I. Das Ende der „Ordnung von Jalta“
Die Europapolitik Francois Mitterrands verharrte in den achtziger Jahren trotz vorsichtiger Anpassungen an die sich verändernden nationalen und internationalen Rahmenbedingungen insgesamt in den Geleisen der gaullistischen Tradition und Prinzipien. Um so erstaunlicher mußte es anmuten, daß diese Politik gerade in dem Moment in größte Anpassungsschwierigkeiten und Orientierungsnöte geriet, als sich die visionären Voraussagen de Gaulles zu erfüllen schienen. Hatte de Gaulle nicht auf „eine internationale Verständigung“ gehofft, „die es ganz Europa gestatten würde, nach Beendigung des herrschsüchtigen Strebens einer überholten Ideologie im Osten sein Gleichgewicht, seinen Frieden, seine Entwicklung vom Atlantik bis zum Ural sicherzustellen unter der zwingenden Bedingung, daß eine lebensvolle und starke europäische Gemeinschaft im Westen Wirklichkeit wird, das heißt im wesentlichen eine gleiche und einzige deutsch-französische Politik“
Es wurde vielfach die Vermutung angestellt, daß es de Gaulle im Unterschied zu Mitterrand besser verstanden hätte, die deutsche Einigung und den Umbruch in Mittel-und Osteuropa zum Vorteil Frankreichs auszunutzen. Mitterrand ist kein Visionär; seine Stärke sind die Taktik und das machtpolitische Kalkül. Um so mehr mußte ihn der Zusammenbruch des europäischen Koordinatensystems aus der Fassung bringen, in das er bereits die Grundlinien seiner künftigen Entscheidungen eingezeichnet hatte. Doch waren seine Reaktionen in dieser Streßphase der französischen Europapolitik durchaus gaullistisch. Möglicherweise ließ ihn aber auch bloß der Mangel an Phantasie und strategischem Weitblick Rat bei seinem großen Vorbild und Konkurrenten suchen.
Er spielte für einen Moment mit dem Gedanken einer Allianz der Flanken mit der Sowjetunion zur Ausbalancierung des vereinigten Deutschlands; er favorisierte zunächst „die deutsche Konföderation in einer europäischen Konföderation“ als Lösungsweg für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten; er war zu keinem Zeitpunkt versucht, in die Militärintegration der NATO zurückzukehren; seine einseitige Ankündigung des Abzugs der „Besatzungstruppen“ aus der Bundesrepublik zeigte, daß er aus Verärgerung über den Parforceritt in die deutsche Einheit durchaus bereit war, Querelen mit dem deutschen Nachbarn in Kauf zu nehmen und durchzustehen.
Schließlich besann er sich auf die Vorzüge der (west-) europäischen Einigung, der er gemeinsam mit dem vereinten Deutschland eine neue Konsistenz und Dynamik zu verleihen suchte. Mit der Erklärung Mitterrand-Kohl anläßlich des Gipfels des Europäischen Rates im April 1990 in Dublin begann nicht nur ein neuer Abschnitt im deutsch-französischen Verhältnis, sondern auch in der französischen Europapolitik. Dessen bisherige Höhepunkte sind der Abschluß des Maastrichter Vertrages (Dezember 1991) und die Ankündigung der Bildung des Eurokorps (Oktober 1991). Frankreich ist sichtlich bemüht, sich in den Ruinen der „Ordnung von Jalta“ zurechtzufinden. Die in die Zukunft weisenden Weichenstellungen wurden entlang traditioneller strategischer Orientierungen vorgenommen: Behauptung der außen-und verteidigungspolitischen Entscheidungsautonomie; Vertiefung der westeuropäischen Integration und deren „Aufladung“ durch eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik; Neudefinition der transatlantischen Beziehungen bei Aufrechterhaltung des französischen Sonderstatus; weitere Ausgestaltung und Festigung des „Bündnisses im Bündnis“ mit Deutschland als Triebfeder des (west-) europäischen Aufbaus sowie Beförderung der gesamteuropäischen Einigung durch die Reaktivierung der alten Idee de Gaulles von einer gesamteuropäischen Konföderation.
Die französische Europapolitik 1991/92 konzentrierte sich vorrangig auf deren operative Umsetzung und weniger auf die Lancierung neuer Strategien Dieser neue Pragmatismus war aber auch eine wichtige Phase der Überprüfung und Anpassung des von Mitterrand abgesteckten konzeptionellen Rahmens. Hinter alldem zeichnet sich dieFrage ab, ob die gaullistische Doktrin als konzeptionelles Reservoir und Grundlage der französischen Außen-und Sicherheitspolitik Bestand haben werde. Oder sollte sie gerade in dem Moment ihre Erklärungs-und Gestaltungskraft verlieren, da sich die große europäische Vision ihres Begründers erfüllt zu haben scheint?
Die geniale Vorahnung des europäischen Um-bruchs ist ein eher zweitrangiger Aspekt des außenpolitischen Gaullismus. Was ihn eigentlich ausmacht, ist seine sehr diesseitige machtpolitische Dimension. Sie war darauf abgestellt, Frankreich in den festgefügten Strukturen des Ost-West-Konflikts Spielräume für die Entfaltung einer eigenständigen Großmachtpolitik zu öffnen. Das Bedingungsgefüge, das in den vergangenen Jahrzehnten seine Sonderrolle in der europäischen und internationalen Arena erst möglich machte, ist quasi über Nacht zusammengebrochen: Das deutsch-französische Gleichgewicht zwischen der „Bombe und der Mark“ ist aus den Fugen geraten; Deutschland ist heute die stärkste europäische Macht. Die rigide und übersichtliche Blockstruktur wurde von einer sprunghaften Zunahme der internationalen Akteure sowie einer diffusen Gemengelage von Instabilitäten, Risiken und regionalen Konflikten, durch eine neue Unordnung, abgelöst. Rußland „wird in naher Zukunft keine positive, organisierende Rolle auf dem europäischen Kontinent spielen können“ Die Vereinigten Staaten bleiben zwar als einzige Supermacht zurück, doch sind sie längst nicht mehr fähig, in allen internationalen Fragen allein zu handeln. Die UNO und die euro-atlantischen Institutionen erlangen eine wachsende Bedeutung für die Lösung der europäischen Probleme. Nicht zuletzt kam es zu einer dramatischen Entwertung der militärischen und -vor allem -der nuklearen Machtwährung. Zum wichtigsten Kriterium internationaler Entscheidungs-und Handlungsfähigkeit wird immer mehr die technologische Innovationskraft eines Staates. Ein Prozeß, der nicht erst durch die Implosion der Ost-West-Konfrontation ausgelöst wurde, unterhöhlt die Fundamente der gaullistischen Doktrin: die „Krise und der Niedergang des Nationalstaates“
Frankreich hat unversehens seinen Status als die erste unter den Mittelmächten eingebüßt. Als letzte Merkmale einstiger Größe bleiben der ständige Sitz im UNO-Sicherheitsrat -doch schon erheben Japan und Deutschland Anspruch auf Mitgliedschaft in diesem exklusiven Gremium -und der fragwürdige Vorteil des Besitzes einer unabhängigen Nuklearstreitmacht Die Große Nation wurde nun endgültig von der Geschichte eingeholt. „Frankreich ist, wie schon Deutschland und Großbritannien vor ihm, aufgefordert, endlich die Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen, der das Ende des Vorrangs der großen europäischen Staaten markiert hat.“ Frankreich kann nun die seit Jahren angemahnte grundlegende Über-prüfung und Neubestimmung seiner Außen-und Sicherheitspolitik nicht mehr länger hinauszögern.
Im folgenden soll auf für Frankreich relevante Verschiebungen in der politisch-strategischen Landschaft Europas sowie auf sich abzeichnende Veränderungen im europapolitischen Denken und in den konzeptionellen Orientierungen des französischen Präsidenten und der Regierungen aufmerksam gemacht werden.
II. Frankreichs Platz in Westeuropa
Die Neubestimmung der französischen Europapolitik muß bei ihrem zentralen Baustein -der Westeuropapolitik -beginnen. Seit den Zeiten de Gaulles bewegt sich die französische Westeuropa-politik zwischen den Polen nationale Unabhängigkeit und Integration. Eine der tiefsten Konflikt-linien, die seit den fünfziger Jahren die politische Klasse Frankreichs quer durch alle Parteien durchzieht, ist die Kontroverse zwischen den Anhängern eines „Europas der Staaten“ und den Verfechtern eines „europäischen Bundesstaates“. Diese Auseinandersetzung hat heute viel von ihrer Brisanz verloren. Die Nationalstaaten sehen sich zunehmend mit „der Schwächung ihrer Kontrollfähigkeiten über ihren eigenen Raum“ konfrontiert Der Mythos „einer monolithischen Europäischen Union“ ist spätestens an dem dänischen Nein zu den Maastrichter Verträgen gescheitert. „Die Staaten bleiben für bestimmte Entscheidungen der Innen-und Außenpolitik souverän und insbesondere für jene, die ihr Schicksal in Frage stellen. Im übrigen ... beweisen sie künftig ihre Effektivität über kollektive Aktionen.“
Aus diesen durch den Druck der Ereignisse endlich zur Kenntnis genommenen Realitäten resultiert bei scheinbarer Beibehaltung einer institutio-nellen Kontinuität „die Umwandlung der Union in ein Netz von offenen, sich um ein föderales, nach deutschem Vorbild dezentralisiertes „Herz’ gruppierenden und den gesamten Kontinent umfassenden Institutionen und Vereinbarungen, deren Gegenstand und Zusammensetzung in Abhängigkeit von dem Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Ambition ihrer Mitglieder variiert“ In einer solchen Europäischen Union haben die „Nationen als Bindeglied der kollektiven Identifikation und der repräsentativen und partizipativen Demokratie“ durchaus noch einen unverzichtbaren Platz Es geht darum, das optimale Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen und dem Beitrag der Nationalstaaten und der gemeinschaftlichen Superstruktur zu finden. Ein Schritt in diese Richtung war das im Oktober 1992 während des Sondergipfels des Europäischen Rates in Birmingham bekräftigte Subsidiaritätsprinzip und die inzwischen durch die Regierung Balladur angekündigte Aufwertung der Entscheidungsbefugnisse des französischen Parlaments im Hinblick auf wichtige Beschlüsse der Europäischen Gemeinschaft
Mit dem Aufbrechen des einseitig supranationalen Ansatzes wird auch der Widerspruch zwischen der auf wirtschaftlichem und währungspolitischem Gebiet weiterverfolgten Vertiefung der Integration und dem für eine längere Zeit überwiegend kooperativen Vorgehen im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik weitgehend gegenstandslos. Für Frankreich ergibt sich daraus -wie am Beispiel des Eurokorps praktiziert -die Möglichkeit, „nationale Souveränität und europäischen Aufbau in Einklang zu bringen“ Die Einheiten, die dieses Korps bilden, besonders die dazugehörende französische Division, bleiben „einem rein nationalen Kommando unterstellt“ Zugleich trägt Frankreich mit dem Ausbau der Westeuropäischen Union (WEU) zum bewaffneten Arm der Europäischen Union und dem Aufbau des Eurokorps der Einsicht Rechnung, daß jede Reorganisation des militärischen Apparates Frankreichs „der Kombination zwischen den Streitkräften verschiedener Nationen Vorrang einräumen“ muß Selbst die unabhängige Kernstreitmacht soll langfristig im Rahmen einer europäischen Nukleardoktrin in den Dienst einer gemeinsamen (west-) europäischen Verteidigung gestellt werden
In einer eigenen (west-) europäischen Verteidigungsidentität sieht Frankreich den Ausweg aus der durch das Ende des Ost-West-Konfliktes zusätzlich beschleunigten Erosion der Grundlagen seiner unabhängigen Verteidigungs-und Rüstungspolitik. Für ein alleiniges militärisches Handeln Frankreichs verbleiben begrenzte Operationen in Afrika, die Sicherung der französischen Souveränität über die Überseegebiete sowie die Verteidigung durch die nukleare Abschreckung Am Beispiel des Golf-Krieges und des Jugoslawien-Konflikts wird deutlich, daß andere militärische Szenarien in den Vordergrund gerückt sind, nach denen die in Angriff genommene Reorganisation der französischen Streitkräfte erfolgen muß. Frankreich ist weder politisch noch militärisch in der Lage, in einem solchen Konflikt auf sich allein gestellt zu handeln. Außerdem verfügt es nicht über die wirtschaftlichen Potenzen, um die in Anbetracht künftiger Einsatzoptionen (v. a. Krisenmanagement und militärisches Engagement in großer Entfernung von den eigenen Grenzen) geplante Modernisierung der Waffen und Ausrüstungen ohne die Kooperation mit vor allem westeuropäischen Partnern zu bewerkstelligen, zumal die Absatzmärkte, namentlich für die immer weniger wettbewerbsfähigen französischen Rüstungsgüter, in den letzten Jahren dramatisch geschrumpft sind
Aufgeklärte Politiker und Experten erkennen, daß es mit Blick auf die anvisierte gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik unrealistisch wäre, traditionelles nationalstaatliches Denken -etwa in Gestalt eines Euro-Gaullismus -auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft zu übertragen. Sie glauben, daß sich Frankreich am Aufbau der Europäischen Politischen Union beteiligen müsse, „weniger um eine Art abstrakter Unabhängigkeit Europas zu behaupten -die heute in der wirtschaftlich integrierten Welt wenig Sinn hätte -als vielmehr um ein Gleichgewicht der Interdependenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa herzustellen“ Diese Kräfte warnen vor den Risiken einer um die USA, Westeuropa und Japan organisierten tripolaren Welt, in der die einzelnen Blöcke versucht sein könnten, das Spiel der absoluten Unabhängigkeit zu spielen
Neben der außen-und sicherheitspolitischen Entscheidungsautonomie bleibt der Besitz einer unabhängigen nuklearen Streitmacht das hauptsächlichste Argument gaullistischer Kontinuität. Die Schaffung und die politische Durchsetzung der französischen Atomstreitmacht hat zu viele Ressourcen gebunden und zuviel Kraft gekostet, als daß Frankreich bereit wäre, den Kem der gaullistischen Doktrin zu opfern. Gerade dank des Besitzes von Nuklearwaffen konnte Frankreich nach außen und nach innen seinen Anspruch auf gleichberechtigte Mitsprache im Club der Großen dieser Welt geltend machen. „Die Verteidigung Frankreichs wird sich weiterhin wesentlich auf die Atomstreitmacht stützen.“ Um dieses immer fragwürdigere Beharren auf dem symbolträchtigsten Aspekt des außenpolitischen Gaullismus zu legitimieren, greift Mitterrand zu Mitteln, die den Vorstellungen des Generals nicht entsprochen hätten: die Ratifizierung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und das Moratorium für Kernwaffenversuche.
III. Annäherung an eine veränderte NATO
Der Umbruch in Europa hat der Suche Frankreichs nach Spielräumen zwischen den Blöcken den Boden entzogen. Anfängliche Hoffnungen auf einen Bedeutungsverlust der NATO haben sich nicht erfüllt. Eine der zentralen Prämissen der gaullistischen Außen-und Sicherheitspolitik -die Antinomie zwischen der Aufrechterhaltung einer unabhängigen Verteidigung und der Mitgliedschaft in der Militärintegration der Allianz -verliert aus folgenden Gründen an politischer und militärischer Substanz:
Erstens: Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist seit Jahren eine schleichende Rückkehr Frankreichs in verschiedene NATO-Gremien zu beobachten. Dies geht mit der Ausweitung der Zusammenarbeit in mehreren Bereichen einher (z. B. Rüstung und Logistik, Luftverteidigung, Übertragungssysteme, Information)
Zweitens: War die Unvereinbarkeit der französischen Abschreckungsdoktrin mit der NATO-Strategie der „flexible response“ ein Haupthindernis für eine weitergehende Abstimmung und Wieder-annäherung, so sind mit dem Wegfall der massiven nuklearen Bedrohung, dem Abbau der taktischen Kernwaffen in Europa und der drastischen Reduzierung der amerikanischen Präsenz die Voraussetzungen für die Neubestimmung der nuklearen Einsatzkonzeption der NATO entstanden. Die auf dem Gipfel 1992 in Rom beschlossene Strategie last resort wird in Frankreich als Annäherung an die gaullistische Konzeption der strategischen Minimalabschreckung bewertet Der Rückgang der politischen und militärischen Bedeutung der Nuklearwaffen und die zunehmende Beschränkung der nuklearen Arsenale auf ihre strategische Komponente führt zumindest de facto zur Rückverlagerung von Entscheidungskompetenzen an die nationalen Stellen der Nuklearmächte der Allianz. Damit „verringert sich die Zweckmäßigkeit einer strategischen Verschmelzung zwischen Frankreich und der NATO (oder vielmehr mit den nuklearen Mächten der NATO)“ Die Alternative zur Reintegration wäre, daß „sich Frankreich mit den anderen nuklearen Mächten der NATO auf ein Nuklearkonzept verständigt, in dem es eine mit der seiner Partner vergleichbare Rolle spielt, aber ohne Konsequenzen für seine Entscheidungsautonomie“
Drittens: Auch im konventionellen Bereich ist mit der strategischen Revolution in Europa eine Annäherung zwischen Frankreich und der NATO vorgezeichnet. Diese wird sich jedoch weder auf der Grundlage der bisherigen französischen Doktrin (Verhinderung langdauernder Kampfhandlungen durch die frühzeitige Androhung eines „prästrategischen“ Kernwaffenschlages) noch im Rahmen der NATO-Strategie (enge Integration der Streitkräfte und Fähigkeit zu großräumigen Operationen über einen langen Zeitraum) vollziehen. In Anbetracht der Reduzierung der Militärhaushalte und Streitkräfte „ist es vernünftig, anzunehmen, daß sich die NATO ... zu lockereren Strukturen entwickeln wird, die im Bedarfsfall eher auf die Kooperation der betroffenen nationalen Streitkräfte gerichtet sind, als auf einen weitergehenden Grad der Integration in Friedenszeiten, der angesichts der Risiken, mit denen die NATO konfrontiert ist, nur ein begrenztes Interesse hätte“ Mitder begonnenen Modernisierung und Umstrukturierung seiner Streitkräfte „würde sich Frankreichs konventionelle Statur dann kaum noch von denen seiner Hauptverbündeten unterscheiden“
Viertens: Eine Annäherung zwischen Frankreich und der NATO ist ebenfalls im Hinblick auf die beiderseitigen sicherheits-und militärpolitischen Interessen und Ziele angesichts der veränderten europäischen und internationalen Gefahrenlandschaft auszumachen. Im Zuge der fortschreitenden Europäisierung der-Allianz und des Bedeutungsverlustes traditioneller militärischer zugunsten politischer Aufgaben ergeben sich mehr Spielräume, aber auch ein größerer Zwang zur Mitwirkung Frankreichs. Ähnliches gilt für die Konsequenzen aus den veränderten militärischen Optionen des Bündnisses (z. B. Wirksamwerden unter dem Mandat der UNO bzw.der KSZE, Bildung von Ad-hoc-Koalitionen unter Beteiligung von Nicht-NATO-Staaten, Übernahme nichtmilitärischer Aufgaben). „Die Allianz wird nämlich immer häufiger vor Krisensituationen stehen, die eher ein politisches und diplomatisches als militärisches Handeln erfordern. Die politischen Beratungsgremien mit 16 Mitgliedern -Frankreich nimmt streng gleichberechtigt daran teil -werden folglich eine immer wichtigere Rolle spielen. Frankreich wird seine Verantwortlichkeiten in diesem Rahmen übernehmen.“
Die Verweigerungshaltung Frankreichs gerät immer mehr in Widerspruch zu dem sich gerade auch aus dem Gaullismus ableitenden Interesse an Präsenz und Mitentscheidung. Die NATO hat ihre „raison d’etre“ nicht verloren: Die mittel-und osteuropäischen Staaten messen ihr eine zentrale Rolle für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität auf dem Kontinent bei. Die NATO ist auf absehbare Zeit das einzige handlungsfähige Gremium zur Absprache und logistischen Absicherung kollektiver Aktionen des Westens.
Eine Wende im Verhältnis zwischen Paris und dem Brüsseler Hauptquartier würde überdies die Verfolgung einer Reihe von essentiellen strategischen Zielen der französischen Außen-und Sicherheitspolitik erleichtern: die Nutzung des Gewichts der Vereinigten Staaten und der Bündnisstrukturen zur dauerhaften Einbindung Deutschlands in den Westen die Aufrechterhaltung einer ausreichenden militärischen Präsenz in Europa die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Aufbau einer (west-) europäischen Verteidigung; die Legitimierung der französischen Kemstreitmacht als eine Grundlage einer künftigen (west-) europäischen Abschreckung sowie die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für eine engere Rüstungskooperation
Für Frankreich stehen prinzipiell zwei Optionen offen: Entweder es setzt den verschämten Kurs der schleichenden Reintegration fort, oder es startet auf hoher Ebene eine politische Initiative mit dem Ziel der Aushandlung der Bedingungen für eine Rückkehr Frankreichs im Rahmen einer umfassenden Reform des Bündnisses (Harmel-Bericht II) Die zweite Variante böte zweifellos die Möglichkeit, ein Entgegenkommen der Verbündeten in bezug auf französische Interessen und Sensibilitäten zu erreichen. In jedem Falle wird auch die bürgerliche Regierung selbst im Falle der Rückkehr Frankreichs in eine „neuverhandelte und ins Gleichgewicht gebrachte Allianz“ ihre außen-und sicherheitspolitische Entscheidungsautonomie bewahrt wissen wollen Dies scheint aus der Sicht Frankreichs auch möglich zu sein, denn „die französische Strategie der Unabhängigkeit der Entscheidung bedeutet nicht Autonomie des Handelns“
Das Ausräumen der auf dem Verhältnis Frankreichs zu seinen Verbündeten lastenden gaullistischen Hypothek würde nicht zuletzt eine rationalere Ausgestaltung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ermöglichen. Bereits heute gehört der Zwist zwischen beiden Hauptstädten um die Zukunft des nordatlantischen Bündnisses und dessen Vereinbarkeit mit dem Aufbau einer westeuropäischen Verteidigungsidentität der Vergangenheit an. Auf beiden Seiten des Atlantiks scheint man den Grundsatz der Schaffung eines wirklichen europäischen Pfeilers der Allianz akzeptiert zu haben. Diesen Sinneswandel aus der Kompromißbereitschaft der Regierenden zu erklären, greift sicher zu kurz. Den Ausschlag haben spürbare Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwi-sehen den USA und (West-) Europa gegeben, die, verglichen mit der Epoche de Gaulles, eine neue Situation geschaffen haben. Auf der einen Seite sind die Vereinigten Staaten nicht mehr in der Lage -und wohl auch nicht mehr dazu bereit -, ihren Führungs-und Hegemonieanspruch auf allen Ebenen und in allen Weltgegenden zu erfüllen. Auf der anderen Seite wächst die Europäische Gemeinschaft trotz Schwierigkeiten und Rückschlägen schrittweise in eine eigene internationale Rolle hinein.
Die Dringlichkeit einer Neudefinition des französisch-amerikanischen Verhältnisses ergibt sich nicht zuletzt aus dem Zerfall der Sowjetunion und dem (vorläufigen) Rückzug Rußlands von der großen Bühne der Weltpolitik. Damit ist das aus gaullistischem Verständnis natürliche machtpolitische Gegengewicht zu der „als atlantische Solidarität apostrophierten Hegemonie“ ohne rechte Funktion. Nun kommt Paris nicht umhin, die stabilisierende Wirkung des privilegierten amerikanisch-russischen Verhältnisses, die Unverzichtbarkeit des Beitrages der Vereinigten Staaten zur Neuordnung Mittel-und Osteuropas und zum Gleichgewicht auf dem Kontinent zu akzeptieren und ihnen einen Platz in seinem Europa-Konzept einzuräumen
IV. Suche nach einer gemeinsamen EG-Ostpolitik
Mit dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion, der Gravitationswirkung des vereinigten Deutschlands gegenüber diesem Raum und dem Aufstreben neuer Regionalmächte (Ukraine, Türkei) ergeben sich völlig neue machtpolitische Rahmenbedingungen. Der Erfolg westlicher Politik mißt sich primär an ihrem Vermögen, zur Unterstützung der Transformation und zur Stabilisierung der mittel-und osteuropäischen Staaten beizutragen. Die Dimension der erforderlichen Hilfe und Unterstützung übersteigt bei weitem die Leistungsfähigkeit eines Staates, ja Westeuropas insgesamt. Schließlich kann die vehemente Renaissance des mittel-und osteuropäischen Nationalismus nicht über die beschränkte Handlungsfähigkeit der wiedererwachten bzw. neuerstandenen Staaten hinwegtäuschen. Auch im Osten unseres Kontinents verlangt die Relativierung der Macht und der Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten nach einer politischen und wirtschaftlichen Antwort.
Die französische Ostpolitik hat sich in den vergangenen Monaten als bemerkenswert lernfähig erwiesen. Dies beginnt mit einer Verlagerung der Schwergewichte von den Ländern des Südens, insbesondere den nordafrikanischen Staaten, nach Mittel-und Osteuropa Noch einschneidender ist die Revision überkommener Gleichgewichts-und Ordnungsvorstellungen:
Erstens: Anders als de Gaulle hängt Mitterrand nicht der beinahe mystischen Verklärung des Nationalstaates an. Das „Wiederaufleben dunkler Nationalismen“ ist ihm nicht geheuer. Er zweifelt an der Lebensfähigkeit dieser Stämme und „Gebilde ..., die ansatzweise einen völkerrechtlichen Status erlangt haben werden“ Er hält das Recht auf Selbstbestimmung nicht für ein Allheilmittel. Der Jugoslawien-Krieg hat auch in Frankreich die Vergeblichkeit und Gefährlichkeit von Versuchen deutlich gemacht, „Geschichte und Geographie zu versöhnen“ Eine Chance für mehr Stabilität und die Lösung der Probleme der wiedererwachten und neuerstandenen Staaten wird in der Relativierung der Grenzen und der Teilung von Souveränitätsrechten gesehen. Als Beispiel führt Mitterrand die Europäische Gemeinschaft an
Zweitens: Der französische Präsident optiert für eine mehr und mehr kollektive Bewältigung der Wirtschafts-und Sicherheitsprobleme der mittel-und osteuropäischen Staaten. An die Stelle traditioneller, vornehmlich auf Macht und Interessen gegründeter Gleichgewichtspolitik -Allianz der Flanken bzw. Achsen mit Klientelstaaten -tritt ein kooperatives und mehrdimensionales Verständnis von Sicherheit. „Die Zeit der Weltreiche geht vorbei. Es beginnt die Zeit der Verträge, ich meine, der freiwillig eingegangenen gegenseitigen Verpflichtungen.“ Die französischen Vorschläge weisen in diese Richtung: eine „Konferenz über Stabilität in Europa“, das Projekt über einen „echten Sicherheitsvertrag zwischen den europäischen Staaten“ sowie die bereits im KSZE-Rahmen initiierten verbindlichen Schiedsgerichtsverfahren und Schlichtungsinstanzen.
Drittens: Die Größe der Herausforderung, die Grenzen einer eigenständigen Ostpolitik sowie einige Ungeschicklichkeiten und Mißerfolge habenFrankreich von den Vorteilen eines gemeinsamen westlichen Vorgehens überzeugt. Eine solche Politik soll nicht zuletzt der „Rückkehr zu den Kämpfen um Einfluß“ vorbeugen Die Zügelung alter machtpolitischer Affinitäten und Reflexe auf dem Balkan im Zusammenhang mit den Bemühungen der EG um Beilegung des Jugoslawien-Konflikts wird als Erfolg in dieser Richtung gewertet Mitterrand beabsichtigt, Mechanismen für die Abstimmung zu schaffen, die „in den Dienst einer Politik gestellt werden, die wir gemeinsam definieren und gemeinsam betreiben müssen“ Der Vorschlag über eine „Konferenz über Stabilität in Europa“ ist nicht nur in seiner Zielsetzung interessant. Zumindest ebenso wichtig ist die zu seiner Verwirklichung vorgeschlagene Methode: die vorherige Verständigung zwischen den EG-Staaten. In diesem Sinne ist die von der Balladur-Regierung unterbreitete Initiative ein Prüfstein für den politischen Willen der Zwölf, gemeinsam gegenüber Mittel-und Osteuropa zu handeln. Motor für eine gemeinsame westeuropäische Ostpolitik ist nach wie vor das französisch-deutsche Sonderbündnis.
V. Kontinuität im deutsch-französischen Verhältnis
„Kernstück des Problems im Herzen des Erdteils ist Deutschland.“ Diese Prämisse gaullistischer Europapolitik bleibt ohne Abstriche gültig. Allein schon die Tatsache, daß die Bundesrepublik infolge der Vereinigung zu einer „bedeutenden Mittelmacht mit ganz eigenem Gewicht“ (Dahrendorf) geworden ist, scheint nicht zuletzt in Frankreich geeignet, alte Vorurteile und Befürchtungen zu wecken. Frankreichs Vermögen, sich in den verschiedenen Bereichen seiner auf den Kontinent gerichteten Außen-und Sicherheitspolitik neu zu orientieren und Entwicklungen zu beeinflussen, wird in hohem Maße von der Stabilität und der Dynamik seiner Beziehungen zu Deutschland abhängen. Die von verschiedenen Seiten vorausgesagte Krise im deutsch-französischen Verhältnis ist nicht eingetreten.
Deutschland und Frankreich betreiben offenkundig nicht mehr in erster Linie die Politik ihrer Geo graphie. Mitterrand formulierte das von ihm selbst als „intellektuelle Revolution“ apostrophierte Credo für die Gestaltung des Verhältnisses zur Bundesrepublik: „Die Weigerung, der eigenen Leidenschaft nachzugeben, der Wille, alles der Prüfung der Vernunft, der beiderseitigen Interessen zu unterwerfen und dann auch die Chance für das, was aus diesem einfachsten Bemühen menschlicher Gefühle, das wir Freundschaft nennen, entstehen kann.“ An anderer Stelle spricht er von seiner Absicht, das Entstehen eines „europäischen Patriotismus“ zu befördern.
Die Rückkehr zu einer primär nationalstaatlichen Machtpolitik ist nicht verbaut. Frankreich scheint aber gewillt zu sein, die Tragfähigkeit des EG-Modells über das Ende des Ost-West-Konfliktes hinaus unter Beweis zu stellen. Es wird lernen, Deutschland als gleichberechtigten und in manchen Bereichen auch stärkeren Partner zu akzeptieren
VI. Fazit
Mit der Verringerung der Problemlösungskompetenz der Nationalstaaten und der Relativierung der international einsetzbaren Machtattribute Frankreichs, mit der Überwindung der „Ordnung von Jalta“ und schließlich mit der Entwertung und Diskreditierung traditioneller Großmacht-, Bündnis-und Militärpolitik hat sich die internationale Szenerie seit den Zeiten de Gaulles tiefgreifend gewandelt. Die Rahmenbedingungen, die der Gaullismus auf seine spezifische Art und Weise reflektierte und zum Vorteil Frankreichs zu nutzen verstand, sind unwiederbringlich verschwunden. Die Frage, ob die französische Außen-und Sicherheitspolitik zum Gaullismus zurückkehrt, ihm treu bleibt oder ihn überwindet, ist demnach müßig.
In der Nach-Konfrontations-Ära steht Frankreich vor der Aufgabe, seine Außen-und Sicherheitspolitik grundsätzlich neu zu definieren. Das gaullistische Paradigma gehört nicht nur mit Blick auf die außenpolitische Praxis der Vergangenheit an. Es hat auch für die außenpolitische Frankreichforschung weitgehend seine Erklärungsmacht eingebüßt.