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Dezentralisierung in Frankreich: Bilanz und Perspektiven | APuZ 32/1993 | bpb.de

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APuZ 32/1993 Französische Wirtschaftspolitik in den neunziger Jahren Veränderte Rahmenbedingungen und neue Handlungsansätze Frankreichs Parteiensystem nach den Parlamentswahlen Dezentralisierung in Frankreich: Bilanz und Perspektiven Frankreich und die Dritte Welt Mitterrands Europapolitik oder der lange Abschied vom Gaullismus

Dezentralisierung in Frankreich: Bilanz und Perspektiven

Pierre Kukawka

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der 1982 eingeleiteten Dezentralisierung ist eine bedeutende Veränderung des vom Zentralismus geprägten politisch-administrativen Systems in Gang gesetzt worden. Umfangreiche Neuverteilungen der Machtbefugnisse zwischen Staat und Gebietskörperschaften wurden vorgenommen, staatliche Zuständigkeiten nach unten verlagert und auf drei gleichwertige Gebietskörperschaften (Regionen, Departements, Gemeinden) verteilt. Die politische Bewertung der Dezentralisierung, wenngleich überwiegend positiv, ist kontrovers, wobei vor allem die mangelnde Transparenz und die Entstehung lokaler Machtstrukturen kritisiert werden.

I. Vorbemerkungen

Als die Linke mit der Wahl Francois Mitterrands zum Staatspräsidenten 1981 an die Macht kam, war Frankreich einer der zentralistischsten Staaten Westeuropas. Alle wichtigen Partner Frankreichs in der Europäischen Gemeinschaft hatten einen Prozeß der Dezentralisierung in Gang gesetzt, sei es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (Bundesrepublik Deutschland, Italien), sei es in den siebziger Jahren (Spanien) Was Frankreich betrifft, so lassen sich die zaghaften, schwerfälligen und oft erfolglosen Dezentralisierungsbemühungen durch eine jahrhundertealte Geschichte erklären. Um die Probleme der 1982/83 in Frankreich eingeleiteten Reformen zu verstehen, muß man auf die Periode des Anden r^gime zurückgreifen (die zentrale Rolle der „intendants“ als Vorläufer der Präfekten), ebenso auf die Debatten der Revolutionäre von 1789 (vor allem den Sieg der Jakobiner über die Girondisten) und schließlich auf das napoleonische Zeitalter. Der Historiker Albert Soboul sieht den Beginn des 19. Jahrhunderts als den Höhepunkt des französischen Zentralismus an und bezieht sich dabei auf das Chaptal-Gesetz vom 17. 2. 1800 (28 pluviöse an VIII), das die lokalen Institutionen jeglicher Macht zugunsten der Vertreter des Zentralstaats beraubte. Die Wahl der lokalen Autoritäten wurde abgeschafft; die Gemeinderäte wurden nunmehr vom Präfekten, dem Vertreter des Zentralstaates im Departement, aus der Liste der örtlichen Notabein ausgewählt, ebenso die Mitglieder des Conseil general (Departementalkammer) und des Conseil d’arrondissement vom Ersten Konsul. Die Repräsentanten des Zentralstaates konzentrierten alle Befugnisse gegenüber diesen örtlichen, lediglich mit Konsultativrechten ausgestatteten Gremien.

Der Aufsatz wurde von Karin Albert in die deutsche Sprache übersetzt.

Im Kaiserreich wurde der Präfekt zur Schlüsselfigur der lokalen Institutionen. Er verfügte über weitgehende Machtbefugnisse, war aber voh der Pariser Zentralregierung abhängig. Napoleon bezeichnete den Präfekten als „kleinen Kaiser und obersten Impulsgeber, der nicht mit dem Territorium verbunden war, das er verwaltete“.

Die Julimonarchie stellte teilweise die Wahl der Gemeinderäte wieder her (1831), weitete ihre Befugnisse aus (1837) und führte die Wahl des Conseil gendral wieder ein (1833), aber sie behielt ein äußerst restriktives Zensuswahlrecht bei, das nur 241000 Wähler bei 35 Millionen Einwohnern kannte. Erst mit dem 1848 verkündeten allgemeinen Wahlrecht stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf neun Millionen. Mit dem zweiten Kaiserreich erfolgte wiederum ein Rückschritt; der Präfekt, wahrer „König des Departements“, ernannte die Gemeinderäte und bestimmte die Kandidaten für die Parlamentswahl.

Erst mit der III. Republik wurde den Gemeinderäten das Recht zuerkannt, den Bürgermeister und seine Beigeordneten zu wählen -mit Ausnahme der Stadt Paris (1882). Allerdings blieb die Kommunalaufsicht der Präfekten über die örtlichen Gebietskörperschaften stark und Frankreich weiterhin vom Zentralismus geprägt. Zwei große Dezentralisierungs-Gesetze entstanden in der III. Republik: das Gesetz vom 10. 8. 1871, mit dem die Departements ihre moderne, bis 1982 gültige Struktur erhielten, und die kommunale „Charta“ vom 5. 4. 1984.

In seiner Gesamtheit sicherte das politisch-administrative System dieser Epoche der bürgerlichen Republik die Treue der departementalen Notabeln, die gemäßigte Repräsentation der Grundbesitzer-Interessen und den Zugang der bürgerlichen Mittelklassen zu lokalen, vor allem städtischen Ämtern und Verantwortlichkeiten.

Diese historischen Entwicklungen haben zweifelsohne das französische kollektive Bewußtsein geprägt und einen starken Zentralstaat hervorgebracht, der sämtliche administrativen Elemente der Nation kontrollierte

II. Die Entstehung der Region

Ein wichtiges Ergebnis der Nachkriegsperiode (bis 1981) ist die Entstehung der Region als neue territoriale Einheit. Die erste Phase dieser Regionalisierung war bestimmt von der ökonomischen Rolle, die den Regionen im Rahmen der Planification und der Raumordnungspolitik zuerkannt wurde. Zwischen 1954 und 1956 wurden 22 „Programmregionen“ zur örtlichen Umsetzung der staatlichen Entwicklungspläne und Raumordnungsprogramme geschaffen. Als Konsultativorgane fungierten regionale „Expansionskomitees“ (Comits d’expansion conomique), die mit örtlichen Mandats-trägern und Verbandsvertretern besetzt waren. 1. Dezentralisierungsschritte unter Charles de Gaulle In der V. Republik sind unter der Präsidentschaft Charles de Gaulles (1958-1969) mehrfache Dezentralisierungsansätze zu verzeichnen: -1959 erhielten die Regionen den Rechtsstatus einer „circonscription d’action regionale“; die Koordinierung der regionalen Maßnahmen wurde einem Präfekten übertragen.

-1964 wurde die Funktion eines „Regionalpräfekten“

geschaffen, der in seiner Arbeit von einem (wiederum konsultativen) regionalen Ausschuß zur wirtschaftlichen Entwicklung (Commission de Dveloppement Economique Regional, CODER) unterstützt wurde. Seine Aufgabe bestand in der Vorbereitung und Durchführung des regionalen Planes im Rahmen der Planification.

Die letztere Reform war sicherlich von Bedeutung, indem sie die Region in ihrer Rolle und Bedeutung vor allem für die wirtschaftliche Entwicklung festigte; gleichzeitig hatte sie ihre engen Grenzen, da sie in Wirklichkeit eher eine „d^concentration“ (dieser Begriff bezeichnet die Aufgabenverlagerung innerhalb der Staatsverwaltung: von den Zentralverwaltungen zu den nachgeordneten territorialen Dienststellen) als eine wirkliche Dezentralisierung zugunsten der örtlichen Selbstverwaltung bewirkte. Die Region blieb im übrigen eine reine Verwaltungsebene zur Allokation der öffentlichen Investitionen und der Hauptpartner zur Umsetzung der 1963 neu entstehenden Raumordnungspolitik. Für Jack Hayward bestand „die ambivalente Natur der funktionalen Regionalisierung... darin, einen Probelauf in administrativer Dekonzentration durchzuführen, mit dem Ziel einer mutigen Dezentralisierung und der Hoffnung, daß diese Demarche auf Konsens bei den neuen wirtschaftlichen Notabein stoßen würde“ Die Region blieb eine einfache Verwaltungsebene, und der Regionalpräfekt wurde der „starke Mann“ dieses Systems 1969 schlug Staatspräsident de Gaulle in einem Referendum eine Regionalreform vor, die er eng mit der Reform des Senates, der zweiten Kammer des Parlaments, verknüpfte. Mit diesem Projekt sollte die Region als vollwertige lokale Gebietskörperschaft installiert werden. Der Präfekt behielt die Exekutivrechte, aber ein indirekt gewählter, aus örtlichen Mandatsträgern und Interessenvertretern zusammengesetzter Regionalrat sollte beschließende Funktionen erhalten, während der Senat auf eine beratende Rolle zurückgestuft wurde.

Der Reformentwurf war komplex und wurde von der Öffentlichkeit, die seine wirklichen Ziele nicht zu erkennen vermochte, schlecht aufgenommen. Besonders bei den Verfassungsexperten stieß er auf eine ablehnende Haltung, da sie beschließende Befugnisse einem Gremium nicht zuerkennen wollten, das gleichzeitig aus gewählten Mandatsträgem und ernannten Mitgliedern bestand. Hinzu kam die Opposition der örtlichen Notabein, die mit der Abwertung des Senats ihre seit der III. Republik wichtigste Machtbasis gefährdet sahen. Schließlich hat auch das personal-plebiszitäre Instrument des Referendums, mit dem de Gaulle ein Jahr nach den Mai-Unruhen 1968 die Gefolgschaft der Bevölkerung testen wollte, zur Verwirrung beigetragen. Nach dem Scheitern des Referendums trat de Gaulle zurück. Letztlich ist er, der Begründer der V. Republik, an einer schlecht vorbereiteten, schlecht verstandenen Regionalreform gescheitert.

Immerhin hatte de Gaulle, der die Vorherrschaft der Exekutive über die Legislative wiederhergestellt und das Gewicht des Zentralstaates verstärkt hatte, begriffen, daß die rapiden Veränderungen in der französischen Wirtschaft und Gesellschaft der sechziger Jahre eine tiefgreifende Reorganisation des Verwaltungssystems erforderlich machten. Aber statt ein großes Dezentralisierungsgesetz vorzulegen, hatte er auf die Dekonzentration der Verwaltung unter Federführung der oben erwähnten Regionalpräfekten gesetzt. Sein Scheitern wird von Jack Hayward auf „die Furcht der Interessengruppen, eingebunden zu werden, und die Angst der Notabein, ihre Macht zu verlieren“, zurückgeführt 2. Reformversuche unter George Pompidou De Gaulles Nachfolger Georges Pompidou (1969-1974), nach den Erfahrungen des 1969er Volksentscheids vorsichtig geworden, leitete 1972 eine begrenztere Reform ein. Die Regionen erhielten den Rechtsstatus einer öffentlichen Einrichtung (Etablissement public rEgional) und wurden mit Regionalräten ausgestattet, die je zur Hälfte mit delegierten örtlichen Mandatsträgern und den Abgeordneten bzw. Senatoren der jeweiligen Region besetzt waren. Daneben wurden regionale Wirtschafts-und Sozialräte mit Vertretern der Interessengruppen eingerichtet. Diese Reform schuf die Voraussetzungen für eine wirkliche Regionalisierung; ihre Institutionen nahmen diejenigen der Reform von 1982 vorweg.

Dennoch blieb die regionale Exekutivgewalt in den Händen des Staates, d. h.des Regionalpräfekten; darüber hinaus übte der Zentralstaat weiterhin eine ex-ante-und ex-post-Kontrolle (tutelle) über die Entscheidungen der lokalen Gebietskörperschaften aus. Ferner hatten die Regionen als „öffentliche Einrichtung“ immer noch einen Status zweiter Klasse gegenüber den vollwertigen Gebietskörperschaften (Departements, Kommunen). Für Pierre Sadran ist das Gesetz von 1972 Resultat eines -sicherlich unausgewogenen -Kompromisses zwischen Anhängern und Gegnern der Regionalisierung: „Die Ambiguität resultiert auch aus der Haltung der Regierung, die ihre eigene Logik nicht zu Ende verfolgt, die darin bestanden hätte, sich definitiv zwischen dem Departement und der Region zu entscheiden und diejenige Verwaltungsebene abzuschaffen, deren dysfunktionale Wirkungen am größten scheinen.“ 3. Fortentwicklung der Dezentralisierung In den siebziger Jahren gewann die Diskussion über die Dezentralisierung eine neue Kraft. Der 1976 veröffentlichte Rapport Guichard sprach sich für eine verstärkte Dezentralisierung zugunsten der Kommunen und der Departements aus. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Soziologe Pierre Gremion seine Studie „Le pouvoir priphrique“, in der er aufzeigt, wie sich allmählich ein weitgehend akzeptiertes Gleichgewicht zwischen Präfekt und den lokalen Notabein, zwischen Zentrum und Peripherie herausgebildet hat, was einen wirklichen Bruch mit dem bestehenden System äußerst schwierig macht. Für Gremion nimmt der örtliche Notabel eine strategische Mittlerposition zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein und wandelt sich zum Garanten des Zentralismus: „Die Theorie des lokalen Verwaltungs-und Politik-systems zeigt, daß die Macht der lokalen Eliten vom zentralisierten Staat abhängt und daß die lokalen Verantwortlichen die größten Stützen dieser Zentralisierung sind in dem Maße, wie sie Mittel und Wege gefunden haben, die strengen zentralistischen Vorschriften anzupassen und zu ihren Gunsten umzukehren.“

Die Linksparteien räumten ihrerseits im „Gemeinsamen Regierungsprogramm“ der Sozialisten und der Kommunisten (1972) der Dezentralisierung einen großen Stellenwert unter den vorgeschlagenen Strukturreformen ein. Dies stellte im übrigen eine wichtige ideologische Wende der Linken dar, die sich bis dahin zurückhaltend gegenüber einer Fortentwicklung der Dezentralisierung gezeigt hatte, wobei ihr Mißtrauen vor allem den Regionen galt, die sie als Symbole einer möglichen Rückkehr lokaler „Fürstentümer“ (fodalits) ansah. Während die Linksparteien bei den nationalen Wahlen (Parlamentswahlen 1973 und 1978, Präsidentschaftswahl 1974) knapp scheiterten, erzielten sie in den Kommunalwahlen 1976 und 1977 große Erfolge. Danach wurde in gewisser Weise eine Reihe von Aspekten der Dezentralisierungsreform von 1982 auf regionaler Ebene bereits vorweggenommen, indem mehrheitlich linke Gemeinde-und Departementalräte Aktionen durchführten, die teilweise im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen standen.

Dies gilt besonders für die Bekämpfung lokaler Beschäftigungsprobleme und die Unterstützung gefährdeter örtlicher Unternehmen im Zuge der Wirtschaftskrise von 1973. Die „Manufrance“ -Affäre beispielsweise veranschaulicht die aktive Unterstützung einer konkursbedrohten Firma durch die (linke) Stadtverwaltung von Saint-Etienne, um den größten lokalen Arbeitgeber vor dem Konkurs zu retten; andere Städte und ihre Bürgermeister sind diesem Beispiel gefolgt. Diese Aktivitäten veranlaßten den damaligen Innenminister Michel Poniatowski 1976 zu einem Runderlaß, in dem er die Präfekten anwies, diejenigen örtlichen Verantwortlichen zu verwarnen, die zu direkt in das lokale Wirtschaftsleben eingriffen.

So schienen, um Jahre verspätet im Vergleich zu den europäischen Nachbarn, die Bedingungen für eine große Dezentralisierungsreform vorhanden zu sein. Eine umfangreiche Neuverteilung der Machtbefugnisse, Kompetenzen und Finanzen zwischen dem Staat und den Gebietskörperschaften sollte vorgenommen werden.

III. Dezentralisierungsreform von 1982

Gleich nach seinem Einzug in den Elysee-Palast im Mai 1981 machte Francois Mitterrand aus der Dezentralisierung „das große Anliegen“ seiner Amtszeit. Gaston Defferre, Bürgermeister von Marseille, wurde Minister für Inneres und Dezentralisierung. In einem Interview erklärte der neue Staatspräsident sein Projekt: „Die Grundidee von Gaston Defferre ist einfach. Er hat sich gefragt, wer die Macht ausübt. Und er hat festgestellt, daß dies in der Regel die zentralen Dienststellen der Ministerien sind, die in den Präfekten und den nachgeordneten ministeriellen Dienststellen ihre örtlichen Relais finden. Also soll vorgeschlagen werden, diese Macht auf die lokalen Mandatsträger in den Regionen, Departements und Kommunen zu übertragen, die damit zu mündigen Trägem öffentlicher Verantwortung werden.“

Die Reform verfolgte verschiedene Zielsetzungen. Zunächst sollte ein wirklicher Bruch herbeigeführt und ein psychologischer Schock hervorgerufen werden, um die Bürger den Entscheidungszentren näherzubringen, den örtlichen Mandatsträgern mehr Verantwortung zu übertragen und lokale Initiativen zu fördern 1. Dezentralisierungsgesetz vom 2. 3. 1982

Das erste Dezentralisierungsgesetz vom 2. 3. 1982 über die „Rechte und Freiheiten der Kommunen, Departements und Regionen“, das nach über achtmonatigen, leidenschaftlichen parlamentarischen Änderungsanträge Beratungen -über 4000 wurden eingebracht -verabschiedet wurde, bildet die zentrale Grundlage der Reform. Die Begründung des Gesetzes präzisiert, worin der Bruch mit dem bisherigen System besteht: „Frankreich lebt seit Colbert und Napoleon in einem zentralisierten System, das sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte noch verstärkt hat... Die Regierung will mit dieser Situation brechen und den Gemeinden, Departements und Regionen eine tatsächliche Freiheit zuerkennen, ihre Zukunft zu meistern. Sie will eine Organisationsform und eine Verwaltungspraxis beenden, die auf dem Mißtrauen des Zentral-staatsgegenüber den Bürgern und ihren gewählten Vertretern beruhte.“

Das Gesetz beseitigte jegliche vorherige Staatsaufsicht über die Gebietskörperschaften und ersetzte sie durch eine nachträgliche Rechtsaufsicht. Auch die Kontrolle der kommunalen Budgets wurde in eine nachträgliche Kontrolle umgewandelt und regionalen Rechnungshöfen übertragen. Die Exekutive in den Departements wurde dem Präfekten entzogen und dem Präsidenten der Departementalkammer (conseil general) übertragen. Die Region erhielt den vollwertigen Status einer Gebietskörperschaft; hier wurde die Exekutive dem Präsidenten des -nunmehr direkt gewählten -Regionalrates (conseil regional) übertragen. Schließlich erhielten die Gebietskörperschaften das Recht zur eigenen Wirtschaftsförderung, vor allem was Hilfen zugunsten lokaler oder regionaler Unternehmen betrifft.

Die Funktion des Präfekten wandelte sich: Er verlor die bisherige Exekutivaufsicht über die Departemental-und Regionalverwaltungen, wurde aber zum alleinigen Repräsentanten des Zentralstaats im Departement und zum einzigen staatlichen Verhandlungspartner für die Gebietskörperschaften. Die Gemeinden sahen sich in ihren Zuständigkeiten für die Verwaltung der örtlichen Angelegenheiten und Einrichtungen bestätigt. Sie wurden nunmehr verantwortlich für Kinderkrippen, Vor-und Grundschulen, Bibliotheken, städtische Verkehrsmittel, Wasser-und Abwasserversorgung, Hausmüllabfuhr, Straßen-und Wegenetz sowie die lokale Wirtschaftsförderung.

Die Departements erhielten eine spezifische Rolle im Bereich der sozialstaatlichen Dienste und sind praktisch allein verantwortlich für die Einrichtungen und Leistungen des Sozial-und Gesundheitswesens. Sie nehmen zudem eine Aufgabe der Raumplanung und der überörtlichen Mittelverteilung wahr: departementaler Straßenbau, überörtlicher öffentlicher Nahverkehr, Verwaltung der „Colleges“ (Stufenschulen der Sekundarstufe I), Verteilung der Mittel für Einrichtungen der Wasser-und Elektrizitätsversorgung.

Den Regionen wurde eine Funktion der Koordination, der Reflexion und der Planung übertragen. Sie sind nunmehr für die regionale Umsetzung der Planification und der Raumordnung sowie für die regionale Wirtschaftsentwicklung zuständig. Mit der Einrichtung der Planverträge zwischen Staat und Regionen wurden letztere zu den bevorzugten Partnern des Zentralstaates. Weitere Aufgabenfelder sind die berufliche Aus-und Weiterbildung so-wie -als einzige umfangreiche Infrastrukturaufgabe -der Bau, die Ausstattung und die Verwaltung der Gymnasien 2. Dezentralisierungsgesetz vm 6. 2. 1992

Eine weitere Ergänzung fand die Dezentralisierung kürzlich mit dem Gesetz vom 6. 2. 1992 über die territoriale Organisation der Republik. Es fügte zu den bereits bestehenden zwei weitere Instrumente interkommunaler Zusammenarbeit hinzu: die Gemeinde-Gemeinschaft (communaut de communes) für Ballungsgebiete unter 30000 Einwohner sowie die Städte-Gemeinschaft (communaut de villes) für Ballungsräume mit mehr als 30000 Einwohnern Diese zwei Strukturen, die den rechtlichen Status einer „öffentlichen Einrichtung“ haben, sollen nach einer Übergangszeit von fünf Jahren nach ihrer Gründung eine einheitliche Gewerbesteuer in ihrem Gebiet festlegen.

IV. Probleme und Perspektiven der Reform

Auch wenn die Dezentralisierungsreform von 1982 einen entscheidenden Bruch gegenüber dem bisherigen System darstellt, bleiben doch eine Reihe von Kontinuitäten. Die Gebietskörperschaften haben beispielsweise ihre bisherigen Zuständigkeitsbereiche behalten; die Region als neue Gebietskörperschaft sieht sich ebenfalls in der Rolle bestätigt, die sie teilweise schon vorher einnahm. Die Departements wurden beibehalten und sogar gestärkt Der gebietliche Zuschnitt der Regionen folgte der Einteilung von 1956, obwohl diese nicht in der Absicht vorgenommen worden war, neue Gebietskörperschaften zu schaffen.

In den intensiven Debatten anläßlich des zehnten Jahrestages der Dezentralisierung wurde einhellig hervorgehoben, daß das politisch-administrative System Frankreichs stark verändert worden ist. Dies wird überwiegend positiv beurteilt, weil nach den Worten des früheren sozialistischen Parlamentsabgeordneten Jean-Pierre Worms „die Forderung nach Demokratie und nach mehr Effizienz gleichermaßen die Dezentralisierungsgesetze inspiriert haben“. Für ihn hat die Dezentralisierung „die Beziehung der Bürger zu ihren öffentlichen Angelegenheiten deutlich modifiziert im Sinne vergrößerter Möglichkeiten für Partizipation“ In der gleichen Richtung argumentiert der sozialistische Senator Jean Puech, wenn er die Dezentralisierung als eine „riesige Baustelle“ bezeichnet, „deren Einrichtung eine kleine Revolution dargestellt hat, deren bisherige Arbeit von den verschiedenen Partnern eine große Anpassungsfähigkeit erfordert hat und deren Fortführung schließlich noch für einige weitere Jahre ausdauernde Anstrengungen erforderlich macht und einen wirklichen politischen Willen voraussetzt“

Aber es gibt auch kritische Stimmen, die -wie der Abgeordnete und Bürgermeister von Beifort, Jean-Pierre Chevnement -das Auftauchen neuer regionaler Machthaber befürchten: „Das andere Hauptproblem der Dezentralisierung ist die Schaffung einer Vielzahl lokaler Feudalherren... Die Dezentralisierung hat die Macht der lokalen Mandatsträger verstärkt und nicht die des Bürgers. Sie hat neue Feudalherren geschaffen, die den Namen „Präsident des conseil general“ und „Präsident des conseil regional“ tragen und die um so mehr Macht ausüben, als sie bürgerfern und damit politisch nicht verantwortlich sind.“

In ähnlicher Weise kritisiert Yves Mny eine Art lokalen Stammestums: „Dieses System hat überhaupt keine Transparenz. Die Tatsache, daß ein lokaler Mandatsträger auf verschiedenen Registern spielen kann, mag seine Macht und seinen Einfluß verstärken, verwischt aber vollkommen die Spielregeln: Ist er Abgeordneter? Ist er Bürgermeister? Handelt er als Präsident des Zweckverbandes für öffentlichen Nahverkehr oder als Vereinsvorsitzender? ... Es sind Reformen und Veränderungen notwendig, um die Solidarität, die Transparenz, die Kollegialität und das Gleichgewicht der Kräfte zu fördern.“

Der UDF-Abgeordnete, Bürgermeister von Belley und Präsident des Regionalrates von Rhne-Alpes, Charles Millon, wünscht sich, daß „die Dezentralisierung uns mithin gleichermaßen vor einem direkten Zentralismus und vor einem Feudalmodell -auf das ein indirekter Zentralismus hinausliefe -bewahren sollte. Sie hat dies zum Teil auch getan. Aber de facto trennt sich der Staat nicht von allen Vorrechten, die er abgeben könnte, und es hat sich eine Reihe von Überschneidungen der Verantwortlichkeiten entwickelt, die in gewisser Weise die Praxis und die Effizienz der Dezentralisierung ... kompromittieren. "

Will man die Dezentralisierungsreform nach zehn Jahren bewerten, so stellen sich drei Fragen-und Problemkomplexe. 1. Gestaltung der Reform Der erste betrifft die generelle Architektur der Reform. Diese benötigt sicherlich eine Ordnung und eine Klärung der Kompetenzen. Der Kompetenz-transfer zugunsten der Gebietskörperschaften, der sich blockweise vollziehen sollte, ist in der Praxis nicht so klar realisiert worden wie vom Gesetzgeber gewünscht -mit der Folge, daß eine Gebietskörperschaft nie die volle und ganze Verantwortung für ein Aufgabengebiet hat.

Das Gesetz hat zahlreiche gemeinsame gemischte oder konkurrierende Zuständigkeiten aufrechterhalten, wie zum Beispiel im Bereich der Sozialleistungen, wo gleichzeitig der Staat, der conseil general des Departements und die Gemeinde intervenieren. In ähnlicher Weise sehen die Planverträge zwischen Zentralstaat und Regionen eine Reihe von Mischfinanzierungen im Bereich des Straßenbaus, der Forschung oder der Wohnungsbaupolitik vor. Wenn aber beispielsweise der Staat von den Regionen eine finanzielle Beteiligung am Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn (TGV) oder an der Errichtung von Universitäten verlangt, so ist klar, daß er das Prinzip der Kompetenz-Blöcke nicht respektiert. In gleicher Weise handeln die Regionen, die über den Regionalplan den Departements und den Kommunen Ausgaben abverlangen, die die letzteren nicht selbst bestimmt haben. Diese Praxis verstößt gegen den Grundsatz der Reform von 1982, daß es keine Hierarchie zwischen den drei Gebietskörperschaften geben soll.

Die Mischfinanzierungen laufen Gefahr, Verantwortungen zu verwischen und die Transparenz der von den einzelnen Gebietskörperschaften durchgeführten Politik nicht zuzulassen. 2. Größe der Gebietskörperschaften Ein zweiter Komplex betrifft die Zahl und den Größenzuschnitt der lokalen Gebietskörperschaften. Mit mehr als 36000 Gemeinden, 100 Departements und 26 Regionen ist das französische Territorium zersplittert wie keines seiner Nachbarn; die französischen Gemeinden erreichen nur ein Fünftel der Größe des EG-Durchschnitts.

Unter diesen Bedingungen ist eine Verzettelung der Kräfte und die ständige Überschneidung zwischen den drei Verwaltungsebenen schwer zu verhindern. Seit langem stellt der Dualismus zwischen Region und Departement ein Problem dar, für dessen Lösung die Dezentralisierungsreform 1982/83 eine historische Chance bot. Die Logik lief wahrscheinlich darauf hinaus, mit der Gründung der Regionen die Departements abzuschaffen. Nicht allein, daß dies nicht geschah: Die Position der Departements wurde im Gegenteil durch die Reform noch gestärkt. Heute stellt die eventuelle Auflösung der Departements nur noch eine rein theoretische Forderung dar, wie auch die entsprechende Kommission zur Vorbereitung des XL Plans feststellt: „Die eventuelle Entscheidung zwischen Region und Departement ist die zentrale Frage einer Reform der Verwaltungskarte Frankreichs. Die Kommission kennt die Kosten dieser Koexistenz und die Kosten, die sich aus dem Verlust der Klarheit des Systems ergeben. Dagegen muß man die Solidität und die Verankerung der Departements anerkennen. ... Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung zwischen Region und Departement entweder ein hochpolitisches oder ein äußerst theoretisches Unterfangen wäre.“ Ähnlich folgenlos bleiben die immer wiederkehrenden Debatten über eine Neugliederung der Regionen oder eine notwendige kommunale Gebietsreform. Dabei steht fest, daß die französischen Regionen oft zu klein sind, um sich in der unausweichlich kommenden europäischen Konkurrenz behaupten zu können. Gleiches gilt für die kommunale Zersplitterung, die eigentlich einer deutlichen Reform bedürfte, etwa in einer Reduzierung der Zahl der Kommunen auf eine Größenordnung von 10000. 3. Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat und Gebietskörperschaften Der dritte Problemkreis dreht sich um die neuen Beziehungen des Zentralstaates zu den Gebiets-körperschaften. In einem parlamentarischen Be-richt wird der Staat beschuldigt, der Verwirklichung der Dezentralisierung Steine in den Weg gelegt zu haben. So hat er die staatlichen Finanz-zuweisungen, die die neuen Zuständigkeiten der Gebietskörperschaften für den Bau und Unterhalt der Schulen begleiten sollten, ständig verringert, mit dem Ergebnis, daß 1989 die Gebietskörperschaften drei Viertel aller Ausgaben im Bereich der Schulbauten trugen. Darüber hinaus hat der Staat Formen schleichender Lastenverschiebung praktiziert, indem er den Unterhalt des Straßennetzes, den Bau von Universitäten und TGV-Strecken von den Gebietskörperschaften mitfinanzieren ließ und sich damit seiner Verantwortung entzog, ohne indessen die Entscheidungsgewalt über diese Bereiche abzugeben. Der erwähnte Parlamentsbericht fordert, die Praxis der Mischfinanzierungen zu beenden und damit der Dezentralisierung einen neuen Elan zu geben Auch der nationale Rechnungshof kritisiert den unbefriedigenden Zustand der Finanzbeziehungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften.

Der Journalist Francois Grosrichard bringt das Ausmaß an Mehrdeutigkeiten und Verwirrungen der gegenwärtigen Situation prägnant auf den Punkt: „Der Staat ist weiterhin Bankier, Kassenwart, Generalsteuerpächter, Steuerzahler, Pannendienst, barmherziger Samariter, Gerichtsvollzieher, Zensor, Gläubiger und Schuldner der Bürgermeister und der Präsidenten der Departemental-und Regionalräte. In diesem Durcheinander, das jeden Tag undurchsichtiger wird -außer für einige wenige Finanzinspektoren oder Rechnungshof-Experten -weiß man nicht, wer gewinnt und wer verliert, wer was macht und wer was zahlt.“

Insgesamt hat die Dezentralisierung in Frankreich eine Stufe erreicht, an der sie neuer Impulse bedarf. Dabei heben die gegenwärtigen, vor allem von der Raumordnungsbehörde DATAR (Delegation ä l’Amnagement du Territoire et ä l’Action Regionale) initiierten Reflexions-und Forschungsarbeiten über die Weiterentwicklung der territorialen und institutioneilen Strukturen Frankreichs auf die Notwendigkeit ab, die weitere Dezentralisierung vor dem Hintergrund des EG-Binnenmarktes und europäischer Raumentwicklungen zu sehen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine vergleichende europäische Studie siehe Yves Meny, La rforme des collectivits locales en Europe, Paris 1984.

  2. Albert Soboul, La Premire Rpublique, Paris 1968.

  3. Vgl.den historischen Überblick von Maurice Burjol, Les institutions regionales de 1789 ä nos jours, Paris 1969.

  4. Jack Hayward, Incorporer la priphrie: l’essor et la chute de la rgionalisation fonctionelle en France, in: Pouvoirs, Nr. 19, 1981, S. 109.

  5. Vgl. Jean-Jacques Dayries /Michöle Dayries, La r^gionalisation, Paris 1978.

  6. J. Hayward (Anm. 4), S. 111.

  7. Pierre Sadran, Les accomodements avec la loi de 1972, in: Cahiers franais, Nr. 204, Januar/Februar 1982 (numero spcial: La dcentralisation), S. 29.

  8. Vgl. Olivier Guichard, Vivre ensemble, Paris 1976 (2Bde.)

  9. Pierre GrEmion, Le pouvoir priphrique. Bureaucrates et notables dans le systme politique franais, Paris 1976, S. 12.

  10. Vgl. Pierre Kukawka, Manufrance, radiographie d’une lutte, Paris 1980.

  11. Le Monde vom 2. Juli 1981.

  12. Vgl. Ladcentralisation (Anm. 7).

  13. Gaston Defferre, Projet de loi Nr. 105, in: Documents de 1’Assemblee nationale, 17. Juli 1981.

  14. Zahlreiche andere Gesetze wurden in dieser Zeit verabschiedet. Zu den wichtigsten zählen das Gesetz vom 31. Dezember 1981 übef die Verwaltung von Paris, Lyon und Marseille, das Gesetz vom 30. Juli 1982, mit dem die Region Korsika geschaffen wurde, sowie die Gesetze vom 31. Dezember 1982 und vom 2. August 1984 über die Schaffung der Über-see-Regionen Guadeloupe, Guyane, Martinique und Röunion.

  15. Vgl. L’tat de la decentralisation, in: Cahiers franais, Nr. 256, Mai/Juni 1992, S. 87ff.

  16. Vgl. Paul Graziani, Le nouveau pouvoir: essai sur la decentralisation, Paris 1985.

  17. Jean-Pierre Worms, La decentralisation au milieu du gu, in: Revue politique et parlamentaire, Nr. 946, März/April 1990 (numro special: La döcentralisation: le second souffle), S. 15.

  18. Jean Puech, in: Departements et communes, Nr. 55, September 1989 (numero special: Decentralisation: le bilan), S. 100.

  19. Jean-Pierre Chevenement, Dangers et limites, in: ENA mensuel, Nr. 214, August 1991 (numero special: La decentralisation), S. 13.

  20. Yves Mny, La Republique des fiefs, in: Pouvoirs, Nr. 60, 1992 (numero special: La decentralisation), S. 21.

  21. Charles Millon, L’imbrication excessive, in: Pouvoirs (Anm. 20), S. 43.

  22. Zitiert nach: Dcentralisation, supprimer les dpartements?, in: Le Monde des dbats, Nr. 8, Mai 1993, S. 16.

  23. Vgl. Dix ans de dcentralisation, Le Monde -dossiers et documents, Nr. 202, September 1992.

  24. Francois Grosrichard, in: Le Monde vom 26. November 1991.

  25. Einen guten Überblick zu dieser Diskussion bietet der aus Arbeits-und Forschungsgruppen der DATAR hervorgegangene Band von Jean-Claude Nnry/Serge Wachter (Hrsg.), Entre l’Europe et la dcentralisation. Les institutions territoriales franaises, Paris 1993.

Weitere Inhalte

Pierre Kukawka, geb. 1943; Forschungsbeauftragter bei der Fondation Nationale des Sciences Politiques, Centre de Recherche sur le Politique, FAdministration et le Territoire (CERAT), Institut d’Etudes Politiques de Grenoble. Veröffentlichungen u. a.: Manufrance, radiographie d’une lutte, Paris 1980; Le quadrige europen -l'ouverture internationale de Rhone-Alpes (Bericht für die DATAR), Grenoble 1990; L’empreinte olympique, Grenoble 1992.