Was heißt und wozu betreiben wir Zeitgeschichte? Der Epochenwechsel, der sich in unserer Gegenwart vollzieht, gibt Anlaß, diese Frage neu zu bedenken. Denn die Zeitgeschichtsforschung ist der mit der Gegenwart am engsten verbundene Zweig der Geschichtswissenschaft. Die folgenden Überlegungen versuchen, über die im Untertitel genannten Kategorien drei unterschiedliche Zugänge zu erschließen. Zuerst wird mithin vom Begriffder Zeitgeschichte die Rede sein. Dabei kann eine Rückschau hilfreich sein -zunächst auf die Geschichte der Sache, die vorläufig ganz einfach als der Gegenwart nächster Zweig der Geschichtsschreibung definiert sein soll, sodann ein Blick auf die Geschichte des Wortes, das viel jünger ist als die Sache, und noch viel jünger ist der Begriff „Zeitgeschichte" als Bezeichnung einer historischen Teildisziplin (Kap. I).
Der zweite Abschnitt wendet sich dem Bereich der Methodologie zu. Dabei werden einige Grundfragen der Theorie der historischen Erkenntnis zu erörtern sein. Wenn von einer Teildisziplin die Rede ist, die sich lange des Verdachts zu erwehren hatte, sie habe zu ihrem Gegenstand keine hinreichende Distanz, stellen sich diese Fragen unausweichlich und dringlicher als anderswo (Kap. II). Welche Entwicklungslinien kennzeichnen die Praxis der zeithistorischen Forschung in der (alten) Bundesrepublik? Davon wird im dritten Abschnitt die Rede sein -mithin von den hauptsächlich bearbeiteten Themenfeldern, vom Wandel der Themen und der mit ihrer Bearbeitung verbundenen Verfahrensweisen (Kap. III). Vor welchen Aufgaben steht die Zeitgeschichtsforschung im vereinigten Deutschland heute und in naher Zukunft? Die abschließenden Überlegungen greifen diese Frage auf und umreißen einige aktuelle Forschungsdesiderate (Kap. IV).
I. Zum Begriff „Zeitgeschichte“
Die Sache ist so alt wie die Historie selbst denn die antike Geschichtsschreibung war wesentlich Zeitgeschichtsschreibung Thukydides, den die Historiker des 19. Jahrhunderts als Ahnherrn verehrten war reiner Zeithistoriker. Den Impuls zu seinen Studien gab die -wie er formulierte -„gewaltigste Erschütterung“ seiner Gegenwart: der Peloponnesische Krieg des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Dieser Krieg erschütterte zugleich sein eigenes Leben, denn er nahm als Befehlshaber eines athenischen Kontingents daran teil, wenn auch so glücklos, daß die Athener ihn mit der Verbannung straften. Die Geschichte der eigenen Zeit zu schreiben, diese Tradition brach nie mehr ganz ab -von Cäsars Gallischem Krieg über Otto vor Freisings „Gesta FridericiI." und Friedrichs des Großen „Histoire de mon temps“ bis etwa hin zu Churchills Darstellung des Zweiten Weltkriegs, für die er 1953 den Literatur-Nobelpreis erhielt.
Eine solche lange Erfahrungskette zeigt aber auch, daß in der Regel die außerwissenschaftlichen Interessen zunehmen, je mehr sich die Geschichte der Gegenwart nähert. So entstand der Verdacht, die jüngste Vergangenheit sei einer wirklich wissenschaftlichen Behandlung noch gar nicht zugänglich. Kann man, um eine skeptische Formulierung von Barbara Tuchman (1964) aufzugreifen, über Geschichte schon schreiben, „während sie noch qualmt“
Als im 19. Jahrhundert Niebuhr, Ranke, Droysen und andere sich anstrengten, die Historie in den Rang einer selbständigen, philologisch-kritischen Wissenschaft zu heben, klammerten sie den empfindlichen Grenzbereich zwischen Geschichte und Gegenwart zwar nicht aus Aber es fällt doch auf, daß sie dafür die mündliche Form der Vorlesung bevorzugten, wo es methodologisch weniger streng zugehen durfte als im gedruckten Geschichtswerk. Ranke z. B. hielt im Wintersemester 1862/63 an der Berliner Universität eine Vorlesung, die er „Geschichte unserer Zeit“ nannte. Sie reichte bis zu dem zehn Jahre zuvor begründeten neuen Kaisertum Napoleons III. Da wagte er sich weit vor -gemessen daran, daß Theodor Mommsen, der gefeierte Autor der „Römischen Geschichte“, proklamierte: „Erst wenn das gewaltige Leben selber still geworden ist, beginnt die Geschichte -recht eigentlich ein Todtengericht.“
Die Skeptiker, die meinten, die Geschichte der eigenen Zeit sei noch nicht „geschichtsreif“, führten Argumente ins Feld, denen ich mich im methodologischen Abschnitt dieses Beitrags zuwenden werde. Hier halte ich zunächst nur dieses fest: Soweit sie von dem Ehrgeiz angestachelt waren, die Konkurrenz mit dem strengen Wissenschaftsbegriff der Naturwissenschaften auszuhalten, haben die Historiker des 19. Jahrhunderts ihre Bewährungsproben nicht gerade an der Grenze zur Gegenwart gesucht, wo die außerwissenschaftlichen Interessen noch am wenigsten ruhiggestellt sind. Wer es dennoch versuchte, bot dann auch deutliche Angriffsflächen -vor allem, als die preußisehe Reichseinigung zur leidenschaftlichen Parteinahme lockte. Auch einem so bedeutenden und nüchternen Historiker wie Heinrich von Sybel -Gründer der „Historischen Zeitschrift“ und Direktor der preußischen Staatsarchive -gelang sein Hauptwerk über frühere Epochen wissenschaftlich überzeugender als das Spätwerk, mit dem er zeitgeschichtlichen Boden betrat: Als er um 1890 die Entstehung des Bismarckreiches in sieben Bänden darstellte, fügte er sich bereitwillig Bismarcks Wünschen und Anregungen. Das Endprodukt las sich dann so, als sei Preußen an allen drei Einigungskriegen unschuldig gewesen. Man hat gesagt, Bismarck, „der Königstiger“, erscheine in Sybels Darstellung wie ein „Hauskater“
Nach 1919 geriet das gegenwartsnahe Geschichtsinteresse nicht ausnahmslos, aber doch weithin in den politischen Sog der Kriegsschuldfrage. Dabei beeinträchtigten massive apologetische Absichten den wissenschaftlichen Rang. Dies gilt auch für die größte zeitgeschichtliche Forschungsanstrengung, die damals unternommen wurde: die Edition der „Großen Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914“, deren 40 Bände zwischen 1922 und 1927 erschienen. Trotz vieler Verdienste der Editorengruppe hat das politische Motiv der Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese doch auch zu Glättungen und Verbiegungen geführt
Die eigentliche Entdeckung der jüngsten Vergangenheit als besonderes Forschungsfeld einer historischen Teildisziplin datiert in Deutschland nach 1945. Wieder war es eine „gewaltige Erschütterung“, die diesen Impuls auslöste: der Zusammenbruch der Zivilisation in der deutschen Katastrophe. Die bundesrepublikanische Zeitgeschichtsforschung konstituierte sich als Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Weimarer Vorgeschichte. Sie etablierte sich quer zu skeptischen Strömungen in der Historikerzunft, die die Wissenschaftswürdigkeit dieses jüngsten Sprosses nach wie vor anzweifelten, auch entgegen einem mißtrauischen Publikum, dem der Gedanke nicht behagte, hier werde vielleicht Re-Education-Policy mit anderen Mitteln fortgesetzt. Die Gründung des Münchener „Instituts für Zeitgeschichte“, wie das 1949/50 ins Leben gerufene „Deutsche Institut für Geschichte der national-sozialistischen Zeit“ seit 1952 heißt, bildet einen Markstein dieser Entwicklung
Als 1953 das erste Hefte der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ erschien, gab ihm Hans Rothfels -in der NS-Zeit als jüdischer Gelehrter zur Emigration gezwungen, 1951 an die Universität Tübingen zurückgekehrt -einen programmatischen Eröffnungsaufsatz mit auf den Weg. Man merkte ihm den Rechtfertigungsdruck auf die Existenzberechtigung der Zeitgeschichtsdisziplin noch deutlich an Als 25 Jahre später Karl Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz die Herausgeberschaft der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ übernahmen und nun ihrerseits einen Einführungsaufsatz präsentierten, hielten sie hingegen knapp und treffend fest: „Die Zeitgeschichte ist in der Historie voll etabliert.“ Da klang nichts mehr wie ein Werben um Anerkennung. In der Tat hatte die Zeitgeschichte seither einen außerordentlichen Aufschwung genommen, sowohl im Hinblick auf die Breite und Tiefe der Forschungen wie auch im Hinblick auf ihre Institutionalisierung innerhalb und außerhalb der Hochschulen.
Erst nach 1945 vollzog sich auch die Versöhnung von Sache und Wort: Wer Zeitgeschichte betrieb, nannte das nun auch so. Drei Jahrhunderte hatte es gedauert, bis diese Versöhnung gelang. Diese Spanne lag zwischen der barocken Wortbildung und dem Aufstieg des Wortes als Selbstbezeichnung einer Wissenschaftsdisziplin. Zwischenzeitlich war eine eigentümliche Berührungsscheu zu beobachten, die gerade professionelle Historiker gegenüber diesem Wort zeigten. In welchem Zusammenhang das zu sehen ist, sei zumindest kurz angedeutet.
Die Französische Revolution hat die Zeiterfahrung der Menschen außerordentlich dynamisiert -die Erfahrung, daß alles Geschehen Zeitlich strukturiert und damit auch wandelbar, sogar umstürzend wandelbar ist. Der Sprachbedarf für Zeit-erfahrung schuf eine große Zahl neuer Komposita -z. B. „Zeitgeist“ -und lud ältere Komposita mit neuer Bedeutung auf -darunter „Zeitgeschichte“. Dieses Wort wurde um 1800 aktuell und verbreitete sich vor allem im Journalismus und in der Tagesschriftstellerei Aber je mehr das Wort anderswo vordrang -z. B. nannte Engels die Studie über „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, die Marx etwa zeitgleich mit den untersuchten Ereignissen schrieb, ein „Stück Zeitgeschichte“ -, um so auffälliger hielten sich professionelle Historiker zurück. Es ist ganz symptomatisch, daß man dieses Wort in Droysens großer „Historik“, diesem bis heute bedeutsamen Grundlagenwerk der Geschichtswissenschaft, nur ganz am Rande benutzt findet Wieder bietet sich die Erklärung an, daß die Historiker, die für die Historie den Status einer selbständigen Wissenschaft außerhalb unmittelbarer politischer Interessen erkämpften, die am meisten anfechtbare, „offene“ Flanke bedeckt halten wollten
Bisher war von der Sache und dem Wort die Rede, aber eine Definition des Begriffs „Zeitgeschichte“ steht noch aus. Im Unterschied zu dem Wort muß der Begriff ja eine höhere klassifikatorische Leistung erbringen. Hans Rothfels hat in seinem genannten, viel zitierten, geradezu klassischen Aufsatz definiert, Zeitgeschichte sei „die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ -der „Mitlebenden“ oder der „Zeitgenossen“, wie das auch in den Parallelbegriffen der französischen „histoire contemporaine“ oder der englischen „Contemporary history“ zum Ausdruck kommt.
Damit hat man einen „formalen Allgemeinbegriff, der sich inhaltlich immer neu auffüllen kann“, an nichts gebunden als an die fließende Zeitspanne der lebenden Generationen Das mag zunächsttrivial klingen, aber darin stecken mehr methodische Implikationen, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Davon wird später die Rede sein. Zuvor muß man sehen, daß somit ein neues Abgrenzungsproblem hervortritt. Denn wo soll die Grenze zu ziehen sein zwischen dem, was zur Geschichte der Mitlebenden, und dem, was nicht mehr dazugehört? „Histoire contemporaine“ beginnt im französischen Verständnis 1789. Die Revolution hat sich so tief in das kollektive Gedächtnis der Franzosen eingegraben, daß sie als zeitgenössisch erfahren oder jedenfalls so benannt wird. „Histoire contemporaine“ ist auf diese Weise chronologisch erstarrt, so daß ein neuer Anschlußbegriff notwendig und gefunden wurde: „histoire du temps prösent“, worunter die Zeit von 1939 bis zur Gegenwart verstanden wird Das französische Beispiel zeigt zweierlei: Zeitgeschichtserfahrung kann sich national unterschiedlich ausprägen und es kann ein Spannungsverhältnis entstehen zwischen der relativen Definition, der zufolge Zeitgeschichte die Geschichte der Lebenden ist, und dem Bedürfnis nach einer absoluten Definition, die den Begriff an fest datierbare Zusammenhänge bindet und zugleich mit konkreter Bedeutung füllt.
Auch Hans Rothfels hielt den fließenden Begriff an einem Schwellendatum fest, indem er Zeitgeschichte 1917/18 beginnen ließ. Russische Revolution und weltpolitischer Eintritt der USA, zugleich die Entstehung des Dreiecks Demokratie, Faschismus und Kommunismus: das sei konstitutiv für den Zusammenhang der Epoche der Mitlebenden. Dieser Vorschlag hat viel Einverständnis gefunden, und in gewisser Hinsicht hebt der Umbruch seit 1989 in Mittel-und Osteuropa, anders gesagt: das Ende des ein dreiviertel Jahrhundert umfassenden sowjetischen Irrwegs, die Bedeutung des Schwellenjahrs 1917 noch einmal besonders hervor. Aber irgendwann mußte der weithin akzeptierte Vorschlag, den chronologisch fließenden Begriff mit einer Epochenzäsur zu verbinden, auf Widerspruch stoßen. Spätestens 1975 war es soweit. Da veröffentlichte Eberhard Jäckel eine betont angriffslustige Abhandlung, einen „Anti-Rothfels“ sozusagen: „Zeitgeschichte mag für Rothfels und seine Generation 1917 beginnen“, schrieb er, aber natürlich könne das für spätere Generationen nicht mehr gelten
Mit seinem Gegenvorschlag, auf eine Auffüllung des Begriffs durch epochale Zusammenhänge zu verzichten, setzte Jäckel sich allerdings nicht durch. Statt dessen kam mehr und mehr eine neue Verknüpfung zustande, erhielt 1945 die Bedeutung eines Schwellenjahres. Diese Eingrenzung näherte den westdeutschen Zeitgeschichtsbegriff zugleich dem ostdeutschen Sprachgebrauch an, wo von Anfang an ganz überwiegend die Zeit seit 1945 gemeint war, wenn man von Zeitgeschichte sprach Zweifellos wird die Vereinigung Deutschlands diese Verschiebung des Bezugsrahmens nachhaltig verstärken. Für die meisten Deutschen bezieht Zeitgeschichte sich heute auf den ebenso gegensätzlichen wie spezifisch verklammerten Erfahrungszeitraum der Polarisierungszwillinge Bundesrepublik und DDR.
Ist die deutsche Zeitgeschichte also im Begriff, sich vom bisher dominierenden Bezug zum Nationalsozialismus zu verabschieden? Das wird von manchen Beobachtern mit Besorgnis gefragt. „Seit dem Oktober 1990“, schreibt z. B. Saul Friedländer, „ist die Ära Hitlers von der Gegenwart durch eine nunmehr ebenfalls abgeschlossene Zwischen-epoche, die 45 Jahre deutscher Teilung, abgetrennt.“ Diese „Zeitenverschiebung“ rücke die NS-Epoche in „doppelt entfernte Vergangenheit“ Anders gesagt: Friedländer befürchtet mit der Entlassung des Nationalsozialismus aus der Zeitgeschichte zugleich die Verblassung des politisch wirksamen Menetekels.
Hier liegt eine Problematik vor, die Aufmerksamkeit verdient; sie ist aber durchaus nicht neu. Eine ähnliche Problemfassung vor Augen, hat Karl Dietrich Bracher seit längerem den Begriff der „doppelten Zeitgeschichte“ eingeführt. Er meint damit die „ältere Zeitgeschichte“ vom Ersten Weltkrieg bis 1945 und die „neuere“ seither; seine These ist diese: Es handle sich um zwei Schichten von Zeitgeschichte, deutlich getrennt und doch eng verbunden, sehr verschieden und doch aufeinander bezogen, mit je eigenen Zusammenhängen, aber auch Elementen innerer epochaler Einheit. Zwei Zeitgeschichten, die „aufeinander stoßen, miteinander ringen, einander überlagern“ und deren Bewertung je nach typischer Generationslagerung weit auseinanderklaffen kann So neigen z. B. größere Teile der älteren Generationen dazu, die Geschichte der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der Krisen und Katastrophen der „älteren Zeitgeschichte“ als eine positive Erfolgsgeschichte zu bewerten, während Teile der nachwachsenden Generationen aus dem großen Laboratorium der Weimarer Republik mit wechselnder Intensität Ordnungsideen bezogen (von der Räteherrschaft bis zur Wirtschaftsdemokratie) oder aus der NS-Zeit in die Bundesrepublik führende Kontinuitätselemente suchten, mit denen die „jüngere Zeit-geschichte“ unter Restaurationsverdacht gestellt werden konnte. Im vereinigten Deutschland ist mit der DDR auch die DDR-Geschichte hinzugetreten, so daß nunmehr drei Zeitgeschichten „aufeinander stoßen, miteinander ringen, einander überlagern“. Hierauf wird später -im Kontext zeitgeschichtlicher Themenfelder -zurückzukommen sein.
Ich breche hier meine Versuche zur begrifflichen Verständigung ab. Es sollte deutlich Werden, daß „Zeitgeschichte“ kein unstrittig einhegbarer Begriff ist, sondern eine Arena der Auseinandersetzung, in die stets auch Fragen der Periodisierung und der Relationenbildung hineinwirken, des Wägens und Ermessens, der Kriterienbildung für Koordinationssysteme des geschichtlichen Verständnisses.
II. Zeitgeschichtliche Methodenfragen
Aus welchen Gründen ist die Wissenschaftswürdigkeit der Zeitgeschichte so lange angezweifelt worden? Was waren die Hauptvorwürfe?
Da war erstens der Einwand des Quellenmangels. Es ist nun in der Tat so, daß die Zeithistorie -jedenfalls was die staatliche Quellenüberlieferung betrifft -vor spezifischen Barrieren steht. Damit sind zunächst die Archivsperrfristen gemeint, die in den westlichen Demokratien heute im allgemeinen dreißig Jahre gelten, für Verschlußsachen auch länger. England hat erst 1967, Frankreich erst 1979 die Sperrfrist für die in staatlichen Archiven lagernden Papiere von fünfzig auf dreißig Jahre verkürzt. Nun waren und sind die Chancen, diese Sperre mit Hilfe von Ausnahmegenehmigungen, teilweise auch mit persönlichen Parallelüberlieferungen (Nachlässen) zu überspringen, gar nicht so schlecht. Der Feind näherte sich vielmehr von einer anderen Seite; er kam auf leisen Sohlen und steht jetzt riesengroß und oft bedrohlich da -in Form von datenschutzrechtlichen Bestimmungen und anderen speziellen Geheimhaltungsregeln wie z. B.dem Steuergeheimnis
Wer einmal versucht hat, über Entnazifizierung, Wiedergutmachung oder Lastenausgleich zu arbeiten, weiß, was es heißt, daß die einschlägigen Akten von geschützten personenbezogenen Daten durchdrungen sind. Für Forschungsprojekte zu kommunalen Eliten oder zur Familiengeschichte nach 1945 gelten ähnliche Restriktionen. Da kann es nur ein schwacher Trost sein, daß die rheinland-pfälzische Landesregierung den Zugang zu den persönlichen Daten des in der napoleonischen Zeit hingerichteten Räuberhauptmanns Schinderhannes in alten Zivilstandsregistern ebenfalls gesperrt hat -bis die Datenschutzkommission des Landes diesen Beschluß, der denn wohl doch zu weit ging, wieder kippte. Das Problem der Stasi-Akten ist somit lediglich die Spitze eines Eisbergs, der aus einem unterkühlten Verhältnis zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit hervorgeht.
Es gibt also besondere Einschränkungen im Quellenzugang. Aber mit gleichem Recht kann man betonen, daß für keine frühere Epoche die Quellen so reichlich fließen wie gerade für die Zeitgeschichte. Man hat ausgerechnet, daß die Akten des Board of Trade, die in England während des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, würde man sie auf Regalen nebeneinander reihen, genau die gleiche Länge hätten, wie die gesamten Archivalien zur englischen Geschichte von der normannischen Landung bis zum Jahre 1900 Das Beispiel möge andeuten, wie massenhaft heute Quellen traditionellen Zuschnitts -in diesem Falle Verwaltungsakten -angewachsen sind. Hinzu kommen neuartige Quellengattungen wie z. B. Umfragedaten der empirischen Sozialforschung; ganz besonders wichtig ist die außerordentliche Zunahme neuer Medien der Kommunikation
Insofern Hegt das Problem gar nicht in einem Mangel an Quellen, sondern in Fragen wie diesen: Mit welchen Sichtungs-und Arbeitsverfahren ist es möglich, die ungeheuere Masse des Materials überhaupt noch zu erfassen und die relevanten Informationen herauszufiltem? Was muß man beachten, wenn moderne Reproduktionsmöglichkeiten die Papierflut hochtreiben, aber sinkende Geheimhaltungsgrade und mündliche Telefon-kontakte die Bedeutung des Geschäftsschriftguts verändern und oft verringern? Inwieweit müssen die quellenkritischen Verfahren, welche die Historiker für schriftliche Zeugnisse seit langem immer feiner entwickelt haben, für Ton-und Bildmedien modifiziert werden? Das Objektiv der Kamera ist ja nicht objektiv, verändert aber in wachsendem Umfang die Art der verfügbaren Quellenzeugnisse. Mehr noch: Audiovisuelle Medien wie das Fernsehen spiegeln nicht nur auf besondere Weise den historischen Prozeß, sondern fügen ihm auch real wirksame neue Randbedingungen hinzu. So ist z. B. mit Recht hervorgehoben worden: „Der Aufschwung der inneramerikanischen und der weltweiten Protestbewegung, der wesentlich zum schließlichen Rückzug der Amerikaner aus Vietnam beitrug, ist ohne die Suggestivkraft der Fernsehbilder nicht zu erklären.“ Die Bedeutung des Westfernsehens für die Geschichte der DDR oder der Fall der Mauer als weltweit bewegendes Fernsehereignis sind weitere zeitgeschichtlich herausragende Beispiele. Zeithistoriker müssen lernen, das Bedingungsgefüge der „Fernsehdemokratie" systematisch in Rechnung zu stellen
Die größte Eigentümlichkeit des zeitgeschichtUchen Quellenzugangs, verbunden mit einer besonderen methodischen Chance, wurde bisher noch nicht genannt: die Zeitzeugenbefragung, das Erinnerungsinterview. Nur die Zeitgeschichte bezieht sich auf Lebende, die befragt werden können, und so ist durchaus bedenkenswert vorgeschlagen worden, „that Contemporary history is best concemed with that period in which there can be profitable interaction between oral testimony and at least some documentation" Man hat sich international angewöhnt, die „Wünschelrute des Hervorlockens“, wie Rothfels das Zeitzeugengespräch so schön genannt hatte, als „Oral History“ zu bezeichnen. Das ist ein Neologismus für eine uralte Sache. Denn das Befragen von Augen-und Ohrenzeugen gehörte immer zur genuin zeitgenössischen Geschichtsschreibung, und so konnte Reinhard Koselleck an Herodot als den altbekannten „Erfinder“ und „unübertroffenen Meister der Oral History“ erinnern
Da sich neuerdings eine umfangreiche Literatur mit dem Quellen-und Methodenzweig der „Oral History“ befaßt kann ich mich hier auf drei Hinweise beschränken. Zunächst: Wer nach 1945 in der Bundesrepublik politische Zeitgeschichte erforschte, hat in der Regel auch zum Instrument der mündlichen Befragung beteiligter Zeitgenossen gegriffen Dabei konnte man nützliche Informationen erhalten, die aber nur im Zusammenhang mit anderen Quellenrecherchen kontrollierbar und verwendbar waren. Die Interviews dienten entweder dem vorläufigen Ersatz für noch unzugängliche Archivalien oder der ergänzenden Information heuristischer oder atmosphärischer Art; im Zentrum aber standen andere Überlieferungen und Arbeitsweisen. Wenn die Zeitzeugenbefragung sich auf Sondersituationen politischer Desorganisation bezieht, in denen der Zufall der Beziehungen erhöhte Bedeutung gewinnt, kann sie allerdings über Ersatz-oder Ergänzungsfunktionen hinaus zu einem Auskunftsmittel ersten Ranges werden. Das gilt z. B. für die Zeit der Desorganisa-tion staatlicher Apparate am Ende des Zweiten Weltkriegs, für die Geschichte deutsch-deutscher Kontakte in der Zeit ohne reguläre staatliche Beziehungen und in mancher Hinsicht besonders deutlich für die Anfangsphase der neuen Bundesländer im vereinigten Deutschland.
Davon ist -zweitens -der „ethnologische“ Zweig der Zeitgeschichte zu unterscheiden, der sich in der Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre, später als in anderen Ländern, als historische Teildisziplin herauszubilden begann und im Verlauf der achtziger Jahre eine sehr große Verbreitung fand, vor allem auch außerhalb der Universitäten. Hier rückten Erinnerungsinterviews in das Zentrum der Arbeitsweise -teils ziemlich unbekümmert, indem man älteren Leuten ein Mikrophon hinhielt und meinte, jetzt bekomme man die „Geschichte pur“, teils auf hohem Niveau, indem darüber nachgedacht wurde, wie man sonst stumme Verhältnisse zum Sprechen bringen kann, und zwar im Dienste alltags-, erfahrungs-und lebensgeschichtlicher Sichtweisen.
Dabei entstanden recht unterschiedliche Strömungen, denen aber eines gemeinsam war: die Erfahrungswelten der Subjekte in die Geschichte hereinzuholen, und zwar nicht hervorgehobener einzelner, sondern der „Masse der Subjekte“, der „Volkserfahrung“. Natürlich haben sich die so orientierten oral historians der Kritik stellen müssen: Wie verläßlich ist das Erinnerungsvermögen der Befragten, wie repräsentativ ihre Auswahl, und wie kann eine überzeugende Vermittlung zwischen der makrohistorischen Ebene der gesellschaftlichen Strukturen mit der mikrohistorischen Ebene der subjektiven Erfahrung gelingen? Dies und anderes wurde und wird skeptisch gefragt. Aber solche Fragen stellen sich die methodisch nachdenklichen Vertreter der „Oral history" auch selbst, und sie haben Lösungen erarbeitet, die die Forschungstechniken der Zeitgeschichte ergänzen und bereichern. In den neuen Bundesländern ist das Interesse daran offenbar besonders groß, weil die früher übergestülpte Orthodoxie ideologischer Geschichtsbetrachtung gerade für die Subjektivität der Geschichtserfahrung wenig oder gar keinen Raum ließ.
Ich möchte -drittens -aber auch hervorheben, daß die Zeitgeschichtsforschung die spontan verlaufende Erfahrungsbildung der Zeitgenossen zwar als Quelle ausschöpfen kann, sie in gewisser Weise aber auch zerstören muß. Denn der Erklärungshorizont des Zeithistorikers ist nicht identisch mit dem Erlebnishorizont des Zeitzeugen. Bereits Max Weber hat dazu das Nötige gesagt: „Stets gewinnt das »Erlebnis, zum »Objekt gemacht, Perspektiven und Zusammenhänge, die im »Erleben eben nicht gewußt werden.“ Wenn der Zeithistoriker „Erleben“ in „Erkenntnis“ transformiert, indem er solche Zusammenhänge und Perspektiven zur Geltung bringt, dann kann das wie eine Verfremdungsoperation wirken und heftige Abwehrreaktionen auslösen. Zwar gilt für Historiker aller Epochen: „Was einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden.“ Aber nur der Zeithistoriker kann die Abwehr der Zeitzeugen zu spüren bekommen. Ich betone das, weil es ratsam ist, sich bei zeithistorischen Analysen auf derartige Spannungen von vornherein einzustellen.
Aufs Ganze gesehen ist die zeitgeschichtliche Quellenlage also nicht schlechter, sondern anders und auch das nur zum Teil. Im übrigen: Wer oder was entscheidet eigentlich über den Wert von Quellen? Sind beispielsweise die Unmassen „Persilscheine“, die in den Entnazifizierungsverfahren beigebracht wurden, eine gute oder eine schlechte Quelle? Das hängt natürlich ganz davon ab, was man wissen will. Will man herausfinden, wie sich die auf diese Weise „Reingewaschenen“ in der NS-Zeit verhalten haben, so wäre das eine ziemlich trübe Quelle -aber eine sehr gute für die Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre. Oder generell (und zugleich mit Spitze gegen das pauschale Reden über den Wert oder Unwert von Stasi-Akten) gesagt: Über den Wert einer Quelle kann immer nur in Relation zur jeweiligen Fragestellung entschieden werden. Und so läßt sich auch über die Quellenlage der Zeitgeschichtsforschung nicht irgendwie abstrakt und pauschal urteilen, sondern nur in Relation zu den Forschungsfragen, die sie sich stellt.
Die zweite große methodologische Anzweiflung, der sich die Zeitgeschichte zu erwehren hatte, hieß: Es mangele ihr an Distanz. Damit ist zunächst die geringe zeitliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand gemeint, und es wird gefolgert, daß im Maße der zeitlichen Nähe auch der innere Abstand schrumpfe. Diese Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wer wollte bestreiten, daß in dem empfindlichen Grenzbereich zwischen Geschichte und Gegenwart die -wie Rothfels sagte -„am stärksten mit Emotionen geladenen Fragen“ traktiert werden. Aber es ist ebenso evident, daß der Unterschied zu früheren Perioden nur graduell, nicht essentiell ist. Denn natürlich kann auch der Blick auf das längst Vergangene, wenn es sich nicht gerade um extrem langweilige „neutrale Partien“ (Ranke) hafdelt, leidenschaftlich bewegen -der Blick auf die Jakobiner z. B. oder die Hexenverfolgung; sogar die Frage, ob ein vor 200 Jahren verstorbener König von Punkt X nach Punkt Y umgebettet werden soll, konnte anno 1991 viele Gemüter heftig erregen. Als Jacob Burckhardt über die Faszination spottete, die das Erlebnis der preußischen Reichsgründung auf die betont nationalpolitisch engagierte „borussische“ Historikerschule ausübte, da befürchtete er eine auf die gesamte Vergangenheit zurückwirkende Tendenzhistorie: bald werde „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/1 orientiert“ sein
Die Fragen, die sich der historischen Erkenntnistheorie stellen, betreffen daher alle Zweige der Geschichte gleichermaßen, nur stellen sie sich für den der Gegenwart nächsten Sproß besonders dringlich. Das sind Fragen wie die nach dem Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit Engagement und Distanzierung Wissenschaft und Politik. Jede dieser Varianten bietet Stoff für weitverzweigte Erörterungen. Hier kann nur angedeutet, aber nicht vertieft werden, welche Sichtweise ich für die überzeugendste halte.
An den Objektivitätskriterien historischen Forschens ist unstrittig, daß die formalen Regeln der Logik und das kontrollierende Eigengewicht des Quellenbefundes Grenzen ziehen, die man nicht verletzen darf. Es gilt aber nicht der Umkehrschluß, daß die Beachtung dieser Regeln „Objektivität“ verbürge. Schon gar nicht sollte man ein zu großes Zutrauen zu den Quellen haben, so als könnten sie aus eigener Kraft historische Erkenntnis konstituieren. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, daß in den neuen Bundesländern nach dem Zerfall des übermächtigen Monopoldeutungssystems allzusehr die Neigung besteht, sich nun gleichsam auf die „Quellen pur“ zurückzuziehen, im Vertrauen auf empirische Objektivität.
Dabei sollte aber bedacht werden, daß ohne die „Konstitutionsleistung des Forschers“ historische Erkenntnisse gar nicht entstehen können. Die Konstitutionsleistung beginnt mit der Wahl der Fragestellungen, womit definiert wird, was überhaupt als wissenswert gelten soll; sie geht weiter mit der Definition der Begriffe, ohne die man nichts begreift, und je nachdem, wie man die begrifflichen Netze knüpft, fängt man unterschiedliche Wirklichkeitselemente ein. Ähnliches gilt für die Bestimmung der Indikatoren, mit denen man Untersuchungsobjekte empirisch erfaßbar und ihre Veränderungen im Zeitverlauf beobachtbar macht. Zur Konstitutionsleistung des Forschers gehört stets auch die Entscheidung, wann er sein Begründungsverfahren abbricht, weil er die Sache als hinreichend begründet ansieht, obwohl immer noch weitere Randbedingungen denkbar wären und bedeutsam sein könnten. Dazu gehört ferner der zumeist schwierigste und am stärksten kontroverseträchtige Forschungsvorgang: die Gewichtung von Wirkungsanteilen in komplexen Wirkungszusammenhängen. Über Methoden experimenteller Versuchsanordnung, mit denen sich einzelne Wirkfaktoren isolieren und gewichten lassen, verfügen die Historiker wegen der Unwiederholbarkeit der Vergangenheit nicht, und auf dem komparativen Weg kommen sie nur in dem begrenzten Rahmen weiter, den die ceterisparibus-Klausel setzt. Bei alledem haben die Quellen ein „Vetorecht“ (R. Koselleck): An ihnen muß sich die Gedankenarbeit bewähren. Aber sie schreiben diese Arbeit nicht vor, und sie leisten sie nicht selbst.
Objektivität in dem Sinne, daß man die Geschichte in einer von den Gesichtspunkten und Konstitutionsleistungen des Historikers unabhängigen Weise erkennen könnte, ist also grundsätzlich unmöglich. Um so wichtiger ist dann die nächste Frage, in welchem Verhältnis Wissenschaft und Politik, oder wie es früher hieß: Wissenschaft und Leben, stehen sollen Denn je nachdem, wie dieses Verhältnis beschaffen ist, ändern sich Prinzipien und Qualität dieser Konstitutionsleistung.
Der Marxismus-Leninismus war -dem Anspruch nach -ein Versuch, die Politik und das Leben der Wissenschaft unterzuordnen. Marx und Engels be-anspruchten ja, den utopischen Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben. In der DDR galt es bis zuletzt als ein großer Vorzug, daß die politische Praxis von wissenschaftlich entdeckten Gesetzen abgeleitet sei. Der frühere Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR hat kürzlich in einer nachdenklichen Rückschau vorgeschlagen, diese Sichtweise umzukehren und gerade einen Grundfehler darin zu sehen, daß Wissenschaft und Politik so eng aufeinander bezogen waren Was in der Sphäre der Wissenschaft legitim sei (die Entwicklung in sich geschlossener Zentraltheorien zum Beispiel, auch ihre polemische Überbetonung, ja sogar ihre Absolutsetzung im Überschwang der Entdeckerfreude), das sei im Bereich der politischen Praxis gefährlich und fatal.
Ich möchte noch weiter gehen und betonen, daß auch in der Sphäre der Wissenschaft die Denkschulen am meisten überzeugen, die sich vom Objektivismus verabschiedet haben, insofern sie anerkennen, daß Wissenschaft immer nur „relationale Erkenntnis“ (O. G. Oexle) hervorbringt -in Relation zu dem Entwurf, in dessen Licht die Ergebnisse zum Vorschein kommen, wobei dem Entwurf immer die Begrenztheit der Forscherperspektiven anhaftet. Dagegen wurzelt der historische Materialismus -wie übrigens auch der geschichtswissenschaftliche Positivismus -in einer objektivistischen Fehleinstellung des 19. Jahrhunderts.
In dem langen Streit um die wechselseitige Über-oder Unterordnung von Wissenschaft und Leben hat es auch die gegenläufige Tradition gegeben, besonders exponiert bei Nietzsche und denen, die sich auf ihn beriefen, nämlich die Forderung: Die Wissenschaft müsse sich dem „Leben“ -der Welt des Handelns und Entscheidens -unterordnen. Das ist nun ebenfalls eine sehr gefährliche Sicht, denn da wird Wissenschaft auf nebelhafte Begriffe bezogen, die Einfallstore der Irrationalität sein können -bis hin zu der Wahnvorstellung, es gebe eine besondere „deutsche Physik“.
Natürlich hat der Leser längst bemerkt, daß die -insoweit an Max Weber anknüpfende -Argumentation auf die Vorstellung hinausläuft, daß die moderne Welt eine in verschiedene, jeweils autonome Sphären differenzierte Welt ist, daß die Wissenschaft einen dieser Bereiche ausmacht, der die anderen Bereiche weder beherrschen kann und darf, von denen sie aber auch ihrerseits nicht beherrscht werden darf. Das ergibt ein spannungsreiches Nebeneinander von Wissenschaft und Politik in „Unterscheidung und Verknüpfung“ (O. G. Oexle). In Unterscheidung, weil Wissenschaft als eigenständiger Bereich menschlicher Erkenntnis über autonome Prinzipien verfügt, die nicht verletzt werden dürfen. In Verknüpfung allein schon deswegen, weil Wissenschaft sich für gesellschaftliche Ordnungen einsetzen muß, in denen diese Prinzipien respektiert werden. Aber auch darüber hinaus geschieht der Forschungsablauf unter Gesichtspunkten und mit Voraussetzungen und Folgen, die die Wissenschaft mit anderen Lebensbereichen verknüpfen.
Wir kamen von der Frage her, ob die Zeitgeschichte wegen fehlender Distanz weniger wissenschaftlich sei als die , andere Geschichte. Das hat zu einem Exkurs über Objektivitätskriterien geführt. Er schien nützlich, weil das Verhältnis von außerwissenschaftlichen Interessen und geschichtswissenschaftlicher Arbeit vor allem in der Zeitgeschichte verheerend zu Buche schlagen kann Zugleich sollte der Leser davon überzeugt werden, daß das notwendige Minimum an Distanz zum Untersuchungsobjekt sich nicht am zeitlichen Abstand bemessen läßt, sondern am Maß der Produktivität der Fragen, der logischen Stringenz der Argumentation, der quellenmäßigen Kontrollierbarkeit der Ergebnisse, kurz: am Maße der Beachtung der Autonomie und der methodischen Regeln der Wissenschaft.
Und doch gibt es einen wirklichen Nachteil, einen spezifischen Mangel, mit dem die Zeitgeschichte leben muß. Das hat nichts mit dem Kriterium der inneren Distanz zu tun, sondern mit der Unabgeschlossenheit zeitgeschichtlicher Verhältnisse und Verläufe: Der Zeithistoriker kennt die langfristigen Folgen und Nebenfolgen in der Regel noch nicht und kann sie daher auch nicht in die Reflexion einbeziehen. Das vermindert die Chance, die Dinge in Weitwinkel-oder Vogelperspektive zu sehen, wo sie in größeren Zusammenhängen und auf höherem Syntheseniveau sichtbar werden Am Privileg der anderen Historiker, immer auch schon die Folgen zu kennen, haben die Zeithistoriker nicht oder nur ansatzweise teil; sie stehen nicht auf den hohen Schultern einer langen Vergangenheit, sondern teilen die „niedrige Augenhöhe des Zeitgenossen“
Ein einziges Beispiel genügt, um zu zeigen, was es heißt, ob man mit oder ohne Kenntnis der Folgen schreibt: Die Geschichte der DDR wird in Kenntnis ihres Endes aufschlußreicher geschrieben werden können als zuvor. Nicht in dem Sinne, sie nun teleologisch auf das Jahr 1989 hin zu bürsten (das wäre methodisch von zweifelhaftem Wert und würde an Burckhardts Spott über die Tendenz-historie nach 1871 erinnern), sondern so, daß in Kenntnis der Folgen die Fragen informierter, die Gewichtungen fundierter und das Niveau der argumentativen Verknüpfung höher sein können.
Wie in einem Akt ausgleichender Gerechtigkeit stiftet die zeitliche Nähe des Zeithistorikers aber auch einen besonderen Vorteil. Friedrich Meinecke schrieb 1946 im Rückblick auf die „deutsche Katastrophe“, schriftliche Quellenzeugnisse könnten den selbsterlebten „Hauch der Zeitatmosphäre“ niemals voll ersetzen Hans Rothfels hob 1953 hervor, die „Situation des Miterlebens“ könne die Arbeit des Historikers erheblich erleichtern, da die „Nähe unter Umständen eine eigentümliche Hebelkraft“ habe Alan Bullock erklärte nach Abschluß seiner Arbeit an der Doppelbiographie über Hitler und Stalin: „Ich bin ein alter Mann, aber das ist mein Vorteil. Ich habe die Epoche erlebt, ich habe sie in den Knochen und in den Fingerspitzen.“ Was diese drei Zeugnisse verbindet, ist der Hinweis auf ein Privileg des Zeit-historikers: Er verfügt nicht nur über günstige Chancen des Recherchierens (da die geringe Zeit-Distanz die Überlieferung verdichtet), sondern auch über den Vorzug der Zeugenschaft: Die durch Beteiligung gewonnene Geschichtserfahrung kann heuristisch ungewöhnlich fruchtbar sein Allerdings fügte Bullock hinzu, und dies hebt wieder die Bedeutung der nur ex post zu gewinnenden perspektivischen Fluchtpunkte hervor: „... und ich wurde alt genug, um das Ende der Story zu kennen“.
III. Bilanz der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung bis zur Wende von 1989/90
Wir waren von methodologischen Anzweifelungen ausgegangen, gegen die sich die Zeitgeschichte behauptet hat. Das hat zu einigen Überlegungen geführt, die der Theorie historischen Erkennens zuzurechnen sind. Im nächsten Abschnitt richtet sich der Blick auf forschungspraktische Fragen, so daß nun vornehmlich von Themenfeldern die Rede ist (die sich freilich nicht ganz von den entsprechenden Verfahrensweisen, also den methodischen Aspekten, trennen lassen).
Zunächst ist daran zu erinnern, daß die bundesrepublikanische Zeitgeschichtsforschung sich als Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Weimarer Vorgeschichte konstituiert hat. Da bereits kurze Zeit nach dem Ende des NS-Regimes große Massen seiner schriftlichen Kommunikation der Forschung zugänglich wurden, konnte man mit den hergebrachten Methoden einer auf das Aktenstudium gestützten politischen Geschichtsschreibung weit kommen.
Einer der zeitgeschichtlichen Zweige war aber von vornherein mit einer deutlichen Neuerung verbunden. Er öffnete sich der Politikwissenschaft westlich-liberaldemokratischer Herkunft, und das hieß nicht nur: Einzug ungewohnter systematischer Begriffe und Analyseverfahren, sondern das bedeutete zugleich: radikale Kritik an der jüngeren deutschen Vergangenheit, an Pluralismusscheu und Obrigkeitsfixierung. Wissenschaftliche und politische Positionen verknüpften sich hier zum Muster einer betont „kritischen Zeitgeschichte“. Einen Markstein auf diesem Weg bildete Karl Dietrich Brachers in den fünfziger Jahren entstandenes Buch „Die Auflösung der Weimarer Republik“. Beim Lesen spürt man förmlich die Aversion des Verfassers gegen „Schicksals“ -oder „Tragik" -Kategorien, mit denen traditioneller verfahrende Historiker die katastrophale Vergangenheit aufzuarbeiten suchten.
Lange machte die Zeitgeschichte beim Schwellen-jahr 1945 halt, konzentrierte sich auf Weimar, Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. In diesem Fragehorizont durchlief sie auch die drei großen Phasen, die für den Gang der Geschichtswissenschaft in der , alten Bundesrepublik im ganzen charakteristisch sind Sie lassen sich in grober Schematisierung und eher stichwortartig auf folgende Weise bilanzieren:
Die erste Phase bezieht sich auf die fünfziger Jahre und weist -in der Zeitgeschichte allerdings weniger als in anderen historischen Disziplinen -noch deutliche Züge der Kontinuität zum Historismus auf. Es ist üblich geworden, für diese Traditionslinie Merkmale wie diese zu nennen: Konzentration auf Politik-und Geistesgeschichte, überwiegend staatsgläubig betrieben, mit einer stark individualisierenden hermeneutischen Verstehenslehre, in der ideelle Impulse betont, hingegen sozialökonomische und sozialkulturelle Bedingungen weniger oder gar nicht beachtet werden. Diese Charakterisierung ist nicht eben unzutreffend -sofern zugleich bedacht wird, daß sie verengte Varianten der großen und vielfältigen Strömung des Historismus im kritischen Visier hatte.
Die zweite Phase, die sechziger und siebziger Jahre, sind durch heftige Erschütterungen gekennzeichnet, hervorgerufen durch Theoretisierung der Methoden, Hereinholen der Sozialwissenschaften, Bevorzugung der Gesellschafts-und Wirtschaftsgeschichte, der überindividuellen Strukturen und Prozesse, des funktionalen Erklärens statt des hermeneutischen Verstehens, des Analysierens statt Erzählens, verbunden mit einem Aufschwung quantifizierender Verfahren usw.
Vehemente Theoriedebatten und Richtungskämpfe fanden damals statt. Wissenschaftsinterne Entwicklungen verbanden sich mit einem kulturellen Umbruch, der -generationsspezifisch beschleunigt -gesellschaftliche Ordnungskategorien und Wertpräferenzen verschob. Eine außerordentliche Expansion des Hochschulwesens wirkte wie ein Verstärkereffekt, denn so stiegen die Etablierungschancen der Neuerer. Es wird oft gesagt, die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft habe sich in dieser Phase stark pluralisiert, und in der Tat erweiterte sich das Spektrum der Möglichkeiten geradezu ruckartig, einschließlich einer auf-schäumenden Konjunktur neomarxistischer Schulen. In mancher Hinsicht müßte aber eher von Polarisierung als von Pluralisierung die Rede sein, wie sich am Beispiel der Kontroversen um den (in die Defensive gedrängten) Totalitarismusbegriff und den (uferlos inflationierten) Faschismus-begriff zeigen ließe
Die dritte Phase umfaßt die achtziger Jahre. Da wurden zunächst mancherlei Überspitzungen und Übertreibungen zurückgenommen oder abgeschliffen. Nachdem z. B. das Genre der Biographie sich seiner heftigen Kritiker kaum noch zu erwehren vermocht hatte, erzielte es nun wieder -quer durch die historischen Epochendisziplinen -große Erfolge: von Christian Meiers Cäsar (1982) über Lothar Galls Bismarck (1980) bis zu Hans Peter Schwarz’ Adenauer (2Bde. 1983, 1991). Man mußte sich auch nicht mehr (wie Waldemar Besson 1970 halb im Emst) entschuldigen, wenn man noch immer über Außenpolitik schrieb oder sich weigerte, in den internationalen Beziehungen lediglich Funktionsimperative eines angeblichen „Primats der Innenpolitik“ zu sehen.
Zugleich entstanden nun Gegen-und Ergänzungsströmungen, die in die zum Teil menschenleer gewordenen Strukturlandschaften der Gesellschaftsgeschichte das Subjekt, den Alltag, die Erfahrungsgeschichte hereinholten. Dieses Interesse galt nicht mehr so sehr der Makroebene der Gesamtgesellschaft, sondern der Mikroebene überschaubarer Lebenswelten. Als Nachbarwissenschaften wurden nicht mehr so stark Soziologie und Ökonomie, sondern zunehmend Ethnologie oder Kulturanthropologie bevorzugt. Auch in dieser Phase begleitete ein Wandel der sozialkulturellen Zeitsignatur die innerwissenschaftliche Entwicklung: Das Zutrauen in die Erklärungskraft von Zentraltheorien schrumpfte ebenso wie der Systemoptimismus, in dessen Sog grundsätzlich alles als fortschrittlich planbar oder technizistisch machbar gegolten hatte. Das Inkommensurable und Kontingente, das Erlebte und Gelebte, wurde wieder stärker in das historische Denken einbezogen. Zwar hat die alltagsgeschichtliche Woge auch einseitige, sogar abwegige Ansätze nach vom gespült; im ganzen ist die Ergänzung der Ereignis-und der Strukturgeschichte durch die -grundsätzlich nicht neue, doch neu akzentuierte -Dimension der Erfahrungsgeschichte aber zweifellos zu begrüßen
Mit dieser Phasen-Einteilung läßt sich der Weg der westdeutschen Geschichtswissenschaft also grob schematisieren. Das gilt auch für den Gang der Zeitgeschichte, jedenfalls auf ihrem bis zur Grenzmarke von 1945 reichenden Forschungsfeld. Diese Zäsur wurde lange nicht oder nur vereinzelt überschritten. Von einigen Pionieren abgesehen, ist die Zeit nach 1945 eigentlich erst um 1970 ein Arbeitsfeld der Historie geworden, das dann allerdings rasch expandierte Neben einer wachsenden Zahl außeruniversitärer Forschungseinrichtungen haben vornehmlich die Universitäten diese Forschungen getragen: In wohl kaum einem anderen Land gibt es einen so großen auf die Zeitgeschichte spezialisierten Universitätsbereich wie in der Bundesrepublik Dies hängt mit der Geburt der westdeutschen Zeitgeschichte aus dem Geist der Vergangenheitsbewältigung zusammen. Das dabei aufgebaute Forschungspotential hat sich spät, dann aber intensiv der „neueren Zeitgeschichte“ zugewandt.
Der weit überwiegende Teil der einschlägigen Studien richtete sich in der Dekade 1970-1980 auf die Jahre der Besatzung, während ein schmalerer Forschungsfluß auf die fünfziger Jahre auszugreifen begann Die Besatzungszeit ist daher die mit Abstand am besten erforschte Nachkriegsperiode. Aber auch da zeigt sich ein Intensitätsgefälle, das proportional zum (west) alliierten Machtgefälle verlief. Am frühesten und gründlichsten wurden die Verhältnisse in der amerikanischen Zone untersucht. Dabei wirkte sehr förderlich, daß die riesigen Aktenberge der amerikanischen Militärregierung (die sogenannten OMGUS-Akten) in verfilmter Form leicht zugänglich wurden. Dagegen blieb die französische Zone bis Mitte der achtziger Jahre nahezu „vergessen“. Seither wird viel nachgeholt, und es zeichnen sich erhebliche Korrekturen an der zähen Legende ab, diese Zone sei eine besonders schikanöse Ausbeutungskolonie gewesen
Seit etwa 1980 hat sich die Forschungslandschaft nicht erweitert, sondern auch nur quantitativ qualitativ verändert. Einzelstudien, die auf die Adenauerzeit und darüber hinaus greifen, haben an Zahl, Breite und Tiefe stark gewonnen Parallel dazu sind erste große Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik erschienen ImZuge dieser Erweiterung haben frühere Problem-fassungen an Bedeutung verloren, wie das Beispiel der größten und schärfsten Debatte der älteren Observanz zeigt. Als um 1970, inmitten der Richtungskämpfe der oben vorgestellten zweiten Phase, die Besatzungszeit in das historische Blickfeld rückte, prallten zwei Interpretationsrichtungen aufeinander. Die eine würdigte die Vor-und Frühgeschichte der Bundesrepublik als das Ende des deutschen Sonderwegs und den Eintritt in die westliche Normalität. Die andere setzte mit umgekehrter Stoßrichtung an und stellte dieselbe Geschichte unter den Leitgedanken des Restaurationsverdikts. Diese auf die Alternative „Restauration oder Neuordnung“ fixierte Debatte ist in den achtziger Jahren stark relativiert und von einer umfassenderen Periodisierungsdiskussion abgelöst worden, die sozusagen im zeitlichen Längsschnitt und sachlichen Querschnitt die jeweiligen Mischungsverhältnisse von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu bestimmen sucht
Wenn auch nicht unangefochten, so hat sich für die Analyse der Veränderungsrichtung immer stärker der Modernisierungsbegriff durchgesetzt. In vieler Hinsicht gewann dabei das Ende der fünfziger Jahre Zäsurbedeutung während die politische Epochengrenze des Jahres 1945 -in übergreifende Wirkungszusammenhänge eingeordnet -viel von ihrer früheren Konnotation als „Stunde Null“ verlor
Aufs Ganze gesehen erbrachte das Forschungsjahrzehnt seit 1980 einen vielfältigen Ertrag, der sich nur schwer in wenigen Punkten bilanzieren läßt. Charakteristisch dürfte aber folgendes sein: 1. Zwar standen Themen der deutschen Geschichte im Vordergrund, aber von bedenklichen nationalen Blickverengungen hat die westdeutsche Zeitgeschichte sich weitgehend freigehalten. Internationale Perspektiven blieben auf vielfältige Weise gesichert. Mit gleitenden Übergängen ist die Nationalgeschichte zunächst durch den Bezugsrahmen erweitert worden, den die intervenierenden Siegermächte setzten, dann traten die internationalen Dimensionen des innerdeutschen Konflikts stärker hervor, vor allem aber hat der steigende Integrationsgrad, den die politische, militärische, ökonomische und kulturelle Verflechtung des Westens bewirkte, rein „deutsche“ Problemfassungen zusehends obsolet gemacht. Es ist bezeichnend, daß die führende Fachzeitschrift zu Beginn der achtziger Jahre die europäische Integration mit großem Nachdruck als mittel-und langfristige Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung reklamierte Hervorzuheben ist auch der bedeutende Anteil angloamerikanischer Historiker an der Erforschung der deutschen Nachkriegsgeschichte im internationalen Zusammenhang. Die Deutschen Historischen Institute in London und Paris, Rom und Washington werden zunehmend auf zeitgeschichtlichem Gebiet tätig. 2. Es dominierte zunächst -auch noch in den siebziger Jahren -die Politikgeschichte, und so verfügen wir über einen guten Kenntnisstand, was z. B. die politischen Institutionen, die Verfassungsordnung, die Parteien und Verbände, auch den Föderalismus betrifft. Hier hat die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien förderlich gewirkt -ein seit 1951 bestehendes und sich durch Kooptation jeweils selbst erneuerndes wissenschaftliches Gremium Auch die von den Parteien bzw.den Parteistiftungen (Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stif-tung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Hanns-Seidel-Stiftung) getragenen Archive spielen bei der Sammlung und Erschließung von Quellen eine erhebliche Rolle und beteiligen sich zum Teil auch selbst an der historischen Parteienforschung. 3. Studien zur Wirtschafts-, Sozial-und Kultur-politik schufen gleitende Übergänge von der Politik-zur Gesellschaftsgeschichte Dabei hat insbesondere das Institut für Zeitgeschichte das Genre der „politischen Sozialgeschichte“ gepflegt, das Interdependenzen von Gesellschaft und Politik zu erfassen sucht, und zwar vorwiegend in Konzentration auf kleine Räume, auf Regional-und Lokal-untersuchungen 4. Einen starken Aufschwung haben in jüngster Zeit Forschungsrichtungen genommen, die sich den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen der Gesellschaft in ihrem Eigengewicht zuwenden, also nicht in einem primär politikgeschichtlichen Blickwinkel. Mit einiger Verzögerung haben somit Tendenzen, die für die oben skizzierte zweite Phase in der Entwicklung der westdeutschen Geschichtswissenschaft kennzeichnend waren, die jüngste Zeitgeschichte erfaßt. Exemplarisch kann auf ein arbeitsteiliges Projekt hingewiesen werden, das den gesellschaftlichen Wandel der fünfziger und frühen sechziger Jahre u. a. unter den Aspekten der Verkehrsentwicklung, der Ernährung und der Freizeitgewohnheiten untersucht. Dabei werden sozialgeschichtliche Methoden, die für frühere Epochen intensiv erprobt sind (wie z. B. die Rekonstruktion der Budgets privater Haushalte), in die Zeitgeschichte hineingenommen
Ein weiteres Beispiel bilden Forschungen zur Entproletarisierung des Arbeiterlebens, wodurch in Umkehrung früherer Klassenbildungsprozesse ein so neuer und wichtiger Vorgang wie die Klassen-Entbildung erkennbar und belegbar geworden ist Überhaupt hat sich gezeigt, daß in der Schrumpfung bzw. Auflösung traditioneller Sozial-milieus ein wichtiges Merkmal der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte liegt. Das gilt auch für die sozialkulturelle Binde-und Prägekraft der kirchlichen Milieus, in denen institutionalisierte Sinndeutung, verhaltensprägende Mentalität und individuelle Wertbeziehung früher eng miteinander verflochten waren. Forschungseinrichtungen wie die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte und ihr katholisches Gegenüber „Kommission für Zeitgeschichte“ haben diesen Wandel in den Blick genommen. Auch außerhalb dieser Institutionen expandiert kirchliche Zeitgeschichte als ein zur Sozialgeschichte der Religion sich öffnender Forschungszweig wobei Erweiterungen des Fragens und Verfahrens nachvollzogen werden, die für frühere Epochen der Neueren Geschichte längst erprobt sind Daß die Zeitgeschichte inzwischen ihren spezifischen Oral-History-Vorteil wahrgenommen hat, um auf diese Weise in die Mentalitäts-und Alltagsgeschichte tiefer einzudringen, ist oben schon vermerkt worden.
Welche Desiderate hinterläßt der „Vor-Vereinigungs-Stand“ der westdeutschen Zeitgeschichte? Da möchte ich zweierlei hervorheben. Bedenkt man, wie außerordentlich tiefgreifend Naturwissenschaft und Technik die „Epoche der Mitlebenden“ verändert haben, so fällt auf -auch im Vergleich zur Forschungspraxis in Frankreich und den angelsächsischen Staaten-, daß die Naturwissenschafts-und Technikgeschichte nur schmal in die allgemeine Zeitgeschichte einbezogen worden ist. Es ist ganz symptomatisch: Eine die Umstände des Lebens so tief und vielfältig umgestaltende Interdependenzenkette wie beispielsweise die, welche sich hinter dem Begriff der Massenmotorisierung verbirgt, ist bisher eher beiläufig wahrgenommenund kaum unter leitenden Fragen erforscht worden Wer über den „Schiene-Straße-Konflikt“ -eine der großen, auch unter aktuellen Gesichtspunkten bedeutsamen Kontroversen der fünfziger Jahre -etwas erfahren will, muß in der zeitgeschichtlichen Literatur mit der Lupe suchen
Gewiß tut sich neuerdings manches. So hat eine Historikergruppe die Geschichte der in den fünfziger Jahren gegründeten -außeruniversitär betriebenen, staatlich finanzierten -Großforschungseinrichtungen untersucht: Das reicht von Plasmaphysik über Luft-und Raumfahrtforschung bis zur biomedizinischen Großforschung Aber das sind gleichsam trigonometrische Punkte, die die Dimensionen des unerforschten Geländes um so deutlicher hervortreten lassen. Anscheinend hat der geisteswissenschaftliche Hintergrund, dem die westdeutschen Zeithistoriker -einschließlich der Vertreter einer stärker sozialwissenschaftlich orientierten Historie -zumeist entstammen, das Interesse an Naturwissenschafts-und Technikgeschichte gedämpft und eine Überbrückung der „zwei Kulturen“ (Charles Snow) erschwert. , Reine sozialwissenschaftliche Disziplinen zeigen in dieser Beziehung weniger Berührungsscheu und erproben den Brückenschlag häufiger
Ein weiterer Mangel liegt etwas komplizierter; er ließe sich etwa so formulieren: Die Strukturierung der Untersuchungsthemen richtet sich weit stärker auf die Nachgeschichte vergangener als auf die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen So wird z. B. die ältere -problemlösende, soziale Sprengsätze entschärfende -Wirkungsdynamik des Wirtschaftswachstums viel aufmerksamer ins Auge gefaßt als ihre problemerzeugende Dimension, die doch heute -z. B. in Form der ökologischen Folgen -auf den Nägeln brennt
Allgemeiner gesagt: Die Zeitgeschichtsforschung hat in Überwindung der steril gewordenen Restaurationsdebatte die modernisierungstheoretischen Lektionen gründlich gelernt -zögert aber, das, was in der gewiß diffusen Diskussion über die „Postmoderne“ den seriösen Kem ausmacht, zur Kenntnis zu nehmen und heuristisch umzusetzen. Es wird aber wohl unumgänglich sein, eine Synthesenstufe zu erreichen, auf der „Modernisierung“ nicht nur als Lösung, sondern auch als Problem in den Blick kommt.
IV. Perspektiven der Zeitgeschichtsforschung im vereinigten Deutschland
Das Ende des Ost-West-Konflikts und somit auch der Teilung Deutschlands im entzweiten Europa verschiebt die Lage der zeitgeschichtlichen Forschung. Neue Quellen sind in großem Umfang zugänglich geworden. Die Einzelforschung steht vor einer Fülle neuer Themen und Probleme. Neue Chancen zur übergreifenden Synthesebildung und zur Bestimmung epochaler Zusammenhänge tun sich auf. Denn die Augenhöhe der Zeithistoriker ist gestiegen: Sie überblicken jetzt Folgen und Wirkungen, die zuvor im Schoß der Zukunft verborgen waren. Aus (beliebigen) Erwartungen sind (kontrollierbare) Erfahrungen geworden. Daher wird die Zeitgeschichte in ihren Haupt-und Wendepunkten neu zu überdenken sein. Das schließt eine kritische Auseinandersetzung der zeithistorischen Forschung mit sich selber ein: Was sie in den vergangenen Jahrzehnten hervorgebracht hat, ist nun auf einen Prüfstand getreten. Dabei gibt es aus mancherlei Gründen viel Anwartschaft auf das Prädikat „gewogen und zu leicht befunden Einen dieser Gründe hat Ranke mit kritischem Blick auf den Zeithistoriker Gervinus benannt: „daß man sich über den Weg der Zukunft irren und entsprechend die Zeitgeschichte falsch gewichten kann“
Zu den dringlichen Desideraten der Zeitgeschichte vor dem Horizont der Wiedervereinigung gehört es, die Chancen zu nutzen, die sich aus den neuen, empirisch und methodologisch günstigeren Umständen für die Erforschung der Geschichte der SBZ/DDR ergeben. Das sollte aber weder im „Schnellverfahren“ (H. Möller), noch zu sehr im Banne von Introspektion und Selbstbezogenheit geschehen. Vielmehr ist es ratsam, die Geschichte der SBZ/DDR in einer Reihe übergreifender Zusammenhänge zu sehen, die im folgenden nur kurz angedeutet werden können
Das ist zunächst der gesamtdeutsche Zusammenhang. Er betrifft die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, aber mehr noch die Ebene der Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Staaten. Sie bildeten in vieler Hinsicht eine „dialektische Einheit“, wie Karl Dietrich Erdmann hervorgehoben hat Man kann daher die eine Seite nicht voll in den Blick nehmen, ohne auch die andere einzubeziehen. Weitere Chancen eröffnet das methodische Verfahren des deutsch-deutschen Vergleichs. Sehr zugespitzt könnte man sagen, daß die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR eine geradezu ideale Versuchsanordnung für vergleichende Studien bietet, da Deutschland wie in einem Experiment getrennt worden ist: Man nehme eine nationale Einheit, teile sie zwecks Territorialisierung alternativer gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe und sehe zu, was dabei herauskommt.
Vergleichen heißt bekanntlich nicht gleichsetzen, sondern Herausarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten bei größtmöglicher Präzisierung der Untersuchungskriterien In diesem Sinne wird es ebenfalls wichtig sein, die nationalsozialistische und die kommunistische Diktatur in Deutschland systematisch miteinander zu vergleichen Gewiß, viele Fragen werden sich auf der Bezugsebene Nationalsozialismus-Bolschewismus kompatibler stellen lassen als im begrenzte-ren Vergleichsfeld von NS-Diktatur und SED-Diktatur. Aber der immer deutlicher vernehmbare Versuch, diese Vergleichsebene von vornherein mit dem Argument abzuwehren, der Nationalsozialismus sei ein autochthones, die SED-Herrschaft hingegen ein oktroyiertes Produkt der deutschen Geschichte, ist als sublime Apologie zurückzuweisen. Der Struktur-und erfahrungsgeschichtliche Diktaturvergleich ist unter beiden Kontextbedingungen dringlich und sinnvoll. Und im übrigen wäre ja erst noch herauszufinden, inwieweit langfristig wirksame (und auch: im künstlichen Rückgriff geschaffene) Traditionsbestände der deutschen Geschichte in die SED-Diktatur hineingewirkt und sie gestützt haben.
Dies führt zu dem Desiderat, die DDR in Langzeitzusammenhänge der deutschen und europäischen Geschichte einzuordnen. Welche Kontinuitätslinien setzte sie fort, welche brach sie ab? Soweit diese Linien biographisch gezogen werden können, treten sie deutlich und anschaulich hervor. So ist z. B. die Einführung der „Jugendweihe“ mit Ulbrichts Prägung in Leipziger Freidenkerkreisen vor dem Ersten Weltkrieg verbunden; die von Honecker bis zur Immobilität des Staatshaushalts getriebene Subventionspolitik verharrte auf Vorerfahrungen und Bedürfnisdefinitionen aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Schwieriger und strittiger sind komplexe Thesenbildungen wie die, daß die DDR als die verstaatlichte Form bestimmter Traditionen der Arbeiterkulturbewegung zu definieren sei (H. Groschopp).
Keinesfalls darf die Prägekraft der internationalen Beziehungen und Zusammenhänge vernachlässigt werden. Das gilt für die Ostintegration der SBZ/DDR, die eine engere Verknüpfung zwischen deutscher und osteuropäischer Zeithistorie wünschenswert macht. Das gilt aber noch mehr mit Blick auf die Westintegration der Bundesrepublik. Zwar wird die Analyse der Konkurrenzbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den beiden deutschen Staaten ein wichtiges Aufgabenfeld der Zeitgeschichtsforschung im vereinigten Deutschland sein; aber dabei darf nicht in den Schatten treten, daß das Gesamtspektrum der Westverflechtung, insbesondere der über die Jahrzehnte steigende westeuropäische Integrationsgrad, für die westdeutsche Geschichte die weitaus größere formative Bedeutung hatte. Eine angemessene Bearbeitung der europäischen Einigung ist daher auch künftig eine erstrangige Aufgabe der Zeit-historie. Dabei werden sich im einzelnen interessante Gewichtungsfragen stellen: Welche Wirkungsanteile sind den Prozessen der europäischen Einigung zuzurechnen und welche der „dialektischen Einheit“ deutsch-deutscher Konkurrenzbeziehungen?
Oben war davon die Rede, daß die „doppelte Zeit-geschichte“, von der Karl Dietrich Bracher im Hinblick auf die „alte’ Bundesrepublik gesprochen hat, sich durch den Beitritt der DDR zur dreifachen Zeitgeschichte ausgeweitet hat. Es ist also die auf längere Sicht ganz unausweichliche Aufgabe entstanden, die drei Zeitgeschichten des vereinigten Deutschland in ein Relationsgefüge zu bringen. Zentrale Deutungsachsen werden zu suchen sein, die geeignet sind, die drei Zeitgeschichten sinnvoll miteinander zu vermitteln und zu verknüpfen, ohne sie auf unzulässige Weise zusammenzuschieben und spezifische Differenzen zu verwischen. Unschwer läßt sich vermuten, daß diese Großaufgabe -nichts geringeres als eine Art innerer Wiedervereinigung der Zeitgeschichte -über kurz oder lang heftige Historikerdebatten auslösen wird.
Die ersten Startlöcher sind bereits gegraben. So bieten einige Historiker, die vor der Wende als Bannerträger der SED hervorgetreten waren, jetzt in Aufsatzserien den „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ (1945-1948) als Deutungsachse an: Dieser Weg habe den Nationalsozialismus zu überwinden, die Deutschen vor den Irrwegen, die in die Adenauerzeit und die Ulbricht-Ära abzweigten, zu bewahren und das „Neue Denken“ Gorbatschows vorwegzunehmen versucht. Die schärfste Gegenposition gegen eine so klitternde Trigonometrie der drei Zeitgeschichten nimmt die Abwandlung eines bekannten Spruchs ein: never change a winning history. Dann würde nur die Geschichte der (alten) Bundesrepublik fortgeschrieben -mit einer Fußnote für die DDR.
Wie auch immer diese Debatten geführt werden, sie lassen sich nicht von säkularen Perspektiven ablösen. Denn die Zeiten, die die Zeitgeschichte dimensionieren, sind tief gestaffelt. Merkmale, die in der „Epoche der Mitlebenden“ neu auftreten, verbinden sich mit Eigenschaften, die dauerhaft vorgeprägt wurden; und beides läßt sich nur in langfristiger Perspektive unterscheiden und bestimmen. Die Zeitgeschichte gleicht einem ausgedehnten Bahnhofsbereich, in dem kurze und lange Züge aus verschiedenen Richtungen nach sehr unterschiedlich langer Fahrtdauer eintreffen. „Zeitgeschichte“ sollte sich daher niemals zwischen die Grenzpfähle exklusiver Definitionen sperren lassen, womöglich mit immer kleineren zeitlichen Segmenten, sondern im engen Verbund mit der allgemeinen Geschichtswissenschaft eine bewegliche Arbeitsteilung suchen.