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Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform | APuZ 31/1993 | bpb.de

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APuZ 31/1993 Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft. Muß die Bundesrepublik neugegründet werden? Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen An der Schwelle zu einer neuen Epoche Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Orientierung auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands und Europas Die Krise der Politik als Krise des Menschen

Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform

Wamfried Dettling

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Essay beschreibt den selbstreflexiven, autistischen Charakter der politischen Parteien („Parteien im eigenen Saft“) in der Bundesrepublik Deutschland als eine der zentralen Ursachen für ihre Krise. Der Autor fragt nach Möglichkeiten und schlägt Wege vor, wie sich die Parteien wieder stärker in die politische und soziale Umwelt hinein öffnen könnten. Dazu gehört nicht zuletzt ihre Fähigkeit, auch die neuen Themen und Konflikte in entscheidbare Alternativen zu bündeln. Falls dies nicht (mehr) gelingt, stellt sich nicht nur die Frage nach der Zukunft der jetzigen Parteien, sondern auch der bisherigen Parteien-und Wettbewerbsdemokratie.

I. Das Problem

Der Grenznutzen der Parteienkritik nimmt zusehends ab. Das liegt nicht allein daran, daß alles schon gesagt ist, die Parteien aber bekanntlich schwer hören. Der Überdruß an dieser Diskussion, den beide Seiten, die Parteien und ihre Kritiker, langsam empfinden, hat auch etwas damit zu tun, daß zwar die Probleme umfänglich beschrieben, kaum aber Wege aus dem Dilemma aufgezeigt werden. Und so empfinden Politiker und Parteien die Kritik oft als wenig hilfreich.

Parteienkritik aber ist kein Selbstzweck. Sie ist vielmehr getragen von der Hoffnung wider alle Erfahrung, daß politische Parteien sich als reformfähig erweisen mögen und daß die kritische Analyse dazu beitragen könne. So klar ihre Defizite und Probleme auch immer erscheinen mögen, und diesbezüglich zeichnet sich ja mehr und mehr ein Konsens ab, so schwer ist es doch, eine plausible und praktikable Alternative zu dem real existierenden Parteiensystem aufzuzeigen. Es geht nicht um die eine große Alternative, sondern um viele kleine Schritte zur Reform. Die Parteien selbst und manche ihrer Kritiker gehen jedoch mit der Parteiendemokratie um, als hätten sie noch eine andere in Reserve.

Parteiführer verweisen gerne auf die antidemokratische Tradition der Parteienkritik in Deutschland. Diese Tradition gab es: im Bismarckreich, in der Weimarer Republik und auch in den ersten Jahren der alten Bundesrepublik Deutschland. Über die späte alte Bundesrepublik wie über das vereinigte Deutschland läßt sich jedoch sagen: Noch nie in der deutschen Geschichte hat die Demokratie, auch die Parteiendemokratie, eine so hohe und durchgängige Zustimmung erfahren wie in der Gegenwart. Kritik finden der aktuelle Zustand und die Selbstdarstellung der Parteien, nicht die (Parteien-) Demokratie als solche. Das muß nicht so bleiben. Es ist durchaus denkbar, daß sich die Kritik an den Parteien, bleibt sie folgenlos, eines Tages, gleichsam in einem Spill-Over-Effekt, auch auf die Demokratie überträgt. Demokratie kann konkurrenzlos scheitern. Die Ursache dürfte dann eines Tages weniger in einer antidemokratischen, aus der Luft gegriffenen Parteienkritik zu suchen sein als vielmehr in der Unfähigkeit der Parteien, zu hören und zu handeln, als es noch Zeit war.

So betrachtet ist Parteienkritik zu verstehen als ein anderes Plädoyer für eine Parteiendemokratie und als ein Plädoyer für eine andere Parteiendemokratie. Die kritische Analyse der Parteien begreift deren Reformfähigkeit als Bedingung des Überlebens der Parteiendemokratie.

Das setzt nicht nur voraus, daß die Parteien sich ändern, sondern auch, daß die Parteienkritik andere Akzente setzt. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf die Frage: Was könnten und sollten Parteien tun, wenn sie die Kraft dazu noch hätten? Der Versuch einer Antwort ist, hoffentlich, nicht willkürlich, aber ganz gewiß auch nicht vollständig und erschöpfend. Es sind, wie gesagt, kleine Schritte zu einem großen Ziel, getragen von der einfachen, ja banalen Annahme: So wie die Parteien sind, können sie nicht bleiben, aber es wird kaum möglich sein, einfach einen Ersatz für sie zu finden. In der gegenwärtigen Form dürften die politischen Parteien, Leitfossile einer vergangenen Zeit, das politische Leben immer weniger bestimmen, und doch wachsen die Probleme, die einer kollektiven und das heißt politischen Lösung bedürfen, wächst die Nachfrage nach jenen Leistungen, die die Volksparteien idealtypisch erbringen sollten und die sie ja auch, in ihren guten Zeiten, erbracht haben.

Also hängt alles von der Reformfähigkeit der politischen Parteien ab. Daß sie sich dabei in guter Gesellschaft der Kirchen, der Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverbände befinden, mag zwar entlastend wirken, ist jedoch ein schwacher Trost, sind Parteien doch schon kraft Verfassung Verbände mit einer besonderen, eben politischen Verantwortung für das Gemeinwesen.

Sind die bestehenden Parteien zur Selbstreform fähig? Was behindert, was befördert diese Fähigkeit? Die Fähigkeit von Institutionen zur Selbstreform ist von strukturellen Voraussetzungen abhängig,sie läßt sich in gewisser Weise organisieren. Damit ist freilich nicht jene »Organisationsreform« gemeint, auf die Parteien immer dann verfallen, wenn sie spüren, daß etwas geschehen muß, daß es so nicht weitergehen kann und wenn sie sich gleichwohl vor inhaltlich-politischen Konsequenzen drücken wollen.

Die Reformfähigkeit der Parteien wird sich auf beides beziehen müssen, auf inhaltlich-politische und auf organisatorisch-institutionelle Reformen. Dabei handelt es sich um eigenständige Kategorien der Reform, die nicht wechselseitig aufeinander reduzierbar sind; ganz zu schweigen von der beliebten Praxis der Selbsttäuschung, die fällige Erneuerung der Partei auf eine „Reform der Partei-arbeit“ zu verkürzen, diese als einen Ersatz für das kritische Überprüfen der ideologischen Bestände zu nehmen, oder gar der nach jeder Wahlniederlage vorgetragenen Ankündigung, nun müsse man aber die Politik der CDU, SPD, CSU, FDP etc.den Wählern deutlicher und verständlicher machen -gerade so, als wären diese bisher zu dumm gewesen, sie zu kapieren.

Die Fähigkeit zur Selbstreform bedarf also struktureller Voraussetzungen, und zum anderen sind es gerade organisatorische und strukturelle Bedingungen, die sich benennen lassen, die die Lernfähigkeit von politischen Parteien zuverlässig behindern.

II. Sind die Parteien zur Selbstreform fähig? Sieben Vorschläge

1. Parteien sind von Natur aus träge Organisationen. Sich selbst überlassen, leben sie aus dem Gedächtnis, handeln sie in eingeschliffenen Routinen. Um dieser gleichsam naturgegebenen Eigendynamik entgegenzuwirken, sind deshalb Korrektive einzubauen, die Führung und Mitglieder zwingen, sich mit den tatsächlichen Problemen und das heißt: auch mit externen Gutachten und Analysen auseinanderzusetzen.

Dieser Vorschlag läuft auf wenig mehr als auf den allerdings notwendigen Versuch hinaus, auch in den Parteien eine Situation herbeizuführen, die für eine demokratische Gesellschaft und Öffentlichkeit selbstverständlich ist: das Deutungsmonopol der jeweiligen Machtelite zu verhindern. Demokratie lebt ja vom Wettbewerb der Ideen und Alternativen -und von der Chance, daß die Agenda der Politik im allgemeinen und der Parteien im besonderen in einem offenen Prozeß bestimmt werden. Tatsächlich laufen die Machtstrategien der jeweiligen Eliten immer darauf hinaus, das Deutungs-, Informations-und Kommunikationsmonopol für sich selbst zu reservieren. Das ist gut für die Machterhaltung der jeweiligen Führung, aber auf Dauer schlecht für den Verband als solchen -und für das Gemeinwesen insgesamt.

Dieser Vorschlag ist, wie alle anderen auch, formal leicht, politisch aber nur schwer umzusetzen. Eine Möglichkeit sei wenigstens angedeutet: Den politischen Parteien stehen politische Stiftungen nahe. Diese unterhalten wissenschaftliche Institute, zum Teil auf hohem Niveau. Ideen, Analysen und Vorschläge sind vorhanden. Aber sie werden nicht wirksam, sie dringen nicht in die Parteien ein, sie stehen auf keiner Tagesordnung, weder im Bundesvorstand noch in den Landesvorständen und Ortsvereinen. Dort leben die Parteien im eigenen Saft und aus eigener Kraft. Nicht die Stiftungen sind das Problem und die Frage einer verdeckten Parteienfinanzierung, sondern deren Unabhängigkeit und deren Einfluß auf die innerparteiliche Willensbildung. Warum gibt man ihnen nicht die Möglichkeit, die Mitglieder „ihrer“ Partei und deren Gremien eigenständig zu 'informieren und auf unabhängige Weise Entwicklungen zu beschreiben, Probleme zu benennen und Lösungsaltemativen zu erarbeiten, mit denen sich die Partei dann wieder auseinandersetzen muß? Es ist offensichtlich, warum dies nicht geschieht und was passieren müßte, wenn dies geschehen soll: Es müßte Schluß sein mit dem Brauch, Positionen in Stiftungen als Trost für emeritierte Parteigrößen zu vergeben. Notwendig wäre eine größere personelle Unabhängigkeit der Stiftungen von den Parteien: Institutsleiter sollten herausragend honoriert werden, dafür aber nicht mehr -wie bisher -von der Möglichkeit der Wiederwahl abhängig sein etc.

Auf diesem und anderen Wege(n) könnte vielleicht erreicht werden, als ein erster Schritt in die richtige Richtung, daß die Parteien früher -wenn schon nicht rechtzeitig -den gesellschaftlichen und den internationalen Wandel zur Kenntnis nehmen und mit ihrer Politik dann eine Antwort suchen auf die Fragen der Gegenwart und Zukunft -und nicht vorrangig Lösungen für jene „Probleme“ anbieten, die gerade Konjunktur haben. Fehlen solch eingebaute Korrektive, dann werden die Parteien auch weiterhin hingebungsvoll, aber ungestört ihre jeweiligen ideologischen Besitzstände hegen und pflegen.

2. Parteien schmoren im eigenen Saft. In diesem Zustand sind sie weder attraktiv noch zukunftsfähig: Mehr innere Demokratie ist notwendig.

Viele setzen große Hoffnungen auf mehr innerparteiliche Demokratie. Sie ist notwendig, wird aber ein zentrales Problem nicht lösen, sondern verschärfen: Der reale Zustand der Parteien, in dem Mitglieder immerfort Mitglieder treffen und Delegierte immerzu Delegierte wählen, führt notwendig dazu, daß sie sich auf eine ebenso perfekte und pathologische Weise zu dem entwickeln, was der Soziologe Niklas Luhmann einmal als ein „selbst-referentielles System“ beschrieben hat: Die Parteien beschäftigen sich nur noch mit sich selbst und ihren hausgemachten Problemen, Ressentiments, Ängsten und Kämpfen. Es ist ein weitgehend und zuverlässig geschlossenes System, das wir hier vor uns haben. Die Sitzungen der Gremien laufen, was Themen und Kommunikationsstil betrifft, fast durchweg nach einem Schema ab, das nicht nur wenig attraktiv auf die meisten Mitglieder wirkt, von „normalen“ Zeitgenossen ganz zu schweigen, sondern das die Partei auch nach außen abschottet, und das unabhängig davon, auf welcher Ebene (Bund, Länder oder Gemeinden) die Parteigremien tagen.

Warum sollte es nicht möglich sein, daß wenigstens der zweite Teil solcher Sitzungen, nachdem die unvermeidlichen Regularien erledigt sind und das zumeist ramponierte Wir-Gefühl wieder gestärkt ist, öffentlich stattfindet und daß das Prinzip der Öffentlichkeit dann, so wäre zu hoffen, Inhalt und Stil der Debatte verändert? Warum sollte es nicht zur Regel werden, durch formellen (Satzung) oder informellen Nachdruck, daß ein Oberbürgermeister, Stadtdirektor, Landrat, Ministerpräsident etc. die Mitglieder und Gremien seiner Partei mit konkreten Problemen und Alternativen konfrontiert und das heißt auch mit externen Expertisen und Gutachten zu den anstehenden Themen? Es wäre dies ein Versuch zu verhindern, daß Parteien sich vorwiegend mit jenen Themen beschäftigen, die gerade aus der Tiefe ihres Gemütes emporsteigen. Es ist ja ein allgemein zu beklagender Zustand, daß sich die Schere zwischen den Themen, die gerade innerhalb und außerhalb von Parteien Konjunktur haben, und jenen „unsichtbaren“ Entwicklungen, mit denen das Land konfrontiert sein wird, mehr und mehr öffnet.

Die Selbstreferenz der politischen Parteien kann, wie gesagt, auch durch mehr direkte Demokratie in den Parteien nicht überwunden werden. Dennoch und aus anderen Gründen ist mehr innere Demokratie notwendig.

3. Politische Parteien müssen nach innen mehr Demokratie wagen.

Direkte Mitwirkung der Mitglieder bei der Auswahl des politischen Personals könnte nicht nur deren Einfluß erhöhen, sondern auch die ohnehin oft leerlaufenden „Beschlußlagen“, die es de facto ja sowieso nur bei der SPD gibt, relativieren, den politischen Prozeß innerhalb und außerhalb der Parteien entkrampfen und insgesamt neues Vertrauen in die Parteien begründen. Im demokratischen Staat wie in den Parteien können Wahl und Abstimmung das eine leisten und das andere nicht. Die jüngste Geschichte der SPD zeigt, daß es einer Partei schlecht bekommt, wenn sie versucht, durch Beschlüsse des Parteitags ihre Führung an die kurze Leine zu legen. In den meisten Sachfragen ist die direkte Demokratie überfordert.

Demokratische Kontrolle vollzieht sich anders: durch das Gesetz der antizipierten Reaktion. Wähler wählen eine politische Führung, die bei ihren Entscheidungen an die künftige Wiederwahl denken wird. Sie kann abgewählt werden, aber sie braucht auch einen gewissen Spielraum, da sich die Entscheidungssituationen und -alternativen nicht völlig vorhersehen lassen. Es kommt deshalb alles auf die demokratische Wahl und (Kontrolle durch) Abwahl durch die Wähler bzw. durch die Mitglieder an. Hier aber verzichten die Parteien ohne ersichtlichen Grund auf das mögliche und notwendige Maß an direkter Demokratie. Eine Direktwahl der Vorsitzenden und der Kandidaten für die Parlamente gibt den Mitgliedern sichtbar Einfluß zurück, beschneidet die Macht der Klüngel und stärkt so die demokratische Legitimation der Parteien. Denn es geht um die Partizipationschancen, nicht um die bloße Anzahl der Mitglieder in Parteien.

4. Die Zahl der Mitglieder ist kein zuverlässiger Indikator für den Erfolg und die Attraktivität einer Partei.

Insbesondere in den siebziger Jahren verwiesen die Parteien mit großem Behagen auf die steigenden Mitgliederzahlen. Vor allem die CDU sah darin einen Beweis für ihren Wandel von der Honoratioren-über die Mitglieder-zu einer wahrhaftigen Volkspartei. Wenn nicht alles täuscht, ist die schöne These, nur eine möglichst große Mitgliederpartei sei eine ordentliche, für das Volk repräsentative Partei, zu revidieren. Das hat mehrere Gründe: Alle Parteien können ein Lied davon singen, daß es oft die Falschen sind, die kommen und gehen. Je größer außerdem die Mitgliederzahlen, je mehr von ihnen auch noch aktiv mitwirken wollen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß viele in ihren Partizipationswünschen enttäuscht, ja frustriert werden und daß eine Partei hauptsächlich mit ihren Binnenproblemen beschäftigt ist. Hinzu kommt der Umstand, daß in den Gremien und bei den Sitzungen der Parteien regelmäßig jene überrepräsentiert sind, die in den Begriffen der Bonner Sozialforscher Toni und Ulrich Pfeiffer zum „Wortadel“ und zum „Zeitadel“ in der Gesell­ schaft gehören, die also über viel Zeit und/oder über rhetorische Qualitäten oder auch einfach nur über Mitteilungsbedürfnisse verfügen. Hier liegt eine erste wichtige Erklärung dafür, daß das Innenleben einer großen Volkspartei das Volk und die Gesellschaft nur sehr verzerrt widerspiegelt: Parteien klammern sich um so verbissener an ihre traditionellen Binnenmilieus, je sichtbarer diese den Parteien unter den Füßen wegbrechen. Aus Volksparteien werden Mammutsekten ...

Wenn und weil dies so ist, sollten Parteien ihren Ehrgeiz weniger darein setzen, möglichst viele Mitglieder zu haben. Weit wichtiger wäre es, mehr Gedanken und Geld zu investieren in die Frage, wie sie möglichst viele und vielfältige Formen der Beteiligung diesseits der formalen Mitgliedschaft anbieten können, die den veränderten Partizipationswünschen vor allem der Frauen, der jungen und der alten Menschen entgegenkommen.

5. Für die politischen Parteien kann es nicht länger darum gehen, „politische Lager“ zu stabilisieren. In einer veränderten Situation stellt sich ihnen vielmehr die Aufgabe, immer wieder neue Koalitionen von Wählern zu finden.

Als vor über hundert Jahren die (Vorgänger der) heutigen Volksparteien entstanden sind, hatten ihnen reale soziale Konflikte, gesellschaftliche Formationen und Milieus entsprochen. Zumal damals Metaphern aus der militärischen Sprache nicht unüblich waren, konnte man durchaus, wenn man wollte, von „politischen Lagern“ sprechen, aus denen die Parteien dann zu Klassen-, Kultur-und anderen Kämpfen aufgebrochen sind. Heutzutage hingegen ist ein (partei-) politisches Denken, das sich an politischen Lagern orientiert, nur noch anachronistisch, verräterisch und überdies der sichere Weg in die Erfolglosigkeit. Parteien, die ihre politischen Lager und die dazu passenden Mentalitäten nicht verlassen, zementieren ihren Minderheitenstatus, ziehen die Brücken hoch zwischen sich und einer „feindlichen“ Umwelt. Ihre Sprache verrät ihr Denken: Hochgerüstet verschanzen sie sich hinter Mauern der scheinbaren Sicherheit, ab und zu -man nennt dies dann Wahlkämpfe -brechen sie auf, um den Gegner zu bekämpfen und Geländegewinne zu machen. Während die beiden Volksparteien CDU und SPD in der politischen Praxis die Voraussetzungen geschaffen haben für ein ziviles Denken und für eine zivile Politik nach innen und außen, benehmen sie sich selbst nicht selten so, als sei die politische Kunst dem Kriegshandwerk abgeschaut. Es kann nicht verwundern, daß sie auf diese Weise den Menschen immer fremder werden.

6. Es ist an der Zeit, daß Parteien ihre alten Rüstungen ablegen und sich dafür in ziviler Form neuen Fragen und Konflikten zuwenden. Ideologische Abrüstung und das Anlegen gegenwartsbezogener Entscheidungsalternativen werden ihnen wieder neues Vertrauen zurückbringen.

Was damit gemeint ist, hat Joscha Schmierer in seinem Essay-Band „Die neue Alte Welt oder wo Europas Mitte liegt“ (1993) zutreffend beschrieben: „Wie die EG eine Negation des Krieges zwischen Staaten ist, sind die westlichen europäischen Gesellschaften eine Negation des Bürgerkriegs. Das politische System aber ist über Formen der Zähmung des Bürgerkriegs nie hinausgelangt. Politik bleibt Krieg, ohne offene Anwendung seiner Mittel. Dies dürfte die wichtigste Ursache für die wachsende Distanz zwischen , Politischer Klasse 1 und ziviler Gesellschaft sein. In all ihrer Fragilität kann sich die zivile Gesellschaft weder die politischen Schlage-tot-Methoden noch das heimliche Gekungel hinter den Linien leisten. Sie bleibt auf öffentliche Verständigung angewiesen.“ Diese aber wird erschwert „durch die Mechanismen des politischen Systems, die nach dem Parteien-und Links-Rechts-Schema funktionieren, als ob Klassen gegeneinander anträten, um sich zu besiegen und ihre Hegemonie zu behaupten und durchzusetzen. Entspräche ihnen tatsächlich eine Gesellschaft, wie sie im polaren Prozeß auf der politischen Bühne simuliert wird, müßte in ihr Bürgerkrieg in Permanenz herrschen.“

7. Politische Parteien im Übergang stehen vor der Frage: Alte Ressentiments oder neue Alternativen?

Die Parteien mögen die alten Schützengräben nicht so recht verlassen, weil sie ihnen noch eine Weile eine scheinbare Sicherheit bieten und weil sie eine neue Orientierung noch nicht gefunden haben. Als Aufgabe gewendet bedeutet dies für sie: Da die alten politischen Lager nicht länger durch die alten großen politischen Alternativen und auch nicht durch starke politische und soziale Milieus voneinander zu unterscheiden sind, stehen die Parteien gegenwärtig vor der Alternative, Zustimmung zu suchen durch die Manipulation von diffusen Ängsten und Ressentiments oder aber indem sie versuchen, die neuen Themen und Konflikte als neuartige und unterscheidbare Entscheidungsalternativen handhabbar und wählbar zu machen.

Wie das aussehen könnte, hat der Soziologe Karl Otto Hondrich jüngst in einem Debattenbeitrag deutlich zu machen versucht, als heuristische Ein­ ladung zum Weiterdenken: Die SPD könnte sich verstehen als Partei der kleinen Leute und ihnen versprechen, ihre alten Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit gegen die neuen Begehrlichkeiten aus dem Osten und aus dem Süden zu verteidigen. „Deutschland ist kein Einwanderungsland“, so könnte demnach ihr Motto lauten. Die CDU hingegen könnte sich an ihre Tradition als Wirtschaftspartei erinnern und deshalb die Deutschen darauf hinweisen, daß ohne eine gezielte Einwanderung ihre Wirtschaft und ihre Systeme der sozialen Sicherung bald zusammenbrechen würden, daß ohne eine qualifizierte Einwanderung und ohne unkonventionelle Qualifizierung der Einwanderer deutsche Betriebe bald ohne Facharbeiter und Meister dastünden. „Im deutschen Interesse“, so könnte in dieser Logik ein Slogan der CDU lauten, „Einwanderung!“

Schon dieses fiktive Beispiel macht deutlich: So wünschenswert es wäre, die neuen Themen (Einwanderungs-, Armuts-, ethnische Konflikte, das Engagement Deutschlands in der Welt) in klare Alternativen zu zerlegen und auf die politischen Parteien zu verteilen, so schwierig, wenn nicht ganz unmöglich, dürfte dies im konkreten Falle sein. Es könnte ja sein, daß die Parteien-und Wettbewerbsdemokratie, die die Deutschen in diesem Jahrhundert entwickelt haben und die in der Konfrontation von Regierung und Opposition, von links und rechts, von fortschrittlich und konservativ politischen Ausdruck fand, für die Zukunft nicht mehr das optimale Gehäuse für die politischen Prozesse und Konflikte darstellt. Was aber dann, da ja die real existierenden Kooperationsund Konkordanzdemokratien ihre Bürger ja auch nicht gerade faszinieren?

Fussnoten

Weitere Inhalte

Warnfried Dettling, Dr. phil., M. A., geb. 1943; Studium der Politikwissenschaft und der Soziologie, der Klassischen Philologie und der Philosophie in Würzburg, Freiburg i. Brsg. und London; von 1973 bis 1983 zunächst Leiter der Planungsgruppe, später auch der Hauptabteilung Politik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle; von 1983 bis 1991 Ministerialdirektor im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit; jetzt freier Publizist („DIE ZEIT“) in München. Veröffentlichungen u. a.: Die neue soziale Frage und die Zukunft der Demokratie, München 19772; (zus. mit Guy Kirsch/Klaus Mackscheidt/Philipp Herder-Dorneich) Jenseits von Markt und Macht. Eine Ordnung für den Menschen, Baden-Baden 1981; Deutsche Parteien im Wandel -Eine Bestandsaufnahme, München 1983; Demokratie in Gewerkschaften -Gewerkschaften in der Demokratie. Die Verteilung der Macht zwischen Mitgliedern und Funktionären, München 1983.