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Die DDR in der deutschen Geschichte | APuZ 29-30/1993 | bpb.de

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APuZ 29-30/1993 Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder Die DDR in der deutschen Geschichte Verflechtung und Abgrenzung Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte Der Geschichtsunterricht in der DDR als Instrument der SED-Politik

Die DDR in der deutschen Geschichte

Wolfgang J. Mommsen

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Ende der DDR wie auch der „alten“ Bundesrepublik ermöglicht es, einen unbefangeneren Blick auf ihre jeweilige Entwicklung in den vergangenen vier Jahrzehnten zu richten. Jenseits aller früheren ideologischen Frontstellungen werden nun Unterschiede wie Gemeinsamkeiten deutlicher sichtbar. Während beispielsweise die Westintegration der Bundesrepublik nicht nur politische und wirtschaftliche Handlungsfreiheit verschaffte, sondern sie auch im Gefolge des Kalten Krieges zunächst einer intensiveren Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit enthob, war die DDR in einer ungleich schwierigeren Situation. Sie mußte ihre mangelhafte politische Legitimation wie den fehlenden wirtschaftlichen Erfolg durch Idealisierung und Ideologisierung zu ersetzen versuchen: „Antifaschismus“ und „realer Sozialismus“ hießen die Chiffren, die die Probleme des Alltags überdeckten. Dabei mag es -im Vergleich zu den ost-mitteleuropäischen Staaten in ähnlicher Situation -eine wohl sehr deutsche Verhaltensweise zumal der Intelligenz gewesen sein, mit dem festen Blick auf den eben vergangenen Totalitarismus den gegenwärtigen nicht wahrzunehmen oder aber sich mit ihm nicht zuletzt aufgrund der gewährten Privilegien zu arrangieren. Angesichts von seinerzeitigen wie aktuellen Wahrnehmungsproblemen der westdeutschen Intelligenz besteht hier jedoch kein Grund zur Überheblichkeit. So gewiß auf diesen wie anderen kontroversen Themenfeldern einerseits weitere -notwendige -Auseinandersetzungen zu erwarten sind, so besteht doch andererseits jetzt auch die Möglichkeit, ohne ideologische Verkrampfungen die politischen Auseinandersetzungen der deutschen Zeitgeschichte etwa seit Beginn der Weimarer Republik neu aufzuarbeiten und dabei gelassener die Begründungen für unterschiedliche oder gegensätzliche Positionen und Interpretationen zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Nachdenken über die differierenden Perspektiven einer gemeinsamen deutschen Nationalgeschichte wäre dann auch ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Entwicklung der inneren Einheit.

Erweiterte Fassung eines Vortrags zur Eröffnung der Wissenschaftlichen Konferenz des Forschungsschwerpunkts Zeithistorische Studien, Potsdam, vom 6. -8. Juni 1993.

Zweieinhalb Jahre sind, in historischen Maßstäben gemessen, wahrlich keine lange Zeit. Aber wir Deutschen sind angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Misere auf dem besten Wege, die Bedeutung der welthistorischen Wende, die mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems eingetreten ist, aus dem Auge zu verlieren und uns in Kleinigkeiten zu verstricken. Über den gegenwärtigen, gewiß drängenden wirtschaftlichen Problemen sollten wir uns bewußt bleiben, daß den Deutschen mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Chance zugewachsen ist, den Aufbau eines demokratischen deutschen Nationalstaats zu vollenden. Vor allem im Westen haben sehr viele Bürger, und mit ihnen auch eine stattliche Zahl der Historiker, nicht mehr recht daran geglaubt, daß es überhaupt noch zu einer Wiedervereinigung kommen würde, und manche haben die Existenz von zwei Staaten deutscher Nation in der Mitte Europas sogar als positiven Ansatzpunkt gedeutet, um eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu begründen, die die Tradition des Nationalstaats definitiv hinter sich lasse und zu übernationalen Entwicklungen führen werde. Die weltweite Renaissance des Nationalstaats und nationaler Bewegungen, wie sie sich im letzten Jahrzehnt keineswegs nur, wenn auch besonders prononciert in Ostmitteleuropa vollzogen hat, hat diese Annahme weitgehend zu Makulatur werden lassen.

Die vielfach bis heute geführten Diskussionen, ob Europa und den Deutschen mit einer Mehrzahl von Staaten demokratischer Legitimation, konkret also einem selbständigen, wenn auch von der Herrschaft des realen Sozialismus gründlich befreiten ostdeutschen Staat neben jenem der nunmehr „alten“ Bundesrepublik, nicht besser gedient gewesen wäre, sind von der geschichtlichen Entwicklung überholt worden. In der deutschen Geschichte seit dem Hohen Mittelalter, insbesondere der Epoche des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, aber auch in der Zeit der Beherrschung der deutschen Staatenwelt durch zwei europäische Großmächte, nämlich Österreich und Preußen, war die Möglichkeit angelegt, daß die deutsche Nation auf Dauer in einer Mehrzahl von Staaten leben werde. Erst die Reichsgründung Bismarcks hat dann die kleindeutsche Lösung gebracht -unter Ausgrenzung der Deutschen innerhalb der österreichischen Monarchie, zu denen allerdings immer ein besonderes Verhältnis bestand -und damit der geschichtlichen Entwicklung eine andere Richtung gegeben.

Dieser deutsche Nationalstaat war von Anbeginn mit schweren Problemen belastet, nicht allein wegen seiner halbkonstitutionellen Herrschaftsstruktur, die immer weniger den Bedürfnissen des Zeitalters genügte, sondern auch wegen der Herrschaft über beträchtliche Minoritäten von Polen, Elsässern und Dänen, die seit den 1880er Jahren an Unduldsamkeit gewann. Die deutsche Politik setzte im Ersten Weltkrieg, angetrieben von einer hemmungslosen, populären Kriegszielbewegung, die Existenz des deutschen Nationalstaates zum ersten Mal aufs Spiel, und dieser wurde im Versailler Vertrag auf seine „natürlichen“ Grenzen zurückgedrängt, vermochte sich aber damit nicht abzufinden. Dies gab bekanntlich den Nährboden ab für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus hatte, so schien es lange -und manche, wie Günther Grass, vertreten dies heute noch -, mit seiner uferlosen Gewaltpolitik, verbunden mit der Zwangsumsiedlung von Millionen von Menschen und systematischem Völkermord, das Recht der Deutschen auf ein Leben in einem geschlossenen nationalen Staat für immer verspielt.

Heute ist auf dem Restterritorium des ehemaligen Deutschen Reiches, nach der Westverschiebung Polens und der mehr oder minder gewaltsamen Umsiedlung bzw.der Vertreibung der Deutschen in Osteuropa, ein deutscher Nationalstaat wieder-erstanden, der zwar völkerrechtlich und gemäß bundesrepublikanischem Recht als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches gilt, aber tatsächlich ein neues Gebilde ist, welches weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, auf der Grundlage des demokratischen Selbstbestimmungsrechts im Sinne der Tradition Guiseppe Mazzinis und Woodrow Wilsons beruht. Zwar ist die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht das Ergebnis einer nationalrevolutionären Konstituante, wie man sich dies wohl gewünscht haben mag, sondern der Abstimmung zahlreicher Bürger in der ehemaligen DDR zunächst mit den Füßen, durch die Flucht nach dem Westen, sowie in Gestalt der Protestaktionender Bürgerbewegungen zugunsten einer freiheitlichen Ordnung und schließlich durch die mit überwältigender Mehrheit der Bürger vorgenommene, nachträglich legalisierte Option zugunsten des Zusammenschlusses mit der Bundesrepublik, in einem Augenblick des plötzlichen, nahezu lautlosen Zusammenbruchs des SED-Regimes. Aber an seiner demokratischen Legitimierung kann kein Zweifel sein. Was hingegen zur Frage steht, ist das Zusammenspiel von nationalen Traditionen und der aktuellen politischen Entscheidung gegen den Fortbestand des Systems des „realen Sozialismus“. Das bildet die Ausgangslage für eine Erörterung der hier anstehenden Frage, wie die vier Jahrzehnte der Herrschaft der SED im östlichen Teil Deutschlands in der wechselvollen Geschichte der deutschen Nation zu verorten sind.

Wir sollten uns allerdings darüber im klaren sein, daß wir die Wiedergewinnung des Nationalstaats zum geringsten Teil unserem eigenen Tun verdanken, sondern einerseits dem selbstlosen Einsatz der Dissidentenbewegungen in den ostmitteleuropäischen Ländern, die das System des realen Sozialismus am Ende durch eine gewaltlose Revolution zum Einsturz brachten, und zum andern den Entwicklungen in der internationalen Szene, insbesondere in der ehemaligen UdSSR selbst. In gewisser Weise haben wir Deutschen die Wiedererlangung des Nationalstaats uns erst noch zu verdienen, und dazu gehört nicht zuletzt auch, mit unserem in den letzten Jahrzehnten tief gespaltenen Geschichtsbewußtsein wieder ins reine zu kommen; nicht im Sinne der bekannten Formel, man möge doch „einen Strich unter die Vergangenheit ziehen“, sondern im Gegenteil, indem wir uns, im westlichen Teil Deutschlands ebenso wie in dem östlichen, über unsere gemeinsame Vergangenheit Rechenschaft geben.

Bislang war man in der alten Bundesrepublik geneigt, die Geschichte der DDR ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, daß diesem Teil Deutschlands nach 1945 gewaltsam ein ungewünschtes politisches System oktroyiert worden ist; und die Verantwortung für die Geschichte dieses Teiles Deutschlands rechnete man in allererster Linie den Sowjets zu. Ohne die massive Nachhilfe der UdSSR wäre die KPD bzw. die SED in den ostdeutschen Ländern niemals zur Macht gekommen, und ohne deren Unterstützung hätte sie sich schwerlich so lange an der Macht halten können. In der Tat kann die Rolle der SMAD bei der schrittweisen Durchsetzung des SED-Regimes kaum überschätzt werden. Sie verstand es, durch eine Kombination von politischem Druck, der sich gegebenenfalls zu offener Gewaltanwendung steigerte, und der Gewährung von Privilegien aller Art an jene, die sich dem Regime mehr oder minder freiwillig zur Verfügung stellten -oft freilich nicht wissend, was denn wohl alles noch kommen werde -, schrittweise die politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen der UdSSR durchzusetzen und dafür dann immer wieder bereitwillige Kollaborateure zu finden.

Insofern hat die Geschichte der DDR ein Janusgesicht; einerseits ist es die Geschichte eines Satelliten des sowjetischen Empire, der durch eine vergleichsweise schmale Schicht von aktiven Kollaborateuren auf Kurs gehalten wurde, andererseits das Produkt eines Seitenstrangs der deutschen Geschichte, dessen Vorläufer vornehmlich, aber keineswegs ausschließlich, in der kommunistischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit zu suchen sind und der nur zum Zuge kam, weil die bisherige politische Klasse in Deutschland in geradezu gigantischer Weise abgewirtschaftet hatte. Dazu beigetragen haben aber auch -und dies zeigt sich im Vergleich mit den Entwicklungen in den anderen osteuropäischen Staaten, die gleichfalls einer gewaltsamen Sowjetisierung unterworfen wurden -historische Vorbedingungen besonderer Art. Dazu gehören u. a. die weithin bestehende Orientierungslosigkeit nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, das Fortleben autoritärer Strukturen und Mentalitäten seit dem späten Kaiserreich, die zu Anpassung und Unterwerfung eher als zu passiver Resistenz oder aktivem Widerstand Anlaß gaben, die vergleichsweise vorsichtige, realpolitische Anpassungsstrategien präferierende Haltung der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche, und vor allem das weitgehende Versagen der Intellektuellen, die sich dem Regime vielfach bereitwillig zur Verfügung stellten. Dies hat es der SED erleichtert, ihre Herrschaft durchzusetzen, ohne stets auf manifeste Gewalt zurückgreifen zu müssen, obschon es daran gewiß nicht gefehlt hat.

Auch wenn man also die Geschichte der DDR in erster Linie als Teil der Geschichte der sowjetischen Herrschaft über ganz Ostmitteleuropa zu sehen hat und erst in zweiter Linie als Teil der deutschen nationalen Geschichte, sind wir demnach nicht der Frage enthoben, welche spezifischen, durch den Gang der jüngeren deutschen Geschichte bedingten Faktoren dazu beigetragen haben, daß sich das SED-Regime nicht allein relativ bruchlos etablieren, sondern gleichsam bis fünf Minuten nach zwölf an der Macht halten konnte?

An diesem Punkte ist zunächst nachdrücklich vor Überheblichkeit aus westdeutscher Sicht zu war- nen. Wäre der sowjetische Herrschaftsbereich bei einem anderen Verlauf der militärischen Operationen noch weiter nach Westen ausgedehnt worden, so wären die Dinge auch dort gewiß kaum anders abgelaufen; es war die Gunst der Verhältnisse und nicht eigenes Verdienst, wenn die Deutschen im Westen die Chance erhielten, in Anlehnung an den Westen einen neuen freiheitlichen Weg zu gehen. Und es ist gewiß auch nicht weit hergeholt, zu argumentieren, daß die rasche politische Emanzipation der Deutschen in den westlichen Teilen Deutschlands und der vergleichsweise rasche wirtschaftliche Wiederaufbau mit substantieller westlicher Hilfe, der seit dem Beginn des Koreakrieges einsetzte -im Gegensatz zu den ursprünglichen Planungen auch der westlichen Mächte -, ohne den „kalten Krieg“ niemals so verlaufen wären; m. a. W., der Wiederaufbau erfolgte in gewisser Weise auf Kosten der Abkoppelung des östlichen Teils Deutschlands von dem ehemaligen Gesamtstaat. Man denke hier an die historiographische Auseinandersetzung über die sowjetische Note von 1952; es dürfte heute wohl unstreitig sein, daß damals die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands um den Preis einer langfristigen Demilitarisierung und eines auf längere Sicht kargen wirtschaftlichen Lebensniveaus für alle Deutschen im Bereich des Möglichen gelegen hat. Damals entschieden sich die Westdeutschen unter der entschlossenen Führung Konrad Adenauers -immerhin gegen erhebliche Widerstände im eigenen Lager, die heute fast vergessen sind -dafür, den Weg der rückhaltlosen Integration in den Westen zu gehen in der vagen Hoffnung, daß eine politisch wie wirtschaftlich erstarkte Bundesrepublik auf lange Sicht eine starke Magnetwirkung auch auf das restliche Deutschland ausüben werde.

Die geschichtliche Entwicklung hat Konrad Adenauer am Ende in diesem Punkte recht gegeben, obschon die große Mehrheit der Westdeutschen seit 1961 an eine Wiedervereinigung nicht mehr recht zu glauben vermochte. Aber es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Bevölkerung der ehemaligen DDR, die nun stärker als zuvor in den sowjetischen Herrschaftsbereich einbezogen wurde, in gewisser Hinsicht indirekt die Zeche dafür hat zahlen müssen. Etwas weiteres kommt hinzu, welches die Lebenschancen ebenfalls zugunsten der Bevölkerung in der alten Bundesrepublik verschoben hat: Der steigende Flüchtlingsstrom aus der DDR, der bis 1961 die Zahl von rund 2, 7 Millionen Menschen erreicht hatte, induziert durch Repression und durch eine ständig zunehmende Welle der direkten und indirekten Enteignungen, wurde von der dort herrschenden Funktionärselite anfänglich eher als ein Vorteil angesehen, schienen doch vornehmlich jene sozialen Gruppen und Elemente abzuwandem, die dem Aufbau des Sozialismus passiven Widerstand entgegengesetzt hatten; auch spielte eine Rolle, daß sich das Regime solcherart auf grotesk preiswerte Weise direkt oder verschleiert des hinterlassenen Vermögens dieser Bevölkerungsgruppen zu bemächtigen und damit den Prozeß der Sozialisierung nicht nur der Produktionsmittel, sondern auch des Grund-und Hausbesitzes zügig voranzutreiben vermochte, von der weitgehenden Enteignung des persönlichen Vermögens der Flüchtlinge, die auf schieren Raub hinauslief, ganz abgesehen.

Der Flüchtlingsstrom in die westlichen Teile Deutschlands stellte im Anfang eine erhebliche Bürde für die Bundesrepublik dar; aber es läßt sich zeigen, daß es nicht zuletzt diese hochmotivierte und zu einem Neuanfang unter äußerst widrigen Bedingungen gezwungene Sozialgruppe war, die den großen wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger Jahre, den wir gemeinhin als „Wirtschaftswunder“ zu bezeichnen pflegen, mit getragen hatte. Es ist in der Geschichte auch sonst häufig gewesen, daß Minoritätengruppen, die sich in einer unterprivilegierten Position befanden, ungewöhnlich große wirtschaftliche Dynamik an den Tag legten; hier war dies jedenfalls der Fall. Der Flüchtlingsstrom in den Westen aber kostete die damalige DDR einen großen Teil ihrer Führungsgruppen im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Raum, mit schwerwiegenden Folgen. Die Erwartung der SED-Führung, daß man durch einen radikalen Umbau des Bildungssystems leicht neue Führungseliten werde heranbilden können, die einen dynamischen Kraftquell für die entstehende sozialistische Wirtschaft abgeben könnten, erfüllten sich ebensowenig wie das Kalkül, daß man auf die Älteren verzichten könne, weil man dann die Jugend um so leichter für sich gewinnen werde. Die Fluchtbewegung lief auf einen erheblichen „drain“ wirtschaftlicher und intellektueller Führungskräfte zugunsten des Westens hinaus und verstärkte den Trend zu einer unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands in einem erheblichen, wenn auch zur Stunde nicht quantitativ bemeßbaren Umfang. Allerdings ist hinzuzufügen, daß das SED-Regime in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat in zunehmendem Maße ohnehin so etwas wie eine negative Führungsauslese (Max Weber) praktizierte, insofern als ideologische Anpassungsbereitschaft, willige Einführung in starre bürokratische Strukturen und ein diszipliniertes Sozialverhalten positiver bewertet wurden als kritisches Denken, individuelle Kreativität und persönliche Dynamik.

Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die DDR-Gesellschaft selbst unter solchen für die Entfaltung eines dynamischen industriellen Systems und eines kreativen Wissenschaftssystems absolut negativen Bedingungen auf vielen Gebieten bemerkenswerte Leistungen erbracht hat. Die Hindernisse, die sich dem in den Weg stellten, waren groß und vergleichsweise noch größer als in anderen ostmitteleuropäischen Gesellschaften, die gleichfalls unter das Joch des sowjetischen Empire gerieten, während die Bundesrepublik davon direkt und indirekt profitiert hat. Auch unter diesen widrigen Umständen gelang es, in den östlichen Teilen Deutschlands aus der absoluten Misere der ersten Nachkriegsjahre herauszukommen und erhebliche Aufbauleistungen zu erbringen, obschon die Erwartung der kommunistischen Führungselite, man werde bei entsprechend intensivem Einsatz aller Arbeitskräfte in der Lage sein, die Bundesrepublik einzuholen und, wie es zeitweilig hieß, „Weltniveau“ zu erreichen, sich als eine Chimäre erwies.

Gerade die besonderen Tugenden der Deutschen, ihre Bereitschaft zu harter Arbeit, unbedingtem Einsatz, ihre Tüchtigkeit und ihre Disposition, auch unter den widrigsten Bedingungen aus erfolgreicher beruflicher Tätigkeit persönliche Bestätigung und Stolz auf die eigene Leistung abzuleiten, haben dem SED-Regime zeitweilig erhebliche wirtschaftliche Erfolge beschert. Am Ende freilich erwies sich, daß der Wettlauf mit dem Westen angesichts der Strukturmängel des wirtschaftlichen Systems nicht zu gewinnen war. Im Gegenteil, wir wissen heute, daß dieses nur deshalb zeitweilig große Erfolge aufweisen konnte, weil es die Industrieanlagen früherer Jahrzehnte rigoros, ohne an eine kaufmännisch gebotene Abschreibung und an rechtzeitige Neuinvestitionen zu denken, ausnutzte und auf lange Sicht ökonomischen und übrigens auch ökologischen Raubbau betrieb.

Unzweifelhaft war das SED-Regime ein Kollaborationsregime, dessen Akteure zumindest anfangs ehrlich glaubten, daß es im besten Interesse der Deutschen, oder doch der deutschen Arbeiterschaft, liege, zumindest in jenem Teil Deutschlands, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter sowjetische Kontrolle geraten war, den Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Und nicht wenige unter ihnen waren gegebenenfalls bereit, zwecks Erreichung dieses Ziels auch Gewalt anzuwenden oder, um es auf intellektueller Ebene zu formulieren, gegen das angeblich bornierte Bewußtsein der Zeitgenossen das vorgeblich durch den objektiven Geschichtsprozeß legitimierte richtige Bewußtsein der Vorhut der Arbeiterklasse auszuspielen, welcher ohnehin die Zukunft gehöre.

Daß es dazu auf vergleichsweise breiter Front kommen konnte, hängt nicht nur mit dem Einfluß der KPdSU zusammen, sondern auch mit den besonderen Bedingungen deutscher Politik am Ende des Zweiten Weltkrieges. Viele der Kompromisse und Nachgiebigkeiten, die sich insbesondere in den Anfangsjahren einstellten, als die sowjetische Militäradministration mit allen Mitteln die schrittweise Aushebelung der demokratischen Kräfte, insbesondere aber der Sozialdemokratie, zwecks Etablierung der Alleinherrschaft der SED betrieb, lassen sich aus der spezifischen geistigen Situation nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft herleiten. Insoweit gilt -in Abwandlung eines berühmten Diktums von Horkheimer -der Satz, daß, wer vom „realen Sozialismus“ spricht, vom Faschismus, oder genauer, von der nationalsozialistischen Herrschaft nicht schweigen könne. Vielmehr gehören, um eine Formulierung Jürgen Kockas aufzugreifen, die erste und die zweite deutsche Diktatur zwangsläufig zusammen -allein schon deshalb, weil der Zweite Weltkrieg erst die Bedingungen geschaffen hat, unter denen sich das sowjetische Empire so weit nach Mitteleuropa hinein hat ausdehnen können.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die absolut desparate Situation, in der sich die Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befanden -übrigens nicht nur sie, sondern auch und mehr noch ihre ostmitteleuropäischen Nachbarn, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft große Teile ihrer angestammten Elite verloren hatten eine der elementaren Voraussetzungen für die schrittweise Etablierung der kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa gewesen ist, äußerlich wie innerlich. Aber darüber hinaus läßt sich eine ganze Reihe von Faktoren nennen, die auf die langfristigen Auswirkungen des besonderen deutschen Wegs zur Moderne zurückgeführt werden können. Hier wäre zunächst zu nennen das weitgehende Fehlen einer echten demokratischen Tradition, die ein Widerlager gegen die beständig steigenden Zumutungen der SED-Herrschaft hätte abgeben können. Man möge bedenken, daß die große Mehrheit der Deutschen nach 1945 so gut wie überhaupt nicht auf die Erfahrungen mit einer funktionierenden Demokratie zurückgreifen konnte. Sie hatten die jüngere deutsche Geschichte seit dem Ende des Kaiserreichs durchweg als Geschichte wiederholten Scheiterns erfahren. Die Weimarer demokratische Republik, die für dieerste Generation der politisch Verantwortlichen nach 1945 in Ost und West den maßgeblichen Orientierungspunkt abgab, hatte ja nur einige wenige Jahre einigermaßen gut funktioniert, sie war überdies in den Augen der deutschen Eliten und des Bildungsbürgertums mit den negativen Klischees der nationalen Diskriminierung und der „Herrschaft der Minderwertigen“ (Edgar Jung) besetzt gewesen. Für die politisch organisierte Arbeiterschaft war sie eine Zeit fortlaufender Niederlagen.

Die Alterskohorte, die nach 1945 in verantwortUche Stellungen in Gesellschaft und Staat einrückte, war, nachdem sie in den halbautoritären Verhältnissen des Kaiserreichs aufgewachsen war und nach der wenig ermutigenden Übergangsphase der krisengeschüttelten Jahre von Weimar, unter die Herrschaft Adolf Hitlers geraten. Erfahrungen mit einer Politik demokratischer Selbstbestimmung, die sich mit wirtschaftlichen „Erfolgen“ verband, besaß sie, mit nur wenigen Ausnahmen, so gut wie überhaupt nicht. Dies gilt nicht nur für die bürgerlichen, sondern auch für die sozialdemokratischen Politiker, die anfangs eine bedeutende Rolle spielten. Die Sozialdemokratie, die vor 1914 eine selbstbewußte und stolze Partei uneingeschränkter demokratischer Gesinnung gewesen war, hatte in den zwanziger Jahren Demütigungen und Niederlagen in großer Zahl hinnehmen müssen, nicht zuletzt infolge der Abspaltung der Kommunistischen Partei und des Bruderkampfes der beiden sozialistischen Parteien, welcher die proletarische Linke in den zwanziger Jahren politisch weitgehend gelähmt hatte. Auch der Versuch, die internationalistische Orientierung der Partei aufzugeben, sich als nationale Partei zu präsentieren und dergestalt aus der politischen Isolierung auszubrechen, hatte am Ende nichts gebracht.

Umgekehrt hatte die KPD eine Außenseiterrolle in der deutschen Politik gespielt, nach einer Serie vernichtender Niederlagen angesichts ihrer unzeitigen Versuche, die Revolution in Deutschland doch noch voranzubringen. Sie vor allem bildete innerhalb des Milieus der Arbeitersiedlungen der großen Industriestädte eine proletarische Sonder-kultur aus, die eine Kompensation für ihre Pariasituation innerhalb der deutschen Gesellschaft bieten sollte. Diese Sonderkultur wurde in der Folge ein wichtiges Vorbild für die Politik der SED; das sogenannte „sozialistische Erbe“ der DDR war lange von der kommunistischen Kulturtradition besetzt, obschon es dann zunehmend mit national-deutschen Versatzstücken versehen wurde.

Wie sollte bei einer solchen Vorgeschichte jener selbstbewußte Bürgerstolz erwachsen, an dem totalitäre Diktaturen allenfalls ihre Grenze finden? Lutz Niethammer hat in den achtziger Jahren in seinen alltagsgeschichtlichen Studien über Arbeiter und Angestellte in der DDR festgestellt, daß seinen zeitgeschichtlichen Zeugen in der eigenen Erinnerung vielfach nationalsozialistische Massenorganisationen und solche der SED ineinanderflossen; hier bestanden, ungeachtet der entgegengesetzten ideologischen Besetzung dieser letztlich zur Gleichschaltung der breiten Massen geschaffenen Massenorganisationen, im Bewußtsein der Betroffenen deutliche Kontinuitäten.

Gewiß, für die kulturellen und politischen Eliten gilt der hier beschriebene Sachverhalt nicht in gleichem Maße. Hier wirkte sich eigentlich eher das entgegengesetzte Moment aus, nämlich das subjektiv aufrichtige Wollen, eine Wiederkehr des nationalsozialistischen Gewaltregimes in Zukunft mit allen Mitteln zu verhindern. Vor allem das hier nicht im einzelnen zu besprechende Syndrom des „Antifaschismus“ gehört hierher. Es war gemeinsame Überzeugung nicht nur der sozialistischen Parteien, sondern auch vieler fortschrittlicher „bürgerlicher“ Intellektueller, daß der Aufstieg des Nationalsozialismus zur Macht mit den Krisen-lagen des kapitalistischen Systems eng Zusammenhänge und daß insbesondere das große Kapital ein erhebliches Maß von Verantwortung für die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus habe, ja mehr noch, in hohem Maße von dieser profitiert habe.

Hier wirkte sich, wie man im nachhinein sagen darf, in einer fatalen Weise die kommunistische Fehldeutung des Faschismus als der nun wirklich letzten Form des Kapitalismus in seiner imperialistischen Periode aus, für die die kommunistische Arbeiterbewegung schon in den Jahren nach 1933 mit schweren Blutopfem gezahlt hatte. Es ist dies ein klassisches Beispiel der fortdauernden Auswirkungen einer falschen Geschichtsdeutung auf politisches Handeln in einer historischen Krisensituation. Die Annahme, daß dann und nur dann, wenn der Kapitalismus als solcher beseitigt werde oder doch zumindest die Macht des Kapitals und der Junker gezähmt sei, ein Wiedererstehen des Nationalsozialismus auf Dauer verhindert werden könne, war das Rückgrat der sogenannten „antifaschistischen“ Doktrin, mit der in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren ein erheblicher Teil auch der sozialdemokratischen und progressiv-bürgerlichen Intellektuellen für die Politik der SED hat gewonnen werden können. Heute verfügen wir über ein wesentlich differenzierteres Bildder Faktoren, die den Nationalsozialismus hervorgebracht und seine Macht perpetuiert haben; damals aber war das Klischee vom spätkapitalistischen Charakter des Nationalsozialismus, namentlich unter beginnender staatlicher Informationskontrolle, dominant und überaus wirksam.

Es ist demnach unangebracht, den zahlreichen, damals der jüngeren Generation angehörenden Intellektuellen, die die Doktrin „des Antifaschismus“ ernst genommen und für ihre eigenen Lebensentscheidungen als maßgeblich betrachtet haben, im nachhinein vorzuhalten, daß sie sich damals für den sozialistischen Weg entschieden haben. Es kam ja hinzu, daß man sich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Kreisen ohnehin nicht vorstellen konnte, daß es einen rein kapitalistischen Weg des Wiederaufbaus geben könne, weder im Westen noch im Osten Deutschlands. All dies muß jenen, die sich in den frühen fünfziger Jahren der Idee des Sozialismus verschrieben, zugute gehalten werden. Ebenso verdienen jene Altkommunisten durchaus unseren Respekt, die für ihre Überzeugungen teilweise lange Jahre im Gefängnis gesessen haben oder anderweitig verfolgt waren, sofern sie nicht ihre Zuflucht im Exil gesucht hatten und nun die Stunde gekommen sahen, die Ideale zu verwirklichen, für die sie so lange unter aussichtslosen Umständen gekämpft und gelitten hatten.

Allein, es hätte ja noch angegangen, wenn die DDR wenigstens einen „deutschen Weg zum Sozialismus“ zu gehen versucht hätte, der den Bedingungen einer fortgeschrittenen Industriegesellschäft und eines Landes mit einer hohen, äußerst differenzierten Kultur angepaßter gewesen wäre als jener, den der angeblich große Bruder UdSSR seinerseits beschritten hatte, obschon es sich dabei eigentlich um ein Entwicklungsland handelte. Wie allgemein bekannt ist, sind jedoch die immerhin zahlreichen Ansätze zu einer selbständigeren Politik der SED auch gegenüber der UdSSR immer wieder systematisch abgeblockt worden mit Hilfe einer gefügigen, der KPdSU völlig hörigen Führungselite, und dies nicht immer ausschließlich nur auf Druck von Moskau hin. Zwar wird man sagen können, daß absolute Hörigkeit gegenüber der sowjetischen Partei bereits zum Grundmuster der Parteien der Komintern in der Zwischenkriegszeit gehört hat; die wechselvollen persönlichen Biographien der Abweichler innerhalb der KPD der zwanziger Jahre, zu denen unter anderem auch jener Emst Reuter zählt, der dann in den dramatischen Jahren der Behauptung Berlins gegenüber dem sowjetischen Würgegriff 1948/49 Regierender Bürgermeister Berlins werden sollte, gehören insofern in die Vorgeschichte der DDR hinein; sie sind auch ein Teil der deutschen Geschichte. Umgekehrt wird man darüber reflektieren müssen, aus welchen Gründen ein großer Teil der deutschen Arbeiterschaft bereits in den zwanziger Jahren in eine solche Bedrängnis gebracht worden ist, daß er in dieser von Moskau ferngesteuerten Partei seine einzige Hoffnung sah. Die Klassenzerklüftung während der Jahre der Weimarer Republik, für die das besitzende Bürgertum und die Unternehmerschaft ein hohes Maß an Mitverantwortung tragen, gehört ebenfalls in den Zusammenhang einer geschichtlichen Verortung der DDR, ohne daß dies hier im einzelnen ausgeführt werden kann.

Wenn sich das SED-Regime zum wohl moskauhörigsten aller ostmitteleuropäischen kommunistischen Regime entwickelte und am Ende die Flagge des stalinistischen Systems sogar gegen Gorbatschow und die Reformer in der UdSSR bis zum bitteren Ende hochhielt, so sind die Ursachen dafür in erster Linie in der besonderen deutschen Tradition zu suchen. Gewiß, die dogmatische Unnachgiebigkeit des SED-Regimes ergab sich zu Teilen aus der Konfrontation mit der Bundesrepublik, die angesichts ihres großen Wirtschaftserfolges, aber auch ihrer erfolgreichen Öffnung gegenüber der westlichen Welt, immer stärker an Attraktivität für die Bürger der DDR gewann, oft unter partieller Idealisierung der dort vorfindliehen tatsächlichen Verhältnisse. Die Furcht, daß der Westen das von der eigenen Bevölkerung ungeliebte und unzureichend legitimierte politische System der DDR früher oder später durch massiven politischen und wirtschaftlichen Druck aushebeln oder gar militärisch gegen dieses vorgehen werde, war zwar weitgehend selbstinduziert und teilweise ein Rückkopplungseffekt der eigenen gegen das angeblich imperialistische, wenn nicht gar protofaschistische politische System in der Bundesrepublik gerichteten Propaganda. Die Auswirkungen waren jedoch beträchtlich.

Aber ungeachtet der in der Tradition der kommunistischen Internationale schon lange implantierten, weitgehend kritiklosen Übernahme sowjetischer Strategien und Handlungsmuster -unter weitgehender Vernachlässigung der Meinungen der eigenen Anhänger, geschweige denn der Vorstellungen der breiten Massen der Bevölkerung -ist die zunehmende Abhängigkeit der Führungsschicht der SED von der Sowjetunion ein Phänomen eigener Art. Es handelte sich, aus der Perspektive des Imperialismushistorikers gesehen, um ein klassisches Beispiel eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen der Metropole und einem Kollaborationsregime an der sogenannten Peripherie,das nicht in erster Linie auf manifester oder struktureller Gewalt beruhte, obschon diese nicht fehlte und auch nicht entbehrlich war, sondern auf dem beiderseitigen Interesse der Führungseliten an der Erhaltung und gegebenenfalls dem weiteren Ausbau der bestehenden Herrschaftsstrukturen. Die Ideologie als solche, deren Eigengewicht in den Anfängen der Entwicklung noch hoch war -die erste Generation der sogenannten Altkommunisten, Männer wie Engelberg, Markow, Kuczinsky, Streisand u. a. m., glaubten wirklich an die kommunistische Lehre -, verlor infolgedessen immer mehr an Bedeutung und diente am Ende nur noch als Legitimationsinstrument gegenüber der eigenen Bevölkerung und in gewissem Maße auch der Weltöffentlichkeit.

Das Eigeninteresse der vergleichsweise schmalen, in ihrem materiellen Lebensstil zunehmend aus der Masse der Bevölkerung herausgehobenen Führungsschicht in den Satellitenstaaten des sowjetischen Empire an der Erhaltung des Status quo war in aller Regel eine ausreichende Garantie für ihr Wohlverhalten, gesehen aus der Sicht Moskaus; und das zunehmend engere Zusammenspiel der Funktionseliten auf der politischen und teilweise auch der wirtschaftlichen Ebene, das sich in der Zeit des voll entwickelten Stalinismus einstellte, paßt dazu. Im Fall der SED-Führungselite kam allerdings „vorauseilener Gehorsam“ hinzu, wie wir dies auch in der Phase der Etablierung des nationalsozialistischen Systems in den dreißiger Jahren finden. Insbesondere Honecker neigte gelegentlich dazu, die marxistisch-leninistischen Politikvorgaben noch rigoroser auszulegen als die Führung der KPdSU selbst. Dies war gewiß ein spezifisch deutsches Phänomen.

Insgesamt nahm das Herrschaftssystem der ehemaligen DDR unter den Bedingungen eines gemeinsamen Interesses der herrschenden Eliten an der Erhaltung ihrer Macht, bei zunehmender Zurückdrängung des Sachgehalts der Ideologie, immer stärker funktionalistische Züge an. Die SED fand es nicht schwer, immer wieder opportunistische Kursänderungen vorzunehmen, sofern dies als ratsam erschien, und die ideologischen Rechtfertigungen dafür von Fall zu Fall nachzuliefern und sie den Multiplikatoren -und dazu gehörte zumal auch die Historikerschaft -einfach zu oktroyieren. Gegen die intellektuelle Entleerung der marxistisch-leninistischen Doktrin, so wie sie in der ehemaligen DDR als Herrschaftsinstrument eingesetzt wurde, haben anfänglich zahlreiche, sich wirklich als Marxisten verstehende Intellektuelle rebelliert, doch am Ende stets ohne jeden Erfolg. Die Reduktion des Marxismus-Leninismus zu einer scholastischen Methode ähnlich jener des späteren Mittelalters erwies sich als unaufhaltbar. Insofern ist die Geschichte der DDR auch die Tragödie des kritischen marxistischen Denkens. Der Marxismus-Leninismus wurde schrittweise in sein Gegenteil verwandelt, nämlich in eine Akklamationsmaschine der herrschenden Elite. Nur an den Rändern durfte sich dann seit Mitte der achtziger Jahre wieder vorsichtige Kritik zu Wort melden, wenn und soweit sie dies mit demonstrativen Deklarationen zugunsten des herrschenden Systems kombinierte.

Die intellektuelle Dürftigkeit der offiziösen marxistisch-leninistischen Ideologie, angereichert durch den Slogan von der „unverbrüchlichen Freundschaft mit der großen Sowjetunion“, führte dazu, daß die SED-Führung schrittweise zu einer Restituierung preußischer und deutschnationaler Traditionselemente griff in dem Bemühen, das ideologische Legitimitätsdefizit des Regimes zu verringern. So kam es zu eigenartigen Verschränkungen der sich progressiv gebenden Ideologie des „realen Sozialismus“ mit dem herkömmlichen nationalen Denken, das unter der Oberfläche des Marxismus-Leninismus in beunruhigendem Maße erhalten geblieben war. Der Versuch der einseitigen Okkupation der positiven Bestandteile des deutschen kulturellen „Erbes“ seit der Reformation, bei einer leicht zugunsten der Volksmassen verschobenen Sichtweise, signalisierte im Grunde bereits den Bankrott der Idee der sozialistischen deutschen Nation.

So fragt man sich, weshalb das SED-Regime vergleichsweise nahezu reibungslos funktionierte, jedenfalls nachdem die Volkserhebung von 1953, deren wahres Ausmaß erst jetzt herausgearbeitet worden ist, mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht bereits im Ansatz erstickt werden konnte. Dies hat gewiß mit dem Ausbau eines immer perfektionistischeren Kontrollapparats zu tun, der die Leistungen der Gestapo weit hinter sich Heß, wenn er auch am Ende mit der Flut der eigenen Informationen nicht mehr fertig werden konnte und gleichsam an sich selbst erstickte. Aber dies ist nicht alles. Mit offenem Terror und struktureller Gewalt allein wird sich die nach allem doch relativ große Stabilität der SED-Herrschaft nicht erklären lassen. Hier wird zunächst darauf zu verweisen sein, daß nach der rücksichtslosen Verfolgung all jener, die führend an der Erhebung des 17. Juni beteiligt waren, unter der Bevölkerung der DDR das Bewußtsein der Aussichtslosigkeit weiteren direkten Widerstandes gegen das sozialistische Regime allgegenwärtig wurde und demgemäß die Neigung bestand, sich so gut es ging mit den bestehenden Verhältnissen zu arrangieren und eine Art vonRückzug in die Privatsphäre zu vollziehen. Dies ist auch insoweit nicht eben erstaunlich, als der Westen sich damals entschied, der UdSSR innerhalb ihrer Interessensphäre völlig freie Hand zu lassen, und selbst der Gedanke von ausschließlich diplomatischen Interventionen zugunsten der bedrängten Bevölkerung in den ostmitteleuropäischen Staaten in den Hintergrund getreten war. Unter diesen Umständen war mit einem baldigen Ende des SED-Regimes nicht zu rechnen, und es kann nicht überraschen, daß die Bevölkerung sich mit den bestehenden Verhältnissen abzufinden und das Bestmögliche aus einer bedrückenden Lage zu machen suchte.

Aber es kommen doch noch weitere, gleichsam immanente Faktoren hinzu, die eine zeitweilige Stabilisierung des SED-Regimes erleichtert haben. Hierhin gehört unter anderem die systematische Hofierung der Intellektuellen und Künstler durch das Regime. Ich weiß, dies ist ein heikles Thema. Aber es ist ersichtlich, daß die Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Schaupieler und nicht zuletzt auch die Musiker in der ehemaligen DDR vergleichsweise günstig dastanden; im Verhältnis zur Masse der Bevölkerung wurde ihnen eine auskömmliche (wenn auch mit westlichen Verhältnissen nicht vergleichbare) Lebensführung geboten, bei relativer Sicherheit ihrer beruflichen und materiellen Existenz, sofern sie sich nur anbequemten, die Sprache des Regimes zu sprechen oder doch dessen zentrale ideologische Prämissen nicht in Frage zu stellen, obschon eben dies ihre vornehmliche Aufgabe hätte sein müssen. Stellen, Pfründe, offizielle Aufträge gab es für ein Land mit so begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen für die verhätschelte Klasse der Intellektuellen reichlich. Und im großen und ganzen spielten diese denn auch das Spiel mit. Die Philosophen gaben sich in der Regel bereitwillig dazu her, die Theorie des Marxismus-Leninismus allen ihren Erwägungen voranzustellen. Die Historiker unterwarfen sich in ihrer großen Mehrheit ohne sichtliches Murren den beständigen Manipulationen der Partei und des „Rats der Geschichte“, in dem einige ihrer besten Fachleute verantwortlich mitwirkten, ohne daß ihr wissenschaftliches Ethos ihnen dabei sonderliche Gewissensbisse gemacht zu haben scheint.

Die Auswirkungen auf das offizielle Geschichtsbild waren entsprechend; die Geschichtswissenschaft verkümmerte weithin zu einem den jeweils herrschenden Tendenzen akklamierenden System, und nur an den Rändern war noch ernsthafte wissenschaftliche Forschung möglich. Und die Mehrheit der Künstler und Schriftsteller akzeptierte mehr oder minder die Rituale der offiziösen DDR-Kulturinstitutionen,zumal diese über den wirksamen Hebel verfügten, über die Veröffentlichung ihrer Werke zu befinden. Zugestanden, wenn es überhaupt Rebellen gegen das Regime gab, wenn überhaupt öffentliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen laut wurde, dann kamen diese gleichwohl aus dem Kreis der Schriftsteller und Künstler, der, wie das schreckliche Wort lautete, „Kulturschaffenden“, denn allein sie besaßen weiterhin ein gewisses Maß an Freiheit und Lebens-spielraum gegenüber den Zwängen des Regimes. Aber im Zweifelsfall wurden die allzu Aufmüpfigen, meist gegen ihren Willen, „ausgebürgert“, um die heimische Szene von unbequemen Kritikern zu reinigen. Dies schuf Unruhe; insbesondere die Ausweisung Wolf Biermanns führte zu weitreichenden Protesten in der ehemaligen DDR, vornehmlich auch unter Studenten und jungen Wissenschaflern, deren Ausmaß uns immer noch unzureichend bekannt ist. Aber insgesamt wird man dennoch nicht um den Befund herumkommen, daß es in der DDR, verglichen etwa mit den Verhältnissen in Polen, in der ehemaligen Tschechoslowakei und in Ungarn, relativ wenige „Dissidenten“ im eigentlichen Wortsinne gegeben hat; die Opposition gegen das Regime war schwach und ephemer.

Naturgemäß lag dies größtenteils an den besonderen deutschen Verhältnissen, wenn das Häuflein der wirklich Oppositionellen vergleichsweise klein und ineffektiv blieb, insbesondere an der Existenz des anderen deutschen Staates. Dazu gehört auch die Haltung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Unruhe in der ehemaligen DDR, die zu politischen Konsequenzen und womöglich einer Gefährdung der prekären Gewaltenbalance der beiden Mächteblöcke hätte führen können, im Grunde fürchtete. Auch hier führte moralischer Kleinmut vielfach die Feder.

Die bedeutenden Verdienste der Bürgerbewegungen sind unbestritten; sie haben mit großem persönlichen Mut und entschiedenem Handeln dem Regime den Rest gegeben und vor allem erreicht, daß es zu einer unblutigen Revolution gekommen ist, obschon man das Schlimmste befürchten mußte. Aber im Vergleich mit den Dissidentenbewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei waren sie doch eher schwach und zersplittert. Dies hing nun freilich wesentlich mit dem Umfeld zusammen, in dem sie zu operieren hatten. Was die westdeutsche Politik angeht -und in gewissem Sinne die Westdeutschen in ihrer Gesamtheit -, so haben sie die Oppositionsbewegungen in der ehemaligen DDR durchweg links liegengelassen; dies gilt auch für die Politiker der SPD, dieansonsten das große Verdienst haben, durch die sogenannte „Ostpolitik“ überhaupt eine begrenzte Liberalisierung des politischen Systems in der ehemaligen DDR erreicht zu haben. Aber die Parole „Wandel durch Annäherung“ galt doch in erster Linie dem etablierten System; innere Unruhe und Opposition in der DDR paßte nicht recht in diese Strategie hinein, die unter anderem ja das Ziel verfolgte, die politischen Verhältnisse in Europa zu stabilisieren im Interesse der Erhaltung des Friedens, aber auch der bestehenden Verhältnisse in der Bundesrepublik.

Viel taktisches Kalkül war dabei im Spiel und reichlich wenig Orientierung an den grundlegenden moralischen Prinzipien einer demokratischen Ordnung. Ärger noch stand es mit den Kontakten der Bundesregierung zu den Führungsspitzen der ehemaligen DDR; auch hier wurde das Maß dessen, was zur Erreichung der eigenen Ziele, nämlich der Erhaltung eines Mindestmaßes an Bewegungsfreiheit zwischen beiden deutschen Staaten, notwendig war, häufig mehr als erforderlich überschritten und damit der Führungselite der DDR zusätzliche Legitimität zugespielt auf Kosten der Oppositionsbewegungen im Lande selbst. Auch hier vermeint man als Historiker die Schatten der deutschen obrigkeitlichen Vergangenheit auszumachen und ebenso die Tradition der sogenannten „Realpolitik“, die in der deutschen Gesellschaft seit dem Kaiserreich in hohem Ansehen stand. Schon Max Weber hat die Tendenz, politisches Handeln stets an den unmittelbar gegebenen Erfolgschancen, nicht aber an den zugrundeliegenden Zielen zu orientieren, als ein bedenkliches Erbe des deutschen politischen Denkens gebrandmarkt. Erst die Zukunft wird lehren, ob das richtige Mittelmaß zwischen pragmatischer Politik und einer an den Grundsätzen der konstitutionellen Demokratie ausgerichteten Orientierung im konkreten Fall gewahrt wurde oder nicht.

In diesem Zusammenhang kann über die ambivalente Rolle der evangelischen Kirche in der ehemaligen DDR nicht hinweggegangen werden. Es steht außer Frage, daß sie nahezu als einzige gesellschaftliche Institution in der DDR ihre Eigenständigkeit bewahrt hat, unter schweren Opfern und unter Inkaufnahme gesellschaftlicher Diskriminierung ihrer Pfarrer und Gläubigen. Es gebührt ihr die Ehre, den Bürgerbewegungen überhaupt ein Forum, in dem sie sich unter den gegebenen Verhältnissen artikulieren konnten, geboten zu haben; sie gewährte ihnen darüber hinaus ein gewisses Maß von Schutz gegenüber dem Zugriff des Staates. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob die Kirchenbehörden nicht vor allem daran interessiert waren, abzuwiegeln und, wie es so schön heißt, „das Schlimmste“ zu verhüten, statt den Dingen ihren Lauf zu lassen, obschon dies möglicherweise zu einer Zuspitzung des Konflikts zwischen der Staatsmacht und den Bürgerbewegungen, und in zweiter Linie den Kirchen selbst, geführt hätte. Es ist einzuräumen, daß dies für die Betroffenen zu schwerwiegenden Konsequenzen hatte führen können, aber zugleich hätte eine offenere Austragung des Konflikts mit dem bestehenden Regime eine ähnliche Signalwirkung haben können wie in Polen und Ungarn, mit der Folge einer früheren Destabilisierung des bestehenden Systems. Auch hier schlug, wie es scheint, Verantwortungsethik vielfach ein wenig zu rasch in pragmatische Real-politik um, obschon eigentlich Gesinnungsethik, wie sie von den oppositionellen Gruppen praktiziert wurde, gefragt gewesen wäre.

Ein abschließendes Urteil ist heute gewiß noch nicht möglich. Aber es scheint doch, daß die traditionell obrigkeitsorientierte Denkweise in der evangelischen Kirche, wie sie seit dem Kaiserreich dominant war, dazu beigetragen hat, eher realpolitische Kompromisse mit dem Staat zu schließen, als es auf eine offene Konfrontation ankommen zu lassen. Der Fall der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz lädt hier zu einem Vergleich mit der demonstrativen Selbstverbrennung des tschechischen Dissidenten Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag ein; letzterer ist bis heute ein Symbol des nationalen Widerstands der Tschechen gegen die sowjetische Herrschaft geblieben, während die Deutschen und wohl auch die evangelische Kirche über den Fall Brüsewitz, dessen Handhabung durch die Kirchenbehörden im Zusammenspiel mit der Stasi bis heute ein Ärgernis geblieben ist, zur Tagesordnung übergegangen sind.

Es sei eingeräumt, daß wir hier ein Feld spekulativer Urteile betreten, und das sollte ein Historiker eigentlich nicht tun. Allein, die Frage steht im Raum, weshalb die Deutschen in der ehemaligen DDR eigentlich so ziemlich die letzten gewesen sind, die das System des „realen Sozialismus“ auf breiter Front herausgefordert und seinen Sturz erzwungen haben. Gewiß, es spricht viel dafür, den Gang der Dinge, wie er sich tatsächlich ereignet hat, für den besten aller möglichen zu halten. Denn auf diese Weise wurde eine friedliche, eine unblutige Umwälzung ermöglicht. Aber der Umstand, daß die Deutschen die nationale Einheit einmal mehr nicht in erster Linie aus eigener Kraft errungen haben, sondern daß sie ihnen im wesentlichen dank der wagemutigen Politik ihrer östlichen Nachbarn gleichsam geschenkt worden ist, hat weitreichende Auswirkungen bis in unsere Gegenwart hinein. Dem entspricht, daß es in der alten Bundesrepublik nur zu einem höchst gedämpften Enthusiasmus über die Wiederherstellung der nationalen Einheit gekommen ist und die Bereitschaft, dafür Opfer zu bringen, vergleichsweise begrenzt ist.

Gewiß wird man es begrüßen können, daß die Bürger der Bundesrepublik in ihrer übergroßen Mehrheit sich weitgehend von traditionellen nationalen Denkformen emanzipiert und sich dem westeuropäischen Nationsbegriff angenähert haben, welcher die demokratische Selbstbestimmung der Bürger weit höher wertet als Ethnizität und Sprachgemeinschaft. Insoweit hat die nationale Identität der Deutschen eine neue Qualität erreicht, die sich positiv von dem integralen Nationsbegriff der Vergangenheit abhebt, der die wesentliche Homogenität der nationalen Kultur notfalls auch mit Gewalt erzwingen wollte. Allerdings sehen wir gegenwärtig mit großer Besorgnis, daß gleichwohl im Schoße der deutschen Gesellschaft Residuen des älteren aggressiven, gegenüber den europäischen Nachbarvölkern antagonistisch eingestellten und fremdenfeindlichen Nationalismus wieder aufflackern. Es steht dahin, wie weit dies eine Folge der Vereinigung ist, zumal in der ehemaligen DDR unter der Oberfläche des offiziellen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes ältere, mehr oder minder aggressive Formen nationalen Denkens weiterlebten und in den letzten Jahren teilweise abrupt wieder zur Oberfläche drängten.

Eric Hobsbawm hat im Hinblick auf die DDR einmal gesagt, daß gerade sozialistische Systeme es sich leisten können, in kultureller und national-politischer Hinsicht konservativ zu sein. Es ist daher nicht so überraschend, wie man wohl auf den ersten Blick meinen möchte, daß die ehemalige DDR in vieler Hinsicht ein „deutscheres“ Gesicht trug als die alte Bundesrepublik, die in dem vergangenen Halbjahrhundert einen Prozeß der Verwestlichung durchgemacht hat, der ihr in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens, und namentlich auch im kulturellen Bereich, ein vergleichsweise internationales Gesicht verliehen hat. Es machte dies übrigens in den Augen der Bürger der ehemaligen DDR gerade ihre Attraktivität aus. Umgekehrt sind die Spuren, die der „reale Sozialismus“ in der Mentalität der Bürger der neuen Bundesländer hinterlassen hat, gerade in den Fragen, die die nationalen Denkweisen der Deutschen betreffen, vergleichsweise gering. Auch auf diesem Gebiet bedarf es einer geistigen Zusammenführung der Deutschen.

Die ehemalige DDR beanspruchte zeit ihrer Existenz, das bessere Deutschland zu repräsentieren, während die Bundesrepublik als Fortsetzung des faschistischen Imperialismus, wenn auch mit gemäßigteren Mitteln, verteufelt wurde. Umgekehrt nahm man in den westlichen Teilen Deutschlands die Realität des Systems des sogenannten „realen Sozialismus“, vielfach getäuscht durch die von dort ausgehenden Propagandatiraden, aber auch durch die im Westen selbst induzierten Propagandasprüche, ganz ungenügend wahr. Heute läßt sich deutlicher erkennen, daß die alte Bundesrepublik und die DDR in einer antagonistischen Weise aufeinander bezogen waren, die beider Wege maßgeblich bestimmte. Die SED-Herrschaft rechtfertigte die besondere Brutalität ihrer Herrschaftsausübung vor allem mit den angeblich ihr und dem Weltfrieden vom Westen her drohenden Gefahren. Umgekehrt leitete die Bundesrepublik ein gut Teil ihrer Legitimität aus dem krassen Gegensatz zu den Verhältnissen in der DDR ab; sie gewann damit ein Maß politischer und gesellschaftlicher Stabilität, das heute, nach dem Ende der Polarisierung der beiden Weltsysteme des Marxismus-Leninimus und der westlichen kapitalistischen Demokratie sowie nach dem universellen Aufflammen aggressiver nationalistischer Bewegungen, in Gefahr steht, wieder verlorenzugehen. Wir sind aufgerufen, alles zu tun, um die freiheitliche Ordnung und das leistungsfähige Wirtschaftssystem, die in den hinter uns liegenden Jahrzehnten in erster Linie im westlichen Teil Deutschlands aufgebaut worden sind und die seit der Vereinigung auch auf die Länder der ehemaligen DDR ausgedehnt wurden, nicht zu verspielen. Dazu gehört nicht zuletzt, daß wir die Geschichte der beiden deutschen Teilstaaten in langfristiger Perspektive als Teil einer gemeinsamen Nationalgeschichte begreifen.

Wir im Westen vergessen allzu leicht, daß Brandenburg und Sachsen, Thüringen und Pommern Kerngebiet des deutschen Siedlungsraums in Mitteleuropa gewesen sind und von ihnen bedeutende Anstöße auf die deutsche Kultur, die deutsche Wirtschaft und die Politik ausgegangen sind, ohne die auch der Wiederaufstieg der alten Bundesrepublik aus den Trümmern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, nicht denkbar gewesen wäre. Diese langfristigen Perspektiven wiegen die vier Jahrzehnte der SED-Herrschaft, so wenig diese ein bloßer Spuk gewesen ist, am Ende bei weitem auf. Wir müssen zu einem gemeinsamen Geschichtsbild zurückfinden, welches gewiß viele unterschiedliche Facetten aufweisen wird, je nach den unterschiedlichen politischen oder gesellschaftlichen Standpunkten. Damit würden wir dazu beitragen, die äußerlich vollzogene Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch innerlich zu vollenden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang J. Mommsen, Dr. phil., geb. 1930; seit 1968 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 1977-1985 Direktor des Deutschen Historischen Instituts, London; 1988-1992 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands; Berufung an das Historische Kolleg in München für das akademische Jahr 1992/93. Veröffentlichungen u. a.: Mitherausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe, Max Weber und die deutsche Politik, 1890-1920, Tübingen 1974 , Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt 1990; Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München 1990; Das Ringen um den nationalen Staat, 1850-1890, Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 7. 1, Berlin 1993.