Zeugnis die Sekretärin der jetzt in Mostar verbotenen muslimisch-bosnischen Organisation „Roter Halbmond“ erzählte. Auf der Westseite, dem rechten Ufer der Neretva sollte die Stadt „muslimrein“ gemacht werden, weshalb die verbliebenen Bewohner aus ihren Häusern und Wohnungen entweder mit brachialer Gewalt oder mit sanfter Androhung von Terror herauskomplimentiert wurden. Einigen, so auch meiner Zeugin, gelang die Flucht nach Zagreb.
Bei einem Besuch in Mostar am 12. /13. Juni 1993 konnten der Journalist Peter Sartorius und der Autor dieses Beitrages sich einen Eindruck verschaffen, wie die Verfolgung und Unterdrückung der bosnischen Muslime die Menschen verunsichert hat. In der Wohnung eines bekannten Muslims erregte allein das unvorbereitete Klopfen an der Wohnungstür Zittern und unverhältnismäßige Furcht.
Das Mischehepaar Enver und Lilia war 18 Tage lang (nach dem 9. Mai 1993) auf dem Ostufer, dem Stadtteil, in dem wie in einem Getto die Muslime gesammelt wurden, deportiert und interniert gewesen. Dann erkannte man, daß alles ein Mißverständnis gewesen war -Enver war ja ein „guter“ Muslim-Bosnier, denn er war Mitglied der HVO-Gefängnisverwaltung gewesen -und er konnte mit seiner kroatischen Frau, die freiwillig mit ihm und den drei Kindern gegangen war, zurückkehren. Aber beide sträubten sich, wenn wir westlichen Beobachter Fragen stellten, die Enver und Lilia wohl tatsächlich besser nicht beantworten sollten.
Eine weitere von uns interviewte Musiimin, die mit ihren Kindern aus Gacko gekommen war, zeigte sich zunächst relativ gelassen, mußte aber dann auch ihre Angst eingestehen, wobei allein die Anwesenheit der kroatischen Dolmetscher diesen Effekt auslöste.
V. Muslime vertreiben Kroaten
Am 8. Juni 1993 wurde von der Armee Bosnien-Herzegowinas die Eroberung von Travnik gemeldet. Britische UNPROFOR-Soldaten waren Zeuge von Morden an Kroaten durch Bosnier. 170 Kroaten wurden in der Gegend von Guca-Gora malträtiert.
Daraufhin brachte man 3500 Kroaten vorsorglich aus Travnik und der Umgebung heraus, wobei es zum ersten Mal seit Kriegsbeginn in Bosnien zu einer humanitären Zusammenarbeit zwischen den kroatischen HVO-und den serbischen Kräften kam. Diese Flüchtlinge kamen zu Fuß in die Vlasic-Berge, wurden aber schon von Turbe ab zuerst in Bussen der Serben, dann des Internationalen Roten Kreuzes transportiert. Sie kamen über die serbische nord-bosnische Zone nach Zagreb, von dort aus ging es weiter nach Split und Metkovic. Über 1000 der Flüchtlinge wurden nach Caplijna transportiert, wogegen sie sich wehrten.
Die Menschenrechtssituation und ihre Erläuterung ist schwer belastet durch die Kriegspropaganda, die alle drei Seiten in diesem Krieg dann besonders lautstark betreiben, wenn sie sich selbst etwas haben zuschulden kommen lassen. Wir haben in Kroatien, Serbien und Bosnien jeweils interessierte Beobachter, die immer dazu neigen, die Verbrechen der anderen Seite möglichst zu multiplizieren, die der eigenen aber zu vertuschen.
Ein Versuch, die Wahrheit darzustellen, wurde jüngst noch in Sarajevo unternommen. Ebenso wie es beachtlich ist, daß dort immer noch die Tageszeitungen „Oslobodenie" (Freiheit) erscheinen kann, ist man auch erstaunt, ein „Bulletin“ der „State Commission for Gathering on War Crimesin The Republic of Bosnia Herzegowina“ erhalten zu können. Redaktioneller Leiter des Bulletins ist der bekannte und geachtete kroatisch-bosnische Politiker Stjepan Kluijc. Auch die Anwesenheit bosnischer Politiker in Sarajevo, die für humanitäre Fragen noch sensibel sind, ändert jedoch nichts daran, daß die Schutzinstrumente in Bosnien für Menschen in Schutzzonen anders als konventionell geschmiedet werden müssen. Es gibt nur Mord und Vergewaltigung, weil ein alter Rechtsgrundsatz hier in dieser Gegend nicht mehr gilt: Pacta sunt servanda.
VI. Die Mißhandlung von Frauen
Im vierten Bericht, den der besondere Menschenrechtsbeobachter der Vereinten Nationen, Tadeusz Mazowiecki, mit Datum vom 10. Februar 1993 erstellt hat, wird auch das zentrale Thema der mitteleuropäischen Diskussion behandelt -das der Massenvergewaltigung in Lagern oder Zwangs-Hotels in Bosnien und Herzegowina.
Berichte darüber schlugen in der Bundesrepublik Deutschland wie eine Bombe ein. Die fast schon hysterische, aufgeheizte Atmosphäre in der Bevölkerung fand Nahrung in der nunmehr (und bis zum Juni 1993 andauernden) manifesten Ohnmacht und Unfähigkeit der Politik, irgendeine der Menschenrechtsverletzungen in Ex-Jugoslawien beenden zu können.
Auch der UN-Menschenrechtsbeobacher Tadeusz Mazowiecki machte sein Versprechen nicht wahr, erst dann wieder zu einer neuen Mission aufzubrechen, wenn sich etwas an der Situation der Menschen verbessert, sie ihre Würde und ihre Rechte wiedererlangt hätten. Die in Mitteleuropa allgemein empfundene Ohnmacht, diesen Menschen -die da allabendlich weinend, abgerissen, frierend, oft blutend auf dem Fernsehschirm auftauchten -nicht wirklich, sondern allenfalls in Einzelfällen und symbolisch helfen zu können, fand ihren schlimmstmöglichen Ausdruck in der Kampagne für die Frauen.
Am 9. November 1992 berichtete das Zweite Deutsche Fernsehen über diese Greueltaten. Sibylle Bassler hatte behutsam und sensibel in verschiedenen Flüchtlingslagern wie Rjeznik in Zagreb gedreht, aber auch in einigen wenigen Kliniken, zumal in Geburtskliniken. Sie stellte etwas dar, was über die Erinnerungsfähigkeit im Europa des Jahres 1993 fast hinausging. Es hatte Vergewaltigungen im Bosnien-Krieg gegeben, wie sie zuletzt in diesem Ausmaß von deutschen Frauen während der Endphase des Zweiten Weltkrieges und des Vorrückens der sowjetischen Armee in Ost-und Westpreußen und an der Kuhrischen Nehrung sowie in Danzig/Pommem/Pommerellen erlitten wurden.
Ob diese Vergewaltigungen immer wirklich „systematisch“ erfolgten, ob sie immer mit dem höchsten Ausdruck der Verrohung und der diabolischen Durchtriebenheit geschahen, nämlich um „Tschetnik-“ bzw. Muslim-Babys zu zeugen, das konnte man damals, das kann man auch bis heute nur bedingt ausmachen.
Die Diskussion und Information über dieses sensible Thema war (und ist) bis heute extrem belastet, weil die auf Sensation ausgerichteten Massenmedien, zumal Fernsehen und Illustrierte, keine Mühe (aber auch keine Ungenauigkeit) scheuten, um das Ausmaß der Vergewaltigung, des Leidens und des abgrundtiefen Elends eben entsetzlich zu verschärfen und zu übertreiben.
Ich erinnere mich, daß es den ersten und bis Weihnachen 1992 einzigen Fall eines ausgesetzten Vergewaltigungsbabys in der Heilig-Geist-Geburtsklinik des bosnischen Arztes Professor Aden Kurjak in Zagreb gegeben hat. Daraus wurde in den Medien eine kleine Armee von Tschetnik-Babys, die in tausenden, wenn nicht zehntausenden von adoptionsbereiten europäischen Eltern die Erwartung keimen ließ, sie könnten auch unabhängig von ihren Bemühungen in Brasilien oder Sri Lanka ein solches Adoptionskind aus dem eigenen Kulturkreis und auch noch ganz billig bekommen.
Ich sah in Zenica (Bosnien) einen Film des Italienischen Fernsehens, der die Geburtsklinik in Zenica, einer mehrheitlich bosnisch-muslimischen Stadt, zeigte. Die Kamera fuhr durch Säle in immer neuen eiligen Fahrten und erweckte beim Publikum den Eindruck, als gäbe es in dieser Klinik geradezu hunderte von alleingelassenen Babys. In Wirklichkeit, erfuhr ich vor Ort, hatte es insgesamt fünf solcher Geburten gegeben. Deshalb war es so wichtig, daß sich Mazowiecki des Themas annahm. Er beauftragte einige Mediziner, die vom 12. bis 23. Januar 1993 die Gebiete des früheren Jugoslawien besuchten. Das Fazit der Experten ist niederschmetternd: „Vergewaltigung von Frauen in Jugoslawien, zumal von minderjährigen Mädchen, ist in einem großen Ausmaß vorgekommen“. Der Bericht gewinnt an Glaubwürdigkeit und Tiefe dadurch, daß er keine Zahlen nennt. Es waren phantastische Zahlenspiele und Hochrechnungen im Schwange, zumal von Frauengruppen aus Bosnien und aus Kroatien, die beim Frauenkongreß in Zagreb Anfang Februar 1993 auch von über 3000 Hochschwangeren in den Bergen um Sarajevo erzählt hatten, was dann sofort gleichgesetzt wurdemit der Anzahl der Vergewaltigungen und so Eingang in die Weltpresse fand. „Während das Team Opfer von Vergewaltigung unter allen ethnischen Gruppen fand, wurde zugleich dokumentiert, daß die Mehrheit der Opfer, die das Team sehen konnte, von den serbischen Milizen oder Truppen gegen die muslimisch-bosnischen Frauen von Bosnien verursacht wurde. Dem Team wurde nicht bekannt, ob es wirkliche Versuche von Seiten der politischen oder militärischen Führer gegeben hat, diese Vergewaltigungen zu stoppen. Es gibt (leider) die klare Evidenz, daß sich kroatische, muslimische und serbische Frauen in bestimmten längeren Zeiträumen in gefängnisähnlichen Situationen befanden und dabei andauernd und wiederholt mißbraucht wurden.“ Aus der Untersuchung der Medizin-Expertinnen geht hervor, daß Vergewaltigung in Bosnien-Herzegowina auch als Instrument der „ethnischen Säuberung“ gebraucht wurde.
Der vierte Mazowiecki-Bericht hält zudem noch zweierlei fest: 1. Es sei wichtig, den Opfern der Vergewaltigung medizinische Hilfe zu gewähren. Allerdings betonten die Expertinnen zugleich: „Medizinische Hilfe aufzubauen, die exklusiv den Opfern der Vergewaltigung gewidmet wird, trägt nur zur weiteren Stigmatisierung bei. Deshalb sollte es medizinische Hilfen geben für alle Frauen und Kinder, die vom Krieg traumatisiert worden sind.“ 2. Es wird betont, daß in Artikel 27, 2 der Vierten Genfer Konvention die Vergewaltigung von Frauen (bzw. von Menschen allgemein) in klarer juristischer und verbindlicher Form geächtet ist: „Frauen müssen in besonderer Weise gegen jeden Angriff auf ihre Ehre geschützt werden, im besonderen gegenüber Vergewaltigung, erzwungene Prostituierung, überhaupt gegen jeden schamlosen Angriff.“
Die Expertinnen konstatieren daher für Bosnien-Herzegowina einen schweren Bruch der Genfer Konvention, der einem Kriegsverbrechen gleichkommt.
VII. Die zweite Vertreibung der schon Vertriebenen
Nach dem Wechsel der Allianzen in dem bosnischen Krieg -nachdem sich die serbische und die kroatische Seite auf höchster und wahrscheinlich auch auf operationaler Ebene im Feld über die Aufteilung von Bosnien-Herzegowina geeinigt hatten und die Muslime wiederum die einzigen und eindeutigen Objekte dieser „Friedensregelung“ waren -wurde die Menschenrechtssituation für die Flüchtlinge und Vertriebenen aus diesem Krieg besonders prekär. Das galt insbesondere für die Lage der muslimisch-bosnischen Flüchtlinge, die in Kroatien oder in dem kroatisch beherrschten Süd-Bosnien gelandet waren.
Der Paradigmenwechsel in der politischen Diskussion und der militärischen Topographie war beachtlich, für die Lage der Menschen aber bedenklich. Es begann die „zweite Vertreibung“ der bosnischen Flüchtlinge, soweit sie Muslims waren. Im unentschuldbaren Gegenschlag wurden dann die Kroaten aus den Gebieten um Vitez, Travnik, Prozor und Konic vertrieben. Beides war gleichermaßen schändlich, unterschritt auf bedenkliche Art und Weise die internationalen Standards, die in den letzten Jahrzehnten in den Menschenrechtsdokumenten und der Helskinki-Erklärung gesetzt worden waren.
Das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee hat den ersten Fall einer solchen Vertreibung von bosnisch-muslimischen Flüchtlingen aus dem Flüchtlingslager Promajna südlich von Split gemeldet. In einer Erklärung dieses Hilfswerks vom 21. Juni 1993 heißt es: „Von ca. 550 Flüchtlingen muslimischer Herkunft, die ihr bisheriges Lager in Promajna, südlich Split letzte Woche räumen sollten, sind inzwischen 550 nach Peshawar in Nord-pakistan geflogen worden.“ Das Hilfskomitee nimmt an, daß insgesamt 10000 Flüchtlinge in den Flüchtlingsunterkünften in Kroatien von dieser Räumungsaufforderung betroffen sind. Es handelt sich um Hotels und Ferieneinrichtungen, die als serbisches Eigentum vom kroatischen Staat beschlagnahmt wurden und nun verkauft werden sollen. Nach Mitteilung der Botschaft Bosniens in Zagreb hatte sich Pakistan zur Aufnahme von 7 000 Flüchtlingen bereit erklärt. Da derzeit offenbar kein westeuropäisches Land eine größere Anzahl Flüchtlinge aufnehmen will, die Flüchtlinge sich in Kroatien auch nicht mehr sicher fühlen, rät die bosnische Botschaft in Zagreb zur Ausreise nach Pakistan.
Das Mennonitische Friedenskomitee stellt in seiner Erklärung vom 21. Juni 1993 noch einmal fest: „Formal handelt es sich nicht um eine Ausweisung. Von Seiten der kroatischen Behörden werden der Form nach die Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten. Allerdings sehen sich die Flüchtlinge unter einem starken Druck: durch die kurze Frist der Entscheidung; durch die Unmöglichkeit, mit Familienangehörigen Kontakt aufzunehmen. Die Männer sindmeist in Bosnien; durch die emotionale Zerrissenheit, die die Alternative, Gasinci bei Osijek (nahe der serbisch besetzten Gebiete), bei ihnen auslöst; durch das Gefühl, ein zweites Mal vertrieben zu werden; durch die Tatsache, daß ihnen nach Pakistan keine individuellen Pässe, sondern ein Gruppenpaß ausgestellt wird; durch das Zurücklassen der bescheidenen Habe, die sie in den Monaten ihrer Zuflucht sammeln konnten.“
In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1993 gingen zur Abschreckung der ungeliebten Flüchtlinge aus dem Norden Bosniens und der Ost-Herzegowina in der Stadt Caplijna (in der es im letzten Weltkrieg von kroatischer Seite zu schweren Ausschreitungen gegen Juden und Kroaten gekommen ist) zeitgleich acht Bomben hoch, die sehr professionell mit Zeitzünder vor genau acht Gebäuden von muslimischen Bewohnern der Stadt gelegt worden waren. Diese Bombenattentate sind für die Bewohner der zwei Flüchtlingsdörfer in Caplijna eine klare Drohung gewesen, die Aufforderung, den Raum des kroatisch beherrschten Caplijna und der kroatischen Herzegowina zu verlassen. Schon zuvor war vor Wochen in einem Lager eine Auto-bombe explodiert.
VIII. Ausblick
Das Tempo der realen Veränderungen und der Menschenrechtskatastrophen ist schlimmer als selbst in den schlimmsten Befürchtungen angenommen. Die 190 muslimischen Bosnienflüchtlinge leben längst in Nordrhein-Westfalen. Sie mußten unter ständiger Lebensbedrohung nicht nur nach Kroatien (was die deutsche Bundesregierung erreichen wollte), sondern direkt nach Deutschland evakuiert werden, da auch in Kroatien die Lage der bosnisch-muslimischen Flüchtlinge von Tag zu Tag schlechter und bedrückender wurde.
In der Herzegowina und in Zentralbosnien findet die zweite und die dritte ethnische Säuberung statt. • Als die Kämpfe in Mostar am 9. Mai 1993 zwischen den einstmals Verbündeten, HVO-Armee und Bosnischer Armee, ausbrachen, begann von kroatischer Seite eine Malträtierung und Drangsalierung der bosnischen Muslime in der ganzen West-Herzegowina. Dies führte bis Ende August dazu, daß kaum noch Muslime in diesen Gebieten leben, es sei denn in Lagern wie Dretelj, Gabela und dem Flughafen in der Nähe von Mostar.
Als die über 14 Monate verbündeten Muslime der bosnischen Armee erfuhren, daß die Kroaten unter der Führung von Mate Boban an einem Zusammenleben mit ihnen gar nicht interessiert sind, begannen sie ihrerseits in Zentralbosnien mit ethnischer Vertreibung, die ähnlich grausam und daher zu verurteilen ist wie die der Kroaten. Erich Rathfelder, einer der wenigen journalistischen Augenzeugen der Massaker und der Vertreibung in Zentralbosnien, schreibt: „Der Krieg in Zentralbosnien ist trotz aller Verhandlungen in Genf in den letzten Wochen noch grausamer geworden. Nicht nur die muslimisch-bosnische Bevölkerung leidet, die Region ist seit Ende April von der Außenwelt abgeschnitten und deshalb selbst ein einziger großer Kessel. Somit ist auch die kroatische Zivilbevölkerung bedroht. In den verschiedenen kroatischen Enklaven sind um die 180000 Kroaten eingeschlossen, deren Überlebensbedingungen denen der Muslime in Mostar ähneln. Im zentralbosnischen Zepce sind 35 000 Kroaten eingeschlossen, die ihrerseits wiederum zusammen mit den serbisch-bosnischen Streitkräften einen Ring um einige zehntausend Muslime errichtet haben.“
So wie sich die HVO-Armee, unterstützt von regulären kroatischen Truppen, in furchtbarer Weise an den einfachen Gesetzen der Menschlichkeit versündigt (um die Menschenrechte erst gar nicht zu bemühen), so ähnlich versteht es die berüchtigte 7. Brigade des „Muslimischen Verteidigungsrates“
(MOS), die Kroaten -also Zivilbevölkerung -in einer Weise zu terrorisieren, daß diese nie wieder mit den Muslimen Zusammenleben werden (können).
Man muß am Ende einer solch erschütternden Bilanz in Abwehr eines jeden Pharisäismus bekennen:
Die größte Schuld an dieser Entwicklung trägt die Europäische Gemeinschaft. Von Beginn der Katastrophe an hat die europäische Politik jede Beherztheit, die Völker und Menschen des Raumes ernst zu nehmen, die Menschenrechte für alle durchzusetzen, vermissen lassen. Sie hat dann nach einem Jahr dem serbischen Kriegsherrn und Vertreiber Radovan Karadzic (im Hintergrund der Belgrader Milosevic) alle Eroberungen und Vertreibungen legitimiert. Daraufhin haben Kroaten und Muslime ebenfalls nach diesem einzigen Erfolgs-gesetz begonnen, aus ihren Kantonen die jeweilige Minderheit zu vertreiben. Die Folgen dieser gebilligten Enthemmung werden für unsere Welt und die kommenden Generationen fürchterlich werden.
Rupert Neudeck, geb. 1939; seit 1977 Redakteur beim Deutschlandfunk; 1979 zusammen mit Heinrich Böll Gründung des Deutschen Komitees Ein Schiff für Vietnam, das sich später in Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e. V. umbenannte. Veröffentlichungen u. a.: Politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus, Bonn 1974; Radikale Humanität. Notärzte für die Dritte Welt, Reinbek 1986; Verjagt und vernichtet. Kurden kämpfen um ihr Leben. Reinbek 1992; Asyl -Warum das Boot nicht voll ist, Düsseldorf 1993.
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