I. Politische Einheit und getrennte Geschichte
Die Geschichte Deutschlands nach 1945 wird in Zukunft konzeptionell anders geschrieben werden müssen als bisher -diese Prognose läßt sich riskieren, obwohl der revolutionäre Umbruch von 1989/90 in Osteuropa und in der DDR uns Vorsicht gegenüber Prognosen gelehrt hat, da alles ganz anders kam als erwartet.
Daß die Erschließung neuer Quellen die Interpretation von Geschichte erheblich verändert, ist ein normaler Vorgang, der für die Darstellung aller historischen Epochen gilt. Die künftige Veränderung der Sicht auf die deutsche Nachkriegsentwicklung zielt jedoch auf ein grundsätzliches Problem, das im folgenden nur in seinen Konturen angedeutet werden kann, weil es in seiner Tragweite noch nicht überschaubar ist: Die durch das Ende der DDR auf die Tagesordnung gesetzte politische Aufgabe, die innere Einheit einer tief-gespaltenen Gesellschaft herzustellen, wird beträchtliche Rückwirkungen auf den Zugang zu ihrer doppelten Geschichte haben. Eine auf Schaffung von einheitlichen Lebensverhältnissen und auf Überwindung der vielzitierten Mauer in den Köpfen orientierte Gesellschaft wird versuchen, in ihrer Vergangenheit stärker das Verbindende als das Trennende aufzusuchen und zu betonen. „Fragen nach dem Umgang mit der Vergangenheit werden grundsätzlich neu gestellt“, hat Werner Weidenfeld 1993 konstatiert, „... hier handelt es sich nicht um ein tagesaktuelles oder ostdeutsches Sonderproblem. In der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit liegt eine wichtige Schicht unserer gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung und nationalen Identität. Die doppelte Geschichte der Deutschen kann deshalb nicht getrennt bewältigt werden, wenn man gemeinsam zur inneren Einheit finden will.“
Diese Aufgabe bringt einerseits die Gefahr einer nationalstaatlich ideologisierten gesamtdeutschen Geschichtsinterpretation mit sich, vor der sich die professionelle Geschichtswissenschaft zu hüten hat. Sie hat andererseits inhaltlich begründete Argumente für sich, die erst jetzt deutlicher ins Blickfeld treten. Diese Inhalte werden hier mit den beiden Begriffen Abgrenzung und Verflechtung umschrieben und sollen im folgenden mit einigen Beispielen näher erläutert werden. Beide Begriffe sind nicht präzise definiert, sondern entstammen eher der Umgangssprache, beziehen sich aber auf historische Sachverhalte, die sich durch die ganze Nachkriegsgeschichte ziehen; sie sind insofern als Orientierungspunkte für die Gesamtgeschichte wie für beide Teilgeschichten geeignet, wenn auch nicht „flächendeckend“ und jeweils mit unterschiedlichem Gewicht für beide Teile.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Verflechtung beider Teilstaaten im Sinne eines fortwirkenden ökonomischen, politischen und kulturellen Zusammenhangs, ohne den eine Nation nicht denkbar ist, und einer bewußt oder unbewußt betriebenen oder gewünschten Abgrenzung auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen läßt sich als Leitlinie für 45 Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte verstehen, die nicht einfach deutsche Nationalgeschichte im Zeitalter der Teilung, aber auch nicht ohne weiteres eine getrennte Geschichte zweier Staaten und Gesellschaften einer Nation ist. Gerade diese Spannung scheint mir das spezifische Profil der Entwicklung nach 1945 auszumachen, ohne das die innere und äußere Situation beider Hälften nicht zu verstehen ist. Ein Blick auf die Historiographie zeigt, daß eine solche Perspektive bislang die Ausnahme war.
II. Deutschland nach 1945 in der ost-und westdeutschen Historiographie
Für die DDR-Historiographie war die nationale Einheit zu keiner Zeit ein Problem, mit dem sie sich ernsthaft auseinandersetzte. Das ist immerhin insofern überraschend, als bis in die sechziger Jahre hinein die politische Propaganda der SED gesamtdeutsch ausgerichtet war und noch nicht von der irreversiblen Teilung Deutschlands in zwei eigenständige Staaten ausging. Die offiziöse Deutschlandpolitik fand somit in der Historiographie keine Spiegelung. Die Arbeiten von Stefan Doemberg zur Entstehung und zur Geschichte der DDR, mit denen eine quellenmäßig fundierte Geschichtsschreibung zum zweiten deutschen Staat ihren Anfang nahm klammem Westdeutschland völlig aus; lediglich in den Einleitungen wird die nationale Frage in der bekannten schematischen Polemik angesprochen. Die DDR ist demnach der eigentliche Kernstaat für ein künftiges, friedliebendes, demokratisches Gesamtdeutschland, das vom Westen angeblich verhindert wurde
Dieses Schema bleibt zwar auch in dem letzten, noch 1989 erschienenen großen Werk zur Vorgeschichte der DDR erkennbar, aber bei genauerem Hinsehen sind doch deutliche Differenzierungen im Sinne der Betonung von Wechselwirkungen zwischen Ost und West sichtbar. Allerdings wird auch hier -entgegen der zeitgenössischen Generallinie der SED -der Gegenstand einer „Nationalgeschichte“ schon 1949 mit der doppelten Staats-gründung für hinfällig erklärt. Auch ohne die zwanghafte Theorie der „sozialistischen deutschen Nation“ aus den frühen siebziger Jahren zu bemühen, gab es demnach seit 1949 zwei Staaten, die wenig miteinander verband, die nie wieder zusammenkommen konnten und daher auch historiographisch als völlig getrennte Gegenstände zu behandeln waren. So heißt es in der Einleitung jenes Bandes: „Die deutsche Geschichte durchlief von 1945 bis 1949 einen widersprüchlichen und komplizierten Transformierungsprozeß, der vom Untergang des Deutschen Reiches ... zur Bildung zweier deutscher Staaten führte. Eine einheitliche deutsche Geschichte existiert seitdem nicht mehr. Sie wurde und wird fortgesetzt von der Geschichte der DDR einerseits, von der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Geschichte Westberlins andererseits ... Der gegenüber der Nationalgeschichte der DDR (sic!) eigene Gegenstand der Geschichte der BRD existiert seit 1949, bildete sich aber schon seit 1945 stufenweise heraus.“
Gegenüber dem hier auf zwei Beispiele reduzierten, relativ einheitlichen Bild der Historiographie aus der DDR fällt die Bilanz für die alte Bundesrepublik erheblich vielfältiger und bunter aus. Trotzdem möchte ich einen Befund vorweg hervorheben, der mir symptomatisch erscheint und an den zu erinnern heute nötig ist angesichts der harschen, aber völlig einseitigen Kritik von Jens Hacker um Maßstäbe und Kriterien einer fairen Urteilsbildung zurechtzurücken: Zumindest im letzten Jahrzehnt vor der Vereinigung Deutschlands wurde auch in der bundesrepublikanischen Historiographie mit großer Selbstverständlichkeit einerseits Geschichte der Bundesrepublik und andererseits Geschichte der DDR betrieben. Es hatten sich kaum noch in Frage gestellte Teildisziplinen der Zeitgeschichte und Politikwissenschaft etabliert, die nicht nur mit fachbezogener Spezialisierung zu erklären sind, sondern auch einen politischen Bewußtseinszustand spiegelten. Die Teilung Deutschlands in zwei Staaten und Gesellschaften fand in ihrer separierten wissenschaftlichen Bearbeitung ihre Entsprechung.
Die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Nachkriegsgeschichte hat in der Bundesrepublik lange Zeit im Schatten der zeithistorischen Aufarbeitung der Weimarer‘Republik und des Nationalsozialismus gestanden Die ersten zusammenfassenden Darstellungen zur deutschen Nach-kriegsgeschichte von Elmar Krautkrämer, ThiloVogelsang und Herbert Lilge konnten sich ebenso wie die Abschnitte in Handbüchern zur deutschen Geschichte zwar bereits auf ergiebiges Quellen-material und einige Detailforschungen stützen, aber kaum auf bereits vorliegende Versuche einer konzeptionell durchdachten und inhaltlich umfassenden Synthese zurückgreifen. Deutschland blieb jedoch als Ganzes im Blick, auch wenn die Darstellung der unterschiedlichen Entwicklung in Ost und West folgen mußte.
In einigen dieser und anderer Arbeiten wird zumindest unterschwellig die Tendenz erkennbar, deutsche mit westdeutscher Nachkriegsgeschichte zu identifizieren und die DDR zu einem Anhängsel der größeren westlichen Hälfte zu machen. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Trend in der Ausstellung des Bundestages anläßlich des 25jährigen Bestehens der Bundesrepublik unter dem Titel „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Berliner Reichstag Das siebte und letzte Kapitel des Katalogs (von 1945 bis heute) trägt die Über-schrift „Die Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland“ und streift die Verhältnisse in der DDR nur ganz am Rande. Im Rahmen eines zumal auf Probleme („Fragen“) ausgerichteten Konzeptes ist diese fast völlige Ausblendung der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte auffällig -wurde damit doch eine der zentralen Fragen an die deutsche Nachkriegsgeschichte in unhaltbarer Weise verkürzt.
Spätestens seit den achtziger Jahren verschob sich die Forschungsperspektive. Aus der umfänglichen Literatur sei hier nur auf die große, opulent ausgestattete sechsbändige „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ hingewiesen Wenn man das Vorwort der Herausgeber zu diesen Bänden liest, stellt sich schon der Eindruck ein, daß hier, wenn auch etwas verschämt, bundesrepublikanische Identitätsstiftung stattfand. Die Bundesrepublik habe sich, so heißt es unter Hinweis auf das Grundgesetz, als Provisorium lange dagegen gewehrt, ein Staat im vollen Sinne des Wortes zu werden. „Unter diesem Vorbehalt einer bewußt gepflegten Vorläufigkeit konnte und sollte sich weder ein Staats-noch ein Geschichtsbewußtsein entwickeln.“ Dann folgt die Einschränkung: „Wie sehr sie sich dagegen gesträubt hat, die Bundesrepublik Deutschland hat eine Geschichte, und diese soll erzählt werden. Sowohl die Älteren, die sie miterlebten, wie die Jüngeren, die sie geerbt haben, sollen erfahren, wie der geschichtliche Boden beschaffen ist, auf dem sie stehen... Die Geschichte eines Staates aber setzt nicht erst dann ein, wenn er sich als solcher begreift.“ ‘
Ein ähnliches teilstaatliches Geschichtskonzept findet sich im Entwurf für die Errichtung eines „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in der Bundeshauptstadt von 1983 -ein Konzept, das heute in seiner ursprünglichen Form schlechterdings nicht mehr vorstellbar wäre. Für die Bundesrepublik wird hier völlig zu Recht festgestellt, daß sie, „unbeschadet des übergreifenden nationalen Bewußtseins und des Erbes der gemeinsamen Vergangenheit, mehr und mehr zur Basis des historischen Selbstverständnisses der hier lebenden Menschen“ geworden sei „Kernziel" des geplanten Museums war es daher, eben dieses historische Selbstverständnis zu festigen.
Deutsche Nationalgeschichte oder tendenziell gesamtdeutsche Geschichte war offensichtlich nicht mehr aktuell -dies war der dominante Trend in der westdeutschen Geschichtsschreibung gleich welcher politischen Couleur.
Wenn man aus Jens Hackers polemischer Kritik an den „deutschen Irrtümern“ historiographische Schlußfolgerungen ziehen müßte, so würden sie darauf hinauslaufen, daß eine am normativen Postulat der Grundgesetz-Präambel orientierte Geschichte der geteilten Nation den eigentlichen Kern der deutschen Nachkriegshistorie abzugeben hat. Dabei eröffnet für Hacker der Totalitarismusbegriff den einzig adäquaten Zugang zur DDR-Geschichte, indem dieser kontrastiv den freien Teil der Nation mit dem unterdrückten zu verbinden erlaubt. Insofern ist seine Forderung konsequent, auch die offizielle Bonner Deutschlandpolitik auf den Prüfstand zu stellen, weil die vierzigjährige DDR-Geschichte nicht isoliert behandelt werden dürfe. Konsequenterweise hätte Hackers Kritik jedoch die gesamte neuere Historiographie zur Bundesrepublik zumindest insofern einbeziehen müssen, als sie sich ebenfalls trotz gewisser gesamtdeutscher Ornamente längst von der Geschichte der Nation verabschiedet hatte. Zu nachträglicher Rechthaberei besteht daher wenig Grund.
Parallel zur Ausdifferenzierung und Erweiterung der westdeutschen Zeitgeschichte verlief die Etablierung der DDR-Forschung als eigenständige politikwissenschaftlich-zeithistorische Teildisziplin. Ausgehend von grundlegenden und materialreichen Spezialstudien und grundsätzlichen methodologischen Überlegungen von Emst Richert, Carola Stern und Peter Christian Ludz entwickelte sich vor allem nach dem Grundlagenvertrag von 1972 die gegenwartsbezogene und historische DDR-Forschung zu einem anerkannten, wenn auch in seinen Prämissen umstrittenen Forschungszweig Diesem seine Legitimität nachträglich bestreiten zu wollen, wäre ebenso unsinnig, wie die Spezialforschungen zur bundesrepublikanischen Geschichte in Zweifel zu ziehen.
Gleichwohl bleibt nachdrücklich zu fragen, ob diese Trennung nicht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu einer verengten Perspektive geführt hat. Der jeweilige Blick auf den Teilstaat verstellte die Sicht auf die gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen. Es gab sie für beide Staaten. Sie fielen jedoch in ihrem Gewicht erheblich unterschiedlich aus. Insofern war es eine asymmetrische Beziehung Die Geschichte der Bundesrepublik läßt sich immerhin auf weite Strecken ohne nähere Kenntnis der DDR-Entwicklung schreiben, umgekehrt gilt das jedoch keinesfalls. Die Fixierung der DDR auf den größeren und stärkeren Nachbarn im Westen hat die gesamte DDR-Geschichte in schwer zu überschätzender Weise geprägt. Wie solche Prägungen und Wechselwirkungen konkret ausfielen, läßt sich jedoch oftmals erst erkennen, wenn einzelne Themenfelder unter doppeltem Blickwinkel genauer analysiert werden. Dazu werden im nächsten Abschnitt einige Beispiele erläutert.
Trotz aller gravierenden Unterschiede im einzelnen läßt sich als Fazit festhalten, daß der historiographische Trend vor 1989, den Zustand der Zwei-staatlichkeit zu akzeptieren und damit auch in ihrer historischen Genesis nachzuvollziehen, in beiden Staaten formal ähnlich war. Es gab jedoch auch Abweichungen von diesem eindeutigen Trend, in denen die eingangs genannte Frage nach Abgrenzung und Verflechtung stärker in den Vordergrund rückte.
In dem 1989 erschienenen „Deutschland-Handbuch“ hat Hartmut Zimmermann in seinem abschließenden Aufsatz auf die Schwierigkeiten hingewiesen, aber auch Möglichkeiten der Analyse vergleichbarer Problemlagen angedeutet Das Handbuch selbst ist durchgängig als Gegenüberstellung beider Staaten und Gesellschaften auf unterschiedlichen Ebenen und Themenfeldern konzipiert. „Die Untersuchung vergleichbarer Problemlagen bei divergierenden systemspezifischen Lösungsmöglichkeiten“, schreibt Zimmermann, „läßt Rückschlüsse auf das Gesamtsystem zu. Die Ergebnisse derartiger Arbeiten eignen sich zudem in besonderer Weise als Ausgangspunkt für den deutsch-deutschen Dialog, weil nicht die „Systemfragen’ von vornherein im Vordergrund stehen, sondern diese sich aus konkreten Stärken und Schwächen ergeben. Bewertungen bleiben dabei keineswegs ausgespart, sie haben aber den Vorteil des unmittelbaren konkreten Belegs.“
Auf drei historische Gesamtdarstellungen, die sich stärker als andere an der oben genannten Frage orientieren, sei abschließend kurz hingewiesen. In der Chronologie der Erscheinungsdaten wären zuerst meine beiden Bände zur deutschen Nach-kriegsgeschichte von 1945 bis 1970 zu nennen Sie haben zwar die Herausarbeitung von Verflechtungen und Wechselwirkungen zum Ziel, gehen aber -von der Besatzungszeit abgesehen -nicht über die zeitliche und inhaltliche Parallelisierung der jeweiligen Kapitel zur ost-und westdeutschen Geschichte hinaus. Trotz aller Probleme einer gemeinsamen Periodisierung, die nur in Grenzen möglich und sinnvoll ist, wäre aus heutiger Sicht eine striktere Ausrichtung an vergleichbaren und divergierenden Problemlagen denkbar.
Das zweite Beispiel ist Adolph M. Birkes in der Reihe „Die Deutschen und ihre Nation“ erschienener Band „Nation ohne Haus“ Der Autor formuliert explizit den Anspruch, „die Entwicklungen beider deutscher Staaten sowohl individuell als auch in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten“ zu erfassen weil weder die Ära Adenauer noch die Ära Ulbricht ohne ihren Bezug zum jeweils anderen Teil zu verstehen sei. Genau das ist jedoch nicht wirklich eingelöst und war bislang auf der Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes wohl auch kaum einlösbar. Die Verflechtung wird nicht deutlich. Die DDR bleibt ein Anhängsel, im Umfang viel knapper, in der Darstellung eher blaß und holzschnittartig. Wer diese Deutschen waren und was die Nation für sie bedeutete, welche Erfahrungen ihr politisches Verhalten prägten, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgingen und wieweit sie sich überhaupt füreinander interessierten, bleibt unklar. Die jüngste und m. E. interessanteste, weil konzeptionell anregendste Publikation zur deutschen Nachkriegsgeschichte mit Rückgriffen bis in die Weimarer Republik ist Mary Fulbrooks „The Divided Nation“ von 1991 Die Grobgliederung der acht Kapitel zur Nachkriegsgeschichte folgt einer Mischung aus chronologischen Phasen und systematisch-thematischen Längsschnitten, die sich an bestimmten Problemlagen und Entwicklungstrends orientieren. Die vier Längsschnitte tragen die Überschriften: Divergierende Gesellschaften, Politik und Staat, Dissidenz und Opposition, divergierende Kulturen und nationale Identitäten? Das letzte Kapitel ist stark auf die Verlaufsgeschichte der Revolution in der DDR und die Vereinigung ausgerichtet und endet mit der Schlußfrage „Ende der geteilten Nation?“.
Die pointierte Charakterisierung von Parallelen und Unterschieden prägt die einzelnen Kapitel. Es sind allerdings mehr Kontraste und Gegensätze, die Adenauers und Ulbrichts Deutschland kennzeichneten -gleichwohl ergeben sich aus der analysierenden Distanz doch auch bestimmte Parallelen: das problematische Verhältnis zur gemeinsamen Vergangenheit, die Modernisierungsbemühungen der sechziger Jahre, die Konsequenzen der neuen Ostpolitik und ihrer Eigendynamik in den deutsch-deutschen Beziehungen seit den siebziger Jahren, die Abschleifung der Klassengegensätze, obwohl die DDR ebensowenig eine klassenlose Gesellschaft oder ein „Arbeiterund-Bauern-Staat“ war wie die Bundesrepublik eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“. Insgesamt ergibt sich ein ungemein vielfältiges Bild von Kontrasten und Verbindungen der beiden Teile Deutschlands, das zur genaueren Aufarbeitung der zahlreichen Themenfelder anregt, in denen dieses grundsätzliche Problem faßbar wird. Einige solcher Themen sollen im folgenden in groben Umrissen und noch ganz selektiv skizziert werden.
III. Themen und Untersuchungsfelder für Verflechtung und Abgrenzung
Für die frühe Nachkriegsphase lassen sich die Bodenreform und die SED-Gründung als aufschlußreiche Beispiele nennen.
Eine Bodenreform war auch in der britischen und amerikanischen Zone durchaus ein Thema alliierter Politik und deutscher politischer Diskussionen, wie Trittei gezeigt hat, und zwar bei allen politischen Parteien Das Tempo und die Radikalität der Reform in der Ostzone hatten dann jedoch bremsende Wirkungen in den Westzonen und dienten den Gegnern als schlagkräftiges Argument, um das Vorhaben als solches zu torpedieren. Natürlich reichte dies allein zur Erklärung nicht aus, aber es war ein wichtiger Faktor in der Auseinandersetzung um die Bodenreform. Die Fusion von KPD und SPD, die in erster Linie -wenn auch nicht ausschließlich -eine Zwangsvereinigung war hat den begründeten antikommunistischen Befürchtungen der SPD, aber auch der Alliierten erheblichen Auftrieb gegeben und die SPD als potentiell stärkste gesamtdeutsche Klammer auf verhängnisvolle Weise gespalten Ein Stück Kalter Krieg wurde so auf der Ebene der Parteiengeschichte schon antizipiert, und gesamtdeutsche Initiativen wurden damit schon im Vorfeld mit einer erheblichen Hypothek belastet. Die Vorgeschichte und das Scheitern der Münchener Ministerpräsidenten-Konferenz im Juni 1947, in der sich die SPD-Vertreter erst nach langem Zögern bereitfanden, mit Ministerpräsidenten der SED zusammenzutreffen, machen diese Hypothek deutlich Die SPD-Geschichte nach 1945 bis in die Ära Schumacher ist ungleich stärker als die aller anderen Parteien (ausgenommen die KPD) von dieser Fusion und der anschließenden sukzessiven Ausschaltung und Gleichschaltung der Sozialdemokraten innerhalb der SED geprägt worden Umgekehrt ist die frühe SED-Geschichte von ideologischer Dauerpolemik gegen „Schumacher-Agenten“ und „Sozialdemokratismus“ bestimmt die belegt, als wie gefährlich diese gesamtdeutsche SPD-Komponente in der SED galt.
Schwieriger wird die innere Verflechtung seit der Gründung zweier Staaten 1949 und vor allem seit der Integration in die jeweiligen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Blöcke in den fünfziger Jahren. Bis 1954/55 waren beide Staaten noch nicht souverän, Alternativen zur Teilung waren noch ernsthafte Themen alliierter und westdeutscher Politik. Zu erwähnen wären die vieldiskutierten Stalin-Noten von 1952 und Churchills Initiative im Vorfeld des 17. Juni 1953, auch wenn beides -soviel kann man heute eindeutig sagen -keine realen Chancen hatte
Ein gutes Beispiel der Gleichzeitigkeit von Verflechtung und Abgrenzung in dieser Phase ist die Bundestagsdebatte über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Sommer 1952 und die zeitgleich verlaufende zweite Parteikonferenz der SED, die aus den Bonner Entscheidungsprozessen ein Legitimationsargument für den proklamierten „Aufbau des Sozialismus“ herleitete. „An dem Tage“, erklärte Grotewohl am 11. Juli 1952, „an dem Adenauer das Ja zum Generalvertrag, das heißt zur Spaltung Deutschlands ... vom Parlament in Bonn forderte, forderte das Zentralkomitee vom Parlament der deutschen Arbeiterklasse das Ja zum Sozialismus.“ In Dietrich Staritz’ Darstellung ist diese kontrastive Parallelisierung dramaturgisch sehr gut gelungen präsentiert
Seit dem Jahr 1955, das man unter außenpolitischen Aspekten durchaus als „Schlüsseljahr“ ansehen kann wurde die Abschottung beider Staaten voneinander immer deutlicher, die nach wie vor aufrechterhaltenen Einheitspostulate verkümmerten auf beiden Seiten langsam zu Elementen der politischen Rhetorik Die im Kontext der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion in Bonn formulierte, Hallstein-Doktrin erwies sich als ein Instrument, das für mindestens ein Jahrzehnt die DDR nicht nur im Westen, sondern vor allem in den Ländern der Dritten Welt in einem Ausmaß außenpolitisch isolierte, das erst jetzt anhand der Akten der SED voll erkennbar wird Noch wichtiger für die doppelte und gemeinsame Geschichte ist dann aber 1961, das Jahr des Mauerbaus.
Für die DDR ist die Bedeutung evident: Die Mauer war eine schockartige, deprimierende Erfahrung für die Bevölkerung; andererseits aber war der Mauerbau auch, wie Dietrich Staritz treffend formuliert hat, „der heimliche Gründungstag der DDR“ Stabilisierung und Modernisierung als zwei Schlagwörter, mit denen sich die sechziger Jahre in der DDR charakterisieren lassen, setzten jetzt ein und waren unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit offenbar auch erst jetzt im Schatten der Mauer möglich. Daß die Mauer, als dauerhaftes Monstrum, möglicherweise auch den Anfang vom Ende der DDR bedeutete steht auf einem anderen Blatt und ist erst aus der Perspektive von heute erkennbar. Denn erst diese Isolierung schuf die Voraussetzung für die Fortsetzung eines Experiments, das ohne tiefgreifende Reformen und strukturelle Veränderungen, die aus außenpolitischen Gründen aber nicht möglich waren, auf Dauer nicht lebensfähig war. Nur im Schutz der Mauer ließ sich eine Politik auf Kosten der wirtschaftlichen und ökologischen Substanz mit bestenfalls halbherzigen Reformen so lange fortführen, ließen sich die Alarmsignale seit den siebziger Jahren ignorieren und unterdrücken, konnte schließlich die politische Herrschaft einer zunehmend realitätsblinden Clique alter Männer bis 1989 aufrechterhalten werden.
Es gab aber wegen der Mauer auch einen fatalen Prozeß der Gewöhnung an das Unvermeidliche und einen verstärkten Rückzug ins Private, dem die Partei erfolglos durch immer neue Mobilisierungsoffensiven entgegenzutreten versuchte. Dieser Rückzug schuf ein verständliches, aber in seiner Wirkung schlimmes politisches Phlegma, einen Verlust von öffentlicher Initiative und gesellschaftlicher Kreativität. Diese Situation ist natürlich für die Betroffenen in erster Linie eine deprimierende Grunderfahrung gewesen, zugleich hatte sie aber auch ihre bequemen Seiten. Eben hieraus resultiert ein Großteil der Umstellungsprobleme nach der Vereinigung. Der aktuelle Befund läßt sich somit historisch erklären. Von der Sozialpolitik bis zum Wissenschaftsbetrieb, von der Ökonomie bis zur Kultur -überall war der „vormundschaftliche Staat“ prägend. Er zeigte dem Bürger den „richtigen Weg“, er warnte oder griff zur Gewalt, wenn dieser vom Pfad der sozialistischen Tugend abweichen wollte, aber er sorgte auch für ihn von der Wiege bis zur Bahre.
Für die bundesrepublikanische Geschichte war der Mauerbau weniger einschneidend, so daß man zumindest streiten kann, ob dieses Datum als zentrale Zäsur für eine Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte insgesamt geeignet ist.
Außen-und deutschlandpolitisch erschienen der Mauerbau und die ohnmächtigen westlichen Reaktionen als ein Höhepunkt des Kalten Krieges. Ex post ist jedoch erkennbar, daß er auch das Scheitern der bisherigen „Politik der Stärke“ und der konsequenten Isolierung der DDR durch die Hallstein-Doktrin bedeutete und den Beginn einer langfristig angelegten neuen Strategie, die in Berlin mit der „Politik der kleinen Schritte“ begann und die Egon Bahr 1963 mit der berühmten Formel „Wandel durch Annäherung“ umriß. Sie gab das Drehbuch ab für die zehn Jahre später realisierte neue Ost-und Deutschlandpolik
Wirtschaftspolitisch hatte die Mauer dagegen beträchtliche Konsequenzen für die Bundesrepublik. Der Strom qualifizierter Arbeitskräfte war abrupt gestoppt, und seitdem stieg die Zahl der ausländischen Arbeiter rapide an. Davon ist in Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte oder in Teilgeschichten nur ganz selten die Rede Die dramatischen außenpolitischen Umstände der Berlinkrise und des Mauerbaus haben diese wichtigen ökonomischen und sozialen Folgen eines brutalen Gewaltaktes historiographisch in der Regel verdeckt. Ansonsten aber sind in der inneren Entwicklung der Bundesrepublik kaum gravierende Veränderungen erkennbar, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem Mauerbau standen. Sozial-und bildungspolitische Reformtendenzen setzten bereits früher ein, auch wenn die spektakulären Debatten um die „deutsche Bildungskatastrophe“ erst 1964 von Georg Picht ausgelöst wurden. Daß in diesen Debatten dann der Blick auf das Bildungssystem der DDR eine wichtige Rolle spielte, sollte heute nicht in Vergessenheit geraten Im übrigen aber wurde in Bonn nach dem 13. August 1961 „business as usual" betrieben; Adenauer attackierte in übler Form den Emigranten und SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt, und nach der Bundestagswahl begann im Kampf ums Kanzleramt die vergebliche Hatz auf den alten Leitwolf
Das Bildungswesen in der Bundesrepublik ist in den fünfziger Jahren nach Versuchen einer grundlegenden Reform durch die Alliierten nahezu vollständig restauriert worden. Die Einheitsschule und die Einführung des polytechnischen Unterrichts in der DDR zementierten in der Bundesrepublik die Tendenz, das genaue Gegenteil zu praktizieren. Besonders deutlich ist dieser Trend beim Thema Konfessionsschule faßbar, die im Westen erst in den sechziger Jahren abgeschafft wurde und zuvor zu erbitterten politischen Konflikten führte Als These ließe sich formulieren, daß die doppelte Konfrontation mit nationalsozialistischer und DDR-Schulpolitik den Befürwortern der Konfessionsschule die politische Munition zur Durchsetzung eines Modells lieferte, das bei der Bevölkerung schon längst nicht mehr och im Kurs stand
Die Frauen-und Familienpolitik war in der öffentlichen Diskussion stark von den Klischeevorstellungen über „die Zone“ bestimmt. Je intensiver sich die DDR -primär aus ökonomischen Gründen -um die Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozeß bemühte, desto intensiver steuerte das Familienministerium in Bonn einen Gegenkurs und beschwor tradierte Rollenbilder. Aktuelle Bezüge haben sich bis in die Gegenwart in der Debatte um den § 218 gehalten. „Das ist eine Gleichberechtigung“, erklärte Familienminister Wuermeling 1954 unter Hinweis auf die DDR, „vor der wir uns und unsere Frauen bewahren wollen.“ Der konkrete Erfolg war freilich begrenzt.
Die westdeutsche Geschichtswissenschaft -ein weiteres Beispiel -hat nach 1945 ihre traditionellen methodischen Ansätze und Interpretationsmuster (politische Geschichte, Staatengeschichte, Individualitätsprinzip) zunächst voll wiederaufgenommen. Sozialwissenschaftlich-systematische und sozialgeschichtliche Zugänge kamen erst seit den sechziger Jahren unter dem Einfluß der westliehen Geschichtswissenschaft hinzu Der historische Materialismus, dem die Sozialgeschichte wesentliche Impulse verdankt, war in der Bundesrepublik durch seine dogmatische Form in der DDR diskreditiert. Umgekehrt wäre zu fragen, wie weit die stark traditionalistische Ausrichtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft und die geforderte Abgrenzung von ihr einen besonders kruden ökonomistischen Materialismus der DDR-Historiker und deren extreme Einbindung in das Korsett vorgegebener ideologischer Interpretationen verstärkte
Die evangelischen Kirchen, die in einem sehr engen Kontakt zueinander standen, wären unter dem Aspekt von Verflechtung, Abgrenzung und Wechselwirkung besonders nachdrücklich zu nennen. Als die Vertreter der DDR-Landeskirchen als Mitglieder der EKD 1957 dem Militärseelsorge-Vertrag zustimmten, nahm die SED dies zum Anlaß, um einen Kurs der konsequenten Gesprächsverweigerung zu steuern und die östlichen Landeskirchen zur organisatorischen Abgrenzung zu zwingen. Andererseits ist die relative Stärke und Resistenz der DDR-Kirchen ohne die massive materielle und politische Unterstützung durch den Westen kaum erklärbar. Partiell ist somit die oppositionelle Rolle der Kirchen in der DDR auch ein subventioniertes Heldentum gewesen
Als ein besonders brisantes Feld der deutsch-deutschen Wechselwirkungen ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu nennen. Gerade in der „Vergangenheitsaufarbeitung“ zeigte sich in zum Teil schon makabren Formen, welche Zuspitzungen die Gegensätze zweier Staaten mit gemeinsamer Vergangenheit annahmen. So wurden in der Bundesrepublik die antisemitischen Schmierereien von 1959/60 von einigen Zeitungen in Zusammenhang mit Provokationen der SED gebracht. Diese Vermutung mag aus heutiger Sicht, wo wir wissen, was der Stasi alles einfiel, durchaus naheliegen Auch wenn die öffentliche Debatte von einer solchen Argumentationsfigur nicht bestimmt wurde, war diese doch als Ablenkung gegenüber dem Bodensatz an Antisemitismus in der Bundesrepublik geeignet. Die politische Bildung hat sich freilich seit diesem Jahr verstärkt um eine intensive Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rechtsradikalismus bemüht.
Umgekehrt nutzte die DDR natürlich jede Möglichkeit, bundesrepublikanische Politiker wegen ihrer NS-Vergangenheit anzuschwärzen, so im Prozeß in Abwesenheit gegen Kanzleramtsminister Hans Globke und gegen den Vertriebenen-minister Oberländer oder in der -mit gefälschten Unterlagen betriebenen -Kampagne gegen den angeblichen „KZ-Baumeister“ Heinrich Lübke Als besonders kuriose Blüte in der politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit sei die Reaktion auf das Ersuchen der Ludwigsburger Stelle der Landesjustizverwaltungen an den Generalstaatsanwalt der DDR zur Amshilfe bei Ermittlungen gegen NS-Verbrecher erwähnt. Dieses Ersuchen wurde von der DDR offiziell nicht beantwortet mit der Begründung, die Ludwigsburger Stelle sei weder im Gerichtsverfassunsgesetz noch in der Strafprozeßordnung der Bundesrepublik genannt und folglich für die DDR nicht existent In Sachen Vergangenheit beanspruchte die DDR eine Art Alleinvertretungsrecht: ein gezieltes propagandistisches Vorgehen gegen NS-Täter wollte sie sich selber vorbehalten.
Antifaschismus war ein zentraler Teil des Selbstverständnisses und der Legitimation der DDR -vor allem im Kontrast zur „braunen Bundesrepublik“ Außer in den Anfangsjahren gab es aber kaum ernsthafte Debatten über Verantwortung und Schuld. Sehr spät erst lassen sich dazu Ansätze finden. Der DDR-Bürger, so hat Peter Bender pointiert festgestellt, bekam allmählich das Gefühl, damit nichts zu tun zu haben. „Hitler, so schien es, ist ein Westdeutscher gewesen.“ Die Bundesrepublik tat sich ihrerseits schwer mit der NS-Justiz, aber leicht mit der DDR-Justiz. Die Urteile der „Waldheimer Prozesse“ von 1949/50 gegen Insassen sowjetischer Internierungslager, die an die DDR übergeben worden waren, wurden zu Recht schon 1954 vom Berliner Kammergericht für rechtsunwirksam erklärt Die moralische Nichtigkeitserklärung der Urteile des Volksgerichtshofs durch den Bundestag erfolgte hingegen erst im Jahre 1985. Die spezifische Prägung der Auseinandersetzung um die Vergangenheit in beiden Staaten ist ohne diese wechselseitigen Frontstellungen gar nicht erklärbar.
Als letztes Beispiel sei das politische Strafrecht genannt. Sein besonderer Charakter in der Bundesrepublik (nach dem Strafrechtsänderungsgesetz von 1951) läßt sich aus der globalen Konstellation des Kalten Krieges allein nicht hinreichend herleiten. Vielmehr machen erst die trotz aller Trennung noch fortdauernden Verbindungen und die wechselseitigen Versuche der Einflußnahme plausibel, warum die im Ansatz unumstrittene Vorstellung einer „wehrhaften Demokratie“ in den fünfziger Jahren, aber auch noch lange Zeit später, von der Praxis einer „gepanzerten Demokratie“ deformiert zu werden drohte Die Aufblähung der Sicherheitsapparate und die exzessive Ausdehnung des politischen Strafrechts im Zusammenhang des KPD-Verbots waren die problematischen Produkte der unmittelbaren Konfrontation mit einem kommunistischen System innerhalb einer geteilten Nation. Dessen Gefährlichkeit wurde erheblich überschätzt und in seinen Auswirkungen ängstlich präventiv bekämpft. Zu den Grundprinzipien einer selbstbewußten liberalen Demokratie paßte diese oft pathologische Kommunismusangst schlecht. „Die Prozesse, die unter dem Feindbild der kommunistischen Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik geführt wurden“, hat Wolfgang Benz konstatiert, „waren mit der Idee des Rechtsstaats nur schwer in Einklang zu bringen, es ging in vielen Fällen nur um die Gesinnung der Angeklagten und nicht um reale Gefährdungen des Staates.“
Wer erinnert sich heute noch an Zeiten, in denen DDR-Zeitungen nur mit Sondergenehmigung bezogen werden durften, in denen Reisende, die aus der DDR Zeitungen mitbrachten, belangt werden konnten, oder in denen gesamtdeutsche Sportkontakte kriminalisiert wurden Zur Veranschauli-• chung ein konkretes Beispiel von 1963 aus dem Gewerkschaftsbereich: Zwei FDGB-Funktionäre erhielten in Ost-Berlin den Auftrag, auf dem Düsseldorfer DGB-Kongreß eine Grußadresse und einen Brief des FDGB-Vorsitzenden Herbert Warnke abzuliefern. Sie wurden zwar zum Kongreßbüro vorgelassen, doch der DGB-Vertreter verweigerte dort die Annahme des Schreibens. Als die beiden Funktionäre das Tagungsgebäude verließen, wurden sie verhaftet, in Untersuchungshaft gesetzt und einen Monat später vom Landgericht Düsseldorf zu acht bzw.sechs Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Die Begründung lautete: „Verstoß gegen das Verbot der KPD in Tateinheit mit Einfuhr staatsgefährdender Schriften.“ Erst mit dem Strafrechtsänderungsgesetz von 1968 wurde dieser exzessiven Auslegung des KPD-Verbots ein Riegel vorgeschoben.
Auf der anderen Seite sah es mit der willkürlichen Anwendung des politischen Strafrechts in der DDR unvergleichlich schlimmer aus, da Willkür und politische Anleitung der Justiz bis in die Festlegung des Strafmaßes hinein geradezu zu den Bestimmungsmerkmalen des politischen Systems gehörten. Das war bereits für die Zeitgenossen erkennbar auch wenn es allzuoft im Zuge der angestrebten Entspannung seit den sechziger Jahren „übersehen“ wurde. Nach dem Ende der DDR hat gerade dieses düstere Kapitel zu Recht besondere Aufmerksamkeit gefunden
Das Problem von Abgrenzung und Verflechtung erhielt mit der Ost-und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition seit 1969 eine neue Qualität. Dies soll hier nur noch angedeutet werden. Es belegt aber die zentrale These von der konstitutiven Verquickung von Teilung und Eigenstaatlichkeit besonders für die DDR-Geschichte. Die internationale Anerkennung der DDR als Staat bei gleichzeitigem nationalen Vorbehalt durch die Bundesrepublik machte Abgrenzung in der Ära Honecker zu einem besonders delikaten Problem. Denn das Ziel der Brandtschen Politik war es, durch einen neuen Ansatz die Nation als Kommunikationszusammenhang aufrechtzuerhalten oder überhaupt erst wiederherzustellen Daß Ulbricht die neue Politik als „Aggression auf Filzlatschen“ bezeichnet hat belegt, wie gefährlich ihm diese veränderte politische Strategie erschien. Der Grundlagenvertrag von 1972 bildete die Basis einer solchen schwierigen „nationalen Politik“, die zwar einem der wichtigsten Ziele der SED entgegenkam, zugleich aber zu einer massiven inneren Bedrohung wurde. Die DDR-Führung wurde damit einerseits zur verbalen Abgrenzung veranlaßt, wie sie sich besonders in der abstrusen Theorie der „Sozialistischen Nation“ wiederfindet andererseits ließen sich de facto wachsende und intensiver werdende Verbindungen mit der Bundesrepublik nicht mehr in gleicher Form wie früher blockieren. Ein international anerkannter Staat hatte bis zu einem gewissen Grade auch auf seine Reputierlichkeit zu achten.
Eine der wahrscheinlich wichtigsten Folgen des Grundlagenvertrags war die intensivierte Kommunikation. „Nirgendwo sonst“, hat Peter Bender festgestellt, „gehörte der Westen millionenfach zur eigenen Verwandtschaft, nirgendwo sonst emigrierte allabendlich fast ein ganzes Land durch den Äther in den Westen; und nirgend sonst nahmen Bürger eines Oststaates am Leben eines Weststaates teil. Mancher bekam die Namen des Bonner Kabinetts mühelos zusammen, aber nur wenige konnten alle Mitglieder des Politbüros herzählen.“ Die Verflechtung wurde trotz staatlicher Trennung enger. Die Fixierung der DDR-Bevölkerung auf die Bundesrepublik, die für Kreditwürdigkeit, Häftlingsfreikauf, Reiseerleichterung, Wissenschaftler-und Jugendkontakte sorgte, nahm trotz aller Entfremdungstendenzen besonders unter der jüngeren Generation eher zu als ab. In einer solchen Situation glich die Abgrenzung dem Kampf des Sisyphos.
IV. Fazit: Die sperrige gemeinsame N achkriegsgeschichte
Diese Beispiele sollten deutlich machen, daß die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte gerade in den Formen ihrer Abgrenzung und negativen Beeinflussung viele Verbindungen und wechselseitige Verklammerungen zeigt und insofern auch ein Stück gemeinsamer Geschichte ist. Mir scheint dieser Befund konstitutiv für die deutsche Nach-kriegsgeschichte zu sein. Das bedeutet aber, daß es völlig abwegig wäre, würde man diese getrennte Vergangenheit jetzt nur unter dem Aspekt sehen, wo solche Wechselwirkungen oder wo Linien erkennbar werden, die gesamtdeutsch sind und auf die Wiederherstellung der Einheit 1990 verweisen.
Die deutsche Nachkriegsgeschichte, insbesondere die der DDR, läßt sich in drei unterschiedliche Bezüge einordnen: die Außensteuerung durch Besatzungsmächte und Alliierte, die von den politischen Kräften im Lande gewollte und zu verantwortende Entwicklung und die Konstellation der wechselseitigen Beeinflussung. Die wichtigsten Entwicklungsimpulse wurden seit 1945 und in anderer Form seit 1949 von außen, von den Alliierten, vorgegeben und zeigten dann eine politische und ökonomische Eigendynamik, die relativ unabhängig von der Teilung und Zwei-staatlichkeit war. Beide Staaten waren Mitglieder zweier unterschiedlicher Weltsysteme und gehorchten damit, unbeschadet von fortbestehenden oder sich herausbildenden Verflechtungen, unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Imperativen. Daraus ergibt sich zwingend, daß es falsch wäre, eine durchgehend gemeinsame Periodisierung zu versuchen. Das Eigengewicht beider Staaten und Gesellschaften würde damit vernachlässigt. Dennoch ist die DDR-Geschichte nur verständlich im Rahmen des ungeheuer starken Soges, den die ökonomisch mächtige und politisch attraktive Bundesrepublik in unmittelbarer Nachbarschaft ausübte. Umgekehrt wirkten aber sowohl die schiere Existenz eines kommunistischen deutschen Staates als auch zahllose politische Entscheidungen und Vorgänge in der DDR und nicht zuletzt das große Heer von Flüchtlingen aus dem „Arbeiter-undBauern-Staat“ direkt wie indirekt auf die Bundesrepublik zurück, beeinflußten ihrerseits politische Entscheidungen, förderten oder behinderten die Durchsetzbarkeit politischer und gesellschaftlicher Konzepte und prägten das Profil der politischen Kultur der Bundesrepublik. Insofern läßt sich die Geschichte beider Staaten in vielen Aspekten als eine Beziehungsgeschichte verstehen, in der „wichtige Legitimationsmuster aus der Negation des Konkurrenzstaates“ abzuleiten sind Hier gibt es noch ein breites Feld von Themen, die im einzelnen zu untersuchen wären.
Insgesamt werden in einer Darstellung der gemeinsamen Geschichte der Deutschen nach 1945 Ost und West in Zukunft wieder näher aneinanderrükken. Die Selbstverständlichkeit der Trennung in der Historiographie, auf die ich eingangs hingewiesen habe, wird man in Frage stellen müssen. Deterministische Konstruktionen dürfen jedoch nicht an ihre Stelle treten. Die publizistische Wiederbelebung der „Magnet-Theorie“ von 1947, die sowohl von Adenauer wie von Schumacher vertreten wurde und die 1990 nun ihre großartige Bestätigung erfahren haben soll ist eine solche unhistorische Konstruktion, die stromlinienförmig auf die Vereinigung hin konzipiert ist.
Eine andere Variante zielt auf die Erneuerung der Vorstellung von „Deutschlands Mittellage“ als bestimmender Determinante der historischen Entwicklung. Sie macht Emst mit der Tatsache, daß seit 1990 auch die Geschichte der alten Bundesrepublik zu Ende ist. Für den Soziologen Friedrich Tenbruck ergibt sich daraus ein» Interpretation, welche die Geschichte der Bundesrepublik vor allem als Entfremdung vom deutschen Eigensinn darstellt. Tenbruck betont zwar zu Recht unterschiedliche Generationserfahrungen, kritisiert dann aber sehr fundamentalistisch zum einen die Umerziehung durch die Siegermächte und zum andern die Protestbewegung der „ 68er“ mit ihrer ausschließlichen Orientierung an „der Gesellschaft“ und der daraus resultierenden Debatte um „Verfassungspatriotismus“. Beides habe, so Tenbruck, die Bundesrepublik daran gehindert, ihre nationale Identität zu finden, indem nur nach Westen geschaut wurde und die Präambel des Grundgesetzes in Vergessenheit geriet. Insofern ist für ihn die Geschichte der Bundesrepublik zugleich ein Stück Geschichtsblindheit und Fremdbestimmung, die durch Rückbesinnung auf und Integration von DDR-Geschichte wieder korrigiert werden sollten „Man gestand sich nicht ein“, kritisiert Tenbruck, „daß wir durch die Teilung geistig verarmten, weil wir mit den Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik auch Quellen unserer Kultur verloren, die nun einmal so viele Wurzeln dort hatte und in vieler Hinsicht dort eher erhalten blieb als bei uns, wo man nur noch nach Westen schauen wollte. Anstatt nur die politischen Verirrungen und Verstrickungen bloßzulegen, hätten wir in der Deutschen Demokratischen Republik auch einen Spiegel unserer eigenen Verirrungen und Verstrikkungen erblicken können. Ausgeleiert war die Sprache der politischen Funktionäre nicht nur in der Deutschen Demokratischen Republik; aber dennoch hat sich die deutsche Sprache dort besser erhalten als bei uns ... und am existentiellen Emst und Verlaß, der drüben noch gängig war, könnten wir wohl erkennen, was wir mit der Geschwätzigkeit und Haltlosigkeit unserer Amüsier-Postmoderne verloren haben.“ Diese nostalgisch gefärbte Interpretation wird der Komplexität der Auseinandersetzung beider Teile Deutschlands nicht gerecht und rückt in die fatale Nähe von Gedankengängen, die an Geschichtsideologien vom „Deutschen Weg“ erinnern.
Notwendig scheint mir in Zukunft zweierlei: einerseits das Trennende, Gegensätzliche, Eigenständige und andererseits die fortbestehenden Traditionen, wechselseitigen Verbindungen, Fixierungen, Irrtümer und Hoffnungen in einem differenzierten Geschichtskonzept zusammenzubringen, in dem nicht neue Nationalgeschichte mit dem Ziel der Identitätsstiftung betrieben wird, in dem aber DDR-Geschichte auch nicht zu einem schäbigen Anhängsel der westdeutschen Geschichte und zu einer Fußnote in der wechselvollen Entwicklung Deutschlands seit 1871 verkommt.