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Der islamische Fundamentalismus zwischen „halber Moderne“ und politischem Aktionismus | APuZ 33/1993 | bpb.de

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APuZ 33/1993 Der islamische Fundamentalismus zwischen „halber Moderne“ und politischem Aktionismus Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht Klerus und Staat in der Islamischen Republik Iran

Der islamische Fundamentalismus zwischen „halber Moderne“ und politischem Aktionismus

Bassam Tibi

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die politische Erscheinung des Fundamentalismus ist nicht auf den Islam beschränkt; sie ist global und hält seit dem Ende des Kalten Krieges an, wobei der Fundamentalismus neben dem ethnischen Nationalismus als neue Hauptströmung in der Weltpolitik auftritt. Aus weltpolitischer Perspektive ragt der islamische Fundamentalismus unter allen anderen Spielarten des Fundamentalismus deshalb heraus, weil er -etwa im Gegensatz zum lokalen Hindu-Fundamentalismus, der nur einen Hindu-Staat in Indien als Ziel verfolgt -eine universelle Weitsicht pflegt und eine islamische Weltordnung verwirklichen möchte. Diejenigen, die die Kritik am Fundamentalismus tabuisieren, helfen dabei den Fundamentalisten, die -obwohl nur eine gewalttätige, aktionistische Minderheit -im Namen des Islam auftreten. Die Kritik am Fundamentalismus ist keine Anfeindung des Islam.

I. Einleitung

Nach der Auflösung der Bipolarität als der bisherigen Ordnungsstruktur des internationalen Systems bestand große Hoffnung auf einen Weltfrieden. Statt dessen traten neue, die Globalstrukturen des internationalen Systems herausfordernde politische Kräfte auf. An vorderster Front stehen der ethnische Nationalismus, der zur Desintegration der Nationalstaaten führt, sowie der religiöse Fundamentalismus, der den internationalen Konsens unterminiert.

Weltblöcke scheinen sich nunmehr nicht länger nach politischen, sondern vorwiegend nach religiös-ethnischen Kriterien zu ordnen. Ethnizität als eine spalterische Kraft ist offenbar leicht zu deuten, und sie wurde kürzlich von dem ehemaligen, zur Politik übergewechselten Harvard-Professor Daniel P. Moynihan in einem Standardwerk als „Pandaemonium“ des Übergangs zum 21. Jahrhundert dechiffriert „Fundamentalismus“ wird als ein Schimpfwort popularisiert. So hat der bekannte Friedensforscher Johan Galtung in seinem Kommentar zu meinem Vortrag im Mai 1993 in Wien meine Deutung von Fundamentalismus als eine „politisierte Vision eines Traumes von einer halben Moderne“ mit dem polemischen, anti-amerikanischen Vermerk zurückgewiesen, ich hätte übersehen, daß die „wahren Fundamentalisten im Weißen Haus in Washington“ säßen. > Die Deutung der islamischen Variante des religiösen Fundamentalismus, die im Vorliegenden vorgestellt wird, basiert jedoch auf einem international anerkannten Großprojekt der „American Academy of Arts and Sciences“, an dem ich selbst mitgewirkt habe. Die in sechs Bänden erscheinen-den Ergebnisse dieses 1988 gestarteten Projekts werden die Fundamentalismus-Deutung der kommenden Jahre entscheidend prägen.

II. Fundamentalismus versus Weltreligion

Der nicht-fachliche Umgang mit dem Fundamentalismus bleibt nicht bei der Verwendung des Begriffes als Schimpfwort stehen; er reicht von der naiven Artikulation der vorwissenschaftlichen Meinung, es handele sich um eine „Fiktion“ bis hin zu der nicht haltbaren Identifikation dieses politischen Phänomens mit dem Islam schlechthin oder der soziologischen Bestimmung seiner Anhänger als Vertreter eines radikalen Patriarchalismus Die Fundamentalisten selbst sprechen in ihren Pamphleten von einer „kreuzzüglerischen Verschwörung des Westens gegen Dar al-Islam“ Ihren Islamismus präsentieren sie in der Konsequenz als eine „Revolte gegen den Westen“. Dagegen befand der Libyer Gaddafi, daß die Fundamentalisten selbst Ausdruck einer Verschwörung seien, die zu einer „teuflischen Strategie kolonialistischer Geheimdienste und Finanzmächte“ gehöre. Er rief die Studenten der Universität Tripoli am Samstag, den 1. Mai, auf: „Wenn ihr jemanden kennt, der einer von diesen Ketzern ist, dann sollte er wie ein Hund getötet und liquidiert werden. Ohne Prozeß... Die fundamentalistischen Organisationen sind vom Westen unterwandert und finanziert.“ Nach Gaddafis Gusto sei die umfangreiche arabischsprachige fundamentalistische Literatur „von den Vereinigten Staaten gesteuert“, denen er vorwarf, „die Verbreitung fundamentalistischer Schriften voranzutreiben“ Dagegen hat der ägyptische Präsident Husni Mubarak kürzlich in einem Interview mit der Financial Times -im Zusammenhang mit dem fundamentalistischen Terroranschlag auf das „World Trade Center“ in New York -die Stadt Peshwar als Brutstätte des fundamentalistischen Terrors der Islamisten bezeichnet und in diesem Kontext den Westen zu einer Kooperation mit den islamischen Ländern aufgerufen, um gegen solche Terroraktivitäten des islamischen Fundamentalismus Vorgehen zu können.

Peshwar ist eine pakistanische Stadt, die in der Nähe der afghanischen Grenze liegt; sie hat während des neunjährigen Afghanistan-Krieges als logistische Basis gleichermaßen für die Nachschub-versorgung der islamischen Moudjahidin mit Waffen aus dem Westen als auch für die Ausbildung zur Guerilla-Kriegsführung gedient. Westliche Politiker verdrängen heute die Tatsache, daß die rund 200000 afghanischen Moudjahidin, die sämtlich fundamentalistisch orientiert sind, materiell in massiver Weise auf allen Ebenen vom Westen gegen die Sowjetunion unterstützt worden waren. Damals herrschte noch der Kalte Krieg. Es trifft zu, daß der Afghanistan-Krieg den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt hat. Man darf aber nicht vergessen, daß die Moudjahidin Fundamentalisten, also keine Freunde des Westens sind.

Die in sieben Gruppen organisierten Afghanen haben die ihnen großzügig überlassenen Waffen ohne Wissen der amerikanischen Nachschubquellen in umfangreichen Waffenarsenalen weit über ihren damaligen Bedarf hinaus gehortet; sie verwenden sie heute für den innerafghanischen Kampf um die Macht in dem zerbrochenen Staat. Zusätzlich zu diesen Moudjahidin haben sich islamische Fundamentalisten aus anderen Ländern als Freiwillige in Peshwar ausbilden lassen. Man schätzt die Zahl der Araber unter ihnen auf 8000 bis 12000; sie stammen u. a. aus Algerien, Ägypten und dem früher palästinensischen Teil Jordaniens und führen heute, nach der Rückkehr in ihre Ursprungsländer, dort entsprechende Terroraktionen durch. Auch diese Ägypter, Algerier und Palästinenser tragen den Namen „al-Afghan/die Afghanen“, weil sie in Peshwar ausgebildet worden sind und sich am Afghanistan-Krieg beteiligt haben. Zur besseren Identifikation nennt man sie „die arabischen Afghanen“.

Erst seit dem Anschlag auf das „World Trade Center“ in New York, der vom islamischen Ghetto im westlichen Exil vorbereitet und teilweise von soge-nannten arabischen Afghanen durchgeführt worden war, hat man im Westen begonnen, die Frage zu stellen: Wie bedrohlich ist der islamische Fundamentalismus? Einer der New Yorker Terroristen hat eine für einen Fundamentalisten charakteristische Biographie: der Fundamentalist Mohammed Abou-Halima ist ein Ägypter, der früher in Deutschland lebte und ordnungsgemäß die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Er wurde in Peshwar militärisch ausgebildet und mit dem Umgang mit Sprengstoff und der Guerilla-Kriegsführung vertraut gemacht. Nach der Übersiedlung nach New York diente er als Fahrer des blinden Fundamentalistenführers Scheich Omar Abdulrahman, der aufgrund eines entsprechenden Fetwas (Todesurteils per Rechtsgutachten) zu den geistigen Anstiftern der Ermordung des früheren ägyptischen Präsidenten Sadat gehörte; von seinem Exil im Sudan aus erwarb er das amerikanische Visum, um in die USA auszuwandern. Von der Moschee der Stadt Jersey aus dirigierte Scheich Abdulrahman weltweit Terroraktionen, was er jedoch, nach den entsprechenden Enthüllungen, heute bestreitet. Er behauptet nun, er betreibe nur die Da’wa, d. h.den Aufruf zum Islam! Als ein Erfüllungsgehilfe von Scheich Abdulrahman diente der deutsche Muslim Abou Halima.

An dieser Stelle muß bereits betont werden, wie wichtig es ist, zwischen diesen Terrorakten als Ausdruck des aktiven Fundamentalismus und dem Islam als einer Weltreligion strikt zu unterscheiden.

Terror kann keine Da’wa sein. Es ist im Interesse der Muslime selbst, insbesondere der Diaspora-Muslime unter ihnen, nicht mit Terrorakten in irgendeinen Zusammenhang gebracht zu werden. Ein Leitartikler der New York Times hat zu Recht vor Islam-Feindbildern gewarnt und die Muslime aufgefordert, selbst dazu beizutragen, daß solche nicht aufkommen können. „Muslime können selbst den Terrorismus bekämpfen, indem sie es ablehnen, von einer gewalttätigen Minderheit unter ihnen eingeschüchtert zu werden... indem sie die auf dem Recht basierende weltweite Zähmung dieses Fanatismus gutheißen und anerkennen, daß das nur den Islam stärken kann“

Es ist für den Islam schädlich, wenn Diaspora-Muslime in fragwürdiger Solidarität Verständnis für die Motive der fundamentalistischen Aktionisten aufbringen, wie es manche unter ihnen mit einer die Folgen übersehenden Naivität tun.

Die bereits zitierte Warnung Mubaraks vor dem Fundamentalismus ist meiner Auffassung nach ein islamischer Beitrag gegen eine Identifizierung oder Verwechslung des Islam mit dem Fundamentalismus. Andere Muslime müssen in ähnlicher Weise einen Beitrag gegen die Entstehung von Feindbildern über den Islam leisten, sie müssen durch Taten beweisen, wie wichtig es ist, zwischen dem Islam als einer Weltreligion und dem Fundamentalismus zu unterscheiden. Bei aller Kritik am Fundamentalismus ist es zwar wichtig zu wissen, daß nicht alle Fundamentalisten Terroristen sind -wie etwa „die arabischen Afghanen“ -, sie zählen aber in ihrer Mehrzahl nicht zu den demokratischen Kräften, und der Fundamentalismus stellt eindeutig die neueste Variante des Totalitarismus dar. In diesem Zusammenhang unterscheide ich zwischen der normativen Weitsicht des Fundamentalismus und den politischen Strömungen der militanten Islamisten, von denen der Terrorismus nur eine Richtung bildet.

Manche in Europa sind der Auffassung, daß der Westen ohne Feindbilder nicht auskommen kann. Für sie ist der Fundamentalismus die Ersatzideologie für den untergegangenen Kommunismus. In diesem Lichte erscheint der neue Totalitarismus manchem schlicht als eine Fiktion. Dagegen werden andere Europäer durch die oft rhetorischen Aufrufe militanter Muslime zu einer islamischen Weltordnung dermaßen verängstigt, daß sie das Abendland in Gefahr sehen. Es stellt sich die Frage: Ist der islamische Fundamentalismus eine auf den Aufbau eines Feindbildes hinzielende Erfindung berechnender westlicher Strategen? Inwiefern ist er eine emstzunehmende Gefahr? Bei der Beantwortung dieser Fragen können wir nicht an der politischen Theologie der säkularisierten christlichen Nächstenliebe Vorbeigehen, die in jeder Abwehr von Bedrohungen der westlichen Demokratie eine neue Form des Euro-Rassismus argwöhnt.

In gebührender Entfernung von den bekannten europäisch-byzantinischen Debatten über dieses Thema kann jeder, der den islamischen Orient kennt, seine Sprachen versteht und sich dort aufhält, die bestehenden politischen Formen des militanten Islam im Alltagsleben deutlich erkennen. Der politische Islam ist auch im Westen präsent. Nur Weltfremde können seine in manchen islamischen Migrantenzentren in Europa gedeihenden Auswüchse übersehen. Es geht darum, zwischen Realität und Rhetorik, wirklicher Gefahr und verbaler Bedrohung zu unterscheiden und die Ursachen des neuen Phänomens sachlich zu verstehen.

Nun ist der Fundamentalismus von seinem Ursprung her zugegebenermaßen ein Begriff, der sich auf den nordamerikanischen Protestantismus bezieht. Es ist deshalb legitim zu fragen: Kann man nun militante Muslime, analog zu den nordamerikanischen protestantischen Puristen, überhaupt als Fundamentalisten bezeichnen? Gegen eine Begriffsübertragung läßt sich folgendes Argument anführen: Es gibt weder im Koran noch in der schriftlichen Überlieferung des islamischen Propheten (Hadith) eine sprachliche Entsprechung für Fundamentalismus. Diese Tatsache untermauert meine Warnung vor der Verwechslung des Islam mit dem Fundamentalismus. Dieser ist nämlich ein neueres, primär politisches Phänomen. Wer aber Arabisch versteht und zeitgenössische arabische Bücher liest, dem ist vertraut, daß der neuarabisch geprägte Begriff al-Usuliyya keine andere Bedeutung als „Fundamentalismus“ hat. Schließlich ist der Fundamentalismus -wie mehrfach betont -eine zeitgenössische Strömung, sowohl im Islam als auch in anderen Religionen.

Gleichermaßen auf dem Vormarsch im islamischen Orient wie in der islamischen Diaspora im Westen (es gibt etwa 12 Millionen Muslime in Westeuropa) befindet sich gegenwärtig der politische Islam, der eine Form des religiösen Fundamentalismus darstellt. Der religiöse Fundamentalismus ist nicht nur eine islamische Erscheinung, sondern er stellt auch ein globales Phänomen dar. Aber -um zwei Beispiele anzuführen -weder der Hindu-noch der Sikh-Fundamentalismus, obgleich beide gleichermaßen aggressiv, militant und mit fest umrissenen Feindbildern der eigenen Gegner beladen, sind universalistisch orientiert; sie sprechen jeweils nur die eigene Gemeinschaft an. Die Hindu-Fundamentalisten wollen lediglich einen Hindu-Staat in Indien. Der religiöse Fundamentalismus im Islam greift dagegen auf die islamische Lehre vom Universalismus zurück, politisiert sie und entfaltet auf dieser Basis ein neo-islamisches Konzept einer vom Islam beherrschten Weltordnung, das sich weder im Koran noch in irgendeiner islamischen Quelle finden läßt. Das Konzept ist natürlich vorwiegend rhetorischer Natur.

Der unserer Gegenwart entsprungene islamische Fundamentalismus will seine politische Heilsideologie der „al-hall al-Islami/Islamische Lösung“ als Heilmittel zur Überwindung der Krise der gesamten Menschheit aufzwingen. Alleine die Verwendung einer modernen weltpolitischen Sprache verrät jedoch, daß der islamische Fundamentalismus eine Ausgeburt der Moderne ist, so sehr er sich in mittelalterlichen Symbolen als Alternative zu ihr präsentiert. Obwohl islamische Fundamentalisten sich in ihrer Rhetorik auf das goldene Zeitalter des Islam im siebten Jahrhundert als ihr Vorbild und Ideal berufen, sind gleichermaßen sie, ihre Ideologie und ihre Programme Ausdruck der Konfrontation mit der Moderne. Wie ich gezeigt habe wollen sich islamische Fundamentalisten alle technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften der Moderne, nicht jedoch deren rationales menschen-zentriertes Weltbild aneignen; sie wollen die techno-wissenschaftliche Moderne von ihrem säkularen kulturellen Projekt trennen und sie so selektiv nur instrumentell übernehmen. Für diese Halbierung der Moderne habe ich den Begriff des islamischen „Traums von der halben Moderne“ geprägt. Es stellen sich hierbei die Fragen: Muß man dieses neue Phänomen auch dann ernst nehmen, wenn man begriffen hat, daß nicht jeder Muslim ein Fundamentalist ist? Und was ist überhaupt der Inhalt dieses neo-islamischen politischen Phänomens? Ist es durch seine Aggressivität eine Bedrohung für den Westen?

Ehe ich auf diese Fragen antworte, möchte ich auf die besorgniserregende, unter den deutschen Linken zu beobachtende Einstellung hinweisen, die alles gutheißen, was antiwestlich ist. Die antiwestliche Ausrichtung des Fundamentalismus ist unübersehbar, und sie bietet für manche Linke einen Anlaß zum Bündnis gegen den Westen. Linke Autoren vergleichen den Anti-Fundamentalismus mit dem Anti-Kommunismus und unterstellen ein „Feindbild Islam“. Auch sie übersehen, daß Islam und Fundamentalismus zwei verschiedene Dinge sind. Als ein Euro-Muslim und deutscher Wahl-bürger spüre ich die irrationale Romantik des deutschen Nationalismus in dieser antiwestlichen Orientierung. Die Deutschen kann man nicht genug daran erinnern, daß der Westen sie einmal vom Feudalismus (Napoleon in Deutschland) und in der neueren Geschichte vom Faschismus befreit hat. Ich rechne diese antiwestliche Ausrichtung in Deutschland zu den mich beängstigenden nicht-demokratischen Strömungen.

III. Dialog mit dem liberalen Islam und Aufklärung über den politischen Islam

Von der gut gemeinten Annahme ausgehend, daß es zur demokratischen politischen Bildung gehört, Feindbilder abzubauen, fand im November 1992 ein Seminar über die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen Deutschen und Vertretern der muslimischen Gemeinde in Deutschland statt. Der islamische Vertreter freute sich zunächst über die Aufgeschlossenheit seiner Zuhörer und deren bekundete Bereitschaft, den Islam als eine dritte Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik im besonderen und in Europa im allgemeinen anzuerkennen. Zur Überraschung dieser aufgeschlossenen deutschen Bürger meinte der durch einen entsprechenden Vollbart uniformierte Fundamentalist, daß der Islam nicht nur eine Religion, sondern auch eine Gesellschaftsordnung sei. Wer den Islam anerkenne -so führte er aus müsse auch die islamischen gesellschaftspolitischen Konzeptionen akzeptieren. Dabei ließ dieser Sprecher des islamischen Zentrums unausgesprochen, ob er damit auch die Übernahme der Scharia in das Grundgesetz gemeint hat. Diese Islam-Deutung gibt die Hauptidee der islamischen Fundamentalisten wieder. Ihr Ziel ist die Gottesherrschaft/Hakimiyat Allah. Weil der Islam für die gesamte Menschheit gelte, sei auch diese göttliche Ordnung für alle Menschen vorgesehen. Das ist aber eine Auffassung vom Islam als einer politischen Ideologie, nicht als einer göttlichen Religiop, an die 1, 2 Milliarden Menschen glauben. Halten wir fest: Die Fundamentalisten vertreten eine politische Ideologie, sie vertreten nicht den Islam als eine Religion.

Es ist wichtig und von zentraler Bedeutung, daß einerseits zwischen Fundamentalismus als politischer Ideologie und Islam als religiösem Glauben strikt differenziert wird und andererseits Forderungen nach demokratischem Verhalten an die in Europa lebenden Muslime, die Bürgerrechte für sich in Anspruch nehmen wollen, zu stellen. Die Anerkennung des Islam in Europa darf nicht jenseits von Demokratie und Moderne bedingungslos erfolgen: Religionsfreiheit ist eine verfassungs-mäßig geschützte Norm für Individuen als Bürger. Eine politische, an der Scharia orientierte Gemeinde ist nicht konform mit dem Grundgesetz.

Bei der Abgrenzung des Islam vom Fundamentalismus müssen wir uns die historische Tatsache vergegenwärtigen, daß der Islam auf eine dreizehn Jahrhunderte alte Religion und Kultur zurückblicken kann. Der klassische islamische Rationalismus im Hochislam des Mittelalters hat seine positiven zivilisatorischen Spuren auch in Europa hinterlassen Dagegen ist der Fundamentalismus nicht älter als etwa zweieinhalb Jahrzehnte Wir können ihn ohne Einschränkung als eine neue Variante des Totalitarismus umschreiben.

Der einleitend vorgenommene Hinweis, daß der Begriff UW/yyg/Fundamentalismus neu-arabisch ist und sich nicht in islamischen Quellen finden läßt, gilt gleichermaßen für die zentralen Glaubenssätze islamischer Fundamentalisten: „Hakimiyat Allah! Gottesherrschaft“ und „Nizam IslamilIslamisches System“. Diese Begriffe kommen nur in den zeitgeschichtlichen Pamphleten islamischer Fundamentalisten vor Die Hinweise untermauern die dringende, wiederholt erfolgte Warnung vor der folgenreichen Identifikation des Islam mit dem Fundamentalismus. Präsident Mubarak hat ein Bündnis liberaler Muslime mit demokratischen Staaten im Kampf gegen die Terroraktionen islamischer Fundamentalisten angeboten. Der Fundamentalismus bedroht nicht nur den Westen, sondern auch die Muslime selbst in ihrer Entwicklung. Die Fundamentalisten, eine Minderheit, wollen die Mehrheit der Muslime mit Gewalt zu dem treiben, was sie für den „richtigen Islam“ halten.

Die Fundamentalisten werden in der Welt des Islam selbst vom politischen Establishment unter Rückgriff auf einen klassischen islamischen Begriff aus den mittelalterlichen Sektenkämpfen als „Ghulatl Fanatiker“ bezeichnet. Der ägyptische Richter, Islamexperte und Berater des ägyptischen Präsidenten, Muhammed Said al-Aschmawi hat diese Fanatiker als irregeleitete Muslime charakterisiert und sie unter Rückgriff auf die islamische Sektengeschichte als Khawaridj bezeichnet. Die Khawaridj-Sekte entstand bereits im siebten Jahrhundert, und sie stand, wie schon ihr Name, die Ausgetretenen (das arabische Verb Kharadja bedeutet „verlassen“), sagt, außerhalb der islamischen UmmalGemeinschaft. Indem das islamische Establishment die Fundamentalisten als Khawaridj abstempelt, grenzt sie sie aus der islamischen Umma aus. Das ist eine alte islamische Methode zur Erstickung einer jeden Opposition, und so kann man heute mit dem Fundamentalismus nicht umgehen, so totalitär er auch ist. Man muß sich mit jeder Opposition demokratisch auseinandersetzen. Obwohl er von einer organisierten Minderheit artikuliert wird, stellt der Fundamentalismus heute die Hauptopposition im islamischen Orient dar.

Der respektable islamische Jurist al-Aschmawi wie auch andere auf seiten des Establishments stehende Islam-Gelehrte wollen aber bei ihrer Ausgrenzung der Fundamentalisten nicht erkennen, daß diese seit der neo-islamischen Offenbarung ihres Ziehvaters Sayyid Qutb (unter Nasser 1966 öffentlich gehenkt) genau die islamische Sektengeschichte umkehren. Die Fundamentalisten betrachten sich nämlich als die wahren Gläubigen und nutzen dabei die veraltete klassische islamische Zweiteilung der Welt in zwei historische Perioden: die des Islam, d. h.des Wissens, und die des Vor-Islam, der Djahiliyya, d. h. die der Ignoranz, sprich des Unglaubens. Die islamischen Fundamentalisten übertragen diese Zweiteilung auf das moderne Zeitalter und entledigen sich damit der ihnen vom islamischen Establishment zugeteilten Rolle des Neo-Khawaridj, also einer Sekte, die die islamische Umma aller Muslime verlassen hat. Indem sie ihre eigene Ausgrenzung umdrehen, behaupten die Fundamentalisten, daß viele der heutigen Muslime, auf Grund von „Verführung/fima“ und „Invasion/G/iozu“ durch den Westen, vom reinen Islam abgewichen und somit in das vor-islamische Zeitalter der Djahiliyya zurückgefallen seien. Hierfür übernehmen sie den Begriff al-Djahiliyya al-Djadida! Neo-Ignoranz von ihrem Ziehvater Qutb. Im Ergebnis wird die Mehrheit der Muslime zu einer abweichlerischen Sekte erklärt, während sich die Fundamentalisten selbst zum Kern der aufrechten islamischen Umma deklarieren. Das Mittel zur Ausbreitung des wahren Islam ist die Gewalt des Djihad. Westliche Kommentatoren, die mit den innerfundamentalistischen Debatten im Islam nicht vertraut sind, werden durch die rhetorische Wort-wucht der islamischen Fundamentalisten oft eingeschüchtert; sie wissen nicht, daß diese islamische Sekte, die sich zum Kern der Umma erhebt, ihre Gewaltbereitschaft zunächst gegen Muslime selbst richtet, die von ihnen als nur „nominell islamisch“ abgestempelt werden. Erst nach der Säuberung des islamischen Hauses von den „nominellen Muslimen“ wird sich der fundamentalistische Djihad gegen den Westen richten. Die Errichtung des „Nizam Islami/Islamischen Systems“ in der Welt des Islam auf der Grundlage der „Hakimiyat A//ß/i/Gottesherrschaft“ ist in unserer Gegenwart das vorrangig angestrebte Ziel. Auf lange Sicht soll diese Leistung als eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Islamisierung der gesamten Welt auf dem Wege der Errichtung einer islamischen Weltordnung gelten.

Die fundamentalistische Utopie lautet: Erst wenn die heutigen 46 islamischen Staaten mit Gewalt in Gottesstaaten -nach Maßstäben der Scharia -verwandelt worden sind, kann man sich dem Westen, dem „Territorium der Kreuzzügler“, zuwenden und ihn mit Gewalt islamisieren. Bis diese Aufgabe in die Pläne der Fundamentalisten aufgenommen wird, können Jahrhunderte vergehen. In unserer Gegenwart bleibt das vorläufig reine Rhetorik, zu deren Realisierung die benötigten Mittel fehlen. Vorrangig für den Fundamentalismus ist somit die Islamisierung der Muslime selbst, d. h. ihre Befreiung von der Neo-Djahiliyya mittels Gewalt. Deshalb ist der Fundamentalismus zunächst eine Bedrohung für die Muslime. Aus diesem Grunde ist es auch irrwitzig, wenn deutsche Linke die Aufklärungsarbeit über den Fundamentalismus als eine „westliche Strategie zur Errichtung eines Feindbildes Islam“ propagandistisch inkriminieren. Das Hauptobjekt des Fundamentalismus sind heute die Muslime selbst.

IV. Islamischer Fundamentalismus und Diaspora-Islam

Durch die Zuwanderung von Muslimen nach Europa ist eine Verbindung von Fundamentalismus und Migration entstanden. Muslime gibt es nicht nur in der Welt des Islam. In Europa leben zwanzig Millionen Muslime, davon zwölf Millionen in Westeuropa und acht auf dem Balkan. Die Balkan-Muslime sind südslawische Europäer, also keine Zuwanderer; sie sind auch keine Fundamentalisten. Unter ihnen bieten die -heute von der Vernichtung bedrohten -Bosnier ein Modell für ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen unter den Bedingungen eines säkularen Staates. Auf dem Balkan agieren die Fundamentalisten in diesem Falle auf der anderen Seite. In einem Artikel in der FAZ prägte ich für das politische Programm der Serben den Begriff des Ethno-Fundamentalismus Serbische Ethno-Fundamentalisten zerstören auf dem gesamten Balkan das dort früher praktizierte Modell einer liberalen islamischen Auffassung vom Staat In der islamischen Welt ziehen Fundamentalisten aus den Verbrechen der serbisch-orthodoxen Ethno-Fundamentalisten bereits ihre eigenen propagandistischen Folgerungen, nämlich daß Christen einen erneuten Kreuzzug gegen die islamische Umma führten und sie nie mit Muslimen in Frieden Zu­ sammenleben wollten Wenn die islamischen Fundamentalisten auf die Tatsache hinweisen, daß unter Duldung der westlichen christlichen Staaten die bosnischen Muslime von der Mehrheit der Bevölkerung zu Bewohnern von „Reservaten“ geworden sind, wird man dies kaum mit Tatsachen widerlegen können.

Nicht so liberal und laizistisch wie die Bosnier sind die Diaspora-Muslime in Westeuropa, die ethnisch eine vielfältige Herkunft haben und Zuwanderer sind. Am besorgniserregendsten unter ihnen ist die Gruppe der aus Südasien (Pakistan und Bangladesch) stammenden Muslime; diese haben im Januar 1992 in England ein islamisches Gegenparlament gegründet. Ihr Anführer Siddiqi hob zur Rechtfertigung dieser fundamentalistischen Her-ausforderung an das westliche Mutterland der Demokratie hervor, daß „die muslimische Gemeinschaft/Umma Großbritanniens ein eigenes politisches System bildet, welches Anrecht auf einen Platz unter den wichtigsten Institutionen des Landes hat“ Auch in Frankreich sind die vorwiegend aus den Maghreb-Ländern stammenden islamischen Fundamentalisten bestrebt, die dort lebenden Muslime in einer eigenen politischen Gemeinde, einem islamischen Ghetto, zu organisieren; entsprechend lehnen sie die Integration mit ähnlichen Argumenten wie die von Siddiqi ab. In Deutschland gibt es zwar im Stillen wirkende islamische Zentren, aber die Mehrheit der Türken scheint für eine solche fundamentalistische Offenbarung nicht zu gewinnen zu sein. Das hat spezifisch kulturelle Ursachen und ist auch darin begründet, daß in der Türkei der säkulare Kemalismus weitgehend Fuß gefaßt hat. Das bedeutet natürlich nicht, daß es in den islamisch-türkischen Zentren und Koran-Schulen in Deutschland keinen Fundamentalismus gibt, ganz im Gegenteil. Einige der islamischen Zentren fundamentalistischer Orientierung wie in Köln, Aachen und Berlin werden jedoch von arabischen fundamentalistischen Muslimen geleitet. Sie sind gegen die Integration und bezeichnen sie fälschlich als eine „religiöse Diskriminierung“. Insgesamt ist jedoch die Lage in Deutschland vergleichsweise besser als in England und Frankreich, weil die Mehrheit der Muslime in diesem Land Türken sind, die im ganzen integrationswilliger sind. In der Schweiz leben nur 100000 Muslime und in Österreich 160000. Dort erwartet man von ihnen, säkulare Vorstellungen zu akzeptieren, wenn sie europäische Bürger werden und nicht im fundamentalistischen Ghetto leben wollen.

Wie können europäische Rechtsstaaten nun angemessen, aber demokratisch auf den Fundamentalismus der muslimischen Diaspora in Westeuropa reagieren? Wir wissen, daß Fundamentalisten oft als Asylanten (wie z. B.der Anführer der tunesischen fundamentalistischen al-Nahda-Bewegung in London oder Scheich Omar in Jersey) unter Ausnutzung der demokratischen Verhältnisse von europäischen Metropolen aus die Fäden zum Untergrund in ihren eigenen Ländern spinnen. Ihr Glaube, „Demokratie ist ein Ku/r/Unglaube“ (so der Algerier Ali Benhadj scheint sie bei der Ausnutzung demokratischer Freiheiten für den Fundamentalismus nicht zu stören! Toleranz darf aber nicht für totalitäre Vorstellungen gelten.

Die Franzosen reagieren auf dieses Phänomen anders als die Deutschen. Die Deutschen sind als Meister der Gesinnungsethik weltbekannt. Der Göttinger Philosoph Helmuth Plessner, der nach 1933 ins Exil ging, distanzierte sich von dieser Gesinnungsethik, als er in seinem Werk „Die verspätete Nation“ die Deutschen analysierte. In seiner Diagnose kam er zu dem Ergebnis, daß die deutsche Gesinnungsethik ein Produkt der deutschen „innerweltlichen Weltfrömmigkeit“ sei.

Oft wird bei der Diskussion über die Integration auch der islamischen Einwanderer das Wort „Germanisierung“ verwendet. Im Gegensatz dazu fordern die Franzosen von den Migranten die Bereitschaft zur Integration im demokratischen Sinne, was wohl nicht mit „Französierung“ gleichgesetzt werden kann. Denn Integration der Muslime bedeutet hier deren geforderte Anerkennung der europäischen Basisgrundsätze der politischen Kultur der kulturellen Moderne: Laizität, Pluralismus und Toleranz, d. h. uneingeschränkte Freiheit des Andersdenkenden, also nicht im Sinne der Duldung der Christen und Juden als Schutzbefoh\enelDhimmi unter dem Banner des Islam, wie der mittelalterliche islamische Toleranzbegriff lautet.

Der Franzose Alain Finkielkraut, der sogar aus dem linken Lager kommt, nennt die Selbstaufgabe der politischen Kultur Europas zugunsten der Dritte-Welt-Einwandererkultur, die weder Demokratie noch eine Menschenrechtstradition besitzt, „La Defaite de la Pensäe/Die Niederlage des Denkens“ Europäische Selbstverleugnung und das Abschreiben der kulturellen Moderne zugunsten der Multikulturalität von „modern“ und „vormodern“ bedeuten die Aufgabe der politischen Kultur der laizistischen Demokratie. Das wollen die Franzosen nicht, und die Deutschen könnten -so wie in früheren Phasen der Geschichte -viel von ihnen lernen.

Im Gegensatz zu Frankreich wird in Deutschland das Problem des durch Migration eingeführten Fundamentalismus mit einer Kombination von Fremdenfeindlichkeit und Gesinnungsethik kompliziert. In diesem Fall prallt Ausländerhaß, der Deutschland in eine Festung gegen Fremde verwandeln will, auf gesinnungsethische Fremden-liebe, die Deutschland am liebsten als ein Flücht-lingslager für alle Verfolgten und Verelendeten dieser Welt sehen möchte. Dabei sind für die Betroffenen Xenophobie/Fremdenfeindlichkeit und Xenophilie/Fremdenliebe zwei Seiten ein und derselben deutschen Medaille. Als ein in Deutschland lebender liberaler Muslim ist meine Angst vor der erdrückenden Fremdenliebe deutscher Gesinnungsethiker nicht geringer als die Angst vor den Leuten, die mir Briefe mit Parolen wie „Türken raus“ senden, obwohl ich Damaszener und kein Türke bin. Türke steht hier symbolisch für Ausländer. Jenseits gesinnungsethischer Debatten müssen die Europäer eine Lösung finden für die Probleme, die mit der Zuwanderung Zusammenhängen, und hierbei berücksichtigen, daß der Fundamentalismus-Import keine gesinnungsethische Frage, sondern eine Realität ist. Auf der Dritten Konferenz der Mittelmeerregionen in Taormina/Sizilien haben europäische und islamische Vertreter der Mittelmeerregion Fragen erörtert, die beide Seiten angehen, insbesondere auch Probleme der Migration. Es wurden Prognosen über das Bevölkerungswachstum vorgelegt, die folgende Entwicklungen voraussehen: In zwei Jahrzehnten, d. h. im Jahre 2015, wird die Bevölkerung der EG-Länder im Mittelmeerraum nicht mehr als 127 Millionen Menschen umfassen, verglichen mit 270 Millionen in den islamischen Mittelmeer-Anrainerstaaten (Maghreb, Ägypten und Türkei) Angesichts der Ressourcenknappheit bedeutet das die massive Zunahme der Migration in Richtung Europa. Trotz der Diffamierung meines Konzepts eines Euro-Islam für die Integration der islamischen Migranten wird daher die heute anstehende Frage „Euro-Islam oder fundamentalistischer Ghetto-Islam?“ die Zukunft eines demokratischen Europa prägen. Die bestehende Angst vor dem Fundamentalismus muß bewältigt werden, damit sie nicht in Ausländerfeindlichkeit mündet.

V. Schlußbetrachtung

In Europa muß man das Phänomen des Fundamentalismus auf zwei Ebenen in der Politik angehen: im Umgang mit der Islam-Diaspora im Westen und im Umgang mit der Europa umgebenden Welt des Islam (von Eurasien, über den Balkan bis hin zum großen Mittelmeerraum). In Europa ist eine kombinierte Politik, restriktive Einwande-rungsgesetzgebung und Integration das beste demokratische Mittel gegen den Fundamentalismus. Im Umgang mit den islamischen Staaten gilt es, das Gespräch mit dem liberalen dialogfähigen Islam als Friedensdialog zu etablieren und zu fördern. Auch muß man hierbei islamischen Staaten helfen, ihre ökonomischen Probleme zu bewältigen. Wie der Fall Algerien zeigt, sind ökonomische Krisen oft der Nährboden für die fundamentalistische Mobilisierung. Als Alternative dazu kann z. B. die Anbindung Marokkos an die Europäische Gemeinschaft eine Hilfe gegen den dortigen Fundamentalismus sein. Auch der Türkei sollte geholfen werden; sie bietet ein säkulares Modell der Mäßigung zwischen Zentraleuropa, dem Nahen Osten, dem Balkan und dem islamischen Mittelasien Dagegen sind realpolitische Geschäfte mit fundamentalistischen Regimen in Iran und Sudan kein Beitrag zu einer glaubwürdigen europäischen Reaktion auf die fundamentalistische Herausforderung. Die Tatenlosigkeit des Westens gegenüber den an Muslimen durch die großserbischen Ethno-Fundamentalisten verübten Verbrechen auf dem Balkan ist nicht dazu angetan, liberale gegen fundamentalistische Muslime zu stärken.

Eine reale fundamentalistische Herausforderung besteht gleichermaßen innerhalb Europas und in seiner Umwelt. Die Spannung zwischen westlichen säkularen Wertorientierungen der kulturellen Moderne und den aufkommenden religiös-ethnischen, im Widerspruch dazu stehenden Ideologien drohen, einen „New Gold War“ global zu entfachen, wie der in Hawaii lehrende Sozialwissenschaftler Mark Juergensmeyer schreibt, der sich komparativ mit Sikh-und Hindu-Nationalismus und dem fundamentalistischen Islam befaßt hat. Man sollte die entsprechende Herausforderung sehr ernst nehmen und sich nicht allein damit beruhigen, daß die Fundamentalisten machtlose Rhetoriker seien. Der terroristische Anschlag auf das „World Trade Center“ in New York am 26. Februar, d. h. am Jahrestag des Hinauswurfs der letzten irakischen Soldaten aus Kuwait, war nicht nur ein rhetorischer, sondern ein symbolischer Akt Aber man darf die Welt des Islam nicht für die Taten von Fanatikern verantwortlich machen, die auch für die Muslime selbst eine Gefahr darstellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diesen Ausführungen liegt der „World Order“ -Begriff von H. Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, zugrunde.

  2. Daniel Patrick Moynihan, Pandaemonium. Ethnicity in International Politics, Oxford/New York 1993.

  3. Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992, S. 12ff., vgl. auch ders., Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 1992.

  4. Es liegen bereits die ersten drei Bände vor: Martin Marty/Scott Appleby (Hrsg.), Fundamentalisms observed, Chicago 1991; Fundamentalisms and Society, Chicago 1993, Fundamentalisms and the State, Chicago 1993; vgl. das Kap. von Bassam Tibi, in: Fundamentalisms and Society, S. 73-102. Auf dem Sommerkolloquium der Quandt-BMW-Stiftung hat Martin Marty mit diesem Autor als Koreferent seine, aus dem Projekt hervorgegangene Fundamentalismus-Deutung vorgestellt; sein dort vorgetragenes Papier wurde unter dem Titel „Fundamentalismus heute“ in deutscher Sprache in: Die Politische Meinung, (1992) 276, S. 41-52, veröffentlicht.

  5. Volker Perthes, Die Fiktion des Fundamentalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1993) 2, S. 188 ff.

  6. So Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990.

  7. Zu diesem Verschwörungsdenken vgl. Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993; stellvertretend für dieses Denken vgl. Anwar alDjundi, al-Mu’asara fi itar al-asalah/Modemität und Authentizität, Kairo 1987, bes. S. 63 ff. und vor allem S. 75ff.

  8. Gaddafi über Fundamentalisten, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. 5. 1993.

  9. Zitiert nach dem Bericht von International Herald Tribüne vom 31. 3. 1993.

  10. Hierüber im einzelnen Khalid Duran, Hintergründe des Anschlags auf das World Trade Center in New York, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 6. 4. 1993, und zu den Afghanen: ders., Ehemalige Afghanistan-Krieger formieren sich in einer islamischen Internationale des Terrors, in: FAZ vom 8. 5. 1993.

  11. Vgl. die zerstreuten Hinweise (mit Sachregister) auf Peshwar in dem Standardbuch über den Afghanistan-Krieg von Olivier Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, Cambridge 1986.

  12. Vgl. das Kapitel über den Fundamentalistenstaat im Sudan in: B. Tibi (Anm. 7), S. 191 ff.

  13. William Satire, Islam under Siege, in: New York Times vom 18. 3. 1993, S. A 23.

  14. So der Ton der Beiträge in dem Band von Christoph Butterwegge/Siegfried Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, und dazu die Rezension von Wolfgang Kowalsky, Gesinnungsstark, in: FAZ vom 4. 5. 1993, der bei den Autoren einen Hang, „zu einer anti-rassistischen Diktatur Zuflucht zu nehmen“, findet.

  15. Hasan Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya/Der islamische Fundamentalismus, Kairo 1989. Hanafi ist, nach seinen eigenen Worten, Vertreter des „linken Fundamentalismus“ im Islam.

  16. Vgl. B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus (Anm. 3), Kapitel 1, 2 und 5; ders., Die fundamentalistische Herausforderung (Anm. 3), Kapitel II.

  17. Nützlich zur islamischen Geschichte ist Gerhard Endreß, Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 19912; zum Einfluß des entwickelten Islam auf Europa vgl. Maxime Rodinson, Die Faszination des Islam, München 1985, bes. S. 32ff„ 43f„ 48f.

  18. Zur Dokumentation Youssef M. Choueiri, Islamic Fundamentalism, Boston 1990, S. 93 ff. zu den ideologischen Vätern Qutb und Maududi; vgl. auch Anm. 3 und 22.

  19. Zu dem politischen Vokabular der islamischen Fundamentalisten und zu ihren Schriften vgl. die Inhaltsanalyse in B. Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung (Anm. 3), S. 142 ff.

  20. Vgl. Muhammad Said al-Aschmawi, al-Islam al-Siyasi/Der politische Islam, Kairo 1987. Aschmawi gehört zu den tapfersten Kritikern des Fundamentalismus im arabischsprachigen Raum.

  21. Zu den Kharidjiten (wissenschaftliche Transkription: Harigiten) vgl. die ausführliche Darstellung in W. M. Watt, Der Islam, Bd. II, Stuttgart 1985, S. 1-31.

  22. Sayyid Qutb, Ma’alim fi al-Tariq/Wegzeichen, 13. legale Auflage, Kairo 1989 (zahlreiche illegale Auflagen). Zu Qutb vgl.den Essay zum Fundamentalismus in der erweiterten Auflage von Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam, Frankfurt/M. 1991 3.

  23. Vgl. Tilman Zülch im Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker, Ethnische Säuberungen -Völkermord für Großserbien. Eine Dokumentation, Hamburg-Zürich 1993, und dazu die sehr bemerkenswerte Rezension von Christian Schwarz-Schilling, Nur sechzig Flugminuten von München entfernt, in: FAZ vom 25. 3. 1993, S. 8, worin er das Urteü der Dokumentation wiederholt: „Wer jetzt nichts tut, macht sich mitschuldig.“ Der Balkankrieg wird als eines der schwärzesten Kapitel in die Geschichte der islamisch-europäischen Beziehungen eingehen. Kurzfristig denkende europäische Politiker, die die Muslime dem Verbrechen des serbischen Wahnsinns überlassen, haben keinen Begriff von den lang anhaltenden Folgen!

  24. Vgl. Bassam Tibi, Serbischer Ethno-Fundamentalismus. Die Verbrechen gegen den Religionsfrieden auf dem Balkan, in: FAZ vom 13. 1. 1993, S. 8.

  25. Vgl. Rupert Neudeck, Die Albaner im Kosovo erwartet Schlimmeres als die Muslime in Bosnien, in: FAZ vom 16. 11. 1992, S. 12f.

  26. Vgl. Gruppe Dar al-Da’wa: al-Busneh wa al-Harsak. Umma tudhbah wa scha’b yubad. Al-Harb al-Salibiyya al-djadidah did al-Muslimin/Bosnien-Herzegowina. Eine Umma wird geschlachtet und ein Volk wird vernichtet. Der neue Kreuzzug gegen die Muslime, Casablanca u. a. 1992. Über dieses weit verbreitete Pamphlet und seine Wirkung vgl. Bassam Tibi, „Das muslimische Blut ist das billigste Blut.“ Islamische Fundamentalisten nutzen den Balkankrieg als Nährfutter für antiwestliche Propaganda, in: FAZ vom 1. 6. 1993, S. 12.

  27. Hierzu Bassam Tibi, Immer noch Wind in den Segeln. Der islamische Fundamentalismus, in: FAZ vom 6. 2. 1992.

  28. Zu der islamischen Gemeinde in Frankreich vgl. Gilles Kepel, Les banlieues de 1’Islam. Naissance d’une religion en France, Paris 1987; zu dieser Problematik in Europa, wenn auch nicht kritisch, G. Gerholm/Y. G. Lithman (Hrsg.), The Islamic Presence in Western Europe, London 1988.

  29. Vgl. hierzu das Algerien-Kapitel in B. Tibi (Anm. 7), S. 161 ff.

  30. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/M. 1974, S. 41.

  31. Alain Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, Reinbek 1989.

  32. Vgl. Sibylle Quenett, Die Europäer fürchten die Zuwanderung aus Nordafrika, in: FAZ vom 27. 4. 1993, S. 8.

  33. Vgl. die denunziatorische Polemik: Nur ein Euro-Muslim ist ein guter Muslim, in: die tageszeitung vom 6. 3. 1993.

  34. Vgl. Bassam Tibi, Mit dem kemalistischen Modell kann Ankara eine Mittlerfunktion zwischen der Welt des Islam und den Ländern des Westens übernehmen, in: Die Welt vom 19. /20. 5. 1993.

  35. Mark Juergensmeyer, The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley 1993.

  36. Vgl.den ausführlichen Bericht von W. Carley/T. O’Brian, New Kind of Fundamentalist Terrorist. Amateur and Religious, in: Wall Street Journal vom 17. 3. 1993.

Weitere Inhalte

Bassam Tibi, Dr. phil. habil., geb. 1944; Professor für Internationale Politik, Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und Research Associate an der Harvard University. Veröffentlichungen u. a.: Die fundamentalistische Herausforderung, München 1992; Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992; Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993.