I. Ratlose Wirtschaftspolitik
Selten ist die Wahlniederlage einer Regierungspartei so verheerend ausgefallen wie die der französischen Sozialisten im März 1993. Ebenso selten aber ist der erfolgte Machtwechsel mit derart wenig Erwartungen und Hoffnungen begleitet worden. Wer auf einen grundlegenden Neubeginn der Wirtschafts-und Sicherheitspolitik nach zehn Jahren sozialistischer Regierungszeit spekuliert hatte, blieb enttäuscht. Die bürgerliche Regierung des neogaullistischen Premierministers Edouard Balladur hat, jedenfalls vorerst, die entscheidende Grundorientierung der sozialistischen Wirtschaftspolitik seit 1983 übernommen: -eine Währungspolitik, die den Franc-Kurs im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) stabil hält (Politik des starken Franc)
und binnenwirtschaftlich von einer konsequenten Stabilitätspolitik ergänzt wird; -eine ordnungspolitische Hinwendung zu einer liberaleren Wirtschaftsverfassung und -schließlich eine Politik der Verbesserung unternehmerischer Rahmenbedingungen.
Dieser Kurs hat mit der jahrzehntelangen Inflationsmentalität Frankreichs gebrochen und die Preisstabilität wiederhergestellt, die Position der französischen Währung im EWS gefestigt, die finanzielle Situation der Unternehmen nachhaltig gebessert und schließlich auch zu einer Modernisierung der Produktionsstrukturen beigetragen Die französische Exportwirtschaft hat seit 1986 partiell Marktanteile zurückgewinnen können, die sie seit dem zweiten Ölschock 1979 verloren hatte. 1992 war die Handelsbilanz erstmals seit Jahren wieder positiv. Gleichzeitig hat eine Reorientierung der französischen Exporte auf die hochentwickelten europäischen Märkte stattgefunden, hinter der sich ein Abbau der traditionellen, oft durch staatliche Großaufträge gekennzeichneten Dritte-Welt-Geschäfte verbirgt
Allerdings ist die wiedergewonnene Wettbewerbs-stärke unvollständig und zumindest teilweise Ergebnis konjunktureller Sonderfaktoren (Nachfragesog infolge der deutschen Einheit; gute internationale Konjunktur bis 1990), deren Wegfall seit Mitte 1992 wieder zu schlechteren Ergebnissen geführt hat Der Investitionsschub der Unternehmen seit 1986 hat den in den Jahren davor kumulierten Modernisierungsstau in der Wirtschaft nur teilweise ausgleichen können. Mehr noch: die sektoralen Schwachpunkte und Lücken der Produktionsstruktur sind geblieben und stellen eine Achillesferse für die französische Wirtschaftsentwicklung dar: „Da Frankreich es nicht vermocht hat, die Gesamtheit seines industriellen Produktionsnetzes zu modernisieren, und außerdem über keine der Trumpfkarten seiner verschiedenen Partner verfügt, befindet es sich in einer mehr und mehr eingeschränkten Lage in Europa.“ 1. Soziale Kosten des „starken Franc“
Eine weitere Problematik der seit 1983 verfolgten Politik liegt in ihren sozialen Auswirkungen. Der Kurs des „starken Franc“ wurde mit der Einschränkung binnenwirtschaftlicher Handlungsspielräume, mit Wachstums-und Beschäftigungsverlusten und in den letzten Jahren mit einem wachsenden, von der deutschen Hochzinspolitik ausgehenden Zins-druck nach oben erkauft. Darüber hinaus konnte selbst in der außerordentlich günstigen Konjunktur 1987-90 die Arbeitslosigkeit kaum zurückgedrängt werden; seit der weltweiten Rezession 1991 ist sie unaufhaltsam weiter gestiegen und hat mittlerweile die Drei-Millionen-Grenze überschritten. Diese Entwicklung wird begleitet von einer wachsenden Segmentierung des Arbeitsmarktes, der Ausbreitung von atypischen, prekären Beschäftigungsverhältnissen, neuer Armut und sozialer Ausgrenzung. Die staatliche Sozialpolitik hat unter steigender Kosten-und Abgabenlast die schlimmsten Auswüchse dieser Entwicklung begrenzt, ohne ihr wirksam begegnen zu können
So ließ sich zu Beginn der neunziger Jahre die entscheidende Schwäche der marktwirtschaftlichen Stabilisierungspolitik nicht mehr verdecken. Die unbestreitbare ökonomische Modernisierung und Stabilisierung ging zunehmend auf Kosten des sozialen Zusammenhalts der französischen Gesellschaft und mußte schon deshalb auf wachsenden Widerstand stoßen.
Die Bruchlinien wurden erstmals schlagartig in der Debatte um den Vertrag von Maastricht im frühen Herbst 1992 sichtbar, als die Gegner des Vertrages unter anderem die erheblichen sozialen Kosten einer europafreundlichen, stabilitätsorientierten Politik des „starken Franc“ thematisierten und damit erheblichen Zuspruch fanden. Die Ablehnung des Vertrages durch knapp 50 Prozent der Franzosen (überwiegend in sozialen Gruppen und in Regionen, die als Verlierer der EG-Marktintegration und der Wirtschaftspolitik seit 1983 gelten) muß insofern auch als massive Infragestellung einer als einseitig wirtschafts-und europaorientiert empfundenen, die nationale Solidarität vernachlässigenden Regierungspolitik gesehen werden. 2. Rufnach einer „anderen“ Politik Die Kritik setzte sich im Parlamentswahlkampf 1993 fort, als das offensichtliche soziale Scheitern der sozialistischen Wirtschaftspolitik zum Thema gemacht wurde. Auf der Linken (Kommunisten, oppositionelle Sozialisten, Teile der Grünen), aber vor allem auf der Rechten (insbesondere die Maastricht-Gegner in den Reihen des neogaullistischen RPR [Rassemblement du peuple franais] um Phi-lippe Sguin und Charles Pasqua) wurde der Ruf nach einer alternativen Politik lauter, die sich stärker an nationalen Wachstums-und Beschäfti-gungszielen orientieren sollte -notfalls auf Kosten europäischer Einbindungen und währungspolitischer Zwänge des EWS.
Der überwältigende Wahlsieg der Rechtsparteien, die nunmehr über vier Fünftel der Sitze in der Nationalversammlung verfügen, hat das Regieren nicht einfacher gemacht. Denn innerhalb der französischen Rechten muß von der Koexistenz zweier unterschiedlicher, sich im Grunde ausschließender wirtschaftspolitischer Konzepte gesprochen werden Zwar hat Premierminister Balladur an der Fortsetzung'des europaorientierten, liberalen Stabilitätskurses keinen Zweifel gelassen. Aber die neue Regierung ist mit einer sich weiter vertiefenden Rezession konfrontiert, die die soziale Lage weiter verschlechtert. Dies hat schon nach wenigen Wochen für wachsende Ungeduld innerhalb des Regierungslagers, bei Gewerkschaften, aber auch im Unternehmens-Dachverband Conseil National du Patronat Franqais (CNPF) gesorgt; der Ruf nach einer „anderen“, wachstumsorientierten, stärker nationalen Zielen als europäischen und internationalen Einbindungen verpflichteten Politik ist unüberhörbar geworden
Dazu zählt beispielsweise das Verlangen nach verstärkter Außenprotektion ebenso wie die Forderung, nach dem britischen Vorbild vom Herbst 1992 eine kräftige Franc-Abwertung vorzunehmen (oder gar das EWS zu verlassen), um damit die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie zu verbessern und neue Margen für Zinssenkungen und Konjunkturbelebung zu eröffnen („britische Versuchung“ Auch wenn die vorgeschlagenen Rezepturen einer nationalen Wachstumsstrategie bestenfalls vordergründige, kurzfristige Erfolge, schlimmstenfalls eine Verschlechterung der Lage erwarten lassen, wird der innenpolitische Druck auf die Regierung Balladur zunehmen -um so mehr, als die gegenwärtige weltweite Rezession die wirtschaftlichen und sozialen Probleme noch verschärfen dürfte.
Das gemeinsame Dilemma der Regierung Balladur, ihrer sozialistischen Vorgänger und der Ver-fechter einer „anderen“ Politik ist, daß der seit 1983 verfolgte Kurs unzweifelhaft zur Vertiefung der sozialen Krise beigetragen hat und sich von dorther wachsenden Widerständen betroffener Bevölkerungsgruppen ausgesetzt sieht, andererseits aber keine realistische Alternative erkennbar wird.
II. Strukturelle Defizite und neue Handlungsansätze
Vor diesem Hintergrund allgemeiner Ratlosigkeit gewinnt die jüngere Debatte in Politik, Wissenschaft und Medien, die sich verstärkt auf strukturelle Reform-und Lösungsansätze konzentriert, an Interesse. Zwanzig Jahre nach dem ersten Ölschock, zehn Jahre nach der spektakulären wirtschaftspolitischen Wende der Sozialisten beginnt sich die (im Grund nicht neue) Erkenntnis durchzusetzen, daß die bisherigen Kontroversen um Stabilisierungs-oder Wachstumspolitik, um nationale Wirtschaftspolitik oder europäische Einbindung, um staatlichen Interventionismus oder Liberalisierung zu kurz greifen und nicht den Kern des Problems erfassen. Ihren besten Ausdruck findet die neue Debatte in den jüngst veröffentlichten Arbeiten und Berichten des XI.französischen Planes
Ausgangspunkt sind die radikal veränderten Handlungsbedingungen nationaler Wirtschaftsund Sozialpolitik. Mit der fortschreitenden Globalisierung (im Sinne einer gleichzeitigen Vertiefung und Ausweitung transnationaler Wirtschaftsbeziehungen) und Regionalisierung (d. h.der Entstehung großer regionaler Wirtschafts-und Handels-blöcke) stellt sich das für Frankreich klassische Problem seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit noch dringender und gleichzeitig in neuer Form. Die Erschöpfung des fordistischen Wachstumsmodells der Nachkriegszeit stellt gerade den französischen Entwicklungsweg seit 1945 grundlegend in Frage. Dieser bestand zum einen in einem außerordentlich raschen, nachholenden Modemisierungsprozeß von Wirtschaft und Gesellschaft, der seine entscheidenden Impulse zentralstaatlicher Lenkung und Steuerung verdankte; diese etatistische Variante des Fordismus kam vor allem in einem umfangreichen nationalisierten Sektor, einer engen Verschränkung von Staats-und Wirtschaftseliten und einer ausgedehnten staatlichen Industriepolitik zum Ausdruck. Zum anderen hat die französische Industrie eine extrem tayloristische Produktionsweise entwickelt, die mehr als anderswo auf billigen, un-und angelernten Arbeitern basierte und die durch stark hierarchische Organisationsformen und ein hohes Maß an Ungleichheiten gekennzeichnet war. Frankreich war gewissermaßen ein „Musterschüler" des Fordismus und tut sich heute entsprechend schwer bei der Umstellung auf neue, tragfähige Produktions-und Wirtschaftskonzepte 1. Globale Wettbewerbsfähigkeit Die zentrale Problemstellung der Planarbeiten lautet: Wie kann Frankreich unter den veränderten Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz die Zielsetzungen der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts bewahren?
Folglich zielen die Überlegungen auf die Überwindung des in den achtziger Jahren vorherrschenden Konzepts der Wettbewerbsfähigkeit, das einseitig auf die Kostenseite und damit auf die preisliche Konkurrenzfähigkeit fixiert war, zugunsten eines umfassenderen Ansatzes, der ihre qualitativen Voraussetzungen stärker berücksichtigt und damit auch sozialverträglicher ist (globale Wettbewerbsfähigkeit). Im Mittelpunkt steht jetzt die Innovations-und Anpassungsfähigkeit der Unternehmen, die Qualität ihrer Produkte und die Ausdifferenzierung ihrer Angebotspalette
Die Frage der Kosten-und Preiskonkurrenz wird in diesem Konzept nicht vernachlässigt, aber relativiert: Nach der erfolgreichen Stabilisierung der Preise und Lohnkosten in den achtziger Jahren erscheinen die Möglichkeiten begrenzt, noch weitere Kostenvorteile herauszuholen (mit der wichtigen Ausnahme der indirekten Lohnkosten). Zudem ist seit längerem bekannt, daß die französischen Außenhandelsprobleme überwiegend struktureller Natur sind. Sie lassen sich zurückführen auf eine ungünstige und sektorale Spezialisierung der französischen Exportwirtschaft und deren unzureichende Erneuerungs-und Anpassungsfähigkeit, vor allem im Bereich Struktur-und entwicklungsbestimmender Investitionsgüterindustrien (Maschinen-und Werkzeugmaschinenbau). Darin spiegeln sich alte, mit dem französischen Modernisierungsweg seit 1945 eng verbundene Schwächen der Industriestruktur wider, die sich seit 1973 noch vertieft und die französische Wirtschaft störungsanfälliger und abhängiger gemacht haben
Die Politik der achtziger Jahre hat zwar die Kosten-und Rahmenbedingungen der Unternehmen deutlich verbessert und ihnen neue Spielräume eröffnet, die sie für Modemisierungsinvestitionen und für eine aktive Internationalisierung genutzt haben; in kurzer Zeit hat sich ein Bruch mit der früheren frankozentrierten UnternehmensPhilosophie vollzogen
Aber die Erneuerung hat nicht alle Unternehmen erfaßt. Das französische Unternehmensnetz erscheint nach wie vor als heterogen und brüchig -Folge eines Wachstums-und Interventionsmusters, das sich jahrzehntelang auf wenige Großunternehmen konzentriert hat und der Diffusion der Modernisierung in die breite Unternehmenslandschäft zu wenig Beachtung schenkte. Erst in neuerer Zeit hat in Frankreich eine Mittelstandspolitik eingesetzt, die diesen Namen auch verdient. Die Verbesserung der unternehmerischen Rahmenbedingungen und der ideologische Klimawechsel zugunsten der Unternehmen in den achtziger Jahren haben zwar zu einer steigenden Zahl von Unternehmensneugründungen geführt; aber auch die Konkursrate ist seit 1986 stark gestiegen und eine der höchsten in Europa
Diese anhaltende „Unfähigkeit der Wirtschaft, ihr industrielles Untemehmensnetz grundlegend zu regenerieren“ paart sich mit einer spezifischen Schwäche der französischen Unternehmenslandschäft im Bereich mittelständischer Unternehmen zwischen 100 und 2000 Beschäftigten. Diese Probleme werden überwiegend auf Finanzierungsschwierigkeiten der Klein-und Mittelunternehmen zurückgeführt: ungünstige Kreditbedingungen bei den Banken, Probleme und Zurückhaltung der Firmen bei notwendigen Eigenkapitalerhöhungen, fehlende partnerschaftliche, auf Dauer angelegte Beziehungen zwischen Bankensystem und Industrieunternehmen
Vor allem aber scheint sich die in der französischen Produktionsstruktur immer ausgeprägte Spaltung zwischen modernen und traditionellen Sektoren und Unternehmen fortzusetzen. Es existieren offensichtlich gegensätzliche Wettbewerbsstrategien zwischen denjenigen Sektoren bzw. Firmen, die eine offensive, auf Qualifizierung der Beschäftigten, sozialen Dialog und Innovation setzende Politik verfolgen, sowie denjenigen, die einseitig, die Senkung der Lohnkosten und die Steigerung der Arbeitsproduktivität bevorzugen und mit dieser Strategie ihre Situation langfristig doch nicht verbessern können
Diese Dualisierung des Unternehmens-bzw. Produktionsnetzes beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft. Sie steht in Zusammenhang mit den bislang in Frankreich nur schwach ausgeprägten Partnerschafts-und Kooperationsstrukturen zwischen den Unternehmen: zwischen Produzenten und Zulieferern, Industriellen und Handel, Industriefirmen und dem Banken-system. Gerade der Ausbau derartiger Partnerschaften, Kooperationen und Vernetzungen zwischen den Unternehmen (sowie zwischen diesen und Ausbildungs-und Forschungseinrichtungen) stellt aber ein entscheidendes Element der globalen Wettbewerbsstrategie dar 2. Strukturprobleme der Beschäftigungspolitik Alle verfügbaren Szenarien der mittelfristigen Wirtschaftsentwicklung in Frankreich ergeben, daß die gegenwärtige Beschäftigungskrise mit ihren verheerenden sozialen Folgeerscheinungen mit einer Wachstumsbelebung allein nicht überwunden werden kann Die Diskussionen des IX. Plans haben auch hier die spezifischen Strukturprobleme der Arbeitslosigkeit hervorgehoben: a) Neue Produktionskonzepte Ein erstes Ursachenbündel trifft sich mit den erwähnten Gründen für die Wettbewerbsschwäche der französischen Wirtschaft. Die Beharrungskraft der tayloristischen Tradition der Industrie und das Vorherrschen kurzfristiger, an den Arbeitskosten ansetzender Produktivitätskonzepte wirken sich in doppelter Weise auf den Arbeitsmarkt aus: in einer starken Zunahme der Rationalisierungs-Arbeitslosigkeit sowie in einer besonders starken Entwicklung instabiler, atypischer, treffend als „prekär“ gekennzeichneter Beschäftigungsverhältnisse
Dagegen wird den Unternehmen „eine offensivere Wettbewerbsstrategie, die auf der Qualität der Produkte und Dienstleistungen und damit auf der Qualifikation der Arbeitskräfte beruht“ empfohlen. Dahinter steht nicht weniger als ein Plädoyer für neue Produktionskonzepte, die von den Unternehmensführungen tiefgreifende Veränderungen ihrer Arbeitsorganisation, ihrer Personalpolitik, ihrer innerbetrieblichen Management-und Organisationsstruktur und nicht zuletzt ihrer Sozialbeziehungen erfordern. Angesichts der tradierten hierarchischen Formen französischer Unternehmenskultur und Führungsstile kommt dies einer kleinen Kulturrevolution gleich und könnte als illusorisch verworfen werden, gäbe es nicht eine Reihe von Unternehmen, die derartige Konzepte begonnen haben zu praktizieren und zu propagieren b) Arbeitszeitverkürzung Was die staatliche Beschäftigungspolitik angeht, so ist eine neue Debatte um Arbeitszeitverkürzung als Mittel der Arbeitsplatzsicherung und -schaffung in Gang gesetzt worden. Nach den relativ enttäuschenden Resultaten der 1982 per Regierungsverordnung eingeführten Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden war diese Diskussion in Frankreich festgefahren und spielte auch in den Tarifverhandlungen der achtziger Jahre keine Rolle mehr Die jetzigen Vorschläge laufen auf eine mittelfristig programmierte, regelmäßige Arbeitszeitverkürzung hinaus, die mit einer Reorganisierung der Arbeitsprozesse, der Entkoppelung von individuellen und betrieblichen Arbeitszeiten, also mit flexibleren Arbeitszeit-modellen einhergeht c) Berufliche Aus-und Fortbildung Ein weiterer, schon seit Jahren diskutierter Reformkomplex betrifft das System der beruflichen Erstausbildung und Fortbildung, dessen mangelnde Verknüpfung mit den Erfordernissen der Wirtschaft als Hauptursache der hohen Jugendarbeitslosigkeit anzusehen ist. Um die praktisch von allen Seiten geforderte Entwicklung in Richtung auf duale Ausbildungsformen zu forcieren, bedarf es einer grundlegenden Reform des staatlichen Bildungssystems (das bisher das Quasi-Monopol der beruflichen Erstausbildung innehat), eines deutlich verstärkten Ausbildungs-Engagements der Unternehmen und ihrer Verbände und ihrer Hin-wendung zu den oben erwähnten qualitativen Wettbewerbsstrategien, aber auch neuer Partnerschaften zwischen Bildungssystem und Wirtschaft d) Kostenentlastung der Unternehmen Eher klassisch zu nennen sind die Überlegungen, die auf eine Kostenentlastung der Unternehmen hinauslaufen, wobei die in Frankreich hohen indirekten Arbeitskosten im Mittelpunkt der Reformpläne stehen Nachdem bereits im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Unternehmen in bestimmten Fällen Teile der Sozialabgaben erlassen werden, sollen weitere Schritte folgen, um die hohen Arbeitgeber-Anteile an den Sozialversicherungsabgaben zu reduzieren. Besonders im Bereich der Niedriglöhne wird Handlungsbedarf gesehen, um die Beschäftigungschancen für gering qualifizierte Personen zu erhöhen.
III. Wandel des Staates
Die achtziger Jahre waren -seit der wirtschaftspolitischen Wende der Sozialisten 1983 -eine Zeit der Deregulierung, der Privatisierung und der Liberalisierung. Diese Entwicklung entsprach zum einen einer in allen wesentlichen Industriestaaten zu beobachtenden Welle des Neoliberalismus und erhielt im übrigen von den Beschlüssen zum EG-Binnenmarkt 1986 entscheidende Impulse. Zum anderen war sie ein Reflex auf die Krise des französischen colbertistischen, zentralstaatlichen Interventionismus, der den französischen Modernisierungsweg nach 1945 bestimmt hatte Das rasche Scheitern des 1981/82 von der sozialistisch-kommunistischen Regierung unternommenen Versuchs, durch einen weiteren Ausbau der zentral-staatlichen Lenkungsinstrumente die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu überwinden, tat ein übriges und machte den Weg frei für eine grundlegende Infragestellung staatlicher Interventionen in der Wirtschaft. Auf einer anderen Ebene trug die 1982 eingeleitete Dezentralisierung dazu bei, das staatliche Souveränitätsmonopol von innen her aufzuweichen
Inzwischen ist die liberale Euphorie längst verflogen. Man muß nur die Programme und Regierungserklärungen der Rechtsparteien 1986 (zu Beginn ihrer kurzen Regierungszeit bis 1988) und 1993 vergleichen, um zu erkennen, wie sehr die ideologische Freiheits-Rhetorik einer nüchternen Sichtweise gewichen ist. Dem widerspricht nicht, daß die Regierung ihr 1986-1988 begonnenes umfassendes Privatisierungsprogramm in den kommenden Jahren fortsetzen wird oder daß die Notenbank (Banque de France) einen von Regierungsweisungen unabhängigen autonomen Status bekommt
Für diese Renaissance des Staates gibt es eine Reihe von Gründen, die über das -gewiß nicht zu unterschätzende -Beharrungsvermögen etatistischer bzw. staatsfixierter Verhaltensweisen in Verwaltung und Gesellschaft hinausgehen. Zum einen zwingt die schwierige Wirtschaftslage ebenso wie die soziale Krise zum Handeln. Die Europäisierung und Liberalisierung der Wirtschaft und ihrer Politik ist durchaus zu Recht von zahlreichen Betroffenen als Bedrohung empfunden worden, weil damit der Staat wesentliche wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verloren hat (etwa in der Konjunktur-, Währungs-und Haushaltspolitik, bei industrie-oder regionalpolitisch motivierten Subventionen). Gleichzeitig wächst der Druck auf den Staat, die Folgen der Internationalisierung und der EG-Marktintegration abzufedern und die soziale Kohärenz zu bewahren bzw. wiederherzustellen, die im Zuge der Integration verlorenzugehen droht
Zum anderen hängt der Perspektivenwechsel auch mit der Tatsache zusammen, daß nach einer ersten Phase breiten Konsenses, was den Abbau übermäßiger staatlicher Dirigismen angeht, die Fragen Oberhand gewinnen, was denn genau an die Stelle der abgebauten staatlichen Regulierungen und Interventionen treten soll. Nicht von ungefähr haben Bücher wie das von Michel Albert Konjunktur, die auf unterschiedliche kulturelle Kapitalismus-, Markt-und Regulierungsmodelle verweisen. Alberts Unterscheidung zwischen dem angelsächsischen und dem rheinischen Typus der Marktwirtschaft hat inzwischen Schule gemacht; sie kennzeichnet die notwendigen Grundentscheidungen über das neue Leitbild des Staates, aber auch über das angestrebte Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell.
Sowohl die neue Rollenbestimmung für den Staat als auch sein Verhältnis zur Marktregulierung, zu den Kräften der Zivilgesellschaft und zu den lokalen Gebietskörperschaften bedürfen der Klärung. Sicher ist nur, daß die herkömmlichen etatistischen Interventionsmuster abgelöst werden sollen zugunsten indirekterer Regulierungsformen. Dies bedeutet im Innenbezug stärker partnerschaftliche Vertragsbeziehungen mit den übrigen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren, während etwa im Verhältnis zur EG der Staat seine Rolle als „Garant der sozialen Kohäsion“ einüben muß: durch Einflußstrategien als politischer Akteur auf der Ebene des EG-Entscheidungssystems, durch erfolgreiche Standortpolitik im nationalen Rahmen 33. Da der Staat (über die Qualität und Effizienz seiner Verwaltung, der von ihm verantworteten Infrastruktur im Bildungs-, Forschungs-, Verkehrs-und Kommunikationsbereich) längst ein Faktor der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit geworden ist, verwundert es nicht, wenn seine Reform zum Bestandteil der oben erwähnten globalen Wettbewerbskonzepte wird. Mit der vom damaligen Premierminister Michel Rocard 1989 angestoßenen Staats-und Verwaltungsreform ist im übrigen ein umfassender Reformprozeß in Gang gekommen, der einen grundlegenden Wechsel der Funktionslogik, der staatlichen Verwaltung ansfrebt. Zu den generell propagierten Reformzielen gehören die Steigerung der Effizienz des Staates, die verbesserte Qualität öffentlicher Dienstleistungen, eine verbesserte Planung der „humanen Ressourcen“ der Verwaltung, eine stärkere Verantwortung und intensivere Fortbildungsmaßnahmen für das Personal, die weitere „Dekonzentration“, d. h. territoriale Auslagerung zentralstaatlicher Verwaltungen
Eine andere Frage ist, ob der allenthalben proklamierte Umbau der staatlichen Aufgaben und Interventionen auf jene Kooperationsformen und Selbstregulierungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft bauen (oder sie stärken) kann, derer er dringend bedürfte. Die bereits an die Substanz gehende Krise der französischen Gewerkschaftsbewegung, die großen Lücken in den Tarifvertrags-beziehungen oder die erwähnten Schwächen der Kooperationsstrukturen im Unternehmenssektor sind Beispiele für die fundamentalen Schwierigkeiten in diesem Bereich.
Damit wird eine generelle Problematik der hier vorgestellten neuen Konzepte und Handlungsansätze angesprochen, die auch Zweifel an ihrer Durchsetzungsfähigkeit aufkommen lassen. Sie sind außerordentlich eng miteinander verflochten. Sie rühren an tradierte Interessen und Funktionsweisen in Staat, Verwaltung, Unternehmen und sozialen Gruppen, kurz: am Fundament eines Entwicklungsmodells, das den französischen Weg seit 1945 gekennzeichnet hat. Sie erfordern eine langfristig angelegte Reformpolitik, ohne unmittelbar Ergebnisse vorweisen zu können.
Gleichwohl hat diese Debatte das Verdienst, die richtigen Fragen zu stellen und auf die zentralen strukturellen Engpässe hinzuweisen, denen die französische Wirtschaftspolitik der neunziger Jahre gegenübersteht. Für die schwierige, widersprüchliche Suche nach neuen, sozialverträglichen Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung ist dies nur ein erster, allerdings unverzichtbarer Schritt.