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Politische Bildung und politische Kultur im vereinigten Deutschland | APuZ 34/1993 | bpb.de

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APuZ 34/1993 Politische Bildung und politische Kultur im vereinigten Deutschland Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung „Verfassungspatriotismus“ und „Bürgergesellschaft“ oder: Was das demokratische Gemeinwesen zusammenhält Orientierungen für die politische Bildung Politische Stiftungen und politische Bildung in Deutschland

Politische Bildung und politische Kultur im vereinigten Deutschland

Günther Rüther

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Drei Jahre nach der vollzogenen staatlich-politischen Einheit Deutschlands hat diese als Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen eigentlich erst begonnen. Der massive Strukturwandel in Ostdeutschland bedingt auch einen Strukturwandel in Westdeutschland. Lange verdeckte Probleme in der „alten“ Bundesrepublik werden sichtbar und verschärfen sich. Zwei auseinandergelebte Gesellschaften sind nun in einer gemeinsamen politischen Kultur zusammenzuführen. Die vorrangige Aufgabe der politischen Bildung besteht darin, diesen mindestens den Zeitraum einer Generation beanspruchenden Prozeß zu begleiten. Sie muß dabei der vergangenheitsbedingten ungleichen Wahrnehmung und Bedeutung von Problemen genauso gerecht werden wie der Herausforderung, den Westdeutschen den Vorrang des Aufbaus Ost vor dem Ausbau West zu erläutern. Wo sich östliche und westliche Gedankenwelten begegnen, besteht die Notwendigkeit einer bewußten Hinwendung zu einer unterschiedlich verlaufenen Geschichte und Sozialisation. Aus Informationen und Klarstellungen ergeben sich dann Chancen zu gemeinsamer Innovation. Das Bekenntnis zur Nation kann als Identifikationskraft bei dieser Neuorientierung helfen, sofern die Verirrungen der deutschen Nation in der Vergangenheit stets mit bedacht werden. Gleichzeitig darf die innerdeutsche Integration im Sinne einer Nationenbildung nur als Baustein einer größeren Einheit begriffen werden, die über die Europäische Gemeinschaft hinausweist auf die Vereinigten Staaten von Europa.

I. Die Veränderungen in Deutschland seit 1989

Seit den historischen Umbrüchen und Veränderungen des Herbstes 1989 ist vieles nicht mehr so in Deutschland, wie es einmal war. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist die Einheit nicht vollendet -als Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen hat sie vielmehr erst richtig begonnen. Während die meisten Westdeutschen zunächst glaubten, sie hätten damit nur am Rande etwas zu tun, mußten sich die Ostdeutschen auf umfassende Veränderungen ihres Lebensalltags einstellen. Letztlich haben aber beide Seiten das Ausmaß der Aufgabe und ihre Auswirkungen unterschätzt.

Festzuhalten bleibt jedoch, daß die Folgen der Wiedervereinigung vor allem die ostdeutsche Bevölkerung vor riesige Probleme gestellt hat, die erst z. T. überwunden sind: die Umstellung am Arbeitsplatz, die drohende oder schon eingetretene Arbeitslosigkeit, die Umstrukturierung einer zentral gelenkten Planwirtschaft in eine freiheitlich orientierte Wirtschaftsordnung. Hinzu kommen der ungewohnte Pluralismus der Meinungen und der Wettstreit der politischen Parteien, die völlig neuen Instrumente und Funktionsweisen der parlamentarischen Demokratie. War der Alltag im real existierenden Sozialismus weitgehend bestimmt durch einen massiven Zwang zur Anpassung, durch eine radikale Beschneidung der Freizügigkeit und eine zielgerichtete ideologische Inanspruchnahme seitens des Staates, die den einzelnen fremd zu bestimmen versuchte, so empfinden heute viele Menschen die gewonnene Freiheit als Orientierungs-und Schrankenlosigkeit. Die Chancen der Freiheit werden zwar gesehen und oft auch genutzt, die sie begleitenden negativen Folgen scheinen jedoch häufig poch nicht in ausreichendem Maße mental und auch politisch nicht verarbeitet werden zu können. Allerdings -zur DDR zurück will letztendlich kaum jemand.

Mit einer gewissen Verzögerung erreichen die Auswirkungen der deutschen Einheit nun auch die Westdeutschen. Sie spüren, daß sie sich neuen Fragen und Herausforderungen stellen müssen und daß sich über Jahre vertagte Probleme nicht länger hinausschieben lassen. Dazu zählen die inflationär gewachsenen Auf-und Ausgaben des Staates, die sich verstetigende Parteienverdrossenheit und der eskalierende politische Extremismus genau wie die Reform des Bildungswesens. Die Veränderungen liegen jedoch nicht nur im politischen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich. Die Individualisierungstendenzen tragen zu einem Zerfall der gesellschaftlichen Normen und Werte bei. Sie lösen bisherige Verbindlichkeiten auf, ohne daß auch nur ansatzweise eine neue Orientierung sichtbar wird, die das bonum commune im Auge hat.

Die Probleme haben sich seit der friedlichen Revolution 1989 nicht nur erweitert, sondern auch zum Teil in einer nicht vorhersehbaren Weise verschärft, so daß wir alle gemeinsam Schwierigkeiten haben, sie zu begreifen, zu akzeptieren und innerlich zu verarbeiten, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dazu zählt auch die seit Jahren im Westen Deutschlands verdrängte Erkenntnis, daß die konsumverwöhnte Wohlstandsgesellschaft sich selbst in Frage stellt, wenn sie nicht Selbstbescheidung übt. Dies hat nicht nur, aber auch etwas mit der Vollendung der inneren Einheit zu tun. Denn obwohl für den Aufbau der neuen Bundesländer mit der Währungs-, Wirtschafts-und Sozial-union eine gute Grundlage geschaffen wurde und seitdem die wirtschaftliche, soziale und politische Transformation sichtbar voranschreitet, ist das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West mittelfristig nur auszugleichen, wenn es zu einer großen Umverteilung kommt. Dabei handelt es sich -wie der Solidarpakt zeigt -um eine nationale Aufgabe, die den Einsatz lohnt, weil sie dem inneren Frie­den dient und helfen kann, Versäumnisse zurückliegender Jahre aufzuarbeiten und Fehlentscheidungen zu korrigieren. Es reicht nicht -so wichtig dies ist -das Verständnis in den alten Ländern dafür zu entwickeln, daß die Menschen in Ostdeutschland einen tiefgreifenden Strukturwandel erleben. Die Westdeutschen selbst sind Teil dieses Strukturwandels.

II. Aufgabe der politischen Bildung: zwei auseinandergelebte Gesellschaften zusammenführen

Zentrale Aufgabe der politischen Bildung bleibt auch im vereinigten Deutschland, dazu beizutragen, daß die „Mauer in den Köpfen der Menschen“ nicht weiter wächst Dies war auch schon vor der Vereinigung ihr Anliegen. Denn die staatlich geförderte deutschlandpolitische Bildungsarbeit zielte darauf ab, die deutsche Frage offenzuhalten. Zwischen diesem politischen Anspruch und seiner praktischen Umsetzung tat sich jedoch seit den siebziger Jahren eine wachsende Kluft auf. Immer weniger Träger der politischen Bildung fühlten sich dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verpflichtet. Sie gingen von zwei deutschen Staaten, manche sogar von zwei deutschen Nationen aus

Die friedliche Revolution offenbarte, wie weit sich die politische Bildung damit von den Interessen der Menschen im Osten Deutschlands entfernt hatte. Nunmehr hat sich die Chance zu einem gemeinsamen neuen Anfang eröffnet. Sie besteht darin, zwei im Grunde auseinandergelebte Gesellschaften wieder zusammenzuführen.

Die Deutschen fühlen sich einander auch im dritten Einigungsjahr fremd Wie schnell ihnen nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit auch die innere Einheit gelingen wird, hängt weitgehend davon ab, ob sie zu einer neuen, gemeinsamen politischen Kultur finden werden. Das vorrangige Ziel dabei ist zunächst die Förderung der Bereitschaft, einander zuzuhören und sich ernst zu nehmen. Dazu bedarf es des Gesprächs; politische Bildung kann es vermitteln. Gerade wegen der unterschiedlichen Erfahrungshintergründe, Identifikationsmuster, Lebensweisen und Lebensziele ist dies nach wie vor wichtig. Bedauerlicherweise belasten immer noch böse Vorurteile und grobschlächtige Simplifizierungen den Einigungsprozeß. Sie finden sich gerade auch dort, wo gegenseitiges Aufeinanderzugehen und gedanklicher Austausch am ehesten möglich wären, um den über Jahrzehnte gewachsenen Informations-und Kommunikationsstau abbauen zu helfen; gemeint ist die Kulturpolitik. Hier zeitigt beispielsweise der zurückliegende, das innerdeutsche Klima belastende Streit um die DDR-Kunst und -Literatur bis heute negative Folgen. Gerade dieser -über viele Jahre -wichtige Bereich des Austausches und der Annäherung zwischen Ost und West, der oft für viele Westdeutsche der einzige Zugang zum Leben im real existierenden Sozialismus darstellte, hat seine Brückenfunktion verloren. In grober Vereinfachung diskreditierten westliche Feuilletons insbesondere die DDR-Literatur als eine Intrige gegen das Volk, als Erfüllungsgehilfin der Macht Jüngst erst meinte Siegmar Faust auf der Kunst-Tagung der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Zur Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ in Berlin feststellen zu dürfen, daß von der DDR-Literatur nur ein „großer Misthaufen“ übrigbleiben werde Es versteht sich von selbst, daß derartige pauschale Beschimpfungen und Verunglimpfungen der DDR-Literatur nicht gerecht werden. Sie übersehen zudem allzu leichtfertig, daß sich viele kritische DDR-Bürger jahrzehntelang mit Autoren wie Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Günter de Bruyn, Christoph Hein, Wolf Biermann oder Christa Wolf identifiziert haben und stolz auf sie waren.

Der Dialog zwischen den Menschen aus den alten und neuen Ländern wird nur dann gelingen, wenn er sehr viel stärker als bisher auf die unterschied-liehen Erfahrungen und Empfindungen Rücksicht nimmt, die das Leben im geteilten Deutschland mit sich brachte. Anderenfalls wird er mehr zur Verstimmung als zur Verständigung beitragen.

Direkte persönliche Begegnungen sind auch dazu geeignet, den oft genug einseitigen und vor allem unzureichenden Informationstransfer der Medien zwischen Ost und West zu korrigieren bzw. zu ergänzen. Die wenigsten Westdeutschen lesen Zeitungen aus den neuen Ländern. Sie könnten dabei feststellen, daß die Thüringer oder Sachsen ganz andere Probleme haben als sie selbst. Vielfach würde auch erstaunen, daß die Sprache, die Denkund Argumentationsweisen noch stark von den DDR-Erfahrungen geprägt sind. Vor allem aber würden die existentiellen Probleme in den neuen Bundesländern stärker bewußt werden, über die sich die Medien vielfach ausschweigen, obwohl doch gerade hier eine historische Herausforderung für die Kommunikationsaufgabe der Medien läge.

Umgekehrt gilt, daß nur wenige Ostdeutsche die großen überregionalen (west) deutschen Zeitungen lesen. So nimmt im wesentlichen das Fernsehen eine gesamtdeutsche Scharnierfunktion wahr. Für die öffentlich-rechtlichen wie für die privaten Sender gilt aber auch dies wiederum nur mit erheblichen Einschränkungen. Zudem ist es eine Sache, sich ein (Fernseh-) Bild von einer fremden Wirklichkeit zu machen, und eine andere, selbst Teil dieser Wirklichkeit zu sein Das persönliche Kennenlernen der Menschen kann dem wechselseitigen Festschreiben von Klischees und Vorurteilen entgegenwirken und einen authentischen und darum glaubhaften Erfahrungs-und Informationsaustausch ermöglichen.

Die vergangenheitsbedingte Ungleichzeitigkeit der gegenwärtigen Bedürfnisse und Fragen, die jeweils verschiedene Wahrnehmung und Bewertung von Problemen sowie die unterschiedlichen Bedeutungsinhalte, die politische Leitbegriffe im Bewußtsein der Menschen haben, behindern die Integration der Ost-und Westdeutschen sowie die Herausbildung einer tragfähigen und funktionstüchtigen Solidar-und Verantwortungsgemeinschaft. Beiden Gesellschaften mangelt es noch anS. einem deutlichen Bewußtsein dafür, daß sie miteinander denken und handeln lernen müssen, gerade weil ihre soziokulturelle und wirtschaftliche Entwicklung um Jahrzehnte versetzt ist und ihre Lebensinteressen und Wertprägungen verschieden sind.

Vor diesem Hintergrund sieht sich die politische Bildung vor einer doppelten Herausforderung: Sie muß zum einen den Westdeutschen die Dringlichkeit der Aufgaben beim Aufbau im Osten erläutern und zum anderen begreiflich machen, daß der Aufbau im Osten Vorrang vor einem Ausbau im Westen hat. Dies fällt deshalb nicht leicht, weil die Bereitschaft, eigene Interessen zum Wohl des Ganzen zurückzustellen, gemeinhin nur schwach entwickelt ist.

Für die politische Bildung im Westen und Osten Deutschlands besteht dabei keine einheitliche Ausgangslage. Auch nach 40 Jahren parlamentarischer Demokratie hat sie im Westen nichts von ihrer Bedeutung verloren, wie die wachsende Bereitschaft zur Gewalt gegen Ausländer, der nach wie vor nicht erloschene Antisemitismus oder die Unterstützung radikaler bzw. extremistischer Parteien zeigen. Sie ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil der politischen Kultur geworden.

Für die neuen Länder kann dies so nicht behauptet werden. Nach 60 Jahren Diktatur (seit 1933) begegnen ihr viele Bürger mit verständlicher Skepsis. Sie steht daher zunächst vor der Aufgabe, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Demokratisches Denken und Handeln sind neu einzuüben, denn Kompromiß-, Kritik-und Urteils-fähigkeit scheinen unzureichend ausgebildet. Der Wettstreit der politischen Meinungen wird allzu häufig als lästig empfunden. Deshalb kommt es darauf an, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu erläutern und darzulegen, warum sie trotz aller Schwächen die beste Staatsform bleibt. Rasche Ergebnisse sind von der politischen Bildung im deutschen Einigungsprozeß nicht zu erwarten; Illusionen sind fehl am Platze. Das Aufeinanderzugehen der Menschen, der Austausch unterschiedlich verlaufener Lebenserfahrungen in Staat und Gesellschaft, der Ausgleich der Interessen, kurz, die innerdeutsche gesellschaftliche Integration ist ein länger dauernder Prozeß, der von der politischen Bildung nur begleitet und stimuliert werden kann. Dennoch sind alle Anstrengungen schon deshalb nötig, weil es keine Alternativen gibt. Welche Aufgaben stehen dabei im Vordergrund?

III. Beschuldigungen zwischen Ost und West führen nicht weiter

Aus der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR konnte in der Kürze des Einigungsprozesses noch nicht etwas Gemeinsames, also Neues entstehen. Im Bewußtsein vieler Ost-und Westdeutscher hat sich die alte Bundesrepublik lediglich erweitert. Nicht nur aus praktischer Notwendigkeit gestaltete sich die Herstellung der staatlichen Einheit tatsächlich als eine Anpassung der einen Ordnung an die andere; sie war auch politisch gewollt. Aus wohlüberlegten Gründen entschied die Volkskammer der DDR, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Ministerpräsident Lothar de MaiziSre sagte dazu am 2. Oktober 1990, dem Tag vor der deutschen Einheit: „Wir lassen ein System hinter uns, das sich demokratisch nannte, ohne es zu sein. Seine Kainszeichen waren die Unfreiheit des Geistes und das verordnete Denken, Mauern und Stacheldraht, der Ruin der Wirtschaft und die Zerstörung der Umwelt, die ideologisch kalkulierte Gängelung und das geschürte Mißtrauen.“

Dennoch verstummen besonders unter Intellektuellen die Stimmen nicht, die in der Wiedervereinigung nicht etwa eine Befreiung von totalitären Zwängen, sondern einen Akt moderner Kolonialisierung, der Eroberung mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln der Macht sehen wollen

Wer so argumentiert, kommt dann schnell zu dem Schluß, daß im Vereinigungsprozeß in viel stärkerem Maße eine nicht näher beschriebene, spezifische „DDR-Identität“ hätte bewahrt und verteidigt werden müssen. Was aber verbirgt sich hinter dem schillernden Wort der „DDR-Identität“? Ist es die klandestine Sehnsucht nach den alten Ver-hältnissen, der Verlust der Geborgenheit, wenn auch in einer Diktatur, die jene belohnte, die schwiegen, und die bestrafte, die eigenständige Wege gehen wollten? Oder drücken sich darin vor allem die Schwierigkeiten mit einem veränderten Zeitgefühl aus? Folgen wir Heiner Müller, so kennzeichnet den Westen das „Prinzip der Beschleunigung“, den „Osten das der Verlangsamung, des Aufhaltens von Prozessen“ Günter Kunert meint, daß der für die DDR eigentümliche Zeitstillstand wohl am meisten vermißt würde Zu denken wäre aber auch an die Kulturlandschaft der DDR von ihren Monumenten des sozialistischen Realismus bis zu ihrer weit verzweigten staatlichen Förderungs-und Belohnungspraxis.

Alle diese Definitionsansätze verweisen auf etwas Nostalgisches, auf etwas Konservierendes, das dem Einigungsprozeß entgegengestellt werden soll. Darüber hinaus bliebe zu fragen, wie diejenigen, die heute von der Wahrung einer „DDR-Identität“ sprechen, dazu vor der Wende standen. Sieht man einmal von der Nomenklatura ab, die die „Farben der DDR right or wrong“ verteidigte, so offenbaren sich in dieser Haltung bei vielen anderen offenbar große Schwierigkeiten, sich auf die veränderten soziokulturellen Rahmenbedingungen einzustellen. Darüber sollte nicht mit leichter Hand oder gar zynisch hinweggegangen werden. Es besteht durchaus die Gefahr, daß einerseits der „Homunculus DDR“ idealistisch verklärt ins Bewußtsein zurückkehrt und andererseits in Vergessenheit gerät, daß es als Folge der friedlichen Revolution die freie Entscheidung der Volkskammer -des ersten demokratisch gewählten Parlaments der DDR -war, der Bundesrepublik beizutreten.

Für den innerdeutschen Einigungsprozeß erweist sich in diesem Zusammenhang auch als belastend, daß der Vorwurf, die „DDR-Identität“ nicht zu schützen, pauschal gegenüber den Westdeutschen erhoben wird. Klaus Schlesinger sieht den „Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe weitgehend erfüllt“. Besserung sei nicht in Sicht *Gleichgültig, ob sich darin -wie Tilmann Moser meint -früher aufgestaute Wut auf die Machthaber der SED äußert und diese nun auf die Westdeutschen, das heißt besonders auf deren politische Klasse, übertragen wird diese Larmoyanz trägt jedenfalls zur innerdeutschen Verstimmung bei. Sie geht einher mit dem Vorwurf, Versprechen nicht einzuhalten und nur ungenügend Mittel für den Aufbau der neuen Länder bereitzustellen. Auch wenn der Wunsch nach weiteren materiellen Leistungen berechtigt sein mag, so darf nicht erstaunen, wenn er auf Ablehnung in der westdeutschen Bevölkerung stößt. Deren Replik verweist in grober Vereinfachung auf die selbstverschuldeten wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Defizite des sozialistischen Systems und läßt unausgesprochen, daß die Mehrheit der Ostdeutschen die sozialistische Mißwirtschaft ertragen mußte, ohne sie ändern zu können. Die notwendige Bereitschaft der Westdeutschen, für die gewonnene Einheit zumindest ein Moratorium des materiellen Lebensstandards in den nächsten Jahren in Kauf zu nehmen, wird in einer derart politisch-ideologisch instrumentalisierten Debatte ebensowenig gefördert wie die Bereitschaft der ostdeutschen Landsleute, ihrerseits darauf zu verzichten, ohne Rücksicht auf die ökonomischen Gegebenheiten alsbald den gleichen Lebensstandard wie im Westen zu erreichen. Gerade weil nach der Euphorie der Maueröffnung auch im dritten Jahr der deutschen Einheit die Spannungen zwischen Ost-und Westdeutschen eher noch zu-als abnehmen, kommt es darauf an, den „Beschuldigungskampf“ zu beenden, der selbst Familien entzweit.

Das Zusammenwachsen zwischen den beiden Gesellschaften wird ferner nicht gelingen, wenn die Menschen das Gefühl haben, der Sinn ihres Lebens solle ihnen genommen und erbrachte Leistung aberkannt werden. Viele „gelernte DDR-Bürger“, die keineswegs nur angepaßte Parteigänger des SED-Regimes gewesen sind, können sich von seinen Prägungen nicht einfach befreien. Ihre persönliche Lebensgeschichte ist -ob gewollt oder nicht -auf vielfältige Weise mit der Geschichte der DDR verbunden. Selbst das Aufzeigen bekannter Unrechtstatbestände wie Mauer und Schießbefehl, Stasi-Willkür und Verfolgung, Zensur und gleich-geschaltete Desinformation der Medien erzeugt gleichwohl hohe emotionale Betroffenheit oder gar Ablehnung, „weil niemand . umsonst gelebt haben möchte“

Vor allem die Westdeutschen sollten auf diesen Sachverhalt problembewußter, sensibler und geduldiger reagieren. Dies gilt besonders für die Debatte im Streit über die Versöhnung mit den ehemaligen Komplizen des SED-Regimes. Aus westdeutscher Sicht mag es vielleicht nicht schwer-fallen, Mitgliedern der SED und Mitarbeitern der Staatssicherheit nach einer gewissen Wartezeit den Zugang zum öffentlichen Dienst zu ermöglichen oder sie in eine der demokratischen Parteien als Mitglieder aufzunehmen. Dabei wird oft wie selbstverständlich ein wirklicher Gesinnungswandel vorausgesetzt. Aus der Sicht der Opfer, die teilweise schwer unter den Pressionen und der Willkür der SED-Diktaktur zu leiden hatten, stellt sich dieser Sachverhalt verständlicherweise anders dar.

Dabei geht es nicht, wie der Sächsische Innenminister Heinz Eggert zu Recht betonte, um „Vergebung statt Vergeltung“ sondern um grundlegende Fragen der politischen Kultur. Vergebung ist eine zutiefst zwischenmenschliche, also private Angelegenheit zwischen dem schuldbekennenden Täter und dem verzeihenden Opfer. Vergeltung einzelner darf es im Rechtsstaat nicht geben. Das Gewaltmonopol liegt in den Händen des Staates. Er hat genauso wie die demokratischen Parteien zu prüfen, ob jemand, der noch vor wenigen Jahren an exponierter Stelle im SED-Regime tätig war, heute glaubwürdig vertreten kann, daß er für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintritt bzw. hinter den programmatischen Leitlinien einer demokratischen Partei und der Form ihrer Willensbildung steht.

Ein weiteres Beispiel für den Mangel an Einfühlungsvermögen erleben wir gegenwärtig bei der Auseinandersetzung um die geplante Zusammen-führung der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, die aus der seit 1950 existierenden Akademie der Künste in Ost-Berlin und der Akademie der Künste des Landes Berlin von 1954 neu hervorgehen soll. Da namhafte Schriftsteller und Künstler wie Georg Baselitz, Bärbel Bohley, Hans-Christoph Buch, Jürgen Fuchs, Günter Kunert, Reiner Kunze oder Hans-Joachim Schädlich nicht zu Unrecht befürchten, daß unter der Federführung von Walter Jens belastete Kollegen aus der Zeit vor der Wende mit in das neue Haus einziehen werden, haben sie in einem Offenen Brief die Neugründung einer Akademie der Künste nach dem Vorbild der Akademie der Wissenschaften gefordert. Walter Jens und andere haben offensichtlich die Bereitschaft (oder die Vergeßlichkeit?) der Opfer und Verfolgten der DDR-Kultur-politik falsch eingeschätzt, sich mit engagierten Parteigängern und Peinigern aus früheren Tagen an einen Tisch zu setzen, so als sei nichts gewesen

Für die Meinungs-und Konsensbildung in den neuen Ländern ist es wichtig, daß die Debatte über die Integration von Belasteten öffentlich geführt wird. Westdeutsche wären hier -da sie nicht unmittelbar betroffen sind -gut beraten, sich nicht in den Mittelpunkt der Diskussionen zu stellen. Sonst könnte allzu schnell der Eindruck entstehen, sie säßen über ihre Landsleute in den neuen Ländern zu Gericht oder aber sie wollten die Unrechtstaten der DDR verdrängen.

Zurückhaltung erscheint auch deshalb geboten, weil die mit der Einheit Deutschlands wiedererlangte Freiheit den Ostdeutschen angesichts der massiven Veränderungen der ehedem eher statischen Lebenswelt kaum Zeit läßt, sich mit ihrer Biographie im SED-Staat detailliert auseinander-zusetzen. Der Kampf um das tägliche Wohlergehen und die schwierige Umbruchsituation insgesamt blockieren die Neugier, sich vertieft mit den durchlebten, auch durchlittenen Jahren in der DDR zu beschäftigen.

Aus den Erfahrungen von zwölf Jahren nationalsozialistischem Unrechtsstaat wissen wir, daß totalitäre Systeme weit über die Zeit ihres Bestehens hinauswirken. Dies gilt auch für die SED-Diktatur, die, politisch überwunden, nach wie vor ihre Schatten auf die Menschen wirft und ihr Denken und Handeln mitbestimmt. Dies darf jedoch nicht dazu führen, daß die innere Auseinandersetzung und das kritische Durchdenken verdrängt werden von den instinktiv und unbewußt arbeitenden Kräften des Selbstschutzes, die sich in Vergessen, Verleugnen, Projizieren und ähnlichen Abwehr-mechanismen zeigen Ohne eine schmerzliche Erinnerungsarbeit wird es nicht gelingen -so hatten schon vor längerer Zeit Alexander und Margarete Mitscherlich mit Blick auf den Nationalsozialismus geschrieben -, sich von den alten Idealen zu lösen Im Prinzip gilt dies auch für die SED-Diktatur. Aufgabe der Westdeutschen könnte es sein, ohne in einen „Beschuldigungskampf“ einzutreten, bei der Durchdringung der Vergangenheit zu helfen.

IV. Bewußte Zuwendung zur Geschichte

Erst aus einem Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsverständnis lassen sich realistische Zukunftsperspektiven und eine gemeinsame politische Kultur entwickeln. Deshalb müssen sich die Deutschen ihrer Geschichte bewußt zuwenden. Dazu zählt die Reflexion über die Ursachen und Bedingungen, die zur Teilung Deutschlands und -in ihrem Verlauf -zur Entwicklung zweier unterschiedlicher Gesellschaften geführt haben. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus darf nicht ausgeblendet werden. Daran sollte sich auch weiterhin das Selbstverständnis der Deutschen „als Negativfolie orientieren“ Je größer der zeitliche Abstand dazu wird, desto mehr kommt es darauf an, den zukünftigen Generationen zu vermitteln, aus welcher Kraft sich Diktaturen speisen und zu welchem Unrecht sie fähig sind. Gegenwärtig steht der Nationalsozialismus noch für viele Menschen in einem unmittelbaren Erfahrungszusammenhang mit dem DDR-Kommunismus. Beide Diktaturen haben zu erheblichen Deformationen der menschlichen Seele und des sittlichen Verhaltens der Menschen geführt. Die Folgen sind noch nicht überwunden. Mit Blick auf das Ende des Nationalsozialismus lassen sich für die Umbruchsituation, in der wir nun erneut nach dem Ende einer Diktatur in Deutschland stehen, Vergleiche ableiten. Während 1945 in Westdeutschland trotz zwölfjähriger Verbrechensherrschaft der Nationalsozialisten an nicht weit zurückliegende Erfahrungen mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie angeknüpft werden konnte, gibt es heute in Ostdeutschland kaum jemanden mehr, der persönlich über vergleichbare Brücken in die demokratische Vergangenheit verfügt. Die dem Nationalsozialismus nachfolgenden 40 Jahre SED-Unrechtsstaat haben die noch verbliebenen Traditionen abendländisch-westlicher Rechts-und Verfassungskultur durch eine totalitär geprägte Erziehung zu sogenannter sozialistischer Demokratie und sozialistischem Recht weitgehend beseitigt. Die westliche Gesellschaft hat sich nach 1945 für die Ausgestaltung einer demokratischen politischen Kultur Zeit genommen -sie wird heute einen Teil dieser Zeit auch ihren östlichen Landsleuten zubilligen müssen

Für die politische Bildung besteht dabei die Schwierigkeit, daß die Menschen ihre politisch-historischen Prägungen nur langsam ablegen oder verändern und zunächst auch die neuen Erfahrungen und Orientierungen nach gewohnten Mustern interpretieren. So ist es nicht verwunderlich, daß die Deutschen nach vierzigjähriger Teilung trotz der staatlich-politischen Vereinigung jeweils in ihrer östlichen und westlichen Gedanken-und Wertewelt weiterleben und sich Verbindendes, Gemeinsames nur langsam entwickelt.

Informationen und Klarstellungen können diesen Entwicklungsprozeß beschleunigen. Der Zeitgeschichte fällt dabei eine wichtige Aufgabe zu, weil sie die jüngste Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft, aber auch, weil gerade der Geschichtsunterricht in der DDR vor allem die ideologischen Positionen der SED abzustützen hatte Er hinterließ deshalb nicht nur weiße Flecken, sondern nahm auch bewußt Verfälschungen vor. Dies gilt besonders für die Darstellung der Bundesrepublik. Wer in den neuen Bundesländern weiß beispiels-weise Leben und Wirken des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer objektiv einzuordnen und zu bewerten? Das SED-Regime hat hier wie in vielen anderen Fällen aus legitimatorisch-propagandistischen Gründen ein völlig falsches Bild von der historisch-politischen Wirklichkeit vermittelt. Die Menschen wissen -vielleicht -darum, aber sie tun sich verständlicherweise schwer, im Einzelfall zu beurteilen, wie es wirklich gewesen ist. Deshalb bleibt es notwendig, Verdrängtes zu erhellen und aufzuklären. Die Geschichte, wie sie die SED vor-gab, darf nicht weiterhin das Bewußtsein der Menschen prägen; sonst gehen wesentliche Ziele der Herbstrevolution verloren: Wahrheit, Gerechtigkeit und Mündigkeit.

Dabei sollte nicht aus dem Blickfeld geraten, daß nach der nationalsozialistischen Katastrophe nicht nur in der SBZ, sondern auch in den westlichen Zonen die Vision eines sozialistischen Deutschland Zuspruch fand. In den frühen Nachkriegsjahren hatte die SED noch einen erstaunlichen Rückhalt in der Bevölkerung, weil viele glaubten, daß mit der Vereinigung von SPD und KPD zur SED eine neue sozialistische, demokratische Partei entstanden sei. Die Ergebnisse der ersten Landtagswahlen von 1946 gaben dieser Hoffnung Ausdruck, auch wenn in Rechnung zu stellen ist, daß diese von der sowjetischen Militäradministration beeinflußt wurden

Viele Menschen wollten eine radikale Kehrtwendung der Politik und folgten der SED. Sie erkannten nicht, daß die SED die moralische Entrüstung über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg nutzte, um mit der sogenannten antifaschistischen-demokratischen Erneuerung eine zweite Diktatur vorzubereiten. Als diese immer stärker sichtbar wurde, konnten viele von denen, die nicht bereits geflohen waren, sich nicht vorstellen, daß eine Partei, die sich radikal von dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat abwandte, erneut eine Despotie beabsichtigte. Sie glaubten, die massiven Eingriffe der SED in Staat und Gesellschaft seien notwendig, um ein „besseres“ Deutschland aufzubauen. Selbst ein Jahr nach dem kulturpolitischen Tribunal, dem 11. Plenum 1965, gaben beispielsweise Adolf Endler und Karl Mickel im Mitteldeutschen Verlag noch eine Anthologie heraus, die den Titel trug: „In diesem besseren Land. Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945“. Diese -von der SED durchaus beabsichtigte -Fehleinschätzung unter dem Signum „Antifaschismus“ begünstigte über viele Jahre die Bereitschaft der Menschen, Bevormundungen und Pressionen zu ertragen. Am stärksten zeigte sich dies bei Intellektuellen, unter denen sich manche bis zur Selbstaufgabe fügten

Provozierend ließe sich formulieren, daß die durchlittene „Unmündigkeit“ von einem Teil der Bevölkerung in dem Sinne selbst verschuldet wurde, wie sie diese bewußt billigend in Kauf nahm. Dies gilt für die fünfziger Jahre mehr als für die achtziger. Wie stark aber bis zum Schluß die „antifaschistische Fessel“ blieb, belegt der von Hunderttausenden Unterzeichnete Aufruf „Für unser Volk“, den Christa Wolf und Stefan Heym noch in Szene setzten, als die SED schon zum Scheitern verurteilt war.

Demgegenüber erschien die friedliche Revolution als ein Akt der Befreiung. Die Menschen kämpften für das Ziel, sich endlich wieder des eigenen Verstandes ohne die demütigende Anleitung durch die Nomenklatura bedienen zu können. Die zynische Behauptung, ausgerechnet von sich selbst aufgeklärt verstehenden Intellektuellen, es sei ihnen vor allem um das Streben nach westlichem Wohlstand gegangen, trifft nicht zu Vielmehr waren sie es satt, weiterhin einem System zu dienen, dessen Grundstütze ein „Leben in Lüge“ war. Dieser Akt der Befreiung erweist sich nun allerdings als ein langwieriger Prozeß, der Geduld erfordert. Es ist nicht damit getan, sozialistische Verhaltensmuster durch demokratische zu ersetzen, sondern es geht um den schrittweisen Aufbau einer neuen Identität, die auch den Schmerz des Abschieds einschließt und verarbeiten muß.

Obwohl heute grundlegende politische Forderungen und Hoffnungen der friedlichen Revolution erfüllt sind, zeigt sich -wie Meinungsumfragen bestätigen -die Gefühls-und Seelenlage der Ostdeutschen eher gedämpft. Dies erscheint deshalb erstaunlich, da eine große Mehrheit der Bürger in den neuen Ländern ihre wirtschaftliche Lage selber als gut bezeichnet und optimistisch in die Zukunft sieht Die Ursache für diese Wahmehmungsschere dürfte nur bedingt in der Arbeitslosigkeit oder darin liegen, daß der Rechtsstaat die Täter schont. Sie ist offensichtlich einerseits auf den negativen Einfluß der Massenmedien zurückzuführen, die den wirtschaftlichen Aufschwung und andere positive Entwicklungen kaum registrieren Andererseits ist die Ursache wohl auch in dem Umstand zu suchen, daß sich zunehmend mehr Menschen angesichts der Auseinandersetzungen um Stasi-Akten und informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit bewußt werden, daß die Trennlinie zwischen Tätern und Opfern selten eindeutig gezogen werden kann und dies auch vielleicht für sie selber gilt. Günter de Bruyns selbstkritisches Bekenntnis, der Staats-sicherheit ungewollt dienlich gewesen zu sein, mag als ein Beispiel gelten. Ihn befielen Selbstzweifel und Scham, als er seine Akte las: „Die Scham darüber, sich so gedemütigt zu haben, wird nicht weichen. Nie mehr werde ich glaubhaft von Würde und Anständigkeit reden, nie mehr über andere urteilen können.“

V. Bekenntnis zur Nation

Der Einigungsprozeß eröffnet -trotz aller Schwierigkeiten -den Deutschen neue Chancen. Unser Gemeinwesen erfährt wichtige Impulse der Innovation, und zwar in dem Maße, wie wir uns aufeinander einlassen. Die so unterschiedliche „Sozialisation“ der Ost-und Westdeutschen kann dabei helfen, festgeschriebene Standpunkte zu überprü-fen und gemeinsam neue zu entwickeln. Dazu zählt auch die Frage, wie wir es künftig mit der Nation und dem Nationalstaat halten wollen. Besonders aus Ostdeutschland häufen sich derartige Fragen. Wenn der ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD in der Volkskammer, Richard Schröder, freimütig bekennt, „Deutschland ist mir das liebste Land“, und anfügt, das sei kein neuer Nationalismus, „der jemanden diskriminiert, denn jedem sollte sein Land das liebste sein können“ dann wird manchem westdeutschen Intellektuellen die Zornesröte ins Gesicht gestiegen sein. Vielleicht hat er sogar zum Schreibgerät gegriffen und seiner Empörung Ausdruck verheben. Aus ostdeutscher Sicht ist dieses Bekenntnis jedoch durchaus verständlich, steht es doch ganz in der Tradition der friedlichen Revolution, als es hieß: „Wir sind ein Volk“.

Nation und Nationalstaat kündigten sich mit dieser Losung wieder als ein Thema der politischen Diskussion in Deutschland an Dabei verwunderte es nicht, daß alsbald Intellektuelle aus Ost und West, angeführt von Stefan Heym und Günter Grass, die Wiedererlangung der Einheit der Nation mit dem Aufkommen eines neuen Nationalismus alter Prägung verbanden und mit Parallelen zur Machtergreifung der Nationalsozialisten schnell zur Hand waren Diese west-östliche Allianz, die ihren Ursprung in dem inzwischen gescheiterten Traum von einem sozialistischen Deutschland hat, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Menschen in Ost-und Westdeutschland sich ten• denziell in ihren Einstellungen zu Nation und Nationalstaat unterscheiden. Der Mißbrauch, den die Nationalsozialisten mit der „Nation“ trieben, hat das nationale Bewußtsein der Westdeutschen traumatisch belastet. Sie hatten sich, wie es Karl Jaspers forderte, daran gewöhnt, „daß ihre Zukunft nicht in der Wiederherstellung des Nationalstaates liegt, sondern in dessen Überwindung“ Die nationale Einheit Deutschlands rückte für sie mit dem Bau der Mauer in immer weitere Ferne, bis die meisten aufhörten, überhaupt noch daran zu glauben.

Für die Ostdeutschen, die, wie es der SED-Staat gerne gesehen hätte, die DDR nicht als ihre „Nation“ anerkannten, blieb die nationale Einheit stets eine Hoffnung; sie verbanden damit die Vorstellung von Freiheit und Wohlstand. Der antinationale Effekt, der sich im Westen aus der Zeit des Nationalsozialismus speiste, spielte für sie -wenn überhaupt -nur eine untergeordnete Rolle, weil die DDR dieses Thema schon sehr früh als erledigt betrachtet hatte. Bertolt Brecht beklagte dies und stellte mahnend fest: „Wir haben allzu früh der Vergangenheit den Rücken zugekehrt, begierig, uns der Zukunft zuzuwenden.“

Für das Zusammenwachsen der Deutschen bietet die Rückbesinnung auf die positiven Traditionen der Nation und des Nationalstaates dann die Chance einer Neuorientierung, wenn die Gefährdungen, die in einem nationalen Irrationalismus liegen, wachgehalten werden. Die verbindende Kraft nationaler Identifikation könnte dabei helfen, die Probleme (besser) gemeinsam zu lösen, die der innerdeutsche Einigungsprozeß mit sich bringt, aber auch mit den Herausforderungen fertig zu werden, die sich Deutschland nach der Vereinigung im internationalen Rahmen stellen, sei es gegenüber Mittel-und Osteuropa, sei es in den Vereinten Nationen oder bei friedenssichernden Maßnahmen im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia.

Die politische Bildung darf diese Entwicklung nicht unbeachtet lassen, zumal die Menschen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und den Umbrüchen und Veränderungen in Europa wie in der Welt vor allem regionale und nationale Bindungen als neue Orientierungspunkte suchen. Sie sollte deshalb auch nationales Empfinden ansprechen. Dabei kommt es darauf an, einerseits die schrecklichen Verirrungen der deutschen Nation zu vergegenwärtigen, andererseits aber auch die konsens-stiftenden, positiven Eigenschaften und Fähigkeiten hervorzuheben, über die Nation und Nationalstaat verfügen. In einer Zeit wachsender politischer Orientierungslosigkeit können gerade die mythischen und gefühlsbetonenden Kräfte, die in Nation und Nationalstaat mitschwingen, von Demagogen mißbraucht werden. Ihnen darf das Ausfüllen dieser Begriffe deshalb nicht überlassen bleiben. Gerade wer verhindern will, daß Nation und Nationalstaat wieder -wie im 19. und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts -zum politischen Maßstab schlechthin erklärt werden, der sollte sie in einen europäischen Rahmen einbetten.

Gelänge des den Deutschen, zu einem „gesunden“ nationalen Bewußtsein zurückzufinden, würden sich die vorhandenen Vorbehalte gegen die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft, wie sie die Beschlüsse von Maastricht vorsehen, abschwächen lassen. Denn der Prozeß der innerdeutschen Integration im Sinne einer Nationen-bildung steht keineswegs im Gegensatz zu den europäischen Einigungsbemühungen. Deutschland verdankt Europa viel. Der zukünftige deutsche Nationalstaat wird seine Interessen nicht wie die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts gegen andere durchsetzen, sondern mit anderen Staaten in Bündnissen und internationalen Gemeinschaften Zusammenarbeiten. Freiheit, Frieden, Umwelt und wirtschaftliche Prosperität lassen sich nur in Solidarität mit anderen Völkern und Nationen erhalten und weiterentwickeln. Dies schließt die Abgabe nationaler Rechte ein. Nationale Autarkie hat deshalb heute weniger denn je eine Zukunft. Die Nation wird dadurch aber nicht überflüssig. Sie bleibt Baustein der größeren Einheit, die über die Europäische Gemeinschaft hinausweist: auf die Vereinigten Staaten von Europa.

Das Bekenntnis zur Nation umfaßt: Toleranz gegenüber dem Fremden, Weltoffenheit, Achtung der Menschenrechte, solidarische Hilfe für die Schwachen, Abgabe nationaler Rechte an supranationale Organisationen. Es schließt aber auch ein: Förderung und Pflege nationaler Kultur und Sprache, Verwurzelung in der Heimat, einen gesunden Patriotismus und die Wahrnehmung nationaler Interessen Offenheit und Toleranz nach außen ist nicht ohne Selbstvergewisserung im Innern möglich.

Wenn die Deutschen in Ost und West gemeinsam zu einem neuen Verständnis der Nation zurückfänden, gewönnen sie gleichzeitig ein Stück der Normalität zurück, die Spanier, Franzosen und andere europäische Völker schon seit langem als Selbstverständlichkeit empfinden. Dies muß nicht zu einem Bekenntnis führen, wie es Richard Schröder formuliert hat. Es würde schon ausreichen, könnten wir uns auf die Zeilen des rumäniendeutschen, in Berlin lebenden Schriftstellers Richard Wagner verständigen: „Ich schäme mich nicht, ein Deutscher zu sein. Ich bin auch nicht stolz darauf. Ein Deutscher zu sein, ist für mich selbstverständlich und deshalb nicht der Rede wert.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gerd Meier, Deutschland: Ein Staat -zwei politische Kulturen, in: Der Bürger im Staat, (1993) 1, S. 3-12.

  2. Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992, S. 333 ff.

  3. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Wird sich jetzt fremd, was zusammengehört?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 5. 1993.

  4. Vgl. Günther Rüther, „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, Düsseldorf 1992, S. 184f.

  5. Zit. n. Günter Feist, Wenn Urteile zum Kahlschlag führen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 5. 1993.

  6. Vgl. Heinrich Oberreuter, Perspektiven der politischen Kultur im vereinigten Deutschland, in: Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn 1992, S. 480.

  7. Lothar de Maiziöre, Femsehansprache des Ministerpräsidenten der DDR am Vorabend des Tages der deutschen Einheit, in: Dokumentation zum 3. Oktober 1990, hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1990, S. 8.

  8. Vgl. Iris Radisch, Dichter in Halbtrauer, in: Die Zeit vom 4. 6. 1993 (Literaturbeilage); s. auch Günter Grass, Was rede ich. Wer hört noch zu, in: Die Zeit vom 11. 5. 1990.

  9. Heiner Müller, Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 42.

  10. Vgl. Günter Kunert, Sehnsucht nach der DDR?, in: Die Zeit vom 4. 6. 1993 (Literaturbeilage).

  11. Ders., Der Sturz vom Sockel. Feststellungen und Widersprüche, München 1992, S. 10.

  12. Klaus Schlesinger, Sehnsucht nach der DDR?, in: Die Zeit vom 4. 6. 1993 (Literaturbeilage).

  13. Vgl. Tilmann Moser, Der braune Untergrund der

  14. Ebd., S. 288.

  15. H. Oberreuter (Aran. 6), S. 480.

  16. „Sachsens CDU im Streit über Versöhnung“, in: Frankfurter

  17. Vgl. Walter Jens, CDU will durch Diskriminierung der Ostberliner Mitglieder die geplante Neugründung der Akademie der Künste verhindern, in: Neues Deutschland vom 15. 5. 1993; Friedrich Dieckmann, Vorwärts zu neuen Akademien?, in: Neue Zeit vom 18. 5. 1993.

  18. Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, Neuausgabe Leipzig 1990, S. 27.

  19. Ebd., S. 92.

  20. Werner Weidenfeld/Felix Ph. Lutz, Das deutsche Dilemma, in: Focus, 17/1993.

  21. Vgl. H. Oberreuter (Anm. 6), S. 479.

  22. Vgl. Wolfgang Protzner u. a., Der Geschichtsunterricht in der DDR als Instrument der SED-Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, S. 42ff.; Eberhard Kuhrt/Henning von Löwis, Griff nach der deutschen Geschichte. Erbaneignung und Traditionspflege in der DDR, Paderborn 1988.

  23. Bei den Landtagswahlen 1946 erreichte die SED in Mecklenburg 49, 5 Prozent, in Thüringen 49, 3 Prozent, in Sachsen 49, 1 Prozent, in Brandenburg 43, 9 Prozent und in Sachsen-Anhalt 45, 8 Prozent; vgl. Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1986, S. 142.

  24. Vgl. Hans-Helmuth Knütter, Sozialpsychologie des Antifaschismus, in: Identität und Zukunft der Deutschen. Klaus Hornung zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 1992, S. 67-77; ders., Antifaschismus und politische Kultur in Deutschland nach der Wiedervereinigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/91, S. 17-28.

  25. Vgl. G. Rüther (Anm. 4), S. 44ff.

  26. So vor allem von Stefan Heym, Aschermittwoch in der DDR, in: „Die Geschichte ist offen“, hrsg. von Michael Naumann, Reinbek 1990, S. 87.

  27. Vadlav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1990, S. 36.

  28. Vgl. „Tendenz steigend“, in: Der Spiegel 8/1993, S. 72; „Soziales Ungleichgewicht noch nach 2000“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 7. 1993; „Wie sehen Sie Ihre Lebenslage? Welche Partei bevorzugen Sie?“, in: Sächsische Zeitung vom 12. 7. 1993.

  29. Zu diesem Ergebnis kommt die Spiegel-Recherche (Anm. 28), S. 72.

  30. Günter de Bruyn, Dieses Mißtrauen gegen mich selbst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 2. 1993.

  31. Richard Schröder, Deutschland schwierig Vaterland. Für eine politische Kultur, Freiburg 1993, S. 23.

  32. Vgl. Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993; Karlheinz Weißmann, Wiederkehr eines Totgesagten: Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/93, S. 3-10; Karl-Rudolf Körte, Das Dilemma des Nationalstaates in Westeuropa: Zur Identitätsproblematik der europäischen Integration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/93, S. 21-28.

  33. Vgl. Godehard Schramm, Leichtfertigkeit -eine Eigenschaft vieler deutscher Dichter, in: Zeitschrift zur politischen Bildung -Eichholz Brief, (1992) 2, S. 87f.; Helmuth Kiesel, Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, in: Die politische Meinung, (1991) 264, S. 49-62.

  34. Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960, S. 53.

  35. Bertolt Brecht, Kulturpolitik und Akademie der Künste, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 19, Frankfurt/M. 1975, S. 543.

  36. Vgl. H. Rüdiger Durth, Erinnerung und Neuorientierung bei den deutschen Protestanten, in: Das Parlament vom 2. 4. 1993.

  37. Richard Wagner, Sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein?, in: Der Tagesspiegel vom 13. 2. 1993.

Weitere Inhalte

Günther Rüther, Dr. phil., M. A., geh. 1948; Studium der Politikwissenschaft, der Germanistik und der Pädagogik; Mitglied der Geschäftsleitung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter: Bereich Politische Bildung. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Anpassung und Kritik. Literatur im real existierenden Sozialismus der DDR, Melle 1989; „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, Düsseldorf 1992; Herausgeber der „Zeitschrift zur politischen Bildung -Eichholz Brief“.