I. Einleitung
Wenn es zutrifft, daß der Gang der Geschichte wesentlich durch das Handeln der Menschen bestimmt wird, und wir von den Erkenntnissen der neueren Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung ausgehen, daß auf der individuellen wie kollektiven Ebene unsere Kompetenz zu sozialem Handeln in ihrer Spezifik Ergebnis von gesellschaftlich und historisch spezifischen Sozialisationsbedingungen und -erfahrungen ist, dann ist es von besonderem Interesse, nach den Sozialisationsverläufen in der Gesellschaft der ehemaligen DDR zu fragen. Der Sozialisationsbegriff bezeichnet die Gesamtheit der für die Persönlichkeitsentwicklung relevanten äußeren und inneren Bedingungen und Prozesse. Er ist ein erfahrungswissenschaftlicher, kein normativer Begriff und geht weit über den Begriff der intendierten Erziehung hinaus, ja die faktische Sozialisation weicht wohl immer von den pädagogisch geplanten Bildungszielen ab und kann sogar in Widerspruch zu ihnen treten
So ist für die DDR-Gesellschaft der Befund offensichtlich, daß sich die Menschen trotz eines sowohl ideologisch als auch wissenschaftlich weit entwikkelten und abgesicherten formellen Bildungs-und Erziehungssystems keineswegs einheitlich im Sinne des propagierten Zieles der „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ entwickelt hatten. Vielmehr war im Gesellschaftssystem der DDR ein Handlungspotential entstanden, das zur Wende und zur Abschaffung eben dieses Systems selbst zumindest beigetragen und ihren Verlauf bestimmt hat. Dieser für die offizielle DDR-Pädagogik unerklärliche Widerspruch ließe sich aus sozialisationstheoretischer Perspektive durchaus aufklären.
Von noch größerem Interesse als eine solche retrospektive Analyse ist die Frage, welches Handlungspotential die Menschen aus der ehemaligen DDR in das neue Gesamtdeutschland einbringen und wie sich dieses zu den von dort vorgegebenen materiellen und institutioneilen Bedingungen verhält. Hier liegt auch eine Antwort auf die Frage, welche politischen Verhaltensweisen und Präferenzen die Bevölkerung der neuen Bundesländer in naher Zukunft entwickeln wird. Eine verstehende Rekonstruktion der DDR-Sozialisation könnte in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dazu beitragen, den Ethnozentrismus und die tief eingewurzelten Stereotype der Westdeutschen über „den Ossi“ zugunsten einer differenzierteren Sichtweise aufzulösen -ein für das gegenwärtige politische Klima sicher erwünschtes Ziel.
Eine weitere Differenzierung ergibt sich aus der Tatsache, daß in einer sich wandelnden Gesellschaft Sozialisation notwendig generationsspezifisch ist, wie schon Karl Mannheim erkannt hat. Bestimmte Ereignisse sind besonders für die Sozialisation der Generation relevant, in deren Lebensspanne oder kritische Entwicklungsphasen sie fallen. Darüber hinaus hängt die sozialisatorisehe Bedeutung eines Ereignisses vom lebensgeschichtlichen Kontext, also auch vom Alter ab, in dem es eintritt. Ein Ereignis wie z. B.der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die damalige ÖSSR im Jahre 1968 oder die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 hat auf verschiedene Generationen sehr unterschiedlich gewirkt. Trotz des hohen Grades an zentralistisch gesteuerter Einheitlichkeit des Bildungssystems war die tatsächliche Sozialisation in der DDR denn auch keineswegs homogen. Außer an die genannten Generationsunterschiede wäre dabei selbstverständlich auch an Unterschiede zwischen Stadt und Land, Hauptstadt und Provinz sowie zwischen sozialen Gruppierungen und Schichten zu denken.
Im folgenden berichte ich über einige vorläufige und noch nicht abgesicherte Befunde aus einer empirischen Untersuchung deren Ziel die Rekonstruktion typischer Muster in der politischen Sozialisation bei vier Kohorten (die um 1940, 1950, 1960 und 1970 Geborenen) in der früheren DDR ist. Die Datenbasis dieser Studie sind transkribierte, relativ wenig gelenkte Gruppendiskussionen in altershomogenen Gruppen von ca.sechs Teilnehmern, die jeweils an deren autobiographische Erzählungen anknüpfen. Die Teilnehmer gehören vornehmlich der Intelligenz an; (ehemalige) Parteimitglieder sind relativ stark vertreten. Die Gespräche wurden 1991 in Berlin (Ost) und Leipzig durchgeführt, doch sind im Ergebnis zwischen diesen Orten keine eindeutigen Unterschiede erkennbar. Aus diesem Material versuchen wir typische Muster zu extrahieren. Es handelt sich also um eine qualitative Studie, die zwar keine statistisch gesicherten Aussagen über quantitative Verteilungen und Korrelationen, aber in bezug auf diese zumindest einige gehaltvolle Hypothesen erbringen könnte. Zur Diskussion um die qualitative Methodik, die in der Sozial-und Biographieforschung des letzten Jahrzehnts erheblich an Boden gewonnen hat, sei auf die Literatur verwiesen
Die Untersuchung steht zur Zeit am Beginn der Auswertungsphase, auf die Vorläufigkeit der folgenden Aussagen muß also ausdrücklich hingewiesen werden. Wir hoffen, den abschließenden Bericht im Herbst 1993 vorlegen zu können.
II. Zur Typik der Sozialisationsbedingungen in der DDR
1. Allgemeine Lebensumstände Am deutlichsten springt in die Augen, daß in der DDR-Gesellschaft durchgängig und für alle Kohorten in mehr oder weniger gleicher Weise sowohl die Ausbildungs-als auch die Berufs-und Parteikarriere kaum durch eigene individuelle Wünsche, sondern überwiegend durch fremde Instanzen bestimmt worden ist. Dies mag auch in nicht-sozialistischen Gesellschaften der Fall sein, im Unterschied zu diesen fand aber in der DDR eine massive und explizite Lenkung und Beeinflussung statt, bei der die Zustimmung der Betreffenden mehr oder weniger nur noch Formsache war.
Diese Lenkung erfolgte entweder durch einzelne Personen, Funktionsträger (Lehrer, Parteisekretäre) oder ergab sich aus vorgegebenen materiellen und/oder strukturellen Systembedingungen (z. B. aus der Zahl der verfügbaren Studienplätze). Sie orientierte sich hauptsächlich an kurzfristig wahrgenommenen Erfordernissen insbesondere des ökonomischen Systems, wurde aber auch durch ideologische Vorgaben bestimmt (z. B. festgelegter Anteil von Arbeiterkindern an den Erweiterten Oberschulen: [EOS] und Universitäten). Auf der individuellen Ebene bedeutete dies in der Regel einen mehrfachen Wechsel von Inhalt und/oder Ort der Ausbildung, wobei nach dem inneren Zusammenhang dieser Inhalte nicht gefragt wurde. Bei wohlwollender Interpretation führt dies zu einer gewissen Vielseitigkeit und Flexibilität -die möglicherweise in den zur Zeit anstehenden Anpassungsprozesseh von Vorteil ist -, zumal sie auch gemäß sozialistischen Erziehungsleitbildern stets berufspraktische Anteile einschloß. Das Bildungssystem der DDR trug diesen Lenkungsnotwendigkeiten durch eine relativ hohe horizontale Durchlässigkeit Rechnung. Für die Männer war die Armee mehr oder weniger integraler Bestandteil dieses Teils ihrer Biographie.
Das Beispiel eines Musiklehrers, Jahrgang 1940: „Ja, ich bin dann auf den Leim gegangen hier, so einem Werber. Da kam der vom Pädagogischen Institut oder Hochschule Dresden, das weiß ich : gar nicht mehr. Da wurden wir zu einem Gespräch vorgeladen. Da ging es um, ich wollte gerne Deutsch machen und Geschichte, das waren eigentlich meine Fächer, für die ich mich sehr interessierte. Geschichte war zu, das war voll. Es war ja dann schon ziemlich spät geworden, es war ja dann schon Mai vielleicht geworden. Solange hatte ich ja dann noch an der TH studiert, das 2. Semester also. Da sagten sie, da können Sie höchstens mal nach Karl-Marx-Stadt fahren, dort ist noch Deutsch und Musik offen. Na also, Musik wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte sehr viel Freude an der Musik, ich kannte ja auch den Musikunterricht, wie der Musiklehrer veräppelt wurde, wie ich ihn selber mit veräppelt habe. Das wollte ich nun nicht, das Schicksal. Ich wollte mir nicht noch, also die Freude, die ich an der Musik hatte,wollt’ ich nicht den Rest geben, dadurch, daß ich selber Musik... Dort traf ich in Karl-Marx-Stadt, vielleicht auch eine Fügung Gottes, wenn man so will, traf ich die Stimmbildnerin, die mich damals eben zum Solisten ausgebildet hatte in der EOS. Sie sagte, Sie schaffen das, Sie bringen das. Das ist nicht so schwer, das Studium, trauen Sie es sich nur zu. Ich wußte nicht, was Dur und Moll war, als ich dort anfing. Ich kannte gerade die Noten. Ich hatte ein bissel Blockflöte gespielt,, bißchen Geige gespielt. Na, und Singen konnte ich ganz gut. Aber sonst hat man ja gar keine Ambition gehabt, ich wollte ja nun Techniker werden.“
Sozialisationstheoretisch bedeutsam scheint mir die Tatsache, daß die Lenkung sich auf der individuellen Seite ausschließlich an Fähigkeiten bzw. unterstellten Fähigkeiten orientierte, die individuellen Wünsche, Motive und/oder Lebensentwürfe dagegen völlig ignorierte. Das heißt, daß sich Biographie idealtypisch nicht im Wechselspiel von subjektivem Lebensentwurf und objektiven Möglichkeiten bzw. Hindernissen konstituierte, sondern daß die subjektive Seite in diesem Prozeß mehr oder weniger unterdrückt werden mußte. Welche Konsequenzen dies für die Identitätsentwicklung und für die Identifikation mit der eigenen Bildungsgeschichte sowie mit dem schließlich gewählten Beruf hat, wäre eine zu klärende, interessante Frage.
Wie schon erwähnt, wurden die einschlägigen Entscheidungen zwar formal dem Betreffenden überlassen, waren aber aufgrund des ausgeübten Drukkes keine echten Entscheidungen. Nun ist vielen Biographien zu entnehmen, daß die Betreffenden sich nach einiger Zeit bemühten, den nicht ganz freiwillig beschrittenen Berufsweg -wenn sie sich bewußt wurden, daß er ihnen nicht gefiel -wieder zu verlassen. Die erforderlichen Kämpfe um eine Revision des Karriereweges bildeten übrigens eine wichtige Erfahrungsgrundlage für die politische Bewußtseinsbildung. Hier möchte ich hervorheben, daß auch in diesem System durchaus eigene biographische Entscheidungen möglich waren, doch daß diese häufig nur negativer Art waren, d. h. Entscheidungen gegen etwas, aber nicht Entscheidungen für ein bestimmtes Ziel, das beispielsweise im Zusammenhang mit einem subjektiven Lebensentwurf gestanden hätte. So zeichnet sich eine bestimmte biographische Struktur ab, die an die Strategie von Versuch und Irrtum erinnert: Man gerät irgendwo hinein, und wenn es einem einigermaßen gefällt, geht man weiter, wenn nicht, zieht man sich zurück und gerät in etwas anderes hinein, wo sich das gleiche Spiel wiederholt.
In vielen Biographien spielen Schilderungen der verschiedenen alltäglichen Probleme eine große Rolle, die sich aus der materiellen Situation sowie aus institutioneilen restriktiven Bedingungen zwangsläufig ergeben. Häufig genannt werden Probleme des Wohnraums bzw.der Wohnungsbeschaffung, Probleme der Zeitdisposition, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der Sorge um die Kinder, sowie die vom System angebotenen bzw. verweigerten Möglichkeiten einer Ausbildung (Fach, Ort, Niveau) und einer beruflichen Tätigkeit.
Es scheint, daß diese Situation nicht direkt zu einer kritischeren Einstellung gegenüber dem System führte, sondern zu einer bestimmten Form von Bewußtseinsspaltung: Einerseits hielt man an dem hohen moralischen und politischen Anspruch des Sozialismus fest, andererseits lernte man, auf der individuellen Ebene Ansprüche zurückzustecken. Ein weiterer Effekt ist die Notwendigkeit, sich mit anderen wenigstens in kleinem Kreis (vorrangig Familie) über die vielen Probleme auszutauschen und ihre Ursachen zu diskutieren; dies führte zur Ausbildung einer bestimmten, auch politisch relevanten Diskurskultur, deren Grenzen allerdings immer durch die Wahrung einer grundsätzlichen Loyalität festgelegt waren.
Stärker als in westlichen Gesellschaften mußten die DDR-Bewohner lernen, angesichts der vielen restriktiven materiellen und institutioneilen Bedingungen ihre individuellen Wünsche und Ziele -wenigstens in einem gewissen Maße -zu realisieren. Vielfach war dies nur dadurch möglich, daß Lücken und Widersprüche im System geschickt ausfindig gemacht und ausgenutzt wurden. Als Sozialisationseffekte dieser Konstellation vermute ich erstens eine erhöhte Sensibilisierung und eine differenziertere Wahrnehmung der konkreten Realität des real existierenden Sozialismus, die sich nach der Wende auch in einer entsprechenden Sensibilität für die Probleme der gesamtdeutschen Gesellschaft fortsetzen müßte, zweitens eine pragmatische Distanzierung von dieser Wirklichkeit, die aber nur unter einer bestimmten zusätzlichen Bedingung (siehe unten) zum Ansatz einer Systemkritik wurde, sowie drittens die Ausbildung einer unterhalb der Ebene des ideologisch gebundenen offiziellen Handelns liegenden ganz anderen Kultur sozialen Verhaltens, in der Vertrauen, alte Bekanntschaft und Solidarität eine große Rolle spielten. Auf dieser Ebene wurden aber auch persönliche und politische Gegnerschaften bzw. mehr oder weniger explizit kritisierte Punkte im System bewußter und neu definiert.Eine interessante Frage ist die nach dem Einfluß der Mitgliedschaft in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Hier ergibt sich ein anderes Bild, als ein westlicher Leser vielleicht erwarten mag. Schon die Motive für den Parteieintritt sind differenziert. Mag bei den 18-bis 20jährigen öfter eine gewisse Mitläufer-Euphorie eine Rolle gespielt haben, so tritt beim späteren Parteieintritt deutlich ein ganz anderes Motiv hervor: Man möchte auf die Gesellschaft und das System einwirken, diese verändern und hält dies unter den gegebenen Umständen nur durch Arbeit in der Partei überhaupt für möglich.
Erstaunlicherweise ist gerade bei den Genossen ein kritisches Bewußtsein gegenüber dem System früher und differenzierter ausgebildet. Dieser Befund wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß erstens Parteimitglieder in der Regel besser über die vielen Probleme informiert waren, daß sie sich zweitens als die politisch verantwortliche Gruppe stärker in der Pflicht sahen, Problemen nachzugehen, um sie zu lösen, und ihr kollektives wie persönliches Schicksal als vom Erfolg abhängig wußten, daß sie drittens die Widersprüche zwischen der Realität und der Ideologie deutlicher erfuhren (siehe unten) und daß viertens die Partei auch einen gewissen Schutzraum für offene Diskussionen bot, wobei Verletzungen der Spielregeln zunächst parteiintern und nicht gleich mit voller Härte (etwa durch Parteiausschluß) sanktioniert wurden.
Die naheliegende These, daß gerade eine Ausbildung in Marxismus-Leninismus ein theoretisches Potential zur Kritik auch am eigenen System der DDR bereitgestellt haben könnte, wird nicht bestätigt. Dies scheint darauf zu beruhen, daß die Ausbildung (anders als das Marxismusstudium in der Generation der westdeutschen Studentenbewegung) überwiegend als Pflichtübung („Rotlichtbestrahlung“) hingenommen, nur ungern akzeptiert wurde und nur selten zu einer theoretischen Bildung führte, die eigenständig kritisch hätte eingesetzt werden können. Außerdem war diese Ausbildung verquickt mit Elementen, die den Staat DDR als hoch zu veranschlagenden Wert, gleichsam als Verkörperung der theoretischen Ideen des Marxismus, definierten. Durch diese Verquickung wurde es sehr schwer bis unmöglich, auf theoretischer Basis Kritik an eben diesem Staat zu üben. Psychologisch ähnelt diese Situation einem doublebind (in sich widersprüchliche Handlungsaufforderung), das in Unentschlossenheit und Ambivalenz in bezug auf die Einstellung zum System zum Ausdruck kam. 2. Besondere Sozialisationsbedingungen für politisches Bewußtsein Entsprechend der Zielsetzung unseres Projektes, Prozesse der politischen Sozialisation zu rekonstruieren, sollen die entsprechenden Bedingungen dafür hier besonders hervorgehoben werden. Aufgrund von Beschränkungen unserer Daten muß diese Frage jedoch hauptsächlich als Frage nach den Ursachen und Gründen der Kritik am System bzw. Distanzierung vom System behandelt werden.
Widersprüche zwischen dem Anspruch der Ideologie und den konkreten, im eigenen Lebensbereich erfahrenen Maßnahmen der Staatsgewalt scheinen nach dem uns vorliegenden Material mit Abstand das wichtigste unter den Motiven gewesen zu sein,, die zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem System auf individueller Ebene führten. Hervorzuheben ist, daß nicht schon die Erfahrung von Schwierigkeiten und Problemen als solche zur Kritik führte, sondern erst der Widerspruch zwischen diesen und dem ideologischen Anspruch des Systems. Im allgemeinen spielen eigene Erlebnisse dieser Art die größte Rolle, beitragen können jedoch auch Erfahrungen anderer bzw. die schon abstraktere Einsicht, daß es sich hier um einen Wesenszug des DDR-Staates selbst handelt.
s Da mir dieser Befund besonders wichtig zu sein scheint, seien zur Illustration zwei Textbeispiele ohne weiteren Kommentar gegeben:
Eine Bibliothekarin, Jahrgang 1940, berichtet: „Wir haben ja fast alle erzählt, daß wir aus Arbeiterfamilien oder aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommen. Mein Mann ist ein Arbeiterkind gewesen und ich auch. Wir waren dann Angehörige der Intelligenz und hatten eben darunter zu leiden, daß unsere Kinder dann keinen Studienplatz bekamen. Unsere Mädchen waren sehr gute Schülerinnen, und die wären gern auf die Oberschule gegangen. Aber wir waren beide Angehörige der Intelligenz, und da gab es die Klassen von A bis H, und aus einer Klasse kamen drei auf die EOS und davon mußten zwei Arbeiterkinder sein. Von den Vätern der Arbeiterkinder war dann noch einer bei der Stasi beschäftigt und der andere war vielleicht Volkspolizist oder im Parteiapparat, das waren ja auch alles Arbeiterkinder. Und da hatten die anderen keine Chance, obwohl man sich doch mühselig diesen Weg selber gebahnt hat, und da waren die Kinder eben wieder benachteiligt und auch das, das halten uns unsere Mädchen wieder vor.“Ein Ingenieur schildert seine ersten Erfahrungen in der Partei so: „Und ich muß sagen, das ist so, da gehst du durch (ins Parteigebäude, Anmerkung des Autors) als ganz normaler Mensch, da kontrolliert die Staats-sicherheit deine Aktentasche, jede Akte, die da drin war. Und in dem Moment, wo du deinen Ausweis hattest, konntest du mit Körben und Rucksäcken da durchgehen, und es war nichts, und du warst jetzt plötzlich irgendwie für die eine neue Nummer. Und dann will ich mal erzählen, daß es mich ganz, ganz tief berührt hat und abgestoßen hat eigentlich. Weil ich immer dachte, du bist in einer Partei der Gleiche unter Gleichen. Der erste Sekretär ist genauso gleich wie du als kleiner Genosse. So, und wenn wir gemeinsam was Gutes machen wollen, dann müssen wir das eben so beibehalten. Aber dort war es so, wenn du z. B. essen gingst, wunderte mich, daß die Abteilungsleiter in dem Zentralkomitee, die waren in dem Speisesaal plötzlich nicht mehr vertreten. Da habe ich mir dann, weil ich relativ neu war und unbedarft, habe ich meinen Sektorenleiter gefragt , ich sage, wie kommt denn das, daß hier der Genosse Dr. ... nicht mit uns ißt? Ja, der ißt im Speiseraum des Politbüros, da essen die Abteilungsleiter, die Sekretäre und die Politbüromitglieder.“
Es gibt in unserem Material viele Hinweise darauf, daß von den Eltern kritische und distanzierende, gelegentlich auch ironische Bemerkungen geäußert bzw. von den Kindern aufgeschnappt wurden; in mehreren Fällen weisen die Eltern auf Parallelen mit dem Nazi-Staat hin. Die sozialisatorischen Auswirkungen solcher Äußerungen auf die Kinder sind schwer abzuschätzen; einerseits können wir schon auf der Basis von pädagogischem Alltagswissen annehmen, daß sie gewisse Spuren in den Köpfen der Kinder hinterlassen, andererseits scheint es, daß die Kinder zumindest bewußt diesen Äußerungen häufiger widersprochen haben, ja es auf einen Konflikt mit den Eltern ankommen ließen. Hier scheinen dann die Einflüsse der staatlichen Erziehung stärker gewesen zu sein.
Eine wichtige Bedingung für die Klärung und Artikulierung eines politischen, insbesondere auch kritischen Bewußtseins sind Diskussionen mit Freunden und Eltern, sowie in Seminargruppen. Diskussionen bieten zum einen Anregungen, Informationen und Argumente und zwingen zum anderen dazu, den eigenen Standpunkt und eigene Argumente genauer zu überdenken und sie persönlich zu vertreten. Wichtig ist sicher auch die Erfahrung, daß man mit seinen Meinungen nicht allein auf der Welt steht, sondern teilhat an einem -wenn auch sehr begrenzten -intersubjektiven Diskurs. Das Ausmaß dieser Sozialisationsbedinguhg ist kohortenabhängig; die jüngeren Kohorten berichten öfter über solche Erfahrungen als die älteren.
Eine weitere Quelle zur Bildung eines kritischen Bewußtseins sind Informationen über aktuelle Probleme, Schwierigkeiten, Skandale, Schlampereien usw., die nicht durch die öffentlichen Medien, auch nicht durch das West-Fernsehen, sondern von mehr oder weniger unmittelbar beteiligten Zeugen kolportiert wurden. Die besondere Bedeutung dieses Faktors scheint mir darin zu liegen, daß man zunehmend feststellte, daß die eigenen Erfahrungen offenbar nicht zufällig, also keine Ausnahme waren, sondern daß in anderen Bereichen und Regionen der DDR die gleichen Probleme auftraten. Wie schon oben angemerkt, spielte dieser Faktor bei den Parteimitgliedern eine große Rolle.
In den wenigen Fällen, in denen DDR-Bürger in den Westen reisen und sich eine eigene Meinung über das Leben dort bilden konnten, führte dies zu einer gewissen Desillusionierung bzw. zur kritischen Distanzierung von der DDR-Realität. Diese bezog sich überwiegend auf das, was eben besonders auffiel wie beispielsweise das Konsumniveau, die sauberen Städte, die Autos usw., wurde jedoch nicht in eigentlich politischen Kategorien verarbeitet.
Relativ selten tauchen im Material Hinweise auf Medien als Quelle einer kritischen Bewußtseinsbildung auf. Am wichtigsten scheinen dabei solche Medien (Bücher, Filme) zu sein, die von der offiziellen Kulturpolitik noch geduldet, in denen aber -sei es aufgrund ihres Bezugs auf sozialistische Traditionen, sei es als zwischen den Zeilen geäußerte Kritik -Gedanken artikuliert wurden, die als Elemente einer kritischen Auseinandersetzung mit dem System bedeutsam werden konnten. Entgegen einem wohl im Westen gehegten Vorurteil finden sich praktisch keine Hinweise darauf, daß die westliche Propagandamaschine (Radio und West-Fernsehen) in Richtung Osten eine kritische Auseinandersetzung der DDR-Bürger mit ihrem eigenen System gefördert hätte, jedenfalls was die Inhalte betrifft. Im Gegenteil -diese Konfrontation scheint im Kalten Krieg eher einen Effekt der Solidarisierung ausgelöst zu haben. Anlaß zur Kritik bot jedoch ironischerweise die restriktive Politik der DDR selbst in bezug auf die Möglichkeit, das westliche Fernsehen zu empfangen (einschlägige Verbote, nächtliche Demontage von Antennenanlagen usw.).3. Figuren des politischen Bewußtseins In diesem Abschnitt soll versucht werden, Figuren des politischen Bewußtseins als Resultate der oben genannten Sozialisationsbedingungen zu identifizieren. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob und wieweit eine Kritik am System bewußt artikuliert wurde. Die in unserem Material enthaltenen zahlreichen Äußerungen und Passagen zu diesem Thema lassen sich in einer mindestens fünfstufigen Skala zunehmend radikaler werdender Kritik zusammenfassen: 1. Die erste, gar nicht so seltene Stufe läßt sich als unpolitisch charakterisieren. Es wird ausdrücklich gesagt, daß man sich für Politik nicht interessiert habe, sondern sich z. B. lieber um seine Arbeit und um nichts anderes gekümmert habe. 2. Auf einer zweiten Stufe könnte die Einstellung angesiedelt werden, daß man zwar Mängel gesehen hat, aber immer auf Besserung gehofft und deshalb keinen Anlaß gesehen hat, weitergehende Kritik zu äußern. Man glaubte an die theoretische Begründung des Sozialismus und hoffte auf die Reformierbarkeit des Systems.
Gorbatschows Programm der Perestroika war für viele die neue Perspektive; die schroffe Ablehnung dieses Programmes durch die Staats-und Parteiführung war für sie eine herbe Enttäuschung, die dann zu einer wichtigen Bedingung ihres Verhaltens in der Wende zu zählen ist.
3. Eine dritte, mit Abstand am häufigsten in unserem Material auftretende Einstellung läßt sich als „These der menschlichen Unzulänglichkeiten“ bezeichnen. Man sah viele Probleme und hielt auch Kritik für notwendig, aber alle Probleme wurden letztlich darauf zurückgeführt, daß die Leute an der Spitze nicht kompetent genug bzw. zu alt seien, daß also die falschen Leute an der Spitze stünden. Man hoffte auf die sogenannte „biologische Lösung“ und glaubte, daß die nachwachsende jüngere Generation es viel besser machen werde. Der Gedanke, daß die Probleme ihre Ursachen in gewissen Struktureigenschaften bzw. Widersprüchen des Systems selbst haben könnten, wurde ausgeschlossen, um nicht zu sagen tabuisiert. Hierzu zwei Beispiele:
Ein Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1950, charakterisiert sich u. a. so: „Ich habe mich aber auch immer als, das kann man mit Fug und Recht, glaube ich, sagen, als einen sehr kritischen Begleiter der Verhältnisse in der DDR gesehen, allerdings bis zum Ende und bis über das Ende hinaus als einer, der geglaubt hat, daß die Verhältnisse innerhalb dieses Systems DDR verbesserbar sind, und daß vieles, was einem nicht gefallen hat, an subjektiven Dingen, an Personen gelegen hat, daß man irgendwo hätte die DDR verbessern können. Also mit diesem, mit dieser -eh, aus jetziger Sicht Illusion, sind wir durch die ganzen Jahre gegangen, glaube ich.“
Eine ehemalige Marxismus-Leninismus-Lehrerin des gleichen Jahrgangs gibt eine ähnliche Gruppenmeinung wieder: „Es ist ja nun vieles in letzter Zeit vor allem an der Basis auch viel kritischer gesehen worden, und ich hatte also auch bis zuletzt die Hoffnung und habe daran geglaubt, daß der Sozialismus eigentlich was Gutes ist und diesem Ideal, dem war ich auch eigentlich verpflichtet, muß ich wirklich sagen, und ich war auch der Meinung, also diese alte (Horde) muß dort weg, die da unfähig sind, die verkalkt sind. Und so irgendwo, irgendwo sind da in der zweiten Reihe Leute, und da ist auch ein Dithmar Keller und da sind intelligente Leute und die wissen, was sie wollen, und da ist in den Schubladen was da, da gibt es einen Weg, und dann geht das irgendwie wieder vorwärts, und daran hat man ja irgendwo geglaubt.“ 4. Auf einer weiteren Stufe der Entwicklung kritischen Bewußtseins werden mehr oder weniger detailliert bzw. umfassend bestimmte Probleme expliziert, z. B. ökonomische, logistische, organisatorische (z. B. daß kein Arbeitsmaterial vorhanden war). Seltener, aber um so eindringlicher wird auf die gängige Praxis der fiktiven Erfolgsstatistiken hingewiesen und die Frage gestellt, welche Realität ein System denn habe, das sich auf irreale Fakten stützt. Der Hinweis auf fehlende Transparenz bei der Verteilung des produzierten Reichtums rückt schon in die Nähe einer grundsätzlicheren Systemkritik. Allerdings sahen nur wenige Eingeweihte in den achtziger Jahren die Katastrophe kommen. 5. Eine die wesentlichen Widersprüche der DDR-Gesellschaft genauer treffende Systemkritik ist in unserem Material nur in Ansätzen enthalten.
Vorstufen hierzu sind etwa Bemerkungen der Art, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an zunehmend klar wurde, „daß die Sache gegen den Baum gehen werde“. Die höchste Verallgemeinerungsstufe schließlich, von einem Befragten geäußert, formuliert die Einsicht, daß das System des realen Sozialismus als solches (es wird ausdrücklich auf die Sowjetunion Bezuggenommen) untergehen werde, weil es nicht lebensfähig sei.
III. Zur Charakteristik und Unterscheidung der vier Jahrgangsgruppen
Vor dem oben dargestellten Hintergrund von Gemeinsamkeiten zeichnen sich folgende Charakteristika bzw. Unterschiede der vier von uns untersuchten Kohorten ab. Die folgende Skizze ist allerdings in besonderem Maße unvollständig und vorläufig und bedarf noch weiterer Ausarbeitung wie auch des ausdrücklichen Bezuges auf objektive Ereignisse in der Geschichte der DDR. 1. Zur Generation der um 1940 Geborenen -Die Bedeutung der Kriegsereignisse für die früh-kindliche Sozialisation dieser Generation läßt sich aus dem vorliegenden Material nicht unmittelbar ableiten, muß aber -ähnlich wie auch bei den Westdeutschen -unterstellt werden. Es fällt auf, daß relativ viele unserer Befragten ihre Herkunft aus ärmlichen bzw. proletarischen oder kleinbürgerlichen Verhältnissen betonen; in mehreren Fällen spielt auch die Vertreibung eine wesentliche Rolle. Hypothetisch ließe sich aus dieser Struktur -ähnlich wie auch für westdeutsche Verhältnisse -die Vermutung ableiten, daß diese Generation dazu neigt, mit großem Engagement etwas Neues aufzubauen und sich natürlich damit auch zu identifizieren, daß aber diese Identifikation immer auch gebrochen ist, zumindest durch die Erinnerungen an eine ganz andere Realität. Im Zusammenhang mit der Doppelbelastung der Frau durch Ausbildung und Beruf einerseits und ihre Rolle vor allem als Mutter andererseits spielen besonders bei dieser Generation die Großeltern, speziell die Großmutter, eine bedeutende Rolle als Aushilfe vor allem bei der Kindererziehung. Sie sind relativ stark in die Familie integriert und dürften ein in ideologischer Hinsicht eher konservativ-bürgerliches Element darstellen. Bei den Frauen dieser Generation fällt auf, daß die genannte Doppel-belastung extrem wird (in einem Falle ist in diesem Zusammenhang sogar von Selbstmordgedanken die Rede), daß aber nicht -wie etwa in der aktuellen westdeutschen Diskussion -das Geschlechter-Verhältnis und die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zur Diskussion gestellt wird; es wird mehrfach ausdrücklich gesagt, daß man sich auch heute auf diese Diskussion nicht einlassen wolle.
In den erzählten Biographien dieser Generation überwiegt fast ausschließlich die Ausbildungs-und Berufsbiographie; wichtige private Ereignisse wie z. B. Heirat und die Geburt von Kindern werden fast nicht oder nur ganz nebenbei erwähnt. Die hohe Bedeutung der Arbeit für das Verständnis der eigenen Identität ist vielleicht damit zu erklären, daß sich die Notwendigkeit zum Aufbau in der Nachkriegszeit verbindet mit der ideologischen Überhöhung der Arbeit in der der DDR-Gesellschaft. Es ist zu vermuten, daß sich das oben genannte Problem der Identitätsbildung angesichts durchgehender Fremdbestimmtheit gerade dieses Teils der Biographie für diese Generation mit besonderer Schärfe stellt.
Was das politische, insbesondere kritische Bewußtsein Angehöriger dieser Generation betrifft, so ist bemerkenswert, daß sie sich einerseits nicht völlig und ungebrochen mit dem Sozialismus identifizierten, ihn eher als eine notwendige und vorgegebene Tatsache akzeptierten, daß andererseits aber ihre kritischen Äußerungen immanent bleiben, d. h. sich auf die Darstellung einzelner Mängel, auch Ungerechtigkeiten beschränken, nicht aber zur Perspektive einer Kritik am System als solchem fortschreiten. Nicht selten findet sich auch eine privatistische Haltung, von der aus zum Beispiel die politische Ausbildung als lästige Pflicht erscheint. 2. Zur Generation der um 1950 Geborenen Diese Generation ist in die 1949 gegründete DDR-Gesellschaft hineingeboren, eine andere Realität hat sie zunächst nicht erfahren. Es fehlt ihr die Gebrochenheit der Kriegsgeneration; für sie war -so eine Äußerung -die Welt in Ordnung. Diese Generation wächst auf in der Phase des Aufbaus des Sozialismus in der DDR und der scharfen Abgrenzung von dem als Klassenfeind betrachteten Westen; die ab den späten siebziger Jahren zunehmend auftretenden Probleme -insbesondere Legitimationsprobleme dieses Staates -sind noch weit von jedem Bewußtsein entfernt. So scheint es, daß die Generation der um 1950 Geborenen die politischen und insbesondere moralischen Ansprüche des Sozialismus als Ideologie besonders stark verinnerlicht hat; auch scheint die emotionale Beziehung zur DDR als Heimat hier sehr stark ausgeprägt.
In ihrem politischen Bewußtsein treten zwei widersprüchliche Züge hervor. Zum einen erfährt diese Generation, gerade weil sie die moralischen Ansprüche des Sozialismus ernst nimmt, auch die später zunehmend verschärften Widersprüche zwischen diesen Ansprüchen und der Realität der DDR-Gesellschaft besonders deutlich. Zum ande ren hindert ihre starke Identifikation mit der DDR als Heimat sie daran, mit ihrer Kritik bzw. Distanzierung eine gewisse Grenze zu überschreiten. Als sie im Alter von 18 Jahren vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die SSR erfahren, stehen sie diesem Ereignis völlig hilflos und ohne theoretisches und politisches Verständnis gegenüber. Es scheint, daß der genannte Widerspruch gegenwärtig am ehesten als Enttäuschung bzw. Trauer verarbeitet wird. 3. Zur Generation der um 1960 Geborenen Bei dieser Generation fällt die jugendliche Entwicklungsphase, die für die Entstehung einer bewußten politischen Orientierung besonders wichtig ist, mit zunehmenden Legitimationsproblemen des DDR-Staates zusammen, die in einem gewissen, geringen Ausmaß in der öffentlichen Diskussion, allerdings mehr in kleineren Zirkeln, heftig diskutiert wurden. So ist denn auch in den Äußerungen dieser Generation eine größere Distanz, eine gewisse Gleichgültigkeit, in einigen Fällen eine analytisch klar begründete und unerbittliche Kritik nicht zu überhören. Auf der anderen Seite jedoch wird auch von dieser Generation die „Grundidentifikation“ mit der DDR und insbesondere mit dem Sozialismus als politischem Programm nicht zur Disposition gestellt. Die genaue Kenntnis des Apparates wurde bewußt und mehr oder weniger trickreich im individuellen Daseinskampf genutzt, wo bei den älteren Generationen eher die Neigung bestanden hatte, gegebene Bedingungen einfach hinzunehmen.
Bei ihren Schilderungen treten -auch dies ist neu gegenüber den älteren Generationen -stärker individualistische und hedonistische Werte hervor; der von der Ideologie propagandistisch reklamierte Humanismus wird von dieser Generation konkret als ihre Ansprüche als Menschen gegenüber dem System eingeklagt. Da in westlichen Gesellschaften, z. B. in der Bundesrepublik, in dieser Zeit unter dem Stichwort „Wertewandel“ bzw. „Individualisierungsthese“ (Ulrich Beck) ein ähnlicher Trend zu beobachten ist, stellt sich die Frage, ob wir es hier mit einem, wenn auch vielleicht nur indirekt vermittelten, ideologischen Einfluß des Westens auf diese Generation der DDR-Gesellschaft zu tun haben oder ob sich letztere einfach an den Werten des Sozialismus orientiert hat und diese gegenüber dem realen System zur Geltung bringt; denkbar ist auch eine Wechselwirkung beider Faktoren. Trotz der bewußteren Distanzierung dieser Generation vom System scheint die Mehrheit weder zu einer radikalen Kritik noch zu entsprechenden praktischen, sei es auch individuellen Konsequenzen bereit gewesen zu sein. Wenn sie sich selber als kritisch bezeichnen und von entsprechenden Heldentaten berichten, erscheinen diese aus heutiger Sicht eher als unpolitisches Aufbegehren oder als harmlos und müssen wohl vor dem Hintergrund der engen Handlungsspielräume der damaligen Zeit bewertet werden. Ich habe den Eindruck, daß diese Generation im Vergleich zu den vorangehenden dem untergegangenen System am wenigsten nachtrauert und vielleicht am besten in der Lage ist, sich mit den neuen Verhältnissen pragmatisch zu arrangieren. 4. Zur Generation der um 1970 Geborenen Zu dieser ja noch sehr jungen Generation ergibt sich aus unserem Material noch kein sehr differenziertes Bild. Es scheint, daß die in der vorangehenden Generation beobachtete Distanzierung hier noch stärker ausgeprägt ist. Neu könnte eine stärkere Orientierung am Westen sein, insbesondere an der amerikanischen Kultur, doch wäre dies noch zu prüfen. Inzwischen ist die 11. Shell-Jugendstudie (Jugend ’ 92) erschienen, deren dritter Band sich der Jugend in den neuen Ländern widmet; darauf sei besonders hingewiesen
IV. Schluß
Schon diese vorläufigen Befunde zeigen ein differenzierteres und in mancher Hinsicht auch überraschendes Bild von den in der DDR-Gesellschaft relevanten Bedingungen und Folgen politischer Sozialisation. Dies gilt auch für den Wandel zwischen den verschiedenen Generationen, der nicht als lineare Bewegung, sondern als Abfolge qualitativ spezifischer Strukturen erscheint. Freilich ist die hier gewählte typisierende Darstellung gegenüber der Fülle des uns vorliegenden Materials eine Vereinfachung; so konnte zum Beispiel in diesem Rahmen weder auf biographische Verlaufsstrukturen noch auf die individuellen Varianten eingegangen werden. Außerdem bedürfen unsere Aussagen selbstverständlich auch einer weitergehenden Validierung. Dennoch glauben wir, daß unsere Daten nicht bloß individuell-zufällig sind, sondern dank dem gewählten Gruppendiskussionsverfahren durchaus den jeweiligen „Zeitgeist“ widerspiegeln. Interessierte Leser seien auf unser Ende 1993 erscheinendes Buch verwiesen.