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Ursachen des Krieges in Ex-Jugoslawien | APuZ 37/1993 | bpb.de

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APuZ 37/1993 Ursachen des Krieges in Ex-Jugoslawien Jugoslawienpolitik am Wendepunkt Makedonien -der jüngste Staat auf der europäischen Landkarte Menschenrechtstragödien in Bosnien-Herzegowina

Ursachen des Krieges in Ex-Jugoslawien

Wolf Oschlies

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der in Ex-Jugoslawien seit über drei Jahren herrschende Krieg hat eine relativ lange Vorgeschichte -die jedoch in hartem Kontrast zu der längeren Geschichte des „Jugoslavismus" steht: Als „Jugoslavismus" wurde das bei Südslaven, speziell bei Serben und Kroaten, seit Jahrhunderten getragene Gefühl einer ethnischen Einheit bezeichnet, die sich in der identischen serbokroatischen Sprache auch artikulieren ließ und die zu einem Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat drängte. Als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ entstand dieser ersehnte Staat 1918. Von Anfang an aber war er durch die Gegensätze zwischen „Unitaristen“ (Serben) und „Autonomisten“ (Kroaten) belastet, die mit jedem Jahr eskalierten. Mit Titos „Partisanen-Jugoslawentum“ kam das weitere Jugoslawien, das eine historische Aufarbeitung der unvorstellbaren Vergangenheit weder durchführen konnte noch wollte. Ideologischer Selbstbetrug, daß die Gewährung „nationalstaatlicher“ Einheiten in der jugoslawischen Föderation auf mittlere Sicht ein trans-nationales Zusammengehen ermöglichen würde, ließ die antagonistischen Nationalismen gefährlich weiterwachsen. Bereits Mitte der achtziger Jahre formierten sich in Slowenien, Kroatien und Serbien jene Kräfte, die Anfang der neunziger Jahre den (kriegerischen) Zerfall Jugoslawiens exekutierten.

I. Vorbemerkung

„Bratstvo -Jedinstvo“ (Brüderlichkeit -Eintracht) sollte die ethnisch-politische Integrationsformel des multiethnischen Jugoslawiens der Tito-Zeit sein. Das Begriffspaar besaß eine bestimmte Faszination, wie noch heute an ungezählten Faktoren (Mischehen, Bevölkerungsmischungen durch Binnenmigration, Hochschuldiplome u. a.) auszumachen ist. Im Grunde aber blieb „Bratstvo -Jedinstvo“ eine oberflächliche Formel -passend zu Feiern jugoslawischer Basketball-Siege, ungeeignet zur kollektiven Überwindung ethnoregionaler Mythen, Vorurteile, Selbstüberschätzungen, Feindbilder und verdeckter Zwiste.

Wie immer in Jugoslawien wurde auch diese Losung in unendlich vielen Witzen ironisiert, die meist auf die Pointe „Bratstvo -Ubijstvo“ (Brüderlichkeit -Mord) hinausliefen. Aber keiner der Spötter hätte sich wohl je träumen lassen, daß dieses zweite Begriffspaar eine exakte Beschreibung „jugoslawischer“ Entwicklungen mit Beginn der neunziger Jahre darstellen würde (deren Exaktheit einstweilen noch zunimmt). Es herrscht Krieg in jenem Land, das in der Zeit der politischen Spaltung Europas als Dialogbrücke zwischen den Kontrahenten unschätzbare Dienste leistete.

Bei näherer Betrachtung der Ereignisse erweist sich der Begriff „Krieg“ als zu schwach und zu unklar, um eine Vorstellung von der „jugoslawischen“ Realität zu vermitteln. Man sollte von „Kriegen im Krieg“ sprechen und dabei die regionale, zeitliche, qualitative, taktische, strategische, propagandistische Variabilität dieser kriegerischen Atavismen, ihre konkreten Folgen für die Wirtschaft der betroffenen Regionen und das Leben der Menschen, ihre potentiellen Erweiterungen für noch unbetroffene Landstriche in und außerhalb Ex-Jugoslawiens im Auge behalten.

Dieser „Krieg“ begann Mitte 1991 in und um Slowenien, griff von dort nach Kroatien über, tobt derzeit in Bosnien-Hercegovina (mit fallweiser Rückkehr nach Kroatien), kann sich morgen auf das Kosovo, den Sandshak, Makedonien und von dort auf den ganzen südlichen Balkan ausdehnen; gleichzeitig sind die Kampfhandlungen regional so begrenzt, daß bisher kein Nachbarstaat in seinen Sicherheitsbelangen tangiert wurde und deshalb die vielfach geforderte „Intervention“ nie zustande kam. Dieser „Krieg“ ist moralisch nicht zu rechtfertigen, politisch nicht zu steuern, militärisch nicht zu gewinnen; es gibt keine Unschuldigen, nur politische und militärische Desperados, die ihn in wechselnden Koalitionen und Gegnerschaften unbegrenzt weiterführen -ungerührt um die internationale öffentliche Meinung, die eigenen Völker im begleitenden „Medienkrieg“ indoktrinierend und manipulierend.

Das ist der heutige Stand. Wie konnte es geschehen, daß der „Jugoslavismus" -das vom Gros der Südslaven über Jahrhunderte hinweg bewahrte Bewußtsein ethnisch-sprachlicher Einheit, das sich in dem Wunsch nach einem gemeinsamen Staat verdichtete -zu einem Schreckgespenst pervertieren konnte, so daß beispielsweise „Rußland die jugoslawischen Ereignisse wie einen Spiegel betrachtet, in dem es sein eigenes Schicksal sieht“

II. Vom Ende des „Jugoslavismus“

Seriöse Protokolle psychosozialer Realitäten oder doch zumindest glaubhafte „Befindlichkeits“ -Messungen sind die in Serbien und Kroatien so beliebten Meinungsumfragen, die über das bilaterale Verhältnis der beiden Länder mehr als andere Quellen aussagen. Zur derzeitigen Stimmung in Kroatien publizierte am 26. Februar 1993 der Globus, ein maßvoll regimekritisches Wochenblatt aus Zagreb, die Resultate zweier Umfragen, die als repräsentativ für „die Kroaten“ ausgegeben wurden, obwohl das Blatt keine Angaben zu Größe und Zusammensetzung des Samples machte. Es ging um die „politischen Phobien“, die u. a. in folgender Frage (und den entsprechenden Antworten) erfaßt wurden: „Wer ist heute für die Kroaten die größte Bedrohung und Quelle von Furcht?“ Die Antworten in Prozentzahlen ergaben: Serben aus der Krajina 34, 0; Serben aus Serbien 18, 7; serbische Armee 14, 7; UN-Profor-Truppen 6, 6; Muslime 5, 7; Albaner 1, 4; Italienier 0, 7; niemand 10, 6.Mitte April 1993 veröffentlichte die Belgrader Tageszeitung Borba (Kampf) in mehreren Teilen die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage, bei der die totale, teilweise oder fehlende Zustimmung zu bestimmten Behauptungen erkundet wurde, darunter die folgenden: „Gegen Serbien besteht eine große und gut organisierte internationale Verschwörung, an der viele Länder beteiligt sind“; volle Zustimmung gaben 55, Prozent, teilweise Zustimmungen 23, 7 Prozent der Befragten. Eine weitere Behauptung lautete: „Unabhängig davon, wer in Serbien an der Macht ist, ist dieses von Feinden umgeben, die seinen Bestand bedrohen und es vernichten wollen“; diese Aussage bestätigten 47, 5 bzw. 26, 2 Prozent. Einer dritten Behauptung: „Es gibt Nationen, die uns so hassen und uns soviel Leid zugefügt haben, daß wir früher oder später gegen sie Krieg führen und mit ihnen endgültig abrechnen müssen“, stimmten 25, 5 bzw. 30, 3 Prozent der Befragten zu.

Auch wenn in der serbischen Umfrage von „Kroaten“ nicht explizit die Rede war, kann man beide Enqueten doch als Beleg dafür nehmen, wie tief heutzutage Serben und Kroaten entzweit sind. Ihre ethnisch-kulturelle Identität war hingegen vor knapp zweihundert Jahren und bis in dieses Jahrhundert so selbstverständlich, daß selbst ausländische Beobachter sie nicht in Frage stellten. 1829 erschien Leopold von Rankes einzigartiges Buch „Die serbische Revolution“, in welchem sich der Autor einleitend detailliert über Serben, Kroaten und andere äußerte, um dann fortzufahren: „Alle diese... machen ein einziges Volk aus, von der nämlichen Sprache, Sitte, Sinnesweise, obwohl durch Religion und Staat so mannigfaltig getrennt.“ 2

Rankes wichtigster Informant war „der getreue Sammler serbischer Lieder, Wuk Stephanowitsch Karadschitsch“. Wuk Karadzic (1787-1864) -der Schüler Herders, Freund Goethes und Briefpartner der Gebrüder Grimm -hat mit seiner Hinwendung zur Volkspoesie nicht nur die serbische Sprache reformiert, sondern zugleich die moderne serbo-kroatische Sprache geschaffen, die Serben und Kroaten am 16. März 1859 im „Wiener Schriftsprachenvertrag“ als das gemeinsame Medium annahmen. „Wir sehen ein, daß ein Volk auch eine Literatur haben muß“, hieß es gleich zu Beginn dieses Vertrags, von dem an Kroaten und Serben sich in späteren Erklärungen mitunter als „ein doppelnamiges Volk“ bezeichneten.

Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit des „Jugoslavismus", jener seit Jahrhunderten von den Südslaven, vor allem von Serben und Kroaten verfochtenen Idee, daß sie ein Volk seien und einen gemeinsamen Staat anstrebten. Eine Personifizierung dieser Idee war der (deutschstämmige) kroatische Bischof Josip Juraj Strosmajer (1815-1905), der bereits 1866 eine Jugoslawische Akademie der Wissenschaften und Künste gründete. Kroate war indessen auch Ante Starcevic (1823-1896), ein Nationalist, für den es in der Balkan-Geschichte „keine Spur eines serbischen Volkstums, keine serbische Literatur und keine serbische nationale Geschichte“ gegeben hatte. 1878 gründete Starcevic die Kroatische Rechtspartei, auf die nach dem Ersten Weltkrieg die nationalistischen Ustaschi (Aufständische) folgten.

Am Ende des Ersten Weltkrieges schien der „Jugoslavismus" seinen Höhepunkt zu erleben. Der deutsche SPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Wendel (1884-1936), der beste Balkan-kenner, den die Deutschen je hatten, begrüßte die „jugoslawische“ Staatsgründung von 1918, „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, aus vollem Herzen. Sie sei „nach dem Muster der deutschen Einigung“ erfolgt, was bei der ethnischen Identität der Staatsbürger ganz natürlich sei, denn wenn die Südslaven „nicht ein Volk sind, dann sind die Deutschen auch keines“. Dem stimmte auch das Gros der Kroaten zu, die im Laufe des Kriegs immer bessere „Jugoslawen“ geworden waren, da die Alternative zur Staatsgründung nur heißen konnte, gemeinsam mit Österreich und Ungarn von den Siegermächten als Kriegsverlierer behandelt zu werden.

Der am 1. Dezember 1918 entstandene gemeinsame Staat konnte nicht ideal sein, weil er von Anfang an von Dissonanzen zwischen den Unitaristen (d. h.den Serben, die für die neue Monarchie ihr souveränes Königreich aufgegeben hatten und daraus einen Führungsanspruch ableiteten) und Autonomisten (d. h.den Kroaten, die die von Habsburg früher verweigerte Autonomie nunmehr mit wachsendem Nachdruck von Belgrad forderten) belastet war. In Kroatien bildete sich ein militanter Nationalismus heraus, zentriert vor allem um den Zagreber Advokaten Ante Pavelic (1889-1959) und seine 1929 gegründete Geheimbewegung Ustasehr, beide fanden Kontakt zu ähnlichen Organisationen wie der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), wurden aber auch von den jugoslawischen Kommunisten unterstützt. Wie der Belgrader Oppositionelle Ljubomir Tadic 1992 dokumentierte, haben Stalin und die KOMINTERN bereits 1924 ihre jugoslawischen Parteigänger aufgefordert, für die Loslösung Kroatiens von Jugoslawien einzutreten 3. Diese Forderung sollte mit einer Propagandaaktion gegen „großserbischen Hegemonismus“ und „serbische Okkupation“ verstärkt werden, mit „Argumenten“ also, wie sie in den letzten Jahren wieder aus Zagreb zu hören waren.

Die nach der Staatsgründung aufgetretenen Konflikte eskalierten so rasch, daß König Alexander 1929 eine „Königsdiktatur“ ausrief, den Staats-namen in „Jugoslawien“ änderte und die administrative Gliederung des Landes neu strukturierte, d. h. an die Stelle der traditionellen Länder neue und kleinere Banovinas (königliche Provinzen) setzte. Die Radikalen gingen in den Untergrund, und im Oktober 1934 verübten Ustaschi und IMRO in Marseille gemeinsam ein Attentat, dem der Köng und der französische Außenminister Louis Barthou zum Opfer fielen. „Cuvajte Jugoslaviju“ (bewahrt Jugoslawien) sollen die letzten Worte des sterbenden Monarchen gewesen sein.

Jugoslawien wurde nicht erhalten. 1939 entstand als Staat im Staate die Banovina Kroatien, die Kroatien, Dalmatien, den größten Teil Bosniens und Teile Syrmiens umfaßte: Es handelte sich um ein Vorspiel zu dem Unabhängigen Staat Kroatien (NDH), den der „poglavnik“ (Führer) Ante Pavelic mit Hitlers Hilfe schuf (nachdem dieser im Frühjahr 1941 Jugoslawien endgültig zerschlagen hatte). Der NDH nannte sich zwar „kroatisch“, war tatsächlich aber eine Art Manövergelände der Ustaschi, über deren Ansehen und Methoden am 1. September 1941 die Londoner Times schrieb: „Most hated, especially by the Serbs, are the Croat refugees and renegades, the Ustashi, most of whom came in with the invaders and were given the govemance of the enlarged Croatia... The numerical weakness of the Ustashi makes them the readier to hang, shoot, and banish their opponents, pro-Serb Croats and Serbs, whether Roman or Orthodox by religion, for they feel that even with German backing they can only survive by terrorizing their critics or opponents.“ 4

III. Stärken und Schwächen des „Partisanen-Jugoslawentums"

1991 hatte der. Verfasser dieses Beitrags in Berlin Gelegenheit, mit David Anderson und Horst Grabert, zu Titos Lebzeiten Botschafter der USA bzw.der Bundesrepublik Deutschland in Jugoslawien, über Tito zu diskutieren. Ich fragte die beiden Diplomaten, ob ihnen einige unbestreitbare Verdienste Titos (der mittlerweile in Zagreb und Belgrad nur noch sehr verächtlich erwähnt wurde) einfielen. Die Diskussion ergab folgendes: 1. Tito hat Jugoslawien befähigt, sich aus eigener Kraft zu befreien. 2. Er hat Jugoslawien davor bewahrt, in der Reihe von Stalins Satelliten Tritt zu fassen. Er hat das früher unbedeutende Jugoslawien zu einer weltweit geschätzten Brücke zwischen Ost und West gemacht. Er hat den von der Geschichte benachteiligten slavischen Kulturnationen wie den Makedonen die erste Chance zur national-kulturellen Emanzipation gegeben.

Titos anfänglicher Verbündeter und späterer Erzfeind im Partisanenkampf war der serbische Oberst Draza Mihajlovic (1893-1946). Beide unterschieden sich am augenfälligsten durch ihre taktischen Konzepte: Wo Mihajlovic aus Angst um die „Substanz des serbischen Volks“ vorsichtig zu Werke ging und Racheaktionen der Deutschen möglichst vermied, provozierte Tito diese geradezu. Wenn die deutschen Soldaten der SS-Division „Prinz Eugen“ und anderer Einheiten jugoslawische Geiseln erschossen und Häuser niederbrannten, brachte das zwar Verluste, sorgte aber für vermehrten Zulauf zu Titos Partisanen und erzeugte in ihren Reihen ein neues „Partisanen-Jugoslawentum“, das ihnen letztlich zum Sieg verhalf.

Einige Kommentatoren haben den gegenwärtigen Krieg in Ex-Jugoslawien als Wiederaufnahme früherer Konflikte aus dem Zweiten Weltkrieg interpretiert und dabei beklagt, daß es zu Titos Zeiten keine „Aufarbeitung der jüngsten Geschichte“ und kein großes Gericht über Schuldige gegeben habe. Es ist richtig, daß man nach dem Krieg sehr rasch zur Tagesordnung übergegangen war. Was hätte man auch anders tun können? Das „Partisanen-Jugoslawentum“ war die ideelle Basis von Titos Nachkriegs-Jugoslawien und konnte nicht durch nachträgliche Ermittlungen und Strafverfahren in Frage gestellt werden (zumal der bald ausbre chende Konflikt mit Stalin eine besondere „jugoslawische“ Solidarität erforderte). Zudem wurde Tito auch vom Westen alleingelassen, da nicht einmal die größten Kriegsverbrecher ausgeliefert wurden: 1828 entsprechende Anträge hatte Jugoslawien u. a. an amerikanische und englische Behörden gestellt -nur 208 wurden positiv beschieden. Ehemalige Kriegsverbrecher kehren heute, soweit noch am Leben, in das Kroatien des ehemaligen Tito-Generals Franjo Tudjman zurück: Im Sabor, dem kroatischen Parlament, nahm Pavelics Tochter Ovationen entgegen -im kroatischen Jugendfemsehen durfte Pavelics einstiger Pressechef Daniel Crljen kürzlich Elogen auf die Ustaschi verbreiten. Nach dem „kroatischen Himmler“ Mile Budak (der 1942 die Weisung ausgab, „ein Drittel Serben töten, ein zweites Drittel vertreiben und das dritte durch die katholische Taufe zu Kroaten machen“) werden inzwischen kroatische Schulen, Straßen und Plätze benannt.

Der kroatische Soziologe Predag Matvejevic hat 1984 in seinem Bestseller „Jugoslavenstvo danas“ (Jugoslawentum heute) Titos Politik analysiert: Titos föderatives Jugoslawien gab den einzelnen Nationen alles, was deren Idealen aus dem 19. Jahrhundert entsprach -nationaler „Staat“, nationale Kirche, nationale Kultur; es gab diese Dinge in der stillen Hoffnung, daß die Nationen dieser nationalen Kompetenzen bald überdrüssig sein und freiwillig ins transnationale „Jugoslawentum“ drängen würden. Für alle Fälle stünde ja noch die Partei des „Bundes der Kommunisten Jugoslawiens“ bereit, deren zentrale Kompetenz und „führende Rolle“ etwaige nationalistische Alleingänge rechtzeitig zurück ins Glied gezwängt hätte. Allerdings war gerade die Hoffnung auf die balancierende Macht der Partei trügerisch, denn „wir kennen doch alle jenen Teufelskreis, in dem Anschuldigungen gegen den Unitarismus als Tarnung für den Nationalismus und Angriffe auf den Nationalismus als Alibi für den Unitarismus dienen“

Jugoslawiens ideologisch-politisches Ziel war die „De-Etatisierung“ der Gesellschaft -seine politische Praxis war jedoch so, daß die De-Etatisierung schleichend nur die föderative Spitze erfaßte, auf der Ebene der (Teil) -Republiken aber zu einer Verstärkung der Etatisierung samt einer Forcierung der Nationalismen führte. Mit diesem Problem hat sich jahrzehntelang der Kroate Stipe Suvar befaßt -ein schlechter Bildungsminister seiner Republik, aber ein ausgezeichneter jugoslawischer Soziologe -und seine Forschungsergebnisse 1986 in dem Buch „Svi nasi nacionalizmi" (Alle unsere Nationalismen) zusammengefaßt. Das Buch enthält Suvars Arbeiten seit 1970, und es vermittelt heute Erstaunen darüber, wie früh alle Niedergänge Jugoslawiens in Art, Ausmaß und Terminologie absehbar waren.

Was waren die gemeinsamen Nenner dieser jugoslawischen Nationalismen? Sie sind (so Suvar) ein Mittel zur Manipulation der Menschen, interpretieren die Probleme der Gegenwart aus einer selektiven Sicht der Vergangenheit, nähren das Gefühl einer kollektiven Bedrohtheit der eigenen Nation, perpetuieren sich vor allem dank des Behauptungswillens und der Selbstrekrutierung „nationaler“ Bürokraten und Technokraten. Das Endresultat hat Suvar 1972 drastisch so beschrieben: „Eine der typischen Reaktionen des kroatischen Nationalismus ist, die größere Kultur der kroatischen Nation gegenüber anderen zu beweisen -was eine Lüge, ein Stereotyp, ein Mythos ist.

Gleichfalls muß der serbische Nationalismus seit jeher Serben als heldisches, tapferes, unbeugsames Volk herausstreichen. Den kroatischen Nationalisten dient also die Kultur, den serbischen das Waffengeklirr als Kompensation. Die Kroaten verlangen seit 1971 einen separaten Nationalstaat, denn mit dessen Stärke können wir Kroaten uns dagegen schützen, daß uns die Serben infiltrieren, verschlingen, assimilieren, die Sprache wegnehmen usw. Der serbische Nationalismus will ein Groß-Serbien, das Makedonien, Montenegro, Bosnien-Hercegovina einschließt. Worauf der kroatische Nationalismus mit Thesen antwortet, daß die Slowenen , Alpen-Kroaten‘, die Muslime , Dialekt-Kroaten, die Serben bis zur Drina . orthodoxe Kroaten, die Montenegriner »OstKroaten seien. Also auch die kroatischen Nationalisten würden ihren erträumten Nationalstaat gern um einen Teil Sloweniens, ganz Bosnien-Hercegovina, Süd-Montenegro, Nord-und Mittelserbien abrunden.“

Man muß das zweimal lesen, um es ganz verstehen zu können: die heutigen Kriegsziele beider kriegs-führenden Seiten, Kroatiens, und Serbiens, waren bereits vor über zwanzig Jahren punktgenau erkennbar!

Als Suvar seine Analyse niederschrieb, war es gerade ein Jahr her, was heute in Zagreb als „kroatischer Frühling“ verklärt wird: Titos Überreaktion auf die Forderungen kroatischer Nationalkommunisten (z. B. nach einem eigenen UNO-Sitz), die er wütend zurückwies. Kurz darauf bedauerte Tito jedoch sein Verhalten. Folge dieses Bedauerns war „die verdammte Verfassung von 1974" Sie sollte die „De-Etatisierung" vollenden und die sechs Republiken (mit den zwei „Autonomen Provinzen“ Vojvodina und Kosovo in Serbien) in einen Wettbewerb miteinander schicken, der Jugoslawien insgesamt voranbringen sollte. Das Ergebnis war verheerend: Bundeskompetenzen wurden bis zur Lächerlichkeit ausgehöhlt, der gemeinsame jugoslawische Markt zerschlagen, die republikanischen Partei-und „Staats“ -Bürokratien versechst-, ja verachtfacht. Im Grunde hat der jetzige Krieg seine Wurzeln in jener Konstitution von 1974, auch wenn die Auseinandersetzungen vorerst im „gewohnten“ Rahmen infantilen Gezänks um „Bedrohungen“ der eigenen Sprache weitergingen. Dies hatten die Slowenen bereits 1965 mit ihrer „Deklaration gegen die serbokroatische Sprache im Fernsehen“ vorgeführt, die Kroaten folgten 1967 mit der „Deklaration zur Benennung und Lage der kroatischen Literatursprache“, Serben und Kroaten brachen 1971 ihre Zusammenarbeit an einem „Wörterbuch der serbokroatischen oder kroatoserbischen Sprache“ ab. Nach 1974 setzte sich der Konflikt fort, verschärft im Ton und aggressiver in der Stoßrichtung -gegen die „Zweisprachigkeit“ im Kosovo und die „Mehrsprachigkeit“ in der Vojvodina. Alles schien jedoch im Grunde harmlos -sofern man sich nicht an Milovan Djilas’ berühmtes Diktum erinnerte, daß auf dem Balkan schon die Messer hervorgeholt würden, sobald über Sprache diskutiert werde.

IV. Die achtziger Jahre: Jahrzehnt der Vorkriegszeit

Am l. Mai 1980 starb Tito in einem Militärkrankenhaus von Ljubljana. Noch einmal fühlten sich mit seinem Tod alle „Jugoslawen“ aufgefordert, „Titovim putem“ (auf Titos Weg) weiterzugehen. Aber das war eine kurzwährende Emotion, der bald martialischere Züge folgten.

Eine von Nebojsa Popov geleitete „unabhängige Kommission“ in Belgrad hat 1990 einen umfassenden Bericht über den Beginn der Unruhen im Kosovo vorgelegt. 1980/81 war es dort zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und den Serben gekommen, die zunächst ideologisch („Konterrevolution“) interpretiert und verfolgt wurden. Tatsächlich handelte es sich (wie die Popov-Kommission belegte) um einen Streit um die Dominanz (nachdem die anderen denkbaren Modelle der Koexistenz nicht denkbar waren). Diese war durch die Verfassung von 1974 von serbischen auf albanische Behörden übergegangen und von Albanern immer mehr in Richtung der Parole „Kosovo -Republik“ genutzt worden. Im gleichen Maße wie der Machtverfall der Partei fortschritt, „fielen die ideologischen Masken“: Albaner traten in Massen aus der Partei aus und agierten ganz offen separatistisch gegen Serbien. Die Serben antworteten mit einem Aufwallen nationalistischer Emotionen und historischer Reminiszenzen. Im Kosovo hatten die vereinten Heere der Südslaven 1389 die Entscheidungsschlacht gegen die Osmanen verloren. Daß in jener Zeit auch Albaner auf Seiten der Slaven gekämpft hatten, wurde jetzt nicht mehr erwähnt -vielmehr erschien das Kosovo nun als „heilige Erde“, als „Wiege des Serbentums“, das einen Kampf „Orthodoxie contra Dshihad“ und um „historische Rechte“ erlebte. Natürlich siegte der aufgeputschte serbische Nationalismus -die Rechte der Albaner wurden etwa auf den Stand der frühen fünfziger Jahre zurückgeschraubt. Seither herrscht im Kosovo Friedhofsruhe: Serbisches Besatzungsregime gegen albanischen Totalboykott, wie beispielsweise bei den Wahlen, was Milosevic Ende 1992 den Wahlsieg einbrachte. Die nichtabgegebenen albanischen Stimmen verbesserten automatisch seine Position gegen den Rivalen Panic.

Die Vorgänge im Kosovo waren dreifach bedeutsam für das kommende Geschick Jugoslawiens: Serbien erlangte ein „barbarisches“ Image, dem speziell die Slowenen, aber auch die Kroaten effektvoll ihre „europäische“ Kultur gegenüberstellten. Irredentistische Neigungen in Slowenien und Kroatien wurden weiterhin gefördert, und der von den Serben demonstrierte Nationalismus fand anderswo Nachahmer. Die Ereignisse vom Kosovo gaben den letzten Anstoß, über den baldigen Abschied von Jugoslawien nachzudenken.

Das mußte auch Dobrica Cosic erleben, der international renommierte serbische Romancier (zweimal Kandidat für den Literatur-Nobelpreis). Was Cosic damals von den Slowenen hörte, war eine totale Absage an Jugoslawien: „Jugoslawien ist historisch tot. Die Zugehörigkeit Sloweniens zu Jugoslawien steckt in einer tiefen Krise. Die Slowenen sind betrogen und enttäuscht. Ihre Enttäuschung währt seit 1918. Die nationale Frage ist für Jugoslawien entscheidend. Ist ein neues Jugoslawien überhaupt möglich? Wir wollen eine Lösung für uns: die unserer gesicherten Souveränität. Später können wir uns über unser Verhältnis zu Jugoslawien unterhalten. Die Idee Jugoslawiens unddes Jugolawismus ist für Slowenien sekundär. Wir vergleichen uns mit Europa, und die Europäisierung wünschen wir auch Serbien, das aber vorerst seinen asiatischen Totalitarismus ablegen muß.“

Cosic war entsetzt, zumal er später erkannte, daß seine slowenischen Gesprächspartner, die alle aus der Redaktion der Zeitschrift „Nova Revija“, stammten, später das „nationale Programm“ Sloweniens formulierten und das personelle Rückgrat der Parteienkoalition DEMOS bildeten. Diese bereitete Anfang der neunziger Jahre die Abkoppelung Sloweniens von Jugoslawien vor.

Aber waren die Serben damals denn vernünftiger? Keineswegs: Die Zeiten nach dem Schema „Wenn Serben , Wir‘ sagen, denken sie an Jugoslawien, wenn Kroaten „Wir’ sagen, denken sie an Kroatien“, waren längst vorbei. Gerade Cosic und seine intellektuellen Mitstreiter von der „Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ (SANU) bezeugten ihre identische Uneinsichtigkeit mit dem SANU-Memorandum vom September 1986, in welchem es u. a. hieß: „Nicht alle Nationen in der SFRJ (= Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, Anm.der Red.) sind gleichberechtigt: Die serbische Nation z. B. hat kein Recht auf einen eigenen Staat. Große Teile des serbischen Volks, die in anderen Republiken leben, haben im Unterschied zu nationalen Minderheiten kein Recht auf eigene Sprache, Alphabet und kulturelle Organisation, um gemeinsam die originäre Kultur ihres Volkes zu entwickeln. Unter ständigen Anschuldigungen, das serbische Volk unterdrücke andere, sei unitaristisch, zentralistisch und kriegerisch, konnte dieses keine Gleichberechtigung in Jugoslawien erlangen, für dessen Entstehen es so viele Opfer gab.“

Das SANU-Memorandum wurde in Jugoslawien allseits als eine Art „Kriegserklärung“ aufgefaßt. Diese Bewertung führte leicht dazu, mögliche Gefahren aus Kroatien zu übersehen. Dort war Franjo Tudjman wiederaufgetaucht -nach einigen Haftjahren, die er angeblich wegen seiner Beteiligung am „Kroatischen Frühling“ von 1971, tatsächlich aber wegen nationalistischer Ausfälle in seinen Schriften verbüßt hatte. 1989 hat Tudjman seine Thesen gegen das „Weltjudentum“, gegen das „judeo-faschistische Israel“ in seinem Buch „Bespuca povijesne zbilje" (Irrwege historischer Realität) extensiv ausgebreitet, und dieses Buch erlebte seither mehrere Neuauflagen. Wieder freigelassen, entwickelte er Aktivitäten, über die sein ehemaliger Vertrauter Zdravko Tomac (1992 in seinem Buch „Iza zatvorenih vrata“ [Hinter verschlossenen Türen]) und sein neuerer Gegner, der Bosniaken-Führer Adil Zulfikarpasic, mit entlarvenden Details berichteten: Tudjman hatte ein klares Programm -Jugoslawien zerstören, Kroatien verselbständigen, eine kroatisch-nationalistische Bewegung aufbauen (die die kroatische „Diaspora“ finanzieren sollte) und Bosnien-Hercegovina aufteilen. Gerade das letzte Vorhaben enthüllte die diabolische Logik von Tudjmans Plänen: Wer Jugoslawien zerstören wollte, konnte das „Klein-Jugoslawien“ Bosnien-Hercegovina nicht verschonen (da die dortige Koexistenz von Serben, Kroaten und Muslimen als internationales Gegenargument gegen irredentistisehe Pläne anderswo genutzt worden wäre). Vielleicht -gewiß! -hätte die aktuelle bosnische Tragödie verhindert werden können, hätten auf internationalen Verhandlungstischen Exzerpte aus Leopold von Rankes „Historisch-politischer Zeitschrift“ von 1834 gelegen. Aus ihnen hätte man ersehen können, daß Bosnien eine seit tausend Jahren natürlich gewachsene, historisch gefügte Antizipation eines multikulturellen Europas war. Wenn der bosnische Präsident Alija Izetbegovic heute davon spricht, daß Bosnien der Staat dreier konstitutiver Völker sei (Muslime, Serben, Kroaten), der aus seiner historischen Mission heraus gar keine „nationalen“ Aspirationen haben könne, dann wird er selbst von UN-„Friedensvermittlem“ als „Friedensstörer“ gebrandmarkt -wo er doch nur als „Bosniake“ spricht. „Es ist unser Unglück“, sagte der bosnische Muslim Adil Zulfikarpasic in einem Gespräch mit dem polnischen Nachrichtenmagazin „Wprost“ (Direkt) am 21. März 1993, „daß wir zwischen zwei aggressiven Balkan-staaten leben“. Dieses Unglück ist neuesten Datums -nachdem selbst die Österreicher (denen Bosnien 1875 zur Verwaltung übertragen wurde und das sie 1908 okkupierten) die Eigenart Bosniens respektierten und Tito nach 1945 eine „Republik Bosnien-Hercegovina“ ausdrücklich als „Pufferstaat“ zwischen Serbien und Kroatien legte. Aber was wollen friedliche „Bosniaken“ tun (die orthodox, katholisch oder islamisch beten können, dabei doch immer Slaven und stets in der bosnisch-regionalen Identität vereint bleiben), wenn zwei Desperados es anders wünschen? Details verriet Tudjmans profiliertester Gegner, der Zagreber Politologe Ivan Zvonimir Cicak, am 28. Juni 1993 in einem Interview mit dem „Spiegel“: „In Karadjordjevo besprachen Tudjman und Milosevic im März 1991 ... die Teilung Bosniens. Dieses Gespräch wurde vom militärischen Geheimdienst aufgezeichnet“.

V. Nachdenken über den Beginn des Kriegs

Der neuerliche „Schulterschluß“ Tudjman-Milosevic in Bosnien-Hercegovina hat der Welt demonstriert, daß hier zwei autoritäre Nationalisten buchstäblich „über Leichen gehen“. Daß zwischen ihnen niemals ein Unterschied bestand, sagte der französische Philosoph Pascale Bruckner schon vor über einem Jahr in einem Gespräch mit dem international renommierten Belgrader Nachrichtenmagazin „Vreme“ (Zeit) in dessen Ausgabe vom 4. Mai 1992: „Das sind absolut dieselben Leute. Sie entstammen derselben totalitären kommunistischen Schule und wissen nicht, was Demokratie ist. Diesen alten Apparatschiks sind demokratischer Meinungskampf, parlamentarisches Leben, Recht der Opposition, Pressefreiheit unbekannt. (...) Tudjman und Milosevic sind große Nationalisten und denken, daß die einzige mögliche Wahrheit -ihre Wahrheit sei. Sie verhalten sich identisch; ihre Gegner sperren sie ein, und jeden Andersdenkenden bezeichnen sie a priori als Verräter und Volksfeind. Sie sind intolerant gegenüber Minderheiten, und was am gefährlichsten ist, sie sind fasziniert vom Krieg.“

Diese „Faszination vom Krieg“ ist bei dem Serben Slobodan Milosevic unverkennbar, wie der Belgrader Oppositionelle Nebojsa Popov 1993 in seiner Studie „Srpski populizam“ (Der serbische Populismus), einer Beilage zur „Vreme“ vom 24. Mai 1993, detailliert nachgewiesen hat: Milosevic brachte das SANU-Memorandum von 1986 auf die griffige Formel „Alle Serben in einem Staat“ und stachelte die Serben gegen die Kosovo-Albaner an („Niemand darf euch mehr schlagen!“). Er stand mehr und mehr unter dem Einfluß von Radikalen wie Vojislav Seselj, den deutsche Medien noch 1987 als beklagenswerten „Dissidenten“ bedauerten. Noch eindeutiger tritt die Faszination des Krieges bei Franjo Tudjman zutage, wie dessen Opponent Cicak in dem erwähnten Gespräch mit dem polnischen „Wprost“ vom 21. März 1993 bekundete: „Es gab die Möglichkeit zu Verständigung und Vermeidung des bewaffneten Konflikts. Ohne den Krieg hätte Tudjman jedoch nicht die Rolle eines »Caesars Kroatiens* spielen und seine pathologischen Vorstellungen einer Wiederbelebung Kroatiens in der Version von 1939 realisieren können“.

Kroatien „nur“ in der „Version von 1939“? In den letzten Februar-Tagen 1990 hielt Tudjmans nationalistisch-autoritäre „Kroatische demokratische Union“ (HDZ) ihren ersten Parteitag ab, wobei Tudjman Pavelic’s Ustascha-„Staat" im Zweiten Weltkrieg als „die Erfüllung der historischen Sehnsüchte der Kroaten nach einem eigenen Staat“ feierte. Mußte das schon wie eine Kriegserklärung an die Serben in Kroatien wirken, so lieferte die neue, von Tudjman im Mai 1990 erlassene Verfassung Kroatiens, in dem sie den Serben alle Rechte strich, den konkreten Anlaß zuzuschlagen.

Die Serben in Kroatien, etwa 20 Prozent der kroatischen Gesamtbevölkerung, sind die Nachfahren der aus dem osmanisch besetzten Serbien geflohenen „Usken“ (Entsprungene), die von Habsburg entlang der (im 16. Jh. eingerichteten) „Militärgrenze“ kompakt angesiedelt wurden, also an jenem Sicherheitsstreifen, der Europa jahrhundertelang vor osmanischen Übergriffen und Seuchen aus dem Süden schützte. Dort siedeln die Serben immer noch, eine geschichtsbewußte und kampfbereite Volksgruppe, die im Zweiten Weltkrieg das bevorzugte Opfer des kroatischen Terrors der Ustaschi war. Wenn diesen Serben nun 1990 von Kroatien alle Rechte gekappt und die alten schrecklichen Ustascha-Symbole als die Wahrzeichen des neuen Kroatiens präsentiert worden sind, dann war es kein Wunder mehr, daß sie sich als „Bauern im Spiel des Herm Milosevic“ mißbrauchen ließen: „Es trifft zu, daß sie angefangen haben. Und es war gerade die Politik von Franjo Tudjman und seiner Mitstreiter, die die Serben aus Kroatien in die Armee von Milosevic getrieben hat“ -schrieb Tudjmans profilierteste Gegnerin Jelena Lovric

So begann der Krieg, der sich bis zu seinem tatsächlichen Ausbruch noch Zeit ließ. Kriegerische Handlungen kamen erst Juni 1991 auf und waren gegen Slowenien gerichtet (das gerade, wie Kroatien, seine endgültige Abtrennung von Jugoslawien verkündet hatte). Die »Jugoslawische Volksarmee“, befehligt von dem Kroaten Veljko Kadijevic, griff Slowenien an. Dessen Verteidigungsminister Janez Jansa hat 1992 in seinem faszinierenden Buch „Premiki“ (Bewegungen) dargestellt, mit welchen „Argumenten“ („Deutschland bestärkt Slowenien und Kroatien in seinem Wunsch zur Abtrennung“) die Armee sich rechtfertigte, wie effektiv die slowenische Armee (d. h. die ehemalige slowenische „Terri torialverteidigung“) sich wehrte, wie sehr sich Kroatien einer Kooperation mit Slowenien verweigerte (obwohl die Kroaten doch wissen mußten, daß sie das nächste Opfer sein würden). Jansa berichtet auch, daß die einzige Stimme, die gegen den Rückzug der Armee (nachdem sie binnen einer Woche in Slowenien geschlagen worden war) im noch existierenden „jugoslawischen“ Staatspräsidium abgegeben wurde, von dem derzeitigen Präsidenten des kroatischen Parlaments Stipe Mesic kam.

VI. Schlußbetrachtung

Das alte Jugoslawien war gerade für Deutsche kein „Ausland“ mehr: von jährlich rund neun Millionen Touristen waren stets über drei Millionen Deutsche. Seit drei Jahren gibt es kaum noch Touristen in (Ex) Jugoslawien. Boom-Branchen wie ehedem der Schiffbau in Kroatien sind am Ende, zwischen einstmaligen „Bruderrepubliken“ senkten sich „Staatsgrenzen“, die monatlichen Inflationsraten in den kriegführenden Nachfolgestaaten bewegen sich zwischen 90 Prozent (Kroatien) und 240 Prozent (Serbien). Die einst hoch integrierte „jugoslawische“ Wirtschaft funktioniert nur noch im Bereich der Waffenproduktion.

Das einstige Jugoslawien ist zerfallen -in zwei friedliche Nachfolgestaaten, Slowenien und Makedonien (wobei das letztere, ungeachtet seiner UNO-Anerkennung, immer noch als diplomatischer „Underdog“ behandelt wird), zwei kriegerische, Serbien und Kroatien (ersteres international mit Embargo, letzteres hingegen mit dem Wohl-wollen internationaler Huld versehen), und in das Schlachtfeld Bosnien-Hercegovina, das Milosevics „Tschetniks“ und die Kroatische Armee zu 90 Prozent besetzt halten und den Rest den Muslimen in zwei (faktischen) „Reservaten“ reservieren. Offiziell wurde das in den am 27. Juli 1993 in Genf begonnenen Verhandlungen als „konföderative Lösung“ präsentiert -der die UN-Vermittler Owen und Stoltenberg eilig zustimmten. Vergebens hatte das bosnische Staatspräsidium in der Vorwoche einstimmig seine Gegenposition aufgestellt: Erhalt eines international anerkannten Staates Bosnien; Beendigung der Kriegshandlungen und minimale Sicherheit für die Menschen; integrales Bosnien auf föderativer Basis; und (als „Reserve-Option“) „Bosnien als internationales Protektorat“

Einen „stogodisna vojna na Balkanot" (hundertjährigen Krieg auf dem Balkan) prognostizierte jüngst der makedonische Präsident Kiro Gligorov. Wird es dazu kommen? Daß der Krieg weitergehen wird, ist gewiß. Was heute in Bosnien mit internationaler Billigung praktiziert wird -die Zerschlagung eines Staates durch „ethnische Aufteilung“ -kann morgen nicht verhindert werden, wenn sich Serben in Kroatien, Albaner im Kosovo usw. auf dasselbe Prinzip berufen! Die Frage ist nur, ob Kriegsverbrecher wie Tudjman und Milosevic ihre eigenen Völker noch lange derartig manipulieren können. Aber könnten sie es demnächst nicht auch mit sozialen Unruhen im Inneren zu tun haben, die ihr politisches Überleben gefährden? Wären solche (vermutlich) friedensbringenden Unruhen nicht dadurch zu fördern, daß man Serbien und Kroatien mit identischen Sanktionen und Embargos überzöge (da ihre identische Kriegsschuld in Bosnien doch wohl außer Zweifel steht)?

Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist moralisch nicht zu rechtfertigen, politisch nicht zu steuern, militärisch nicht zu gewinnen -für keine der beteiligten Seiten, auch nicht für „Europa“, das sich politische Fehler, unterlassene Hilfeleistungen und gebrochene Prinzipien in Fülle vorhalten lassen muß. Sein „Lohn“ sind knapp drei Millionen Flüchtlinge (so die Schätzung der deutschen Bundesregierung Ende Juli 1993), die sich vorerst noch im Lande bewegen, mehr und mehr aber nach „Europa“ drängen. Hätte man in den europäischen Metropolen nur einmal auf Bosniens Präsident Izetbegovic gehört, der immer wieder darauf hinwies, daß durch den Vance-Owen-Plan -Bosnien in zehn föderierte „Kantone“ aufzuteilen (als einzige positive Bestimmung) -die Möglichkeit gegeben war, die Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurückzubringen. Mit größerem politischen Druck hätte mehr erfolgreiche Menschenrechts-politik geleistet werden können. So bleibt nur schaler Trost: „Deutschland ist nach Meinung von Herm Milosevic der größte Feind Jugoslawiens“, lästerte Ende 1992 der „jugoslawische“ Ministerpräsident Milan Panic (der sich vor den serbischen Radikalen um Milosevic-Seselj wieder in die USA zurückgezogen hat), „und darum hat Deutschland wohl 260000 jugoslawische Flüchtlinge aufgenommen“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Michail Gorbatschow, in: NIN (Belgrad) vom 18. 6. 1993.

  2. Leopold von Ranke, Die serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mitteilungen, Hamburg 1829, S. 9.

  3. Ljubomir Tadic, O „Velikosrpskom hegemonizmu" (Über den großserbischen Hegemonismus), Belgrad 1992, S. 18 ff.

  4. „Am meisten verhaßt, besonders bei den Serben, sind die kroatischen Emigranten und Renegaten, die Ustaschi, die mehrheitlich mit den Invasoren zurückkehrten und denen die Regierungsgewalt über das vergrößerte Kroatien gegeben wurde ... Die numerische Schwäche der Ustaschi machte sie um so williger, ihre Gegner aufzuhängen, zu erschießen und zu vertreiben, proserbische Kroaten und Serben des römisch-katholischen oder orthodoxen Bekenntnisses, als sie spüren, daß sie selbst bei deutscher Unterstützung nur durch Terror gegen ihre Kritiker und Gegner überleben können.“

  5. Vgl. Predrag Matvejevic, Jugoslavenstvo danas -Pitanja kulture (Jugoslawentum heute -Fragen der Kultur), Belgrad 1984, S. 6.

  6. Stipe Suvar, Svi nasi nacionalizmi (Alle unsere Nationalismen), Valjevo 1986, S. 250 ff.

  7. So David Anderson 1991 in dem Gespräch mit dem Verfasser.

  8. Belgrader Illustrierte „Duga“, Nr. 482 vom 16. -29. August 1992.

  9. Vgl. Zdravko Tomac in seinem 1992 veröffentlichten Buch „Iza zatvorenih vrata“ (Hinter verschlossenen Türen).

  10. Vgl. Independent vom 3. 8. 1992.

  11. Vgl. die bosnische Wochenzeitung Oslobodjenje (Befreiung) vom 22. -29. 7. 1993.

Weitere Inhalte

Wolf Oschlies, Priv. -Doz. Dr. phil. habil., geb. 1941 in Königsberg; 1960-1966 Studium der Slavistik, Philosophie und Pädagogik in Hamburg; 1966 Promotion; seit 1968 am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BI Ost), Köln; 1977 Habilitation an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen: Zahlreiche Buch-und Aufsatzpublikationen zu innen-und sozialpolitischen Problemen Ostmittel-und Südosteuropas; Mitautor des ersten „Lehrbuch(s) der makedonischen Sprache“, das (1984, 1986) außerhalb Jugoslawiens erschien.